25 UnAuswEichliCh
In den zwei Wochen meiner Genesung wohnte ich nicht bei George und Carol. Auch Weihnachten verbrachte ich nicht mit ihnen. Das einzig Enttäuschende daran war, dass ich die Gesichter der Kinder am Weihnachtsmorgen nicht sah. Ich liebte es, mit ihnen den Wunschzettel an den Weihnachtsmann zu schreiben, die Cookies für ihn bereitzustellen und ihnen beim Öffnen der Geschenke zuzuschauen. Ich fragte mich, was Carol und George ihnen wohl erzählten, wenn sie nach mir fragten.
Bei Janet war es … ruhig. Sie stellte keine Fragen, weder darüber, was mit mir passiert war, noch über sonst etwas. Sie ließ mich in ihrem Gästezimmer wohnen, bedrängte mich nicht und vergewisserte sich nur hin und wieder, dass alles in Ordnung war und ich genug zu essen und zu trinken hatte.
Die erste Woche war hart, denn die geringste Bewegung quälte mich. Ich schluckte Pillen gegen den Schmerz, weswegen ich meistens schlief. Im Lauf der zweiten Woche ließen die Schmerzen allmählich nach. Meine Muskeln waren wegen der fehlenden Bewegung zwar ziemlich steif, und mein Steißbein erinnerte beim Aufsetzen immer noch schmerzhaft an den Schlag, aber alles in allem ging es mir besser. Tagsüber las ich oder tauschte SMS mit Sara aus.
In den Weihnachtsferien erhielt ich täglich Nachrichten von ihr. Sie erkundigte sich nach meinem Befinden, erzählte mir von ihrem Tag und berichtete vom Basketballteam. Trotzdem vermisste ich es, sie zu sehen und mit ihr zu reden – Schreiben war einfach nicht dasselbe. Schließlich brachte ich den Mut auf, Janet zu fragen, ob Sara mich an dem Samstag vor Schulbeginn besuchen dürfe. Janet zögerte keine Sekunde, bevor sie ja sagte – wahrscheinlich hätte ich sie schon viel früher fragen können. Seltsam, wie wenig Ähnlichkeit sie mit Carol hatte.
Zögernd betrat Sara an jenem Samstag Janets einstöckiges kleines Häuschen. Sie war nicht so überschwänglich wie sonst, aber an dem Funkeln in ihren Augen konnte ich erkennen, dass sie sich bewusst zurückhielt. Gleich nach ihrem Eintreffen meinte Janet, sie müsse dringend noch etwas einkaufen. Aber mir war klar, dass sie uns vor allem ungestört miteinander reden lassen wollte.
»Es ist so wunderbar, dich zu sehen!«, rief Sara und umarmte mich. »Du siehst gut aus. Fühlst du dich denn auch besser?«
»Ja, mir geht es gut. Ich langweile mich nur fast zu Tode.« Ich gestattete mir ein einigermaßen entspanntes Lächeln – das letzte Mal war lange her. »Erzähl mir, was los ist. Die SMS waren nur so kurz, manches hab ich überhaupt nicht verstanden.«
Sara lachte kurz auf. »Okay, die Basketball-Neuigkeiten kennst du, oder?«
»Ja, ich hab auch in der Zeitung darüber gelesen. Echt ätzend, dass wir zweimal verloren haben, aber wenigstens waren die beiden anderen Spiele gut.«
»Das Team freut sich schon darauf, dich endlich zurückzuhaben, vor allem Coach Stanley. Ich war mit meinen Eltern, Jill und Casey Ski fahren, aber das weißt du ja schon. Was noch?« Sara sah zur Decke hinauf und überlegte, welche anderen Neuigkeiten mich interessieren könnten. »Ach, Drew hat mir Blumen für dich gegeben. Aber … ich hab sie leider vergessen. Kannst du ihm bitte dafür danken, damit mein Patzer nicht so auffällt?«
»Oh«, antwortete ich nur. All die Tage allein in diesem Zimmer hatte ich reichlich Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, was eigentlich zwischen Drew und mir vor sich ging. Das Ganze hatte ziemlich stürmisch begonnen, und ich wusste nicht recht, wie wir so weit gekommen waren, dass er mir Blumen schenken wollte. Ich hätte mir ohne weiteres einreden können, wir wären einfach nur befreundet – wäre da nicht die Küsserei gewesen. Und um die kam ich nicht herum.
