34 iM ViSier
»Was hast du getan?« rief Sara unnötig laut, als wir am nächsten Morgen von Evans Haus wegfuhren. »Und unterstehe dich, ›nichts‹ zu sagen, denn du glühst geradezu.«
Ich drückte die Handflächen an meine heißen Wangen. Sara sah weit mehr, als sie sollte.
»Nicht das, was du denkst«, korrigierte ich sie. »Aber es war … interessant.« Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen und starrte aus dem Fenster, unfähig, Sara in die Augen zu sehen.
»›Interessant‹ ist kein Detail«, sagte sie ungeduldig. »Du erzählst es mir nicht, oder?«
»Nicht heute«, wehrte ich ab. Irgendwann würde ich es ihr erzählen. Vielleicht nicht ganz so ausführlich und anschaulich, wie sie es gern gehabt hätte, aber genug, dass sie Bescheid wusste.
Als ich nach Hause kam, war ich so in meine schwindelerregenden Gedanken versunken, dass ich die Schmerzen kaum spürte. Ich hinkte auf meinem verletzten Bein umher und erledigte meine Putzarbeiten. So merkte ich beim Geschirrspülen auch nicht, wie Carol sich mir von hinten näherte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung wurde das Messer zwischen meinen seifigen Finger herausgezogen. Ich atmete scharf ein, als ich den schneidenden Schmerz an der Innenseite meiner Finger fühlte.
»Oh, hab ich dich erwischt?«, fragte Carol höhnisch. »Ich brauchte das Messer mal eben.«
Ich hielt meine Hand fest umklammert und starrte Carol stumm und entsetzt in die Augen. Das, was ich ihr sagen wollte, dröhnte laut in meinem Kopf. Blut quoll zwischen meinen Fingern hervor, das Wasser verfärbte sich rot. Carol legte das Messer auf die Theke und machte sich noch nicht einmal die Mühe, auch nur so zu tun, als wollte sie es benutzen. Dann verließ sie mit einem bösartigen Grinsen die Küche.
Hastig griff ich über die Theke nach den Papiertüchern und riss ein paar davon ab. Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich dabei eine rote Blutspur hinterließ. Ich wickelte die Tücher um den Schnitt direkt unter den Fingergelenken. Im Nu waren sie durchweicht.
Ich drückte die Hand vorsichtig an mich und eilte ins Bad, um die Wunde auszuwaschen. Meine Finger pulsierten, das Blut floss in Strömen und verschwand wirbelnd mit dem Wasser im Abfluss. Ich musste ein Handtuch fest auf meine Finger drücken, um das Blut zu stillen. Mir war klar, dass ich mir später alle Mühe geben musste, die Blutflecke restlos zu entfernen.
Nachdem ich die Finger ein paar Minuten zusammengepresst hatte, quollen nur noch vereinzelte Blutstropfen aus den Schnitten. Ich verband sie so fest ich konnte, damit das Blut gerann. Kopfschüttelnd dachte ich daran, wie raffiniert diese Frau war, und knirschte vor Wut mit den Zähnen. Inzwischen fiel es mir immer schwerer, meine Gefühle zu verdrängen, sie überwältigten mich und verharrten viel länger an der Oberfläche, als mir recht war.
Am Montag beäugten Sara und Evan beide argwöhnisch meine verbundenen Finger, aber erst beim Lunch sagte Sara etwas.
»Erklärst du uns das vielleicht mal?«
Ich verdrehte die Augen, genervt von ihrer Hartnäckigkeit. »Ich hab mich beim Abwaschen an einem Messer geschnitten«, antwortete ich ausdruckslos.
Sara schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit vier Fingern?«
»Sag uns die Wahrheit«, verlangte Evan, offensichtlich nicht bereit, mich mit dieser laschen Erklärung davonkommen zu lassen. Mir gefiel es überhaupt nicht, wie vorwurfsvoll mich die beiden anstarrten. Es war doch nicht ihr Problem. Außerdem mussten sie mir wahrhaftig nicht das Gefühl vermitteln, ich hätte etwas Falsches getan.
