20 Das ziMmeR
»Bist du wach?«, fragte Sara vom gegenüberliegenden Bett.
»Mhmm«, grummelte ich unter der Decke. »Ich bin wach.«
»Du musst mir noch von dem Abendessen gestern Abend erzählen.«
Ich wälzte mich auf die Seite, damit ich sie anschauen konnte. Sie war eindeutig wacher als ich; den Kopf auf den Ellbogen gestützt, sah sie mich erwartungsvoll an. Ich streckte mich und gähnte laut. Dann stopfte ich mir ein Kissen in den Rücken und setzte mich auf.
»Wie war das Abendessen? Ich kann wirklich nicht mehr länger warten«, beharrte Sara.
Ich erzählte ihr alles über »die andere Dimension«, beschrieb Evans Eltern, die unhöflichen Gäste und Evans Verwandlung, sobald er sich in Gesellschaft dieser Menschen befand. Catherine sparte ich mir bis zum Schluss auf. Als ich fertig war, krümmte Sara sich vor Lachen – nicht ganz so hysterisch wie ich auf der Steintreppe, aber auch sie musste sich die Tränen aus den Augen wischen.
»Ich kann gar nicht glauben, dass du das zu ihr gesagt hast«, stieß sie schließlich hervor.
»Ich konnte mich einfach nicht bremsen«, gestand ich. »Vermutlich war das meine Aufwärmübung für Jakes Party.«
»Warte, was ist denn bei Jakes Party passiert – abgesehen davon, dass alle rumgeknutscht haben?«
»Also – ich hab Drew Carson kennengelernt und fand ihn sehr nett, bis mir klargeworden ist, worum es bei dieser Party eigentlich geht. Dann ist mir Jake zur anderen Seite des Kellers gefolgt und wollte mich überreden, mit ihm allein irgendwohin zu gehen.«
»Und wie bist du ihn wieder losgeworden?«, fragte sie entsetzt. »Ich hab dich doch gewarnt, du sollst nirgends hingehen.«
»Sara, ich hatte keinen blassen Schimmer, was du damit meinst. Aber als ich es dann endlich kapiert hatte, hab ich ihm gesagt, dass ich mich um nichts in der Welt mit ihm einlassen würde, und bin nach oben gekommen, wo ich dich und Jason gefunden habe. Sara, Evan wusste Bescheid über diese Partys, als Jake mich eingeladen hat, und er hat mich trotzdem nicht gewarnt. Er ist sogar vorher schon mal auf einer dieser Partys gewesen.«
»Ernsthaft?«, fragte sie bestürzt. »Wow, ich hätte nicht gedacht, dass er so drauf ist.«
»Ich auch nicht«, pflichtete ich ihr bei. »Er schwört ebenfalls, dass er nicht so ist und dass er damals nichts ›getan‹ hat. Aber er konnte mir auch nicht sagen, was er getan hat. Vielleicht will ich es auch lieber gar nicht wissen.«
»Aber ich!«, rief sie.
»Sara!« Ich sah sie verdutzt an. »Er kann tun und lassen, was er will und mit wem er will. Das geht uns nichts an.« Weil ich unbedingt das Thema wechseln wollte, fragte ich schnell: »Und was läuft zwischen dir und Jason? Wie war die Zeit mit ihm allein?«
Sara seufzte und ließ sich theatralisch zurückfallen. Mit dieser Reaktion hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
»Was ist? Erzähl es mir!«, verlangte ich ungeduldig.
»Du und Evan, ihr seid euch auf der Couch gestern Nacht näher gekommen als Jason und ich. Na ja, außer dass wir uns geküsst haben, aber selbst darauf musste ich eine Ewigkeit warten«, gestand sie frustriert.
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß ja, was du über mich denkst.« Sie warf mir einen Blick zu, und ich gab ihr mit den Augen zu verstehen, dass ich wusste, worauf sie hinauswollte – und dass mir mein Vorwurf von damals leidtat. »Es ist mir eigentlich auch egal, ich mag Sex. Aber Jason fasst mich nicht mal an. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Inzwischen habe ich fast den Verdacht, dass er einfach nicht auf mich steht.« Sie klang traurig und enttäuscht, und ich wusste nicht, wie ich sie trösten sollte.