»Er fragt jedes Mal nach dir, wenn ich ihn vorm Training sehe. Seit einer Weile trainieren wir nicht mehr nach den Jungs, deshalb sind sie eigentlich schon weg, wenn das Volleyballteam in die Halle kommt. Aber er wartet immer extra auf mich, damit er sich nach dir erkundigen kann.«
»Das ist ja nett«, antwortete ich aufrichtig. »Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich gar nicht mit ihm reden konnte.«
»Bist du noch an ihm interessiert?«, fragte sie. In ihrer Stimme schwang Zweifel mit.
Ich seufzte schuldbewusst und vermied es, sie anzuschauen.
»Was ist?«
»Es ist etwas vorgefallen, und ich konnte es dir wegen dem Unfall nicht sagen«, gestand ich. Sara zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Ich hielt kurz inne und überlegte, wo ich am besten beginnen sollte. Diese Szene hatte mich die letzten zwei Wochen gequält – fast so sehr wie die Albträume, die mir nachts regelmäßig den Schlaf raubten.
»Evan hat rausgefunden, dass Drew und ich uns geküsst haben.« Ich zögerte, um zu sehen, wie sie darauf reagierte.
»Hab ich mir schon gedacht«, antwortete sie mit einem leichten Achselzucken. »Das wissen doch auch alle anderen in der Schule.«
»Ernsthaft?« Ich stöhnte.
»Seine Freunde haben eine große Klappe. Damit hattest du bis jetzt nichts zu tun, oder?«
»Was meinst du damit?«
»Die Gerüchteküche. Alle wissen, was du getan hast, bevor du es selbst weißt. Ich hab echt mehr als genug darüber gehört, was ich in den letzten Jahren angeblich alles gemacht habe – völlig bescheuert. Allerdings wissen sie seltsamerweise nicht mal die Hälfte von dem, was wirklich passiert ist. Jedenfalls wurde schon vorher über Evan und dich geredet. Aber da der Tratsch durch nichts Neues in Gang gehalten wurde, hat die Faszination irgendwann nachgelassen. Die Geschichte mit dir und Drew allerdings ist aus irgendeinem Grund eine ganz große Sache.« Mir wurde flau im Magen, denn diese Neuigkeit verstärkte mein schlechtes Gewissen noch.
»Das gehört nicht zu den Dingen, die ich unbedingt hören wollte«, schmollte ich.
»Tut mir leid. Warum – was ist denn passiert?«
»Nachdem Evan die Sache mit mir und Drew rausgefunden hat, haben wir uns auf dem Korridor angeschrien. Ich hab ihm das mit Haley vorgeworfen. Ihm ist nicht klar gewesen, dass ich davon wusste. Er wollte es mir erklären, aber ich hab ihn nicht gelassen. Da hat er mir nachgerufen, dass er mich immer noch liebt, aber ich hab ihn einfach stehenlassen. Und das Schlimmste: Am selben Abend hat er auch noch gesehen, wie Drew mich nach dem Training zum zweiten Mal geküsst hat.«
»Wow, und das hab ich alles verpasst?« Sara verdaute meine Geschichte und schüttelte schließlich den Kopf. »Vermutlich erklärt das die Spannung im Wartezimmer.«
»Wovon redest du?«
»Als wir im Krankenhaus auf dich gewartet haben, saßen Evan und Drew möglichst weit voneinander entfernt. Evan hat Drew von der anderen Seite des Raums aus wütend angestarrt. Bis Drew ihn irgendwann zur Rede gestellt hat.«
»Bitte sag jetzt nicht, dass alle anderen das mitbekommen haben?« Ich sackte auf der Couch in mich zusammen, ließ den Kopf auf die geblümte Lehne sinken und blickte zur Decke empor.
»Sorry.« Sara war die Situation offensichtlich unangenehm. »Die Jungs haben nicht konkret über dich gesprochen – Drew hatte eher die Nase voll von Evans Feindseligkeit, weil er sie seiner Meinung nach überhaupt nicht verdient hat. Evan wiederum hat die Gelegenheit genutzt, Drew anzumotzen.«
Ich stöhnte, konnte mir die Situation aber nur schwer vorstellen. Keiner der beiden Jungs war besonders streitlustig. Ich wusste, dass Evan eigentlich sauer auf mich war und seine Wut nur an Drew ausgelassen hatte.
»Woran denkst du?«, fragte Sara und musterte mein schuldbewusstes Gesicht.