»Hört mir mal zu, ich werde euch nicht sagen, was passiert ist. Wenn euch meine Erklärung nicht gefällt, dann füllt die Leerstellen doch, wie es euch beliebt. Von mir hört ihr jedenfalls kein Wort mehr zu diesem Thema. Ihr wisst, wo ich wohne und mit wem. Und ich habe keine Lust, das Ganze noch einmal zu durchleben, indem ich es euch erzähle.« Auf einmal konnte ich meinen Ärger nicht mehr zurückhalten und marschierte – oder besser gesagt, hinkte – aus der Cafeteria.
In Journalistik sprachen weder Sara noch Evan mit mir. Sie ließen mich die gesamten fünfzig Minuten an meinem Platz vor mich hinschmoren. Aber kaum war die Stunde vorüber, schossen sie sich erneut auf mich ein.
»Auf uns brauchst du wirklich nicht sauer zu sein«, beschwor mich Evan. Ich wandte ihm den Rücken zu und starrte auf den Computer.
»Emma, du neigst dazu, deine Verletzungen runterzuspielen«, fügte Sara hinzu. »Du musst einsehen, dass wir uns Sorgen machen.«
»Ich komme schon zurecht«, fauchte ich und wirbelte auf meinem Stuhl herum.
»Hast du mir so was Ähnliches nicht auch damals auf der Aschenbahn gesagt – kurz bevor man dich ins Krankenhaus gebracht hat?« Saras Stimme brach. Ich schwieg und starrte zu Boden.
Evan zog einen Stuhl heran, setzte sich vor mich, nahm meine nicht verletzte Hand und hielt sie zwischen seinen beiden Händen fest.
»Wir wissen, dass du viel mehr aushältst, als du solltest«, meinte er beschwichtigend, »aber gerade das macht uns ja so … nervös. Ich glaube wirklich, wir sollten …« Ich warf ihm einen panischen Blick zu, als mir klar wurde, was er sagen wollte. Er redete nicht weiter. Aber sein Schweigen sagte genug.
»Ihr versteht das nicht«, flüsterte ich. »Ich kann nicht von ihnen weg. Noch nicht. Ich möchte Jacks und Leylas Leben nicht aufs Spiel setzen. Ich will nicht alles verlieren, für das ich so hart gearbeitet habe. Außerdem kann ich nirgendwohin.«
»Du …«, setzten sie beide gleichzeitig an.
»Ich kann nirgendwohin, ohne noch mehr Probleme zu bekommen oder mein Geheimnis zu offenbaren«, verbesserte ich mich hastig. »Glaubt ihr wirklich, sie würden mich einfach so gehen lassen? Glaubt ihr, sie würden in aller Ruhe in derselben Stadt leben, während sie sich fragen, was ich euren Eltern erzähle? Ich müsste weg aus Weslyn, und dann würden die Leute erst recht anfangen, Fragen zu stellen. Ich habe keine Wahl.«
Sie hatten mich endlich verstanden, das konnte ich an ihren niedergeschlagenen Gesichtern erkennen. Jetzt teilte ich mit ihnen die Gedanken, die ich schon hundertmal in meinem eigenen Kopf durchgekaut hatte. Sie erhaschten einen Blick darauf, was wirklich drohte, wenn ich meine Situation aufdeckte. Wir würden alle verlieren. Ich hoffte, ich hatte sie davon überzeugt, dass es sich lohnte, das Risiko einzugehen und zu bleiben.
»Aber ich verspreche euch, ich werde es wissen, wenn ich nicht mehr kann«, beteuerte ich, »und wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, können wir gehen, wohin du willst«, beendete ich den Satz an Evan gewandt. Saras Augen zuckten verwirrt, aber sie fragte nicht nach einer Erklärung – sie hatte genug verstanden.
»Außerdem sind es nur noch vierhundertachtzig Tage«, fügte ich hinzu, um die Stimmung etwas aufzulockern. Selbstverständlich funktionierte es nicht.