»Magst du ihn denn noch?«
»Da bin ich mir auch gar nicht mehr so sicher.« Nach kurzem Schweigen schnitt sie vorsichtig ein neues Thema an. »Wir haben nie darüber gesprochen, dass nach dem Spiel neulich plötzlich deine Mutter aufgetaucht ist.«
»Darüber möchte ich lieber nicht reden«, entgegnete ich prompt. »Ich habe auch so genug im Kopf.« Ich wollte diesen Abend nicht noch einmal durchleben – oder sonst irgendeine Erinnerung an meine Mutter. Es war einfach zu schmerzhaft.
Sara akzeptierte meine abweisende Reaktion ohne ein weiteres Wort, sah zur Uhr neben ihrem Bett und fragte: »Wann holt Evan dich ab?«
»Um halb elf«, antwortete ich und sah ebenfalls zur Uhr. »Sara, er kommt in einer Stunde, ich muss duschen! Aber wir sind noch nicht fertig mit unserer Unterhaltung über dich und Jason. Wir machen morgen weiter, okay?«
»Okay«, seufzte Sara.
Als Evan Punkt halb elf erschien, war ich gerade fertig.
»Was machen wir heute?«, fragte ich und sog die warme Novembersonne in mich auf, als wir in sein Auto stiegen.
»Nur Geduld, ich zeige es dir«, antwortete er und fuhr los.
Als wir in seine Auffahrt einbogen, stand dort zu meiner Überraschung ein silberner BMW – noch nie hatte hier ein anderes Auto geparkt. Dann begriff ich, dass noch jemand zu Hause sein musste. Konnte ich seinen Eltern nach dem demütigenden Auftritt gestern Abend unter die Augen treten?
»Wer ist denn hier?«, fragte ich und hoffte, dass er sagen würde: ›Niemand.‹
»Meine Mom. Aber keine Angst, wir werden sie wahrscheinlich gar nicht zu Gesicht bekommen.«
Kaum waren die Worte aus seinem Mund, öffnete sich auch schon die Küchentür, und seine Mutter trat heraus, um uns zu begrüßen.
»Oder vielleicht doch«, korrigierte Evan sich etwas überrascht.
Vivian trug eine weitgeschnittene schwarze Hose und einen eng anliegenden blauen Rollkragenpullover, der ihrer zierlichen Figur schmeichelte. Wieder staunte ich, wie kultiviert sie wirkte – auch ohne das ganze Glitzerzeug von gestern.
»Hallo, Emily«, begrüßte sie mich lächelnd. »Wie nett, dich wiederzusehen.« Ich erwiderte ihr Lächeln, aber ich verstand nicht ganz, warum sie mich so freundlich empfing. Selbst Evan schien sich darüber zu wundern.
Sie kam die Verandatreppe herunter und nahm mich kurz in die Arme. Ich erstarrte, unfähig, die unerwartete Geste zu erwidern. Mir ging das alles viel zu schnell.
»Soweit ich weiß, wollt ihr zwei den Nachmittag zusammen verbringen, das finde ich wunderbar«, strahlte sie.
»Mom, was ist denn los mit dir?«
Vivian musterte ihren Sohn missbilligend.
»Evan, ich freue mich, Emily wiederzusehen, weiter nichts.« Sie sah mich an, als wollte sie sich für Evans Unhöflichkeit entschuldigen.
»Wir gehen in die Garage«, erklärte er ihr, beäugte sie aber immer noch ziemlich skeptisch.
»Hat mich sehr gefreut, dich zu sehen«, sagte seine Mutter zu mir. »Vielleicht kannst du ja mal zum Abendessen zu uns kommen.«
»Äh, das wäre schön«, antwortete ich, noch immer unter Schock. Ich ließ den gestrigen Abend Revue passieren, konnte mir aber dennoch nicht erklären, warum sie so nett zu mir war.
Ich folgte Evan. Doch anstatt hinauf in den Freizeitraum zu gehen, öffnete er die Tür zur anderen Hälfte der Garage. Als er sie hinter uns wieder geschlossen hatte, hielt er inne. Seine Augen blitzten entschlossen.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich habe keinen blassen Schimmer, warum sie sich so seltsam benimmt, aber es macht mich nervös. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich irgendwas gesagt oder gehört habe, was ihr Verhalten erklären könnte. Tut mir leid, wenn das für dich gerade unangenehm war.«
»Ich hab ehrlich gesagt auch nach einer Erklärung gesucht«, gab ich zu. »Eigentlich war ich mir sicher, sie würde mich nach meinem Auftritt gestern Abend zutiefst verachten. Außerdem war ich überzeugt, dass Catherine ihr irgendetwas Negatives über mich erzählt.«
Evan grinste, wahrscheinlich weil er an meinen Abschiedskommentar dachte.
»Oh, übrigens tut es mir leid«, fügte ich hinzu und sah zu Boden.
»Was redest du denn da?«
»Ich hätte dich unterstützen und nicht nur hysterisch lachen sollen. Aber ich hab wirklich nicht über dich gelacht. Du hast mir leidgetan, weil du dich mit Catherine rumschlagen musstest. Ich habe darüber gelacht, wie albern sie sich aufgeführt hat.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Dein unbezahlbarer Abgang am Ende war definitiv eine große Hilfe.« Er lächelte mich an, und ich lächelte zurück.
»Okay, was machen wir?«, fragte ich und sah mich in dem großen Raum um, der bis auf zwei Aufsitzmäher, einen Jetski und noch ein paar andere Fahrzeuge leer war.
Evan ging zu einem schwarzen Geländemotorrad und gab mir einen roten Schutzhelm.
»Wir machen eine kleine Spritztour«, verkündete er, klappte mit dem Fuß den Ständer hoch und schob das Motorrad zum Garagentor. Dort drückte er auf einen Knopf an der Wand, und das Tor öffnete sich.
Ich sah ihm nach, wie er die Garage verließ, war mir aber unsicher, ob meine Beine sich bewegen ließen, geschweige denn laufen konnten.
»Evan, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Vertrau mir, es wird dir gefallen.« Er setzte einen schwarzen Helm auf, und ich folgte seinem Beispiel. Was zur Hölle machte ich da?
Evan half mir, den Riemen festzuzurren, und zeigte mir, wo ich meine Füße platzieren musste. Dann erklärte er mir, der Weg sei zwar ziemlich eben, ich solle aber dennoch damit rechnen, ein bisschen durchgeschüttelt zu werden. Großartig – nicht nur saß ich das erste Mal in meinem Leben auf einem Motorrad, es würde mich womöglich auch noch abwerfen!
Dann kickte Evan den Starter, und das Motorrad erwachte zum Leben. Das explosive Dröhnen machte mir Angst. Und es wurde nicht unbedingt besser, als Evan probeweise ein paarmal kräftig Gas gab. Dann bedeutete er mir aufzusitzen, und ehe ich es mir ausreden konnte, kletterte ich hinter ihm auf das Motorrad und schwang ein Bein über den Sitz. Dann rutschte ich noch ein Stück dichter an ihn heran und legte etwas zaghaft die Hände an seine Taille, aber er packte sie und zog meine Arme um seinen Bauch. Als wir losfuhren, verstand ich, warum.
Wir rasten über die Wiese auf den Wald zu. Mein Puls jagte, und als der Untergrund holpriger wurde, klammerte ich mich fester an Evan – bei jedem Loch und jeder Wurzel spürte ich, wie der Sitz unter mir nachgab, aber ich hatte viel zu viel Angst, um es zu genießen.
Schließlich gewöhnte ich mich an die holprige Fahrt und lockerte meinen Würgegriff etwas, hielt mich jedoch weiterhin gut an Evan fest. Inzwischen war mir klar, wie leicht ich von einem unerwarteten Ruck in die Luft gehoben werden konnte. Ich sah die Bäume vorbeisausen, ich sah die Sonne, die sich durch die Wipfel der Nadelbäume kämpfte. Im Wald war es heller, als ich erwartet hatte, vielleicht weil das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war, die Bäume sich aber natürlich trotzdem auf den Winter vorbereitet und meist schon die Blätter abgeworfen hatten.
Schließlich drosselte Evan das Tempo, ließ das Motorrad langsam ausrollen, stellte den Motor ab und nahm seinen Helm runter. Ich setzte mich auf, um auch meinen loszuwerden, kam aber nicht damit zurecht. Schließlich musste ich absteigen und ihn um Hilfe bitten. Meine Beine zitterten.
»Und?«, fragte er, nachdem er mich von meinem Helm befreit hatte.
»Nicht schlecht«, antwortete ich achselzuckend.