»Ich fühle mich schrecklich, weil Evan gesehen hat, wie Drew mich geküsst hat – und das nach allem, was direkt vorher zwischen mir und ihm abgelaufen ist. Aber ich war so wütend auf ihn, weil er mir verheimlichen wollte, dass er mit Haley genau das Gleiche tut.«
»Was meinst du denn? Er und Haley sind nicht zusammen.« Sara klang so überzeugt, dass mein Herz einen Schlag aussetzte.
»Sara, ich hab sie doch beim Lagerfeuer gesehen.« Ich blieb hart. »Evan hatte den Arm um sie gelegt. Das war doch der Moment, in dem ich mit Drew weggegangen bin.«
»Em, du warst auf der anderen Seite des Feuers. Aber ich saß direkt neben Evan, und er hatte Haley nicht im Arm. Sie ist zu ihm gekommen, hat wie üblich irgendwas Doofes gesagt und sich ihm an den Hals geschmissen. Er hat ihr höflich den Rücken getätschelt, um sie bei Laune zu halten, dann ist er weggegangen, und Haley hat mit Mitch geflirtet. Offensichtlich hast du nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit gesehen.«
Das konnte doch nicht wahr sein! Oder etwa doch? Wenn es stimmte, dann wäre ich an diesem Abend niemals mit Drew am Strand entlangspaziert, und ich wäre auch nicht so verstört gewesen, ich hätte ihm niemals erlaubt, mich zu küssen. Alles um mich herum geriet aus den Fugen. Obendrein wusste ich, dass ich den ganzen Schlamassel mir selbst zu verdanken hatte. Was hatte ich bloß angerichtet?
»Aber sie hat mir erzählt, dass sie mit ihm zusammen ist«, flüsterte ich. »Ich war so sauer, als ich es von ihr an meinem Spind erfahren habe.«
»Mir fällt es schwer, ihr überhaupt irgendwas zu glauben. Und du weißt doch, dass sie dich hasst, oder nicht?«
»Aber warum denn?«
»Bitte zwing mich nicht, dir das zu erklären.«
»Sara, hab ich das alles total vermasselt?« Der Schmerz kehrte zurück, aber jetzt tat mir das Herz weh, nicht der Rücken.
»Was willst du denn? Du und Evan, ihr habt nicht mehr miteinander geredet, lange bevor Drew und Haley auf der Bildfläche erschienen sind – das hatte nichts mit den beiden zu tun.«
»Aber ich hab auch nichts dagegen getan.« Ich sank noch tiefer in die Couch.
»Was ist mit Drew?«
»Ich weiß es nicht, Sara.« Ich war so verwirrt, ich hatte keine Ahnung, was ich wollte oder was das Beste war, ich konnte nicht mehr klar denken. »Er ist so nett und – na ja, schau ihn dir doch nur an.«
Sara grinste zustimmend. »Aber?«
Ich schwieg eine Weile. Der Gedanke, nie wieder mit Evan zu sprechen, war schrecklich, aber daran würde sich nichts ändern, solange ich ihm nicht die Wahrheit sagte – und das konnte ich nicht. Wo also blieb Drew in dem Ganzen? Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte er mich gern. Das konnte ich nicht bestreiten, auch wenn ich nicht begriff, warum.
»Mit Drew zusammen zu sein ergibt irgendwie mehr Sinn«, sagte ich endlich.
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand aus einem so seltsamen Grund mit jemandem zusammen gewesen ist«, erwiderte Sara.
»Ich bin mit ihm zusammen?«, fragte ich fassungslos.
»Em, er hat dich in aller Öffentlichkeit geküsst, er hat dir Blumen gekauft, und er ruft mich an, um sich nach dir zu erkundigen – ja, ich bin mir ziemlich sicher, er geht davon aus, dass er mit dir zusammen ist.«
»Er ruft dich auch an?«
»Oh, ja, sorry – ich hab es vergessen zu erwähnen. Du hast recht – er ist nett, aufmerksam und sieht verdammt gut aus.« Sie zögerte.
»Aber …?« Ich wartete.
»Ich werde diesen Satz nicht für dich zu Ende bringen.«
»Sara!«
»Warum muss ich denn diejenige sein, die es ausspricht?!« Frustriert tat sie es nach einer Weile doch: »Er ist nicht Evan!«
Sofort war mir klar, dass sie es damit genau auf den Punkt brachte. Aber ich wusste auch, dass es keine Rolle spielte.
»Können wir uns über etwas anderes unterhalten?«, flehte ich sie an.
»Du kannst es aber nicht ewig verdrängen«, warnte sie mich. »Am Montag gehen wir wieder zur Schule, und dort wirst du beiden begegnen.«
»Sara, Evan will nichts mit mir zu tun haben.«
»Ich weiß nicht, Em«, entgegnete sie. Ich sah ihr an, dass es noch mehr zu sagen gab.
»Raus mit der Sprache, Sara.«
Sie holte tief Luft, hielt einen Moment inne und erklärte: »Evan war fix und fertig, als sie dich ins Krankenhaus gebracht haben, ich hab eine Weile allein mit ihm geredet. Er war verletzt, weil du ihn nicht sehen wolltest. Er glaubt, dass ihm mehr an dir liegt als dir an ihm. Ich hab gemerkt, dass es ihm unangenehm war, mit mir darüber zu reden, aber ich denke, er musste es jemandem sagen, weil er es dir nicht sagen konnte. Er wünscht sich, es wäre wieder so wie vor dem Wochenende, als wir im Kino waren.«
Genau das wünschte ich mir auch.
»Emma, er ist nicht blöd. Er weiß ziemlich genau, was bei dir zu Hause abläuft. Du hättest sehen sollen, wie er Carol und George angeschaut hat, als er erfahren hat, wer sie sind. Du bist ihm immer noch wichtig, ich glaube, wenn du mit ihm reden würdest …«
»Ich glaube, das kann ich nicht, Sara«, flüsterte ich. Sie antwortete nicht, aber als sie den Blick senkte, wusste ich, dass ihr meine Entscheidung nicht gefiel. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, und das würde sich höchstwahrscheinlich nie ändern. Ich durfte ihn nicht noch einmal verletzen. Schweigend saßen wir nebeneinander.
»Da wir schon davon sprechen«, murmelte Sara nach einer Weile. »Musst du wieder bei ihnen einziehen?«
»Ja.«
»Wir müssen Carol das Handwerk legen«, beharrte sie. »Es muss einen Weg dafür geben, ohne dass die Kinder darunter leiden.«
»Ich weiß nicht …«, setzte ich an, wurde aber von Janet unterbrochen, die langsam und geräuschvoll die Haustür öffnete und uns deutlich zu verstehen gab, dass sie wieder da war.
»Und was hast du sonst noch zu erzählen?«, fragte ich betont munter. Janet sollte nicht merken, was für ein ernstes Gespräch wir geführt hatten.
Sara zuckte die Achseln. Dann weiteten sich ihre Augen plötzlich, doch offensichtlich zögerte sie, das Thema wirklich anzuschneiden.
»Raus mit der Sprache.«
»Ich bin diese Woche zweimal mit Jared ausgegangen«, platzte sie heraus und sah mich an, als erwarte sie eine Schimpftirade. Ich überlegte einen Moment, was ich dazu sagen sollte.
»Okay«, antwortete ich dann bedächtig. »Das ist doch großartig, oder nicht?«
»Es war tatsächlich großartig.« Sara strahlte.
»Wie ist es denn dazu gekommen?«, fragte ich und erinnerte mich, dass die beiden sich auf Anhieb gut verstanden hatten. Aber dann verdrängte ich den Gedanken an unseren Kinoabend. Sonst hätte ich auch daran denken müssen, wie schön es mit Evan gewesen war – und dass es ein für alle Mal vorbei war.
»Ich hab angerufen, um die Taschenlampe zurückzubringen. Da haben wir uns ein bisschen unterhalten. Später hat er mich angerufen, und wir haben uns noch ein bisschen mehr unterhalten. Er hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm auszugehen, und ich hab ja gesagt.«
»Die Details lässt du aus?« Solche vagen Berichte über ein Date waren gar nicht Saras Stil.
»Ich dachte, es wäre vielleicht komisch für dich, weil er Evans Bruder ist. Aber ich musste es dir wenigstens sagen, sonst wäre ich geplatzt. Die Einzelheiten kann ich für mich behalten, wenn du sie lieber nicht hören magst.«
»Aber nein, ich möchte alles hören«, entgegnete ich aufrichtig.
Also begann Sara mit leuchtenden Augen von ihren Verabredungen mit Jared zu erzählen – sie waren in Boston zusammen essen gegangen und hatten sich ein zweites Mal in New York getroffen. Sie redete wie ein Wasserfall. Sosehr ich mich auch für sie freute, plötzlich spürte ich eine seltsame Leere in mir. War ich etwa eifersüchtig? Rasch schob ich das egoistische Gefühl beiseite.
