6 EiN anDeRer PlAneT
Als wir uns der Eingangstreppe näherten, entdeckten wir Sara und Jason, die seitlich an einer Steinmauer saßen, rote Becher in der Hand, tief ins Gespräch versunken, blind für alles andere, inklusive der Party im Haus.
»Hallo, Sara«, sagte ich, ging zu ihr hinüber und riss sie aus ihrer Versunkenheit.
»Emma, ich hab schon auf dich gewartet!«, rief sie, sprang auf und wollte mich umarmen, hielt sich aber zurück, als sie merkte, wie ich mich sofort anspannte.
Weil ich spürte, dass Sara gern noch eine Weile mit Jason allein sein wollte, verkündete ich: »Wir gehen rein, komm doch später nach.«
»Okay«, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln, das nur bedeuten konnte, dass ich sie eine Weile nicht zu Gesicht bekommen würde.
Als wir die laute, dichtgedrängte Party betraten, nahm mich meine Angst so gefangen, dass ich gar nicht merkte, wie Evan meine Hand nahm. Ich registrierte es erst, als er uns einen Weg durchs Getümmel bahnte – aber auch dann zog ich sie ihm nicht weg, denn ich befürchtete, ohne ihn in der Menge steckenzubleiben. Viele erstaunte Blicke folgten uns – anscheinend waren nicht alle hier beim Footballspiel gewesen oder hatten eine der in Umlauf gebrachten SMS erhalten.
Das Haus war eine typische gigantische Weslyn-Villa, mit einem offenen Grundriss, der sich gut für große Partys eignete. Nur vorn im Haus gab es zwei abgeschlossene Räume – das offizielle Speisezimmer und ein weiteres Zimmer mit massiven, heute offenbar verriegelten Holztüren.
Wir drängten uns zur Küche im hinteren Teil des Hauses durch. Auf der Kücheninsel waren verschiedenfarbige Flaschen mit alkoholischen Getränken, Cola und anderen Softdrinks aufgereiht, am äußeren Ende stand neben einem Zapfhahn ein großer Stapel roter Plastikbecher.
»Möchtest du was trinken?«, brüllte Evan, ohne meine Hand loszulassen.
»Irgendeine Limo light«, brüllte ich zurück.
Er ließ mich stehen, um am anderen Ende der Bar die Getränke zu holen, doch trotz der kurzen Distanz wurde er sofort von der Masse verschlungen.
»Heilige Scheiße! Emma Thomas!«, hörte ich jemanden auf der anderen Seite des Raums rufen. Ich erstarrte und wollte gar nicht hinschauen. Der Ausruf erregte die Aufmerksamkeit von ein paar Leuten, die offensichtlich noch nicht mitbekommen hatten, dass ich auf der Party war, und nun nicht aufhören konnten zu glotzen. Dann entdeckte ich einen Typen aus meinem Chemiekurs, der sich mit seinem roten Plastikbecher in der Hand zu mir durchdrängte.
»Hi, Ryan.«
»Ich fass es nicht, dass du hier bist«, rief er, schlang die Arme um mich und drückte mich an sich, so dass mir sein alkoholisierter Atem in die Nase stieg. Großartig, er war betrunken. Ich war so angespannt, dass ich nicht auf seine Aufdringlichkeit reagieren konnte. Zum Glück ließ er mich bald wieder los.
»Wow, das ist ja großartig«, meinte er und grinste mich dämlich an. »Ich hatte gehofft, dich heute Abend zu sehen, ich hab nämlich gehört, dass du beim Spiel warst. Möchtest du was trinken?«
»Hey, Ryan«, hörte ich in diesem Moment Evans Stimme hinter mir, und ich drehte mich hilfesuchend zu ihm um. Aber er bemerkte meine Panik nicht, sondern reichte mir nur einen der beiden Becher, die er mitgebracht hatte.
