38 zeRschLagen

»Du kleine Nutte«, zischte Carol hinter mir, als ich den Küchenboden fegte. Ich fuhr erschrocken herum.

»Was musstest du tun, um das zu kriegen?«, fragte sie und grabschte nach meiner Kette. Ich wich zurück und entzog mich energisch ihrem Griff. Schockiert riss sie die Augen auf.

»Du kannst doch unmöglich denken, dass ihm etwas an dir liegt«, höhnte sie. »Er hat das Ding vermutlich von der letzten zurückgekriegt, die er gevögelt hat.«

Auf einmal loderte ein Feuer in mir auf, und ich starrte voller Abscheu auf diese erbärmliche Frau. »Halt den Mund, Carol«, gab ich mit fester Stimme zurück und baute mich vor ihr auf.

»Was hast du da gerade gesagt?«, fragte sie, mit einer Heftigkeit, die das Haus hätte in die Luft jagen können. Ihre Hand schlug mir mit einer solchen Wucht ins Gesicht, dass der Besen krachend zu Boden fiel.

Aber ich fixierte sie sofort wieder. Das Feuer hatte jeden Muskel meines angespannten Körpers erfasst, ich hob die Faust.

»Was, du willst mich schlagen?« Sie grinste hämisch. »Nur los!«

Zum Glück schaltete sich mein Verstand wieder ein, und ich blickte entsetzt auf meine geballte Faust. So etwas wollte ich doch gar nicht tun! Entschlossen schob ich die Wut weg, ehe sie ganz von mir Besitz ergreifen konnte.

»Ich habe keine Ahnung, warum du so abscheulich bist, aber ich bin nicht wie du«, fauchte ich. »Du widerst mich an.«

Voller Verachtung starrte Carol in mein Gesicht. Mein Innerstes rebellierte, und ich bedauerte, was ich gesagt hatte. Furcht gewann die Oberhand, mein ganzer Körper begann zu zittern.

Sie packte mich am Arm, aber ich schob sie weg.

»Du verdammtes Miststück«, knurrte sie und stürzte sich mit einer Gewalt auf mich, mit der ich nicht gerechnet hatte, auf die ich im Grunde aber hätte vorbereitet sein müssen. Sie wollte mich an den Schultern gegen die Tür drücken, aber ich rutschte auf dem Besen aus, der vor meinen Füßen lag. Glas klirrte, und ein heißer Schmerz durchzuckte meinen Arm, als mein Ellbogen das Türfenster zerschlug.

Ich schrie laut auf vor Schmerz, als die scharfkantigen Scherben in mein Fleisch drangen. Blut rann zwischen meinen Fingern hindurch und tropfte auf den Boden, ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«, rief George, der in diesem Moment die Terrassentreppe heraufgerannt kam. Als er mich blutüberströmt in einem Meer von Glasscherben auf dem Boden liegen sah, blieb er wie versteinert stehen. Dann wanderte sein Blick von mir zu Carol, und er starrte sie voller Entsetzen an.

»George«, jammerte sie, »es war ein Unfall. Sie ist ausgerutscht, das schwöre ich.«

»Dann steh nicht hier rum!«, brüllte er. »Hol ein Handtuch.« Carol befolgte seinen Befehl und rannte ins Badezimmer.

Vorsichtig öffnete George die Tür so weit wie möglich, da ich ja noch immer reglos davor lag. Dann quetschte er sich herein und bückte sich, um den Schaden in Augenschein zu nehmen.

»Ich muss dich ins Krankenhaus bringen«, entschied er. »Es ist noch Glas in den Wunden, und du musst wahrscheinlich genäht werden.«

Warme Tränen rannen mir übers Gesicht. George hob mich hoch, als Carol mit dem Handtuch zurückkam. Flehentlich sah sie ihren Mann an. Doch er nahm ihr das Handtuch ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und wickelte es locker um meinen Arm.

»George, es tut mir so leid«, wimmerte sie.

»Darüber unterhalten wir uns, wenn ich zurückkomme«, zischte er, immer noch unfähig, sie anzusehen. Dann öffnete er die Haustür für mich, und ich folgte ihm wortlos zu seinem Truck. Auch er schwieg, als er die Beifahrertür aufmachte. Ich kletterte hinein, stöhnend, weil die Splitter sich durch die Bewegung immer tiefer in mein Fleisch bohrten.

Das Schweigen setzte sich fort, bis wir im Krankenhaus ankamen. Wir wurden sofort vorgelassen und in der Notaufnahme in ein Kabuff gebracht, das von einem Vorhang umschlossen war. Der Arzt untersuchte die Schnitte, dann betäubte er den Bereich, um das Glas zu entfernen, und überprüfte, welche Wunden genäht werden mussten.

Benommen saß ich auf dem Bett und hörte die Scherben klirrend in die Metallschüssel fallen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, die Tränen tropften von meinem Kinn, sosehr ich sie auch hinunterzuschlucken versuchte. Als der Arzt das offenliegende Gewebe untersuchte und darin nach weiteren Splittern stocherte, schauderte ich. Aber dann begann er die zerfetzte Haut zusammenzunähen, und ich überließ mich dem Nichts.

Zum Schluss bat der Arzt mich noch zu erklären, wie es zu dem Unfall gekommen war. George wurde nervös. In den letzten Monaten hatte ich besser zu lügen gelernt, und so kam mir die Geschichte, in der ich rückwärts auf dem nassen Boden ausgerutscht war, problemlos über die Lippen. Es war mir auