10 AbEnDspiel

Als wir auf den Parkplatz der Schule einbogen, ging ich fest davon aus, dass Evan mich absetzen und später zu unserem Spiel zurückkehren würde. Denn die davor stattfindenden Spiele der Junior-Mannschaft zogen abgesehen von den Eltern nie viele Zuschauer an. Aber er stellte den Motor ab und machte Anstalten auszusteigen.

»Willst du wirklich bleiben?«, fragte ich, während ich meine Taschen auslud.

»Ist das okay?«

»Klar«, versicherte ich. »Es sind nicht viele Leute da, aber wie du willst.«

»Kann ich mich zu dir und Sara setzen?«

»Normalerweise sitzt das Team zusammen, aber ich wüsste nicht, warum du dich nicht dazugesellen könntest. Ich muss dich allerdings warnen – ich höre Musik und blende alles um mich herum aus, damit ich mich richtig konzentrieren kann. Ich werde vermutlich kein Wort mit dir reden.«

»In Ordnung. Ich such dir ein paar schöne Songs raus.« Damit nahm er mir den iPod aus der Hand und fing an, durch die Musikauswahl zu scrollen.

»Hey, Sara«, rief ich, als wir uns der ersten Reihe der Tribüne näherten. Sie war so auf das Spiel konzentriert gewesen und außerdem noch ins Gespräch mit einem der Mädchen vertieft, dass sie uns bislang gar nicht bemerkt hatte.

»Hi«, rief sie aufgeregt, als sie mich entdeckte. »Wie war …« Dann sah sie Evan, und ihre Frage verwandelte sich in ein Lächeln, das für meinen Geschmack ein bisschen zu lange anhielt. Ich wusste, dass sie mir tausend Fragen über meinen Nachmittag stellen wollte, deshalb war ich ganz froh über Evans Anwesenheit. So konnte ich sie immerhin bis zur Heimfahrt hinhalten. »Hi, Evan«, sagte Sara freundlich.

Evan setzte sich neben sie, so dass er sich mit ihr unterhalten konnte, während ich mich in meine Welt verzog und meine – oder genaugenommen seine – Musik hörte. Er hatte eine Band ausgesucht, die ich kannte, und ich ließ mich von den energiegeladenen Rhythmen davontragen. Stumm beobachtete ich das Spiel vor mir, ohne ein einziges Mal zu Evan oder Sara hinüberzuschauen. Dank der Lautstärke in meinen Ohren konnte ich auch ihr Gespräch nicht hören.

Während sich die erste Halbzeit dem Ende zuneigte, füllte sich die Tribüne immer mehr mit den Mitgliedern der ersten Schulmannschaft. Die meisten winkten mir zur Begrüßung zu, und ich antwortete mit einem Nicken. Meine Teamkollegen waren mit meinem Ritual vertraut und versuchten erst gar nicht, mit mir zu reden.

Hin und wieder griff Evan in meine Jackentasche und zog den iPod heraus, um eine neue Songauswahl zu treffen. Als seine Hand zum ersten Mal in meine Tasche glitt, stockte mir der Atem, aber nachdem mir klar war, was er machte, ignorierte ich ihn wieder und konzentrierte mich auf das Treiben vor mir.

Weil das Spielfeld völlig durchweicht war und beim letzten Footballspiel Löcher in den Rasen gerissen worden waren, hatte die Junior-Mannschaft Schwierigkeiten, den Ball ins Rollen zu bringen. Gras flog durch die Gegend, Stollen verhakten sich im Rasen, Körper schlidderten durch den Matsch. Am Ende der ersten Halbzeit hörte der Sprühregen auf. Aber der Schaden ließ sich nicht mehr beheben.