Die nächsten beiden Wochen verliefen ohne Zwischenfälle. Die Osterfeiertage bei Janet entschärften die Situation, und den Rest der Ferien wohnte ich bei Sara. George und Carol besuchten mit ihren Kindern die Freizeitparks in Florida, natürlich ohne mich. Aber sie hatten keine Ahnung, dass Sara und ich ebenfalls vier Tage nach Florida flohen. Wir besuchten ihre Großmutter an der Golfküste, während Evan in Frankreich mit einem Freund aus San Francisco Snowboarden war.
»Ich glaube, das wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk für ihn«, verkündete Sara. Wir fläzten auf dem weichen weißen Sand, und der warme Wind zerzauste uns die Haare.
»Findest du es nicht zu …« Ich verzog das Gesicht und suchte nach dem richtigen Wort.
»Nein, es ist perfekt.«
»Ich glaube, Ms Mier wird mich einen Teil davon im Unterricht machen lassen, als normales Kunstprojekt. Weißt du eigentlich, dass ich am Sonntag zum Essen bei seinen Eltern bin?«
»Nein, davon hast du mir überhaupt noch nichts erzählt!«, rief Sara, setzte sich auf und wandte sich mir zu.
»Erinnerst du dich, dass seine Mutter mich im Herbst mal zum Essen eingeladen hat?«
»Klar«, antwortete sie eifrig.
»Na ja, sie besteht darauf, dass wir es diesen Sonntag endlich nachholen. Ich kann gar nicht glauben, dass ich dir das nicht erzählt habe«, meinte ich nachdenklich. »Oh, und das Schlimmste daran ist, dass sie auch Carol und George eingeladen haben.«
»Nein!«, rief Sara entgeistert.
»Tja, genaugenommen musste ich die Einladung aussprechen, weil ich ja niemandem unsere Telefonnummer geben darf – außer dir.«
»Dann wissen sie jetzt von Evan?«, schlussfolgerte Sara, immer noch mit geöffnetem Mund vor Staunen.
»Irgendwann hätten sie es sowieso herausgefunden«, antwortete ich mit einem leichten Achselzucken. »Aber du hättest Carols Gesicht sehen sollen, als sie es begriffen hat. Ich glaube, ihre Augen haben sich im Inneren blutrot verfärbt. Es war ziemlich gruselig.«
»Und gehen sie hin?«, fragte Sara entsetzt.
»Natürlich nicht«, antwortete ich, als wäre das ganz selbstverständlich. »Aber George fand es trotz Carols Proteste okay, dass ich hingehe.«
»Em, das wird doch schrecklich, oder?« Ich beobachtete, wie Sara buchstäblich in sich zusammensank, als sie begriff, dass Carol von meiner Beziehung zu Evan erfahren hatte, obwohl wir doch alles getan hatten, sie vor ihr zu verheimlichen. Ich hatte das Unvermeidliche schon mit unserem Kuss im Kunstsaal akzeptiert, und mich seitdem darauf vorbereitet – jetzt konnte ich nur hoffen, dass ich innerlich gewappnet war. Sara war es jedenfalls nicht.
»Was kann sie denn noch tun, was sie nicht schon getan hat?«, versuchte ich sie zu beruhigen – vergeblich.
»Du gehst am Samstag nach dem Wettkampf zurück nach Hause, stimmt’s?«
»Ja«, antwortete ich und sah sie argwöhnisch an.
»Wenn du daheim bist, musst du mir bitte innerhalb einer Stunde eine SMS schreiben, damit ich weiß, dass mit dir alles in Ordnung ist«, verlangte sie.
»Sara, lass es gut sein.«
Sie brachte mich mit einem strengen Blick zum Schweigen. Ich wusste, ich musste ihrer Forderung nachgeben, wenn ich nicht die restlichen zwei Tage in Florida ignoriert werden wollte.
»Na gut«, versprach ich mit einem genervten Stöhnen. »Ich schick dir eine SMS.«
Den Rest der Woche erwähnten wir das Thema beide nicht mehr. Aber als der Samstag näher rückte, wurde Sara immer nervöser. Ihre Unruhe lenkte mich von meiner eigenen Nervosität ab. Ich konzentrierte mich darauf, dass ich beim Wettkampf Evan sehen würde. Das genügte, um den Gedanken an Carol fürs Erste zu verdrängen.