»Evan!«, brüllte Ryan viel zu laut. Dann legte er schon wieder den Arm um mich und zog mich mit einem Ruck zu sich, so dass mein Becher überschwappte – was er jedoch nicht wahrzunehmen schien. »Evan, du kennst doch sicher Emma Thomas, oder? Sie ist echt cool.« Ich warf Evan einen verzweifelten Blick zu – und jetzt kapierte er endlich.
»Ja, Ryan, ich kenne Emma«, erwiderte er, griff nach meiner Hand und zog mich behutsam von Ryan weg. »Wir sind sogar zusammen hergekommen.«
Ryan machte erst einen verwirrten, dann einen schockierten Eindruck und ließ mich los. »Ach ja? Oh, Mann, sorry, ich hatte ja keine Ahnung.«
»Schon gut«, beruhigte ihn Evan. »Wir gehen nach draußen. Bis später dann.« Damit wandte er sich zur Schiebetür, die hinaus auf die Veranda führte.
Dort war es weniger voll und deutlich leiser als im Haus. Wir fanden etwas Platz an der Brüstung, lehnten uns mit dem Rücken an und beobachteten das verrückte Treiben im Haus aus der Ferne.
»Tut mir echt leid«, sagte Evan schließlich, stützte sich auf den Unterarm und wandte sich mir zu. »Ich hatte keinen Schimmer, warum du mich so anschaust. Ich wusste ja nicht, dass Ryan auf dich steht.«
»Ich auch nicht«, erwiderte ich leise. »Danke, dass du mich gerettet hast. Mit all diesen Leuten um mich herum befinde ich mich meilenweit außerhalb meiner Komfortzone.«
»Wirklich?« Evan musterte mich mit einem neckenden Grinsen. »Hab ich gar nicht bemerkt, als du dich kaum überwinden konntest, durch die Haustür zu gehen.«
»Okay, ich bin wegen Sara hier«, gestand ich seufzend. Sie will Jason Stark schon seit Schuljahresbeginn fragen, ob er mit ihr ausgeht, und das war die perfekte Gelegenheit. Ich bin nur zu ihrer moralischen Unterstützung hier.«
»Sieht so aus, als würde Sara ganz gut ohne dich zurechtkommen«, bemerkte Evan trocken. »Ich glaube eher, du bist diejenige, die etwas Unterstützung vertragen könnte.«
Ich sah grimmig zu ihm empor. »Danke sehr!«, erwiderte ich spöttisch.
»Mathews!«, rief in diesem Augenblick eine männliche Stimme von der Tür her.
»Hi, Jake.« Evan begrüßte den Jungen mit einem Händeschütteln.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Jake. »Na so was, ist das nicht Emma Thomas?« Ich lächelte verlegen und nickte.
»Warte, seid ihr etwa zusammen gekommen?«, fragte er und sah Evan mit einem vielsagenden Grinsen an.
»Ich hab sie hergefahren, weil sie sich mit Sara treffen wollte«, erklärte Evan.
»Wow, unfassbar, dass du hier bist.« Jake schüttelte den Kopf und musterte mich von oben bis unten. »Kann ich dir was zu trinken holen?«
Ich hielt meinen Becher hoch. »Danke, ich bin versorgt.«
»Vielleicht sehen wir uns nachher drinnen, dann kann ich dir was nachschenken«, sagte er und bleckte erneut grinsend die Zähne. Ich erstarrte und versuchte zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Ich kam mir vor wie auf einem anderen Planeten. Und auf diesem Planeten bemerkten mich die anderen plötzlich. Einige davon sogar viel zu sehr. Ich sehnte mich danach, hinter einer der verschlossenen Türen im Haus zu verschwinden.
»Habt ihr schon die Feuerstelle auf der anderen Seite des Hauses gesehen?«
»Nein«, antwortete Evan.
»Die ist ziemlich cool, ihr solltet sie euch mal anschauen«, ermunterte Jake uns. »Bis später dann.« Ehe er sich wegdrehte, zwinkerte er mir zu, und ich blieb fassungslos zurück.
»Hat er mir wirklich gerade zugezwinkert?«, fragte ich, immer noch völlig perplex.
»Ich glaube schon, ja«, bestätigte Evan mit einem kleinen Lachen.
»Dir macht das alles einen Heidenspaß, stimmt’s?« Auf einmal ging mir ein Licht auf. »Schön, dass ich immer mehr Wege finde, dich zu amüsieren. Aber für mich ist es ganz schrecklich hier. Ich habe das Gefühl, dir ist das nicht ganz klar.«
Evan sah in mein verzweifeltes Gesicht und wurde ernst. »Tut mir leid, du hast vollkommen recht. Ich sehe ja, dass es dir keinen Spaß macht. Lass uns die Feuerstelle suchen, da ist es wahrscheinlich nicht so überfüllt.«
»Evan, du musst nicht die ganze Zeit bei mir bleiben. Du solltest ins Haus gehen und Leute kennenlernen. Sieht aus, als wären alle Elft- und Zwölftklässler hier. Ich komm schon allein zurecht«, versuchte ich ihn mit einem gezwungenen Lächeln zu beruhigen. Er sah mich skeptisch an. Anscheinend musste ich wirklich an meiner Fähigkeit arbeiten, anderen etwas vorzumachen.
»Wie wäre es damit: Ich gehe mit dir zum Feuer, dann mache ich eine Runde durchs Haus und danach komme ich zurück und schau nach dir.«
»Okay«, stimmte ich widerwillig zu. Sosehr ich den Gedanken hasste, allein auf dieser Party zu sein, ich würde Evan nicht den Abend verderben, indem ich ihm das Gefühl gab, er müsste für mich den Babysitter spielen. Ich war es gewohnt, unsichtbar zu sein, also konnte ich einfach wieder von der Bildfläche verschwinden – sogar auf diesem seltsamen Planeten.
Das Gedränge auf der Veranda nahm zu, als wir zu der Treppe gingen, die in den Garten führte. Wieder griff Evan nach meiner Hand und führte mich.
»Evan!«, rief plötzlich eine weibliche Stimme. Obwohl er immer noch meine Hand hielt, schob sich jemand zwischen uns und ich konnte das Mädchen, dem die Stimme gehörte, nicht sehen. »Ich hab dich schon überall gesucht.«
Ich quetschte mich rechtzeitig durch, um zu erkennen, dass Haley Spencer Evan die Arme um den Hals geschlungen hatte und ihn an ihren gut entwickelten Vorbau drückte. Da Evan meine Hand in seiner hatte und mit der anderen seinen Becher festhielt, konnte er die Umarmung nicht erwidern, aber in meinem Magen breitete sich eine Hitze aus, die mir überhaupt nicht gefiel. Hastig schüttelte ich die Verunsicherung ab und wollte Evans Hand loslassen – aber er hielt meine nur fester und zog mich dichter zu sich.
Haley machte einen Schritt zurück, ließ die Hände aber auf Evans Nacken ruhen. »Wir wollten grade rein und uns noch was zu trinken holen. Komm doch mit.« Doch dann begegneten sich unsere Blicke. Als sie sah, dass meine Hand in seiner lag, wurden ihre Augen schmal.
»Oh«, sagte sie und ließ nun auch seinen Nacken los. »Ich wusste ja gar nicht, dass du in Begleitung bist.« Kritisch betrachtete sie mich von oben bis unten.
»Sorry, Haley«, meinte Evan freundlich, »wir wollten gerade zum Feuer.« Er zog mich noch ein bisschen näher zu sich und legte den Arm um mich. Mir blieb die Luft weg, und ich stand wie erstarrt neben ihm.
»Na, dann sehe ich euch wohl nachher«, meinte Haley eingeschnappt, warf die Haare zurück und stolzierte ins Haus. Die beiden Mädchen, die neben ihr gestanden hatten, folgten ihr etwas bestürzt.
Evan wandte sich mir zu. Die Hand immer noch auf meinem Rücken, schob er mich dichter an sich heran, damit wir uns unterhalten konnten. Wenn ich zu ihm emporschaute, fiel mir das Atmen schwer, und mein Herz klopfte wie verrückt.
»Möchtest du immer noch zum Feuer?«
Ich nickte.
Aber als er sich zur Treppe umwandte, wurden wir getrennt. In derselben Sekunde zerrte mich jemand aggressiv in die entgegengesetzte Richtung und rief: »Emma Thomas! Ich hab schon gehört, dass du hier bist!« Dann stieß ich mit dem massigen Körper von Scott Kirkland zusammen.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du tatsächlich zu meiner Party gekommen bist! Das ist der tollste Abend, den ich je erlebt habe«, verkündete er leicht lallend. Na wunderbar – er war nicht nur betrunken, sondern völlig hinüber.
»Danke, dass ich hier sein darf, Scott.« Ich versuchte, mich aus seinem Würgegriff zu befreien. »Großartige Party.«
Mit halbgeschlossenen Augen glotzte er auf mich herab und atmete mir schwer ins Gesicht. »Gehst du mit mir aus?«
»Äh … das ist echt nett von dir.« Ich suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, während ich ihn etwas entschiedener von mir wegschob. »Aber …« Panik stieg in mir hoch und breitete sich in der ganzen Brust aus. Ich war gefangen, mein Atem wurde hektisch, ich musste weg von diesem Jungen! Aber er machte nicht die geringsten Anstalten, mich loszulassen.
»Hey, Scott.« Evan begrüßte Scott mit einem übertrieben enthusiastischen Schlag auf den Rücken. »Tolle Party.«
»Danke, Evan«, lallte er. »Evan, das ist Emma Thomas«, sagte er und fesselte mich dabei mit einem Arm an seinen Körper. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er so groß war – und so stark. Ich passte fast in voller Länge unter seinen Arm. Verzweifelt schaute ich zu Evan auf und versuchte, mich aus Scotts Griff zu winden – leider vergeblich.
»Ja, ich weiß …«, begann Evan.
»Emma und ich werden zusammen zum Homecoming-Ball gehen«, fiel Scott ihm ins Wort. »Stimmt’s, Emma?«
Endlich schaffte ich es, mich aus seiner Umklammerung zu lösen. Mein Gesicht war knallrot, die Haare klebten mir verschwitzt an der Wange. Konfus hob Scott den Arm und sah sich suchend nach mir um.
Evan nahm meine zitternde Hand und zog mich sanft zu sich. Ich bemühte mich, wieder normal zu atmen, hatte aber das dringende Bedürfnis, mich zu setzen.
»Emma, ich glaube, Sara sucht dich.« Besorgt musterte Evan mein Gesicht. »Scott, wir sind gleich wieder da.«
Ehe Scott antworten konnte, umfasste Evan meine Hand fester und führte mich die Treppe hinunter. Meine Knie drohten nachzugeben, aber ich zwang meine Füße weiterzugehen. Erst als wir um die Ecke gebogen waren, klappte ich an der Steinmauer unter der Veranda zusammen und setzte mich auf den Boden.
Evan ging vor mir in die Hocke und versuchte, mir in die Augen zu schauen. »Bist du okay? Das war verrückt. Tut mir leid, dass ich dich verloren habe.«
Ich holte tief Luft und versuchte, das Zittern meiner Hände durch pure Willenskraft zu unterdrücken. Ich verstand überhaupt nicht, warum ich so aufgeregt war. Behutsam nahm Evan meine Hände, sah mir fest in die Augen und versuchte, meine Konzentration auf sich zu ziehen. Aber sosehr ich mich auch ermahnte, mich zusammenzureißen – ich konnte nur ins Leere starren und nahm ihn kaum zur Kenntnis.
Irgendetwas in dem Gedränge, der Geruch von Alkohol, der Zigarettenqualm, versetzte mich an einen anderen Ort – einen Ort, an den ich mich kaum erinnern konnte, aber ich wollte dorthin auf gar keinen Fall zurück. Zwischen den Leuten war kein Platz. Kein Platz zum Atmen, kein Platz, sich zu bewegen, ohne dass man angefasst und geschubst wurde. Die Enge und die ständigen Berührungen hatten in mir einen Sturm ausgelöst, der losgebrochen war, ehe ich ihn hatte in Schach halten können. Ich schauderte, denn ich wollte mich um keinen Preis an das erinnern, was sich da zu rühren begann.
»Emma, schau mich an.« Seine Stimme klang beruhigend. »Bist du okay?«
Endlich fand mein Blick seine grauen Augen und konzentrierte sich auf sie. Doch mein Gesicht wurde heiß, als mir dämmerte, in welchem Zustand er mich gerade gesehen hatte. Hastig wollte ich aufstehen. Er machte mir Platz, aber meine Beine waren nicht bereit, den Anweisungen meines Kopfs zu folgen. Ich geriet ins Schwanken – Evan fing mich auf, hielt mich an den Ellbogen fest und zog mich zu sich, um mich zu stützen.
Ich spürte seinen Atem im Gesicht, als er sich zu mir herunterbeugte und mich prüfend ansah. »Vielleicht solltest du dich lieber wieder hinsetzen«, sagte er, machte aber keinerlei Anstalten, mich loszulassen.
Sein warmer Körper war ganz dicht bei mir, meine Hände ruhten auf seinem Brustkorb, und mein Herz schlug schneller. Ich sah zu ihm hoch, aber er war zu nahe. Wieder überrollte mich die Panik, und ich wich vor ihm zurück. Er gab mir sofort Raum.
Eine Sekunde standen wir ganz still, dann stieß ich, ohne ihn anzuschauen, hervor: »Mir geht’s gut, ehrlich.« Aber mein Zittern strafte mich Lügen – ich musste so jämmerlich wirken.
»Das war vermutlich nicht die allerbeste erste Party für dich«, meinte Evan sanft. »Vielleicht solltest du zunächst lieber auf eine mit etwa zehn Leuten gehen, ehe du es mit hundert versuchst.«
Ich zuckte die Achseln und zwang mich zu einem Lächeln, das er ganz entspannt erwiderte.
»Möchtest du gehen?«
»Nein, bleib du ruhig hier«, ermunterte ich ihn, wild entschlossen, meine Fassung zurückzugewinnen. »Mir geht es wirklich gut. Ich setze mich ans Feuer.«
Wir gingen weiter um die Hausecke. Dunkle Baumsilhouetten markierten die Grundstücksgrenze, davor befand sich eine mit Natursteinen geflieste Terrasse. Im Zentrum loderte, eingeschlossen von einer kleinen Mauer, ein munteres Feuer. Um die Feuerstelle herum standen ungefähr zwei Dutzend Stühle, aber nur die Hälfte davon war besetzt. Ich ließ mich auf einem Stuhl jenseits von einer kleinen Gruppe nieder, die leise plauderte und lachte.
»Evan«, sagte ich flehend, »bitte geh und amüsier dich. Ich warte hier auf Sara. Danke, dass du mir vorhin aus der Klemme geholfen hast, aber ich kann gut auf mich allein aufpassen. Ganz bestimmt.« Mit forschendem Blick versuchte er, meinen Gesichtsausdruck zu entziffern, und ich wünschte, ich könnte einfach verschwinden und diesen ganzen Abend auslöschen. Unfähig, seine stumme Inquisition zu ertragen, starrte ich ins Feuer.
»Ich komme gleich wieder zurück«, versicherte er mir. »Ich suche Sara und hol uns etwas zu trinken, okay?« Sein fürsorglicher Ton machte mich nur noch verlegener. Ich konnte nicht zu ihm hinschauen, selbst dann nicht, als er zum Haus zurückging. Unglaublich, dass ich mich in seiner Gegenwart so hatte gehenlassen, so hilflos gewesen war. Ich kochte innerlich vor Wut über meine eigene Schwäche. Ich wollte nicht, dass Evan dachte, ich müsste beschützt werden. So gut ich konnte, verdrängte ich meine Qual und ließ mich von dumpfem Nichts einhüllen, schob die aufgescheuchten Gefühle beiseite, den Lärm der vielen Menschen und das Zittern, das immer noch viel zu dicht unter der Oberfläche lag. So starrte ich in die Flammen, die in die Dunkelheit emporzüngelten, versank immer tiefer ins Nichts, und dann war auf einmal alles verschwunden.
»Dir ist schon bewusst, dass es regnet, oder?«, fragte Evan neben mir. Mit einem Ruck tauchte ich aus der Leere auf und blickte mich um. Ich war die Einzige, die noch vor dem langsam verlöschenden Feuer saß. Kalter Regen klebte mir die Haare ans Gesicht und ließ mich frösteln. Evan starrte, die schwarze Kameratasche fest umschlossen, in die wenigen verbliebenen trotzigen Flammen und ignorierte die Nässe.
»Wirst du jetzt nie wieder mit mir sprechen?«, fragte er leise.
Ich wandte mich ihm zu. »Nein!« Dann fing ich laut an zu lachen.
»Was?!«, fragte er verdutzt. Doch während er sich anstrengte zu verstehen, was ich so witzig fand, breitete sich auch auf seinem Gesicht langsam ein Lächeln aus.
»Ich werde von einem betrunkenen Bären angegriffen und drehe total durch, ich demütige mich, und du hast Angst, dass ich nicht mehr mit dir spreche?« Ich lachte erneut.
Anscheinend verstand Evan jedoch noch immer nicht, was daran so lustig sein sollte.
»Was meinst du denn mit demütigen?« Jetzt war er wieder ganz ernst.
Achselzuckend zog ich die Knie an die Brust und versuchte, nicht zu frösteln. Ich war nicht sicher, ob ich ihm meine Verletzlichkeit erklären wollte. Geduldig wartete er, dass ich die richtigen Worte fand. Ich holte tief Luft.
»Ich hab gesehen, wie du mich angeschaut hast, und ich weiß, wie meine Reaktion gewirkt haben muss.« Ich senkte den Blick. »Ich finde es grässlich, dass du mich immer wieder von meiner allerschlimmsten Seite siehst. Das bin wirklich nicht ich.«
»Emma!«, brüllte Sara, die unter der Veranda erschienen war, ehe Evan antworten konnte. »Bist du denn verrückt? Komm aus dem Regen!«
Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich Saras Kaschmirpullover anhatte. Sofort sprang ich auf und lief zu ihr.
»Oh, Sara, es tut mir so leid. Ich hab total vergessen, dass ich deinen Pulli anhabe.«
»Der Pulli ist mir egal«, erwiderte sie. »Was macht ihr denn da draußen? Euch ist doch bestimmt saukalt.« Jetzt gesellte sich auch Evan zu uns.
»Wir schnappen ein bisschen frische Luft«, erklärte Evan und rieb sich die Arme. Anscheinend merkte er jetzt ebenfalls, dass ihm kalt war.
»Du hast einen schlechten Einfluss auf sie.« Sara sah Evan finster an, begann dann aber schon wieder zu grinsen. Sie schaffte es nie, lange wütend zu sein. Wahrscheinlich ging es ihr damit ungefähr so wie mir, wenn ich meinte, mir um jeden Preis ein Lächeln abringen zu müssen.
»Fertig?«, fragte sie mich.
»Wo ist Jason?«, fragte ich zurück, unsicher, ob ich mir Sorgen machen musste.
»Er ist mit einem seiner Footballkumpels heimgefahren«, erklärte Sara mit einem Funkeln in den Augen, und mir war sofort klar, dass mich im Auto eine gute Geschichte erwartete.
»Lass uns ums Haus herumgehen«, schlug ich vor. »Ich möchte lieber nicht noch mal rein.«
Wir rannten so schnell wie möglich zu Saras Auto. Als wir im Trockenen saßen, ließ Sara den Motor an und drehte die Heizung auf. Evan lehnte sich an meine Tür und wartete im Regen, dass ich das Fenster runterließ. Tropfnass und mit bebenden, blauen Lippen beugte er sich zu mir herunter. Als ich in seine rauchgrauen Augen blickte, blieb mir wieder einmal die Luft weg.
»Kann ich dich morgen anrufen?«
»Nein, das geht nicht.« Ich verzog das Gesicht, und er sah mich verwirrt an. »Es ist kompliziert. Ich darf das Telefon nicht benutzen.« Es fiel mir schwer, das laut auszusprechen, aber er sollte nicht glauben, ich würde ihn zurückweisen.
Der fragende Ausdruck blieb in seinen Augen, trotzdem versuchte er, verständnisvoll zu reagieren. »Okay, dann seh ich dich am Montag?«
»Ja, bis Montag dann.«
Er zögerte eine Sekunde zu lang, und ich konnte schon wieder nicht atmen.
»Gute Nacht«, sagte ich schließlich und atmete ganz bewusst aus. »Geh aus dem Regen, ehe du erfrierst.« Da richtete er sich endlich auf, winkte mir zu, als ich das Fenster wieder hochließ, und rannte zurück zum Haus.
»Nein! Wollte er dich etwa gerade küssen?«, kreischte Sara, und ich riss mich endlich von Evans Anblick los. »Emma, ich schwöre dir, wenn ich nicht neben dir gewesen wäre, hätte er dich geküsst.«
»Nein, niemals«, winkte ich ab. Ich bekam Herzklopfen, wenn ich mir nur vorstellte, er wäre mir noch näher gekommen. Aber ich schüttelte den Gedanken hastig ab.
»Du musst mir alles erzählen«, verlangte Sara ungerührt, als wir auf die Straße fuhren.
»Du zuerst«, drängte ich.
Sara zögerte keine Sekunde und redete die ganze Heimfahrt wie ein Wasserfall von ihrer Zeit mit Jason.
Ihr Haus war dunkel, als wir ankamen.
»Wie spät ist es?«, fragte ich, denn ich hatte keine Ahnung, wie lange wir beim Spiel und auf der Party gewesen waren.
»Halb zwölf.«
Früher, als ich gedacht hatte. Das bedeutete, dass ich nur eine gute Stunde auf der Party gewesen war. Es kam mir wesentlich länger vor, aber wenn ich zurückdachte, wurde mir klar, dass ich eigentlich kaum etwas getan hatte. Evan und ich hatten uns nicht mal richtig unterhalten, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, mir irgendwelche betrunkenen Idioten vom Leib zu halten.
Ich machte mich bettfertig und schrubbte mir das restliche Make-up, das der Regen noch nicht fortgewaschen hatte, vom Gesicht. Wenn Carol mich so erwischte, bräuchte ich wahrscheinlich Make-up, um ihre Reaktion darauf zu überdecken.
Letztes Jahr hatte Sara mir einmal ein paar Lippenstifte geschenkt, die sie nicht mehr benutzte. Ich hatte sie ausprobiert, mir am Ende aber die ganze Farbe mit einem Papiertaschentuch wieder abgewischt. Als ich an jenem Abend vom Training nach Hause kam, konfrontierte Carol mich mit den verschmierten Taschentüchern, die sie aus dem Badezimmermüll gefischt hatte, und warf mir vor, ich würde mich hinter ihrem Rücken schminken, obwohl sie mir doch klar und deutlich gesagt habe, dass sie so etwas nicht dulde. Sie beschimpfte mich als Hure und noch einiges andere, während sie mir mit der Hand das Gesicht so brutal zusammendrückte, dass die weiche Innenseite meiner Wangen anfing zu bluten.
Deshalb war es mir lieber, meine Haut zu malträtieren, bis sie wund war, anstatt ein zweites Mal diese Qual über mich ergehen lassen zu müssen.
Als wir dann im Dunkeln im Bett lagen, drängelte Sara: »Jetzt musst du mir aber erzählen, was heute Abend zwischen dir und Evan passiert ist.«
Insgeheim hatte ich gehofft, sie hätte Evan und mich über ihre Erlebnisse mit Jason vergessen und wir könnten dieses Thema einfach fallenlassen. Aber nichts dergleichen.
Ich starrte in die Dunkelheit über mir, unsicher, wo ich anfangen sollte.
»Ich hab mit ihm geredet«, gestand ich schließlich. Dann schwieg ich einen Moment.
»Bitte bring mich nicht dazu, dir jede Einzelheit aus der Nase ziehen zu müssen.«
»Ich hab rausgefunden, dass er aus San Francisco kommt und womöglich dahin zurückzieht, wenn es ihm hier nicht gefällt«, fuhr ich fort. »Ich kann es nur hoffen.«
»Wie meinst du das?« Sara klang verwirrt. »Vom Fahrersitz aus hatte ich eher den Eindruck, dass es zwischen euch ziemlich heftig gefunkt hat – du weißt schon, fast hätte er dich geküsst.« Mir wurde ganz warm, als sie erwähnte, wie nah sein Gesicht meinem beim Abschied gewesen war.
»Sara, ich kann das nicht.« Jetzt wurde meine Stimme fester. »Ich hab kaum mit ihm gesprochen. Den größten Teil des Abends war er damit beschäftigt, mich vor besoffenen Hormon-Gorillas zu retten. Ganz schön erbärmlich. Ich will ihn nicht mögen. Ich möchte nicht, dass es Augenblicke gibt, in denen er mich womöglich küsst. Ich muss mich von ihm fernhalten.«
»Nun bin ich völlig verwirrt«, erwiderte Sara. »Ich dachte, wir haben einen Plan. Und wer hat dich angebaggert? Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht da war.«
»Das brauchst du nicht«, gab ich zurück und hörte selbst meinen scharfen Unterton. »So war es eben. Ich möchte nicht beschützt oder betreut werden. Ich müsste wirklich stärker sein, damit weder Evan Mathews noch du für mich in die Bresche springen müssen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ihm am Montag unter die Augen treten soll.«
»Das meine ich doch gar nicht«, wandte Sara leise ein, und ich hörte an ihrer Stimme, dass sie gekränkt war. »Ich weiß, du willst nicht, dass ich dich beschütze, das hast du mir ja nicht erst heute klargemacht. Aber ich fühle mich schlecht, weil ich wusste, wie schwer der Abend für dich sein würde, und es hört sich an, als wäre er ziemlich furchtbar gewesen. Als deine Freundin hätte ich für dich da sein müssen, weiter nichts.«
»Aber es hätte nicht furchtbar sein dürfen, Sara. Es war doch bloß eine blöde Party – und ich bin trotzdem ausgeflippt. Ich hab es nur mit Müh und Not geschafft zu funktionieren.« Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus. Zum Glück war es dunkel, und sie konnte nicht sehen, dass mir Tränen in den Augen standen. Ich biss die Zähne zusammen und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Dann atmete ich tief durch, um all die schwindelerregenden Gefühle zu vertreiben, und wischte mir die Wangen trocken. Als ich mich wieder einigermaßen stabil fühlte, drehte ich mich von Sara weg.
»Tut mir leid, Sara«, sagte ich leise. »Es war ein langer Tag, und ich benehme mich albern. Außerdem müssen wir früh aufstehen, damit ich rechtzeitig nach Hause komme, um meine Pflichten zu erledigen. Lass uns einfach schlafen, okay?«
»Okay«, flüsterte sie.
Ich hatte Angst, dass ich nicht so leicht würde einschlafen können, aber nach all den Kämpfen, die mein Inneres heute ausgefochten hatte, war ich vollkommen erschöpft.