23 scHweiGen
Ich saß auf dem Beifahrersitz und sagte kein Wort. Ich konnte ihn nicht einmal ansehen.
Am Ende unserer Straße fragte er schließlich: »Wie geht es dir?«
»Ich schäme mich.«
Wieder herrschte für ein paar Minuten Stille, dann fragte er: »Bist du sauer auf mich, weil ich nach dir geschaut habe?«
»Das hättest du nicht tun sollen«, antwortete ich ehrlich.
»Du wirst mir nicht erzählen, was passiert ist, oder?«
»Ich kann nicht. Du hast mehr als genug gesehen.«
Er fuhr auf denselben Drugstore-Parkplatz wie vor einiger Zeit und hielt an.
»Evan, ich möchte wirklich nicht darüber sprechen«, beteuerte ich und schaute ihm endlich ins Gesicht.
»Das ist es ja, was mir so zu schaffen macht. Warum kannst du mir nicht vertrauen?« Sein besorgter Blick suchte meinen und verlangte eine Erklärung.
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Das hat alles damit zu tun«, widersprach er heftig. »Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
»Es tut mir leid, dass du das gedacht hast«, erwiderte ich stoisch, und er fuhr zurück, als hätte er sich an meinen Worten verbrannt.
»Dann vertraust du mir also nicht genug, um mir zu sagen, was bei dir zu Hause passiert?« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Du hattest nie vor, dich mir zu öffnen, richtig?« Während er sprach, wurde seine Stimme immer lauter, beinahe wütend.
Ich fand nicht die Worte, um ihm recht zu geben, denn ich wusste, es würde ihn nur noch mehr aufbringen.
»Was hab ich mir nur gedacht?«, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu mir. »Ich hab gedacht, du wärst stärker.« Das tat weh, und ich zuckte innerlich zusammen. »Ich kann nicht fassen, dass du dich von denen so behandeln lässt.«
Eine Minute verstrich, und als ich immer noch nichts sagte, murmelte Evan enttäuscht: »Du bist nicht die, für die ich dich gehalten habe.«
»Das wusste ich«, erwiderte ich tonlos.
»Dann kenne ich dich also nicht wirklich, ja?«
Ich zuckte die Achseln. Er atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf, frustriert, dass ich nicht bereit war, ihm zu antworten.
»Kennt Sara dich?«, fragte er. »Vertraust du ihr mehr als mir?«
»Zieh sie da nicht mit rein«, wehrte ich ab.
»Ich versteh das nicht«, sagte er, wieder mehr zu sich selbst, und schaute zu Boden. Dann wandte er sich wieder an mich und fragte: »Schlägt er dich?«
»George?«, fragte ich schockiert. »Nein, so was würde er nie tun.«
»Dann ist sie es, die dich nicht leiden kann, richtig?«, drängte er.
»Evan, ich kann und ich will nicht mit dir darüber sprechen, was bei mir zu Hause hinter geschlossenen Türen passiert. Und du hast ganz recht, ich bin nicht so stark, und ich bin auch nicht die Person, für die du mich gehalten hast. Aber das habe ich dir schon die ganze Zeit versucht beizubringen. Es tut mir leid, dass du jetzt, wo du es endlich eingesehen hast, enttäuscht bist. Aber ich werde dir niemals sagen können, was du wissen möchtest.«
Er wurde rot, aber ich war nicht sicher, welches Gefühl genau ihm die Farbe ins Gesicht trieb.
»Und jetzt möchte ich wirklich zur Schule fahren«, murmelte ich.
Wortlos ließ Evan den Motor an, und den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.
Das Schweigen dauerte eine sehr lange Zeit.
Sara versuchte mit mir darüber zu reden, aber ich brauchte eine ganze Woche, bis ich die Worte wiederholen konnte, die wir an diesem Tag im Auto gesagt hatten. Danach erwähnte sie den Vorfall nie wieder. Überhaupt versuchte sie das Thema Evan zu vermeiden.
Wir verbrachten unsere Zeit weiterhin in denselben Schulkorridoren und Unterrichtsräumen. Wir sprachen nicht miteinander, nicht einmal in Anatomie, wo wir direkt nebeneinandersaßen. In unseren restlichen gemeinsamen Kursen suchten wir uns Plätze, die möglichst weit entfernt voneinander lagen.
Das bedeutete nicht, dass ich ihn nicht wahrnahm. Ich nahm ihn wahr, bis ich mich irgendwann selbst davon überzeugt hatte, dass es nicht mehr ging. Ich akzeptierte die Wahrheit, der ich die ganze Zeit über ausgewichen war – zwischen uns hätte es niemals funktioniert. Wir hätten niemals eine Chance gehabt. Mein schmerzendes Herz hielt noch sehr lange an der Hoffnung fest, aber ich fand Methoden, auch das tief in meinem Inneren zu vergraben. Ich versuchte mich im Hintergrund zu halten, genauso wie in der Zeit, bevor Evan Mathews durch die Tore der Weslyn High marschiert war – obwohl es mir nicht ganz gelang.
In der Woche nach Thanksgiving, als ich damit beschäftigt war, sauer auf Evan und zutiefst von ihm enttäuscht zu sein – sauer, weil er sich zu meinem Haus geschlichen hatte, und enttäuscht, weil ihm nicht gefallen hatte, was er dort zu sehen bekommen hatte –, erlebte ich eine Überraschung.
»Ich glaube, ich weiß, was du von mir denkst«, sagte Drew Carson, als er sich an jenem Mittwoch beim Lunch zu Sara und mir an den Tisch setzte.
Ich sah von Sara zu Drew, ohne zu verstehen, was er meinte und warum er an unserem Tisch saß.
»Ich hab gesehen, wie du mich bei Jakes Party angeschaut hast, bevor du gegangen bist«, erklärte er. »Aber ich bin gar nicht so.«
»Ach wirklich? Warum warst du dann dort?« Ich war viel zu aufgebracht, um mich zurückzuhalten. »Gehen nicht alle Jungs genau deswegen zu diesen Partys? Du hast ja sogar zugegeben, dass du mit Jake befreundet bist.«
Offensichtlich hatte er mit meiner bissigen Reaktion nicht gerechnet, aber er gab auch nicht klein bei.
»Stimmt, ich wusste, was da abgeht. Aber ob du es glaubst oder nicht – ich war zum ersten Mal dort.« Ich lachte skeptisch. Sara schwieg, verfolgte aber den Schlagabtausch zwischen Drew und mir, als schaute sie sich einen spannenden Film an.
»Ich schwöre dir, ich wusste nur von den Partys, weil Jake mich immer wieder eingeladen hat. Aber erst an diesem Abend hab ich nachgegeben. Und zwar nur, weil ich gehört hatte, dass du auch da sein würdest.«
Als er sah, wie ich das Gesicht verzog, fügte er hastig hinzu: »Ich wollte nur mit dir reden, ehrlich. Wie ich dir an dem Abend schon gesagt habe – ich hätte dich bereits früher ansprechen sollen.« Ich antwortete nicht.
»Ich hab gehofft, ich könnte dich vielleicht dazu überreden, mir eine zweite Chance zu geben. Ich möchte nicht, dass du denkst, ich wäre ›so einer‹.«
Ehe ich etwas sagen konnte, stand er auf. Sara starrte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich wusste, was sie dachte, seufzte frustriert und verließ ebenfalls den Tisch. Es lohnte sich nicht, darüber zu diskutieren.
Ich verpasste die Herbst-Auszeichnungen, weil ich offiziell Hausarrest hatte. Sara informierte mich, dass sie, Jill und ich in der kommenden Saison die Kapitäninnen des Mädchen-Fußballteams sein würden. Außerdem erzählte sie mir, dass ich zur besten Spielerin gewählt und in den A-Kader und die Landesauswahlmannschaft aufgenommen worden war. Im Januar sollte es ein Abendessen zu Ehren der preisgekrönten Sportler geben, aber ich wusste, dass ich auch daran nicht würde teilnehmen können.