Nachdem die Mädels der Junior-Mannschaft zwei zu eins verloren hatten, versammelte sich unser Team zum Aufwärmen auf der Bahn. Währenddessen trudelten weitere Zuschauer ein. Mir war es gleichgültig, wie viel Publikum wir an diesem kühlen, feuchten Abend haben würden, deshalb sah ich gar nicht hin – es hatte ja nichts mit dem Spiel als solchem zu tun.

Als der Anpfiff ertönte, war ich wie in Trance, in meinem Kopf gab es keinen anderen Gedanken als an den Ball – wo er sich befand, wohin er sich bewegte und wer ihn dort annehmen konnte. Aber auch bei uns entwickelte sich das Spiel nur stockend, es wurde danebengetreten, Dribbel- und Passversuche landeten im Matsch, oder der Ball drehte sich nur wild, blieb aber an Ort und Stelle liegen. Bis zur Halbzeit erzielte keine Mannschaft einen Treffer, aber alle waren von oben bis unten schlammbespritzt.

Die zweite Hälfte begann wie die erste. Nach einiger Zeit wurde deutlich, dass der Ball sich statt am Boden am besten durch die Luft bewegen ließ, wobei es allerdings wiederholt zu Zusammenstößen zwischen den Spielerinnen kam, die um eine gute Annahme- oder Schussposition konkurrierten. So entwickelte sich im Kampf um die Ballkontrolle ein eher körperbetontes Spiel mit vielen gelben Karten und Verwarnungen.

Etwa fünf Minuten vor dem Abpfiff war Weslyn in Ballbesitz. Unsere Abwehrspielerin trat ihn kräftig von der Torraumlinie ab, und die Mittelfeldspielerin nahm ihn an. Sie dribbelte ein paar Meter, wich der Verteidigerin der Gegenmannschaft aus und passte den Ball dann weiter in die gegnerische Hälfte zu Lauren. Ohne zu zögern, gab Lauren ihn an Sara weiter. Auf den Flügeln war es weniger schlammig und tückisch als im Mittelfeld, also hielt Sara den Ball in der Nähe der Seitenlinie, bis eine gegnerische Verteidigerin ihr in den Lauf grätschte. Doch ehe Sara stürzte und auf der Angreiferin landete, trat sie den Ball schnell noch weg.

Er segelte durch die Luft. Ich stand ein paar Meter innerhalb des Strafraums, die gegnerische Abwehrspielerin kam auf mich zu, den Ball, der auf Taillenhöhe zu mir sauste, im Visier. Ohne lange über den potentiellen Erfolg meiner Aktion nachzudenken, ging ich in die Hocke, drückte die Fußballen fest in den weichen Boden und sprang dann mit aller Kraft in die Höhe. Ganz auf den Ball konzentriert, lehnte ich mich nach links und schwang den rechten Fuß. Wo die Verteidigerin war, wusste ich in diesem Moment nicht, aber ich hoffte, den Ball um sie herum in Richtung Tor lenken zu können. Nach dem Ballkontakt ging ich zu Boden, knallte erst mit der Schulter, dann mit der Hüfte auf, dass der Schlamm nur so spritzte. Ich ächzte laut und versuchte, den Ball im Auge zu behalten, konnte aber durch die Beine der Verteidigerin nichts sehen. Im selben Moment, in dem ich den Kopf hob, hörte ich den Pfiff des Schiedsrichters und sah den Ball im Netz.

Laut jubelnd zog Sara mich hoch, umarmte mich und hüpfte aufgeregt um mich herum. Ebenfalls jubelnd, riss ich die Arme in die Höhe und lief wieder zur Spielfeldmitte, um mich für den nächsten Anstoß bereitzumachen. Ich war in Hochstimmung, erfüllt von dem Rauschzustand, den ich in diesem Spiel suchte und fand.

In den letzten Minuten fiel kein weiteres Tor. Beim Abpfiff rannte unser Team aufs Feld, jubelte und vollführte einen Freudentanz. Als ich mich umschaute, merkte ich, dass nicht nur unser Team auf dem Platz war, sondern uns auch viele Zuschauer gratulieren wollten. Bekannte und unbekannte Menschen klopften mir auf die Schulter, ein Wirbel von Gesichtern, Beifall und Berührungen.