»Und am zweiten Abend hat er mich geküsst. Das war der schönste Kuss meines Lebens. Ich dachte, ich falle um.« Sara strahlte, und ich sah, wie sich die glückliche Erinnerung in ihren Augen widerspiegelte.
»Und jetzt? Er geht doch zurück nach New York, richtig?«
»Ja, er ist heute Morgen wieder gefahren«, bestätigte sie mit einem Seufzer. »Es war die schönste Zeit meines Lebens, aber er geht eben in New York aufs College.« Sie zuckte die Achseln und lächelte zufrieden.
»Und das war’s?«
»Ja, das war’s. Ehrlich, ich hab nichts anderes erwartet. Als ich mit ihm ausgegangen bin, wusste ich ja, dass aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Dauerhaftes daraus wird.«
»Warum hast du es dann gemacht?«, fragte ich verwirrt.
»Warum denn nicht?«, antwortete sie enthusiastisch. »Ich habe lieber die schönen Erinnerungen an die beiden Abende mit ihm als gar nichts. Auch wenn ich weiß, dass ich vermutlich nie wieder mit ihm ausgehen werde.«
»Hmm«, meinte ich nachdenklich, fasziniert von Saras Einstellung. Ihre Worte gingen mir noch durch den Kopf, als sie schon längst wieder heimgefahren war.
Auch als ich abends im Bett lag, dachte ich darüber nach. War es am besten, den Augenblick voll und ganz auszukosten, in dem Bewusstsein, dass alles in der nächsten Sekunde vorbei sein konnte? War das Erlebnis selbst wichtiger als sein unausweichliches Ende? Wahrscheinlich, dachte ich, hing es davon ab, ob das Ende ein gebrochenes Herz oder gebrochene Knochen brachte.
In dieser Nacht schlief ich nicht besonders. Meine Träume verschwammen in einem Wirbel von Bildern. Bestimmt hatte meine Ruhelosigkeit ihren Ursprung in dem Gespräch mit Sara. Andererseits würde mich am nächsten Morgen aber auch George abholen.
Die Hälfte der Strecke saßen George und ich schweigend nebeneinander – ich starrte aus dem Fenster, er hielt den Blick stur auf die Straße gerichtet.
»Am besten hältst du dich von Carol möglichst fern«, sagte er schließlich. Sein Ton ließ mich aufhorchen, und es überraschte mich nicht, dass er mich immer noch nicht ansah. »Sie stand unter großem Druck, und die neuen Medikamente, die sie jetzt nimmt, beeinflussen ihre Stimmung. Du bleibst in deinem Zimmer und isst wie bisher nach uns zu Abend, aber ich kümmere mich um den Abwasch. Erledige du nur deine Putzarbeiten am Samstag, bevor Carol vom Einkaufen zurückkommt.
Ich hab auch mit den McKinleys geredet, sie sind bereit, uns zu unterstützen. Du kannst die Samstage dort verbringen – nachdem du deine Hausarbeit gemacht hast natürlich – und auch freitags dort übernachten, wenn du ein Basketballspiel hast. Sie haben viel Verständnis für Carols Stress, und ich finde ihr Angebot ausgesprochen rücksichtsvoll. Also mach es uns allen bitte nicht noch schwerer. Die Sonntage kannst du wie bisher in der Bibliothek verbringen. Und Emma, ich muss dich hoffentlich nicht daran erinnern, dass das, was in unseren vier Wänden geschieht, auch in unseren vier Wänden bleibt.«
Auf diese subtile Drohung reagierte ich nicht. Gerade hatte er mir das letzte bisschen Familie weggenommen, das mir noch geblieben war – ganz gleich, wie dysfunktional sie auch sein mochte. Ich würde keine Zeit mehr mit den Kindern verbringen können, und auch George würde sich noch weniger um mich kümmern als bisher. Langsam sickerte die Erkenntnis in mein Bewusstsein ein, jetzt war ich wirklich und wahrhaftig allein.
Meine Welt befand sich in einem empfindlichen Gleichgewicht. Wenn sich etwas besserte, musste etwas anderes dafür wegfallen. Das musste ich lernen zu akzeptieren, auch wenn mir noch nie etwas so schwergefallen war. Und obwohl ich die Wahrheit in dieser Erkenntnis erkannte, war ich am Boden zerstört.