Kurz darauf begannen die Briefe von den Colleges einzutrudeln. Vermutlich gab es auch Anrufe, aber unsere Nummer war geheim, nur eine Handvoll privilegierte Menschen kannte sie. Jeden Tag ließ Carol einen Stapel Briefe auf den Boden in meinem Zimmer fallen, Briefe von Trainern und Sportdirektoren, die mit mir Termine für eine Campusbesichtigung und ein Treffen im Frühling vereinbaren wollten. Von den meisten Colleges wusste ich gar nicht, dass sie sich für mich interessierten, bis ich einen Brief von ihnen erhielt.
Diese Flut an Briefen gab mir die Zuversicht, nach vorn zu blicken, anstatt in der hoffnungslosen Gegenwart steckenzubleiben. Solange ich auf ein Ende meiner Gefangenschaft hoffen konnte, würde ich auch mit Carols wütenden Blicken und Evans Ablehnung fertigwerden. Davon war ich überzeugt. Ich musste mich an etwas festhalten, sonst lief ich Gefahr, endgültig in den Abgrund zu stürzen.
Von meinem Basketballtrainer und den anderen Lehrern bekam ich wegen meiner unfreiwilligen Woche Pause längst nicht so viel Ärger wie erwartet. Eigentlich hätte ich ein Probespiel für das Basketballteam absolvieren müssen, ehe ich auf die Spielerliste gesetzt werden konnte, aber der Trainer ließ mich ein paarmal während der Lernstunde spielen und gab mir dann den Posten der Aufbauspielerin. Da ich diese Position sowieso hätte einnehmen sollen, war das keine sonderlich brisante Entscheidung.
Im Winter spielte Sara Volleyball. An den Abenden, an denen sie nach uns Training hatte, fuhr deshalb Jill mich nach Hause. Jill chauffierte mich gerne; ich hingegen war etwas überfordert von dem, was ich auf unseren gemeinsamen Fahrten alles zu hören bekam. Jill war bestens informiert über jeden Tratsch und obendrein sehr darauf erpicht, ihren Teil dazu beizutragen.
»Wusstest du, dass Evan am Samstag ein Date mit Haley Spencer hatte?«, fragte Jill mich gleich nach meinem ersten offiziellen Training mit dem Team am Montag – ein Paradebeispiel, warum ich mich lieber von der Gerüchteküche fernhielt. »Ich dachte wirklich, Evan und du, ihr wärt zusammen. Was ist passiert?«
Ich konnte nur die Achseln zucken und brachte kein Wort heraus. Haley Spencer – war das sein Ernst? Wut und Eifersucht kochten in mir hoch. Aber ich verdrängte sie schnell und entschlossen.
Als Sara mich am nächsten Morgen abholte, stellte ich sie sofort zur Rede. »Du wusstest von Evan und Haley, stimmt’s?«
Sara biss sich auf die Lippe und atmete langsam aus, während sie überlegte, wie sie mir antworten sollte.
»Ich hab gedacht, es ist die Aufregung nicht wert. Lass mich raten – Jill hat es dir erzählt, richtig?«
»Sara, ich hätte es sowieso irgendwann gehört. Aber es wäre mir sehr viel lieber gewesen, es von dir zu erfahren.«
»Du hast recht. Sorry.« Sie sah mich an und versuchte, in meinem Gesicht zu lesen. »Ich wette, er macht das nur, um dich zu ärgern.«
»Evan kann tun und lassen, was er will«, schnaubte ich. »Es ist mir wirklich egal.«
»Klar, wie du meinst«, erwiderte Sara ein wenig ironisch. »Em, sogar ich rege mich darüber auf, dass er mit Haley Spencer ausgeht. Also komm, Haley Spencer! Hätte er sich vielleicht eine noch oberflächlichere Tussi aussuchen können? Sie ist das genaue Gegenteil von dir.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da biss sie sich schon auf die Unterlippe. Sara wusste genauso gut wie ich, dass Evan es in meiner Nähe nicht aushielt und sich deshalb für die schlimmstmögliche Alternative entschieden hatte.