Dann ließ die Hochstimmung allmählich nach, und ich merkte, dass ich genug von dem ganzen Chaos hatte. Ich sagte Sara, ich würde in der Kabine auf sie warten, und sie versprach, gleich nachzukommen. Joggend machte ich mich auf den Weg zurück zur Schule. Als ich die Treppe erreichte, sah ich eine große Silhouette an der Mauer lehnen.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte die angenehme Stimme aus dem Schatten.

»Danke«, antwortete ich, drosselte mein Tempo und ging auf die Gestalt zu. Die Hände in den Taschen vergraben, wartete Evan auf mich.

»Das war ein echt beeindruckendes Tor.«

Ich nahm die Anerkennung lächelnd an, wurde aber wieder ein bisschen rot.

»Soll ich hier auf dich warten, während du dich umziehst?« Ich stutzte. Auf diese Frage war ich nicht gefasst gewesen.

»Du musst nicht auf mich warten«, antwortete ich bedächtig.

»Ich hatte gehofft, ich könnte dich nach Hause fahren.« Beim Gedanken daran, dass er vor meinem Haus hielt, wurde mir ganz flau im Magen. Zwar rechnete ich nicht damit, dass Carol und George auf mich warteten, um mich willkommen zu heißen, aber ich wusste, zumindest Carol würde nicht eher schlafen, bis ich sicher im Haus eingeschlossen war. Und dass sie mich aus Evans schnittigem schwarzem Auto steigen sah, war das Letzte, was ich mir wünschte. Wie diese Konfrontation verlaufen würde – daran wollte ich nicht mal denken.

»Danke«, antwortete ich aufrichtig, »aber ich habe Sara den ganzen Tag nicht gesehen und ihr schon versprochen, dass ich mit ihr nach Hause fahre.«

»Okay.« Er klang enttäuscht, was mich ein bisschen überraschte.

Nach einer Sekunde fügte ich verlegen hinzu: »Hat mir übrigens richtig gut gefallen heute. Danke für das leckere Essen.«

»Mir hat es auch gefallen«, stimmte er zu, allerdings ohne eine Spur von Verlegenheit. »Dann sehen wir uns am Sonntag?«

»Ja.«

Evan lächelte mir zu, dann ging er zurück in Richtung Spielfeld, wo er ein paar Jungs aus dem Fußballteam begegnete und im Handumdrehen in ein Gespräch verwickelt wurde. In der Zwischenzeit kam Sara auf mich zugelaufen. Nicht mal der ganze Schlamm in ihrem Gesicht konnte ihr Strahlen verbergen. Sie begrüßte mich mit einer leidenschaftlichen Umarmung.

»Das war ein tolles Spiel!«, rief sie.

»Ja.« Ich atmete aus. »Sara, ich … kriege … keine Luft.«

»Sorry«, sagte sie und ließ mich los. »Aber das Spiel war echt super.« Vor Begeisterung konnte sie kaum stillstehen.

»Ja, das war es«, pflichtete ich ihr bei, aber mein Energieniveau war bei weitem nicht so hoch wie ihres. »Komm, wir ziehen uns um. Ich bin bettreif.«

»Glaub nur nicht, dass ich dich aussteigen lasse, bevor du mir alle Einzelheiten erzählt hast«, erklärte sie. »Ihr beide habt total entspannt ausgesehen, wie ihr da heute Abend nebeneinandergesessen habt. Bist du sicher, dass ihr immer noch ›nur Freunde‹ seid?«

»Sara!«, rief ich, und meine Stimme wurde plötzlich eine Oktave höher. »Ich hab nicht mal mit ihm geredet, als er da neben mir saß.« Sie lachte, und ich begriff, dass sie sich nur über mich lustig machte. Kopfschüttelnd fuhr ich fort: »Du bist echt eine verrückte Nummer.«

Nach dem Duschen fuhr Sara mich nach Hause, und ich lieferte ihr die Details, auf die sie so scharf war. Ich erzählte ihr sogar von Evans verwirrenden Bemerkungen; zu meinem Entsetzen lachte Sara darüber.