»Was?«, hakte er nach. »Du fandest es toll, gib es ruhig zu.«
»Nein, eigentlich nicht.«
Er schüttelte belustigt den Kopf.
Ich schaute zu einer schimmernden Lichtung hinüber, auf dem wuchernden Unterholz tanzten die Sonnenstrahlen. Am Fuß eines kleinen Hügels plätscherte ein Bach über die Steine und verschwand schließlich im Wald. »Echt hübsch hier.«
»Ich hab in der Gegend ein paar tolle Fotos gemacht.«
»Ich glaube, du hast mir deine Bilder überhaupt noch nie gezeigt. Na ja, abgesehen natürlich von den Zeitungsfotos und deinem Kalenderbeitrag.«
»Ich kann sie dir ja zeigen, wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Gern.«
Wir gingen zu dem Bach und setzten uns ans Ufer, fasziniert von dem über die Steine hüpfenden Wasser.
»Nach dem Spiel neulich Abend ist übrigens meine Mom aufgetaucht«, platzte ich plötzlich heraus und überraschte mich selbst mit dieser Offenbarung. Ich hatte ehrlich geglaubt, ich wäre inzwischen über ihren Auftritt hinweg, aber während ich so ins Wasser starrte, wanderten meine Gedanken ganz von selbst zu ihr.
»Du hast dich bestimmt gefreut, sie zu sehen.«
Ich kicherte unbehaglich. »Na ja, ich weiß nicht recht.«
Evan schwieg und wartete, dass ich weitersprach.
»Es war mir vor allem peinlich«, erklärte ich.
»Das tut mir leid«, antwortete Evan, wahrscheinlich weil ihm nichts Besseres einfiel, und ich zuckte die Achseln. Ich fürchtete mich davor, noch mehr preiszugeben.
Evan griff nach meiner Hand, und mein Herz begann zu hämmern. Schweigend saßen wir nebeneinander und beobachteten das glitzernde Wasser.
»Ich versuche immer noch dahinterzukommen, was meine Mutter im Schilde führt«, sagte Evan schließlich. »Oder ob sie dich womöglich wirklich mag.«
»Danke«, gab ich sarkastisch zurück.
»Du weißt doch, wie ich das meine«, verteidigte er sich und versuchte gleichzeitig, mich zu trösten. »Es ist ja nicht so, als hättest du gestern Abend sonderlich viel mit ihr geredet. Sie hat sich einfach noch nie so … so positiv jemandem gegenüber verhalten. Sie ist nicht leicht zufriedenzustellen.«
»Das hab ich gemerkt«, bestätigte ich und nickte. »Apropos – du warst so anders bei dem Essen. Das war ein bisschen merkwürdig.«
»Wie denn anders?«
»Als wärst du irgendwie … älter. Du hast dich viel gewählter ausgedrückt und warst fast ein bisschen steif«, erklärte ich und hoffte, dass er nicht beleidigt war. Prüfend sah ich ihn an.
»Ich glaube, ich hab noch nie darüber nachgedacht, aber wahrscheinlich hast du recht. Bestimmt liegt es daran, dass ich jahrelang zu solchen Veranstaltungen musste – das färbt ab. Ätzend.«
Ich lachte auf.
»Vermutlich müsstest du öfter mitkommen, damit ich auf dem Boden bleibe«, schlug er vor und stupste mich leicht mit der Schulter an. Seine Berührung ließ mir den Atem stocken, aber die Vorstellung, an weiteren dieser Festivitäten teilzunehmen, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
Dann hörte ich ein Summen und ein fernes Klingelgeräusch. Evan griff in seine Tasche, zog sein Handy heraus, schaute auf das Display und warf mir einen vielsagenden Blick zu, ehe er den Anruf entgegennahm.
»Hi Jake«, sagte er. Mir blieb der Mund offenstehen. Evan grinste, hörte eine Weile zu und sah mich dabei immer wieder an, ohne sein Grinsen unterdrücken zu können.
»Sorry, dass ich dir nicht gesagt habe, ich würde mit ihr zusammen kommen. Ich dachte, das wäre nicht so wichtig.« Wieder lauschte er eine Zeitlang.
»Verstehe, aber ich hab dich ja gewarnt. Sie ist nicht der Typ dafür.« Er sah mich an, und meine Augen wurden groß. Natürlich konnte ich mir ausmalen, was am anderen Ende gesprochen wurde.
»Nein, ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Von ihnen sagt bestimmt keiner was. Nein, Jason auch nicht – ich hab gestern Abend noch mit ihm darüber geredet. Ja, ich glaube auch, dass sie kein Interesse hat.« Evans Grinsen wurde noch breiter, und mir stieg das Blut in den Kopf.
»Keine Angst, alles in Ordnung. Bis morgen dann.« Lachend drückte er auf Beenden.
»Sag mir lieber gleich, worum es da gerade ging«, verlangte ich drohend.
»Er war sauer, weil ich mitgekommen bin. Er dachte, dass du dich deshalb so verhalten hast. Und er wollte wissen, ob ich glaube, dass einer von euch was ausplaudert. Er wählt seine Partygäste natürlich aus einem bestimmten Grund so sorgfältig aus – niemand redet darüber, was abgeht. Zwar gibt es Gerüchte, aber sie werden nicht bestätigt. Die gute Nachricht ist, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass er dich noch mal anbaggert – ich glaube, er hat den Wink mit dem Zaunpfahl kapiert.«
»Na, dann ist es ja gut«, meinte ich erleichtert. »Er ist echt dermaßen aufgeblasen. Ich kann nicht verstehen, dass du mit ihm befreundet bist.«
»Ich würde es nicht Freundschaft nennen. Ich hab ihn kennengelernt, bevor ich hierhergezogen bin. Unsere Mütter waren im selben Spendenkomitee, und ich bin ihm bei einem Abendessen begegnet. Als Jake erfahren hat, dass ich hierherziehe, hat er mich gleich zu einer seiner Partys eingeladen. Ich sollte schon mal ein paar Leute ›kennenlernen‹, ehe die Schule anfängt.«
Mir lag ein Kommentar zu dieser Art von »Kennenlernen« auf der Zunge, aber beim Gedanken daran drehte sich mir schon wieder fast der Magen um. Also verdrängte ich es schnell.
»Außerdem sind wir beide in der Fußballmannschaft und haben schon ein paarmal was mit anderen Jungs unternommen. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, ihn anzurufen und zu fragen, ob er Lust hat vorbeizukommen. Er ist tierisch anstrengend. Und das Mädchen, auf das er es abgesehen hat, ist echt nicht zu beneiden – du hast ja keine Ahnung, wie er manchmal daherredet …« Er unterbrach sich und sah mich entschuldigend an.
»Evan, ist das dein Ernst? Hat er seinen Kumpels in der Fußballmannschaft Sachen über mich erzählt?« Jetzt wurde mir erst richtig schlecht.
»Er tut so was nicht vor mir, weil er weiß, dass ich dann sauer werde und auch kein Problem damit habe, ihm das deutlich zu sagen. Er ist ein Arsch – aber mach dir keine Sorgen, er wird bestimmt keine Lügengeschichten erzählen und behaupten, dass ihr was miteinander hattet oder so.« Mir war klar, dass er das nur sagte, damit ich mich besser fühlte. Innerlich kochte ich vor Wut bei der Vorstellung, dass Jake über mich redete.
»Wir sollten zurück«, sagte Evan und holte mich aus meiner wütenden Grübelei. Ich folgte ihm zum Motorrad. Ehe wir aufstiegen, musste er mir wieder mit meinem Helm helfen. Zum Glück erschien mir die Rückfahrt wesentlich kürzer, denn ich war mir inzwischen vollkommen sicher, dass Motorradfahren nicht mein Lieblings-Adrenalinrausch war.
Evan parkte das Motorrad in der Garage, dann gingen wir nach oben. Er stellte Musik an – ein Sänger mit einer ausgesprochen weichen Stimme, dazu Gitarrengeklimper, sanfte Rhythmen und Texte, bei denen ich an Strand und Meer denken musste.
»Hast du Hunger?«, fragte Evan. »Ich kann schnell runtergehen und uns ein paar Sandwiches machen.«
»Gern.« Er verschwand, und ich setzte mich auf die Couch, so verzaubert von den optimistischen Melodien, dass ich ihn gar nicht zurückkommen hörte.
»Hier«, verkündete er laut, und ich zuckte heftig zusammen.