Ich starrte sie an. Ihre Augen wurden sanfter, als wollte sie sich stumm noch einmal bei mir entschuldigen. Wir wussten beide, dass ihre Bemerkung einen wahren Kern hatte, und diese Wahrheit machte mir auf dem ganzen Weg zur Schule zu schaffen. An diesem Tag reagierte ich endlich auf Drew Carsons Friedensangebot.
Seit dem Gespräch in der Cafeteria hatte Drew hartnäckig, aber subtil versucht, mich zum Reden zu bewegen. Beim Lunch und am Ende des Schultages sorgte er regelmäßig dafür, dass unsere Wege sich kreuzten. Er warf mir einen Blick zu und rief: »Hi, Emma.« Ich ignorierte ihn und ging wortlos weiter.
Bis zu jenem Tag, an dem ich antwortete: »Hi, Drew.« Beim Klang meiner Stimme hielt er mitten in der Bewegung inne, und die Person hinter ihm rammte seinen Rücken. Ich lachte leise und ging weiter. Dann sah ich Drew nicht mehr, bis ich die Treppe von der Kabine zur Sporthalle hinaufging.
»Viel Glück bei deinem Spiel heute.«
Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich ihn gar nicht bemerkt hatte, aber seine Stimme holte mich mit einem Ruck zurück in die Realität. Ich hörte wieder das Quietschen der Turnschuhe und das Dribbling der Basketbälle und sah Drew im Eingang der Sporthalle stehen. Der Typ, mit dem er geredet hatte, verabschiedete sich und ließ uns allein.
»Danke«, antwortete ich. »Was macht ihr denn heute im Training?«
»Wir trainieren erst nach eurem Spiel«, erklärte Drew. »Ich hab mir überlegt, dass ich vielleicht früher komme und euch zuschaue.«
Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. Wollte er seine Unterstützung für unser Team zeigen, oder war er nur da, um mich zu beobachten?
»Was meinst du, wie du zurechtkommen wirst? Ich hab gehört, du hast das Training zum Teil verpasst.«
Ich wurde rot. »Stimmt, aber zum Glück konnte ich mit Coach Stanley die Spielzüge ein paarmal durchgehen. Ich denke, es wird schon klappen.«
»Mit Sicherheit«, sagte er lächelnd. »Ich sehe dich dann nach dem Spiel.« Ich lächelte zurück.
Keine Frage, Drew sah unglaublich gut aus mit seinem jungenhaften Gesicht und den tiefen Grübchen. Seine grünen, ruhigen Augen waren atemberaubend; man konnte sich ohne weiteres in ihnen verlieren. Sie lugten unter seinen schwarzen Haaren hervor, die einem ständig den Eindruck vermittelten, er wäre gerade vom Strand gekommen. Vielleicht war er das auch, schließlich surfte er doch so gern. Als er schon längst verschwunden war, stand ich immer noch an der Tür und starrte ihm nach.
»Emma, bist du so weit?« Jill ging an mir vorbei und riss mich aus meiner Trance.
»Ja, klar.«
Wie versprochen wartete Drew auf mich, als ich zur Bank ging.
»Gutes Spiel«, lobte er mich. »Dein Drei-Punkte-Wurf ist echt der Hammer.«
»Danke.« Ich trank einen Schluck von meinem Sportgetränk und sammelte meine Sachen ein.
»Ich freu mich, dass du mit mir redest.«
»Jeder hat eine zweite Chance verdient«, sagte ich grinsend, und er lächelte zurück.
»Ich muss zum Training«, meinte er dann mit einer Kopfbewegung zum Spielfeld, auf dem schon ein paar seiner Mannschaftskollegen dribbelten und auf den Korb warfen. »Unterhalten wir uns morgen?«
»Gern.«
Mit Drew Carsons zweiter Chance veränderte sich alles. Den Rest der Woche kreuzten sich unsere Wege immer häufiger. Ich lud ihn zum Lunch an unseren Tisch ein, obwohl Sara vor Überraschung beinahe vom Stuhl fiel. Vor unserem jeweiligen Training sprachen wir immer ein paar Minuten miteinander. Dann entdeckte ich, dass Drew tatsächlich in meiner Lernstunden-Gruppe war. Lag die Lernstunde am Anfang oder am Ende der Unterrichtszeit, konnte er als Zwölftklässler allerdings frei wählen, ob er erscheinen wollte oder nicht. Bisher hatte ich ihn nie gesehen – vermutlich, weil er nie dagewesen war. Aber als wir anfingen miteinander zu reden, tauchte er plötzlich auf.