Dann brachte sie mich auf den neuesten Stand in Sachen Jason. Sie war hin und weg von ihm, was mich natürlich freute, aber sie war ein bisschen durcheinander, weil er sie nicht mal richtig geküsst hatte. Wenn es darum ging, einen Jungen »näher kennenzulernen«, war Sara nicht gerade schüchtern. Ich hoffte, dass sie endlich einen gefunden hatte, der sie respektierte, aber stattdessen machte sie sich Sorgen, dass womöglich etwas mit ihr nicht stimmte.

Als wir vor meinem Haus hielten, schaute ich aus dem Autofenster auf das graue Haus. Durch die dunklen Fenster war keine Bewegung zu sehen. Ich holte tief Luft, sagte Sara gute Nacht und stieg aus.

Langsam ging ich die dunkle Auffahrt entlang zur Hintertür. Als ich sie öffnen wollte, stieß ich auf unerwarteten Widerstand – der Knauf ließ sich nicht drehen, er rührte sich nicht. Die Tür war verschlossen. Mir wurde übel.

Sara war schon weggefahren. Klopfen kam nicht in Frage – meine Tante und mein Onkel hatten ganz bewusst die Tür abgeschlossen, obwohl ich nicht zu Hause war. Meine Gedanken rasten. Was hatte ich verbrochen, dass man mich aussperrte? Mein Puls beschleunigte sich, als ich überlegte, was mir wohl bevorstand. Ich befürchtete das Schlimmste.

Vorsichtig legte ich die Hände an das Glasfenster der Tür und versuchte, ins Haus zu spähen, aber wegen der Reflexionen konnte ich in der Küche unmöglich etwas erkennen. Doch dann verschwamm mein Spiegelbild plötzlich, und ich sah in ein zornig funkelndes Augenpaar. Erschrocken sprang ich zurück. Das war sie! Wie erstarrt blieb ich stehen und wartete darauf, dass sie sich bewegte. Doch nichts in der Dunkelheit rührte sich.

Plötzlich flammte in der Küche das Licht auf. Ich erwartete, Carol zu sehen, die mich wütend musterte, aber die Küche blieb leer, bis George aus dem Esszimmer kam. Verdutzt kniff ich die Augen zusammen und fragte mich unwillkürlich, ob ich gerade wirklich Carol gesehen hatte. Mit verkniffenem Gesicht kam George zur Tür.

»Du sollst doch um zehn zu Hause sein«, schimpfte er.

»Ich hatte heute Abend ein Spiel«, erwiderte ich leise und verwirrt.

»Das ändert gar nichts. Spätestens um zehn hast du hier zu sein. Wenn du das nicht schaffst, solltest du vielleicht lieber nicht an den Abendspielen teilnehmen.« Seine Stimme klang kalt, seine Augen waren hart, und ich wusste, dass es keinen Zweck hatte zu argumentieren. Wenn ich es tat, verbot er mir das Fußballspielen womöglich ganz, und dieses Risiko wollte ich nicht eingehen.

»Okay«, flüsterte ich, schlüpfte ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei und eilte zu meinem Zimmer.

»Ich persönlich hätte dich draußen in der Kälte stehen lassen«, zischte es aus der Dunkelheit, als ich am Wohnzimmer vorbeikam. Ich schnappte erschrocken nach Luft, ging aber schnell weiter und schloss meine Tür hinter mir, voller Angst, was mich in der Dunkelheit erwartet hätte, wäre ich stehen geblieben, um nachzuschauen.