»Du bist nicht besonders aufmerksam, oder?«
»Ich hab dich einfach nicht gehört«, verteidigte ich mich. Er lachte und stellte einen Teller und eine Flasche Rootbeer vor mir auf den Tisch.
»Ist deine Mom noch da?«
»Ja, sie hat mir grade ziemlich zugesetzt, weil ich dich auf dem Motorrad mitgenommen habe. Ich hab ihr versichert, dass du nicht so zerbrechlich bist, wie sie vielleicht annimmt.« Ich musste mir das Lachen verkneifen. Wieso machte sich seine Mutter Gedanken um meine Sicherheit? Sie kannte mich doch kaum.
Als wir aufgegessen hatten, fragte Evan: »Möchtest du jetzt vielleicht die Bilder sehen, von denen ich erzählt habe?«
»Unbedingt.«
Ich folgte ihm durch die Tür hinter den Kickertischen in einen rustikalen Raum mit freigelegten Holzbalken und zwei kleinen Fenstern mit Blick auf die Auffahrt. An der einen Wand waren zwei Betten mit dunkelblauen Wolldecken, an der anderen stand ein langer Schreibtisch voller Bilder und mit allem möglichen Fotokram. Außerdem gab es noch einen einfachen türlosen Einbauschrank mit Klamotten, Büchern und weiterem Fotozubehör.
Dann entdeckte ich plötzlich Saras weißen Schal, der über der Lehne des Schreibtischstuhls hing. Evan bemerkte meinen Blick und biss sich auf die Lippen.
»Ja, den hast du in meinem Auto liegenlassen, und ich hab immer wieder vergessen, ihn dir zurückzugeben.« Ich nickte, unsicher, was ich davon halten sollte, und beschloss, die Sache lieber auf sich beruhen zu lassen.
Dann zeigte Evan mir die Landschaftsfotos, die an die Holzbalken über dem Schreibtisch gepinnt waren, und erklärte mir, wo er sie aufgenommen hatte. Die Details waren so malerisch und faszinierend, dass ich mich sofort an die abgebildeten Orte versetzt fühlte – fast so, als hätte ich neben ihm gestanden, als die Fotos entstanden waren.
Zum Schluss kramte ich noch ein bisschen in den Bildern, die auf dem Schreibtisch herumlagen. Evan machte ein paar Bemerkungen dazu, schwieg dann aber und ließ mich alleine schauen. Ich war sprachlos. Durch die Fotos, die er für die Zeitung gemacht hatte, wusste ich natürlich, dass er begabt war, aber ich hatte ihn weit unterschätzt.
Als ich ein ebenfalls auf dem Schreibtisch liegendes schwarzes Buch aufschlug, hörte ich Evan scharf einatmen. Unsicher hielt ich inne. Wollte er nicht, dass ich es anschaute?
»Das ist meine Projektarbeit für den Kunstunterricht«, erklärte er, ohne damit seine Reaktion zu erläutern.
»Darf ich sie ansehen?« So angespannt hatte ich ihn noch nie erlebt.
»Klar«, antwortete er leise. Seine stocksteife Haltung vermittelte mir immer noch den Eindruck, dass er sich unbehaglich fühlte.
Langsam begann ich zu blättern und die kunstvollen Bilder zu betrachten, die er eingefangen hatte. Das Portfolio enthielt Landschaftsaufnahmen, Sportfotografien und abstrakte Bilder von nicht identifizierbaren Objekten mit geschmeidigen Linien und komplizierten Kurven. Dann schlug ich eine Seite um und stockte. Ich spürte, wie Evan sich noch mehr versteifte. Mir blieb die Luft weg.
Vor mir war das leicht angeschrägte und in Schwarzweiß aufgenommene Profil eines Mädchens. Die sanften Konturen ihres Gesichts füllten den Großteil des Fotos aus, die blasse Haut stand in krassem Kontrast zum dunklen Hintergrund. An ihren leicht geöffneten Lippen klebte eine dicke, nasse Haarsträhne, Wassertropfen bedeckten die glatte Haut und sickerten ihr über die Nase. Schwarze Schminke umrahmte die ruhelose Tiefe ihrer mandelförmigen Augen, deren Blick in die endlose Ferne jenseits des Bildes ging. »Das ist wunderschön«, hauchte ich, voller Ehrfurcht vor dem eindringlichen Gefühl und der Wahrheit, die in dieser einen Einstellung festgehalten waren.