Sara verlor kein Wort über mein plötzliches Interesse an Drew. Aber sie war freundlich zu ihm und akzeptierte seine Anwesenheit auch in den Momenten, die wir vorher für uns gehabt hatten. Ich hoffte, dass sie seine Gesellschaft ebenso erfrischend fand wie ich. Drew war sympathisch und interessant. Und er half mir, mein Lächeln wiederzuentdecken.
Wenn ich ihm am Ende des Schultages begegnete, erholte ich mich im Nu von dem Stress, den Evans stumme Präsenz in den Kursen bei mir auslöste. Mit Drew konnte ich mich über alles unterhalten, ohne dass es je zu persönlich wurde. Er drängte mich nicht, mehr über mich preiszugeben, als ich bereit war – und das war eine große Erleichterung. Wenn ich mit ihm zusammen war, konnte ich auf einmal wieder lachen – echt und fröhlich lachen. Er war ein frischer Windhauch nach dem katastrophalen Sturm, der mich fast umgerissen hatte.
Wenn ich mit Drew zusammen war, dachte ich nicht an Evan. Ich konnte sie unmöglich beide im Kopf haben, also verdrängte ich Evan. Ich achtete nicht mehr darauf, wo er gerade war, und ich zuckte nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn ich seine Stimme hörte. Ich gab ihm keinen Raum mehr.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf Drew, der mir im Gegenzug seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkte. Ich erwartete nicht, dass es so sein würde wie mit Evan, und das war es auch nicht. Mein Herz geriet nicht aus dem Takt, wenn Drew neben mir saß, es schlug kräftig und regelmäßig tief in meiner Brust. Und darüber war ich keineswegs enttäuscht – im Gegenteil.
Mit Sara sprach ich nicht darüber, und sie drang auch nicht weiter in mich. Aber als ich sie fragte, ob wir uns nach dem Spiel am Freitag bei einem Lagerfeuer an einem Privatstrand treffen könnten, reagierte sie völlig unerwartet.
»Em, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, widersprach sie. »Vielleicht sollten wir uns lieber bei mir einen Film anschauen oder so. Der Vorfall mit Carol ist erst ein paar Wochen her, und du kannst dich glücklich schätzen, dass sie dich überhaupt wieder bei mir übernachten lässt.«
Mir war sofort klar, dass sie noch aus einem anderen Grund zögerte.
»Sara, willst du mir sagen, dass du lieber nicht zu diesem Lagerfeuer möchtest? Ich hab gehört, wer alles eingeladen ist – die Liste ist ziemlich lang.«
»Ja, das hab ich auch gehört«, gestand sie seufzend. »Em, versprichst du mir, keine Dummheiten zu machen?«
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich beleidigt.
»Ich hab bisher nichts gesagt, weil ich glaube, du magst Drew wirklich, aber ich mache mir Sorgen darüber, in welche Richtung sich das Ganze entwickelt.«
»Ich weiß wirklich nicht, was du damit andeuten willst«, grummelte ich, hatte aber das Gefühl, genau zu wissen, wohin das Ganze führte.
»Jedenfalls solltest du nichts tun, nur um über Evan hinwegzukommen.«
Ich antwortete nicht, denn ich hatte sie verstanden. Sara erklärte sich bereit, am Freitag nach meinem Basketballspiel zu dem Lagerfeuer zu gehen, und ich redete mir hinterher ein, dass ich an diesem Wochenende nichts getan hatte, das ich nicht wollte. Bis ich die Vorwürfe hörte.
»Du hast Drew Carson geküsst?«, brüllte Evan mich an.
Ich brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass er tatsächlich neben mir stand und mit mir redete – na ja, genaugenommen brüllte er. Sein Gesicht war rot angelaufen, sein Unterkiefer verkrampft, und er starrte mich an meinem Spind wütend an. Vorsichtig ließ ich meinen Blick durch die menschenleeren Korridore schweifen, um zu sehen, ob jemand ihn gehört hatte.
»Woher weißt du das?«, fragte ich ihn in angemessener Lautstärke. Mich verblüffte nicht nur, dass Evan an meinem Spind stand, sondern auch, dass Drew jemandem von diesem Kuss erzählt hatte.
»Keine Sorge, ich hab es nicht von Drew gehört – über so was redet er nicht. Aber seine Freunde tun es, und die haben euch gesehen.« Er war stinksauer, aber seine Reaktion machte mich nur noch wütender. Mit welchem Recht regte er sich so über mich auf?
»Es wundert mich, dass du überhaupt was hören konntest mit Haley Spencers Zunge in deinem Ohr«, konterte ich. Sein Gesicht wurde noch röter, und ich sah die Überraschung in seinen Augen. »Ja, davon hab ich auch gehört«, fügte ich hinzu.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, erklärte er, immer noch verärgert, aber jetzt war die Schärfe aus seiner Stimme verschwunden. »Wir sind bloß ein einziges Mal miteinander ausgegangen.«
»Oh, hab ich euch deshalb zusammen am Lagerfeuer gesehen?«, schoss ich zurück. Wenn ich mir das Bild vor Augen führte, wie Haley sich am Feuer in Evans Arm geschmiegt hatte, direkt gegenüber von mir, wurde ich immer noch fuchsteufelswild.
»Du warst auch da?«, fragte Evan, plötzlich gar nicht mehr angriffslustig.
»Nachdem ich euch gesehen hatte, bin ich ziemlich bald gegangen. Also versuch gefälligst nicht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, weil ich Drew geküsst habe.« Mir war heiß im Gesicht, und ich schlug meine Spindtür zu, den Rucksack und die Sporttasche fest in der Hand.
»Aber du kennst ihn doch kaum«, wandte er ein. »Du redest erst seit ungefähr einer Woche überhaupt mit ihm. Und dann küsst du ihn gleich beim ersten Date. Findest du das etwa in Ordnung?« Seine Stimme wurde wieder lauter.
»Oh, und du bist so viel besser? Hast du mit Haley überhaupt ein Wort gewechselt, ehe du mit ihr getan hast, was auch immer du auf Jakes Party an deinem ersten Wochenende getan hast?«
Seine Augen weiteten sich, und er wich ein Stück zurück. Damit bestätigte er in meinen Augen, was Haley mir vor ein paar Stunden erzählt hatte.
»Ja, und es war auch echt großartig, das ausgerechnet von ihr zu erfahren, Evan«, fauchte ich und setzte alles daran, mir meine Verletztheit nicht anmerken zu lassen. Wenn ich nur an Haleys höhnische Bemerkung dachte – wie interessant es doch sei, dass sie und ich jetzt beide mit den Jungs zusammen seien, die wir auf einer von Jakes Partys kennengelernt hätten –, wäre ich immer noch am liebsten im Boden versunken. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln war sie davonstolziert.
Evan suchte nach Worten. »Ich hab nicht …« Er sah mich flehend an. »Es ist wirklich nicht so, wie du denkst. Lässt du es mich erklären?«
»Nein.« Meine Stimme hatte ebenfalls ihre Schärfe verloren, und mit ihr verpuffte auch meine Wut. Schnell schob ich den Schmerz und die Traurigkeit beiseite, die aus verborgenen Winkeln in meinem Innern aufzusteigen drohten, und flüchtete mich in die Gefühllosigkeit. »Ich möchte es gar nicht wissen.«
Damit wandte ich mich ab und ging an ihm vorbei zur Treppe.
»Ich hab dir vertraut!«, rief Evan mir nach. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich um. Er kam auf mich zu, bis uns ungefähr noch ein halber Meter trennte. »Ich hab dir vertraut, aber du konntest mir nicht vertrauen.«
Ich erwiderte seinen Blick und sah die Verletztheit in seinen Augen. Mein Herz tat weh.
»Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben hab ich meine Kartons ausgepackt – für dich. Ich war ehrlich mit dir, in jeder Hinsicht, auch mit meinen Gefühlen für dich. So ehrlich bin ich noch nie gewesen. Ich hab dir vertraut.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern, und er beugte sich zu mir. »Warum konntest du mir nicht vertrauen?«
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, Tränen traten mir in die Augen. Mein Herz flehte mich an, ihn zu berühren, als ich den Schmerz in seinen sturmgrauen Augen sah. Die Sekunden verstrichen wie Minuten, aber dann gab ich mir einen Ruck und ging davon.
Mit raschen Schritten lief ich durch die Tür zur Treppe und rannte hinunter.
»Ich bin immer noch in dich verliebt!«, rief Evan von oben. Ich erstarrte, und die erste Träne rollte über meine Wange. »Bitte lass mich nicht hier stehen.«
Lautlos strömten die Tränen über mein Gesicht, und ich konnte mich nicht rühren. Mein Herz klopfte heftig, eine Sekunde lang war ich drauf und dran, mich umzudrehen. Aber dann erschien das Bild von Evan und Haley am Lagerfeuer vor meinem inneren Auge, sein Arm umschlang ihre Schulter, und ich merkte, wie meine Füße mich fluchtartig die Treppe hinuntertrugen.
Ich überstand das Nachmittagstraining, obwohl keine Erinnerungen daran zurückblieben. Ich zwang mich zu dribbeln, zu passen und auf den Korb zu werfen. Die Übungen hielten mich davon ab, in Gedanken wieder und wieder meine Konfrontation mit Evan durchzuspielen. Am Ende des Trainings war ich zu erschöpft, um überhaupt an etwas zu denken.
Ich machte mich auf den Weg in die Kabine, während die Mannschaft der Jungs sich auf dem Feld für ihr Spiel aufwärmte. Am Ende der Tribüne, vor dem Eingang zur Jungenkabine, wartete Drew auf mich.
»Kannst du zum Spiel bleiben?«, fragte er.
»Sorry, ich fürchte nicht«, antwortete ich mit einem Stirnrunzeln. »Aber viel Glück.«
»Sehen wir uns morgen Abend nach deinem Spiel?«
»Ja, das wäre schön. Aber ich muss erst noch mit Sara absprechen, ob sie schon irgendwas geplant hat.«
»Einer der Jungs aus dem Team hat ein paar Leute zu sich eingeladen, es wäre schön, wenn du und Sara auch kommen könntet.«
»Mal sehen«, versprach ich, war mir aber ziemlich sicher, dass ich es nicht schaffen würde, weil ich ja spätestens um zehn zu Hause sein musste.
Ehe ich wusste, wie mir geschah, beugte Drew sich zu mir und küsste mich sanft auf den Mund. Mein Körper erstarrte, ich konnte mich nicht rühren, und für einen Moment verschlug es mir den Atem. Dann richtete Drew sich wieder auf und sagte: »Hey, Mathews.«
»Hi, Drew«, gab Evan bissig zurück. Ich erhaschte lediglich einen kurzen Blick auf seine Tasche, dann war er auch schon in der Kabine verschwunden.
Mir war übel. Hatte Evan gerade mitbekommen, wie ich von Drew geküsst wurde?
»Bis morgen dann.« Drew lächelte und strich sanft mit der Hand über meine Wange.
Ich nickte und rang mir wenigstens die Andeutung eines Lächelns ab. Drew folgte Evan in die Kabine.
Das, was Evan gerade mitangesehen hatte, war weit schlimmer als alles, was ich zwischen ihm und Haley beobachtet hatte – vor allem nach der Szene vor meinem Spind. Das wusste ich. Aber ich unterdrückte den Schwall von Schuldgefühlen, der mich in die Tiefe reißen wollte, bis ich am Abend allein in meinem Zimmer war. Erst dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf und weinte mich in den Schlaf.