»Ich liebe dieses Foto«, gestand Evan leise. »Ich glaube, das liegt daran, dass ich das Mädchen auf dem Bild liebe.«
Langsam drehte ich mich zu ihm um, bestürzt von seinen Worten. Ich spürte, wie mein Innerstes sich zusammenzog.
»Was?« Die Enge breitete sich in meiner Brust aus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Weißt du nicht mehr, wann ich dieses Foto gemacht habe?«
Ich starrte ihn an, unsicher, wovon er redete.
»Du hast so lange nichts gesagt, auch nicht, als ich zurückgekommen bin, um nach dir zu schauen. Deshalb habe ich schließlich meine Kamera geholt. Ich dachte, ich könnte ein paar Aufnahmen von den Leuten bei der Party machen und dir etwas Zeit lassen, da du offensichtlich nicht mit mir reden wolltest.« Ich fürchtete mich davor, noch mehr zu hören. Mein Herz schlug immer lauter, mir war schwindlig – ich konnte kaum atmen.
»Als ich zurückkam, hatte es angefangen zu regnen. Ich hab Sara im Haus gesehen und ihr gesagt, wo du bist, und dass wir uns draußen treffen würden. Du hast vollkommen reglos im Regen gesessen und so faszinierend und gleichzeitig so verloren gewirkt – als wärst du Lichtjahre von uns allen entfernt. Das musste ich einfach festhalten. Ich hab versucht, mit dir zu reden, aber du hast nicht reagiert. Also hab ich mich neben dich gesetzt und gewartet. Irgendwann bist du dann von wo auch immer zurückgekommen und hast gemerkt, dass es regnet.«
Ich hörte jedes Wort, das er sagte, aber ich konnte nichts davon wirklich verstehen. Dann starrte ich in seine sturmgrauen Augen und sah, was er meinte. Meine Knie gaben nach – ich holte ein paarmal tief Luft. Wie in Zeitlupe ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl sinken und senkte den Blick zu Boden, atemlos.
Nach ein paar Minuten ohrenbetäubender Stille fragte Evan: »Bist du okay?«
»Nein«, formte ich lautlos mit den Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Dann blickte ich zu ihm empor. »Evan, so etwas darfst du nicht sagen. Du kannst das nicht ernst meinen.«
»Das ist nicht gerade die Antwort, die ich mir erhofft habe«, erwiderte er, und ich hörte die Enttäuschung in seiner Stimme.
»Es tut mir leid …«, begann ich.
»Es muss dir nicht leidtun, schon okay«, antwortete er hastig und versuchte, die Situation herunterzuspielen. Dann überlegte er es sich anders und fragte: »Willst du mir wirklich sagen, dass du nicht dasselbe empfindest?« Ich hielt die Luft an, mein Herz tat furchtbar weh.
»Ich … ich kann nicht. Wir können nicht«, stammelte ich. »Du verstehst das nicht. Was ich empfinde, spielt keine Rolle, es darf einfach nicht sein.« Er starrte in meine verzweifelten Augen und schüttelte verwirrt den Kopf.
»Das verstehe ich wirklich nicht. Was meinst du denn damit?«
»Können wir bitte einfach Freunde bleiben?«, flehte ich ihn an.
»Aber du bestreitest nicht, dass du dasselbe empfindest.«
»Es ist viel komplizierter. Wenn wir nicht Freunde bleiben können, dann …« Ich brachte es nicht über die Lippen. »Bitte, können wir einfach Freunde sein?«
Er antwortete nicht. Dann durchbrach das Vibrieren seines Handys die Stille. Er zog es aus der Tasche und sah mich an. »Ich muss drangehen, es ist mein Bruder.«
Ich nickte, und er verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte ich seine Schritte auf der Treppe.
Auf einmal merkte ich, dass ich meine zitternden Hände krampfhaft ineinander verschlungen hatte, und lockerte sie etwas. Aber ich schaffte es nicht, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, auch gegen das Hämmern in meiner Brust war ich machtlos. In dem Versuch, es zu verdrängen, atmete ich ein paarmal tief ein und aus. Als ich aufstand, fühlten sich meine Beine an, als wären sie aus Gummi, und ich holte noch einmal tief Atem, ehe ich aus dem Zimmer ging und die Tür hinter mir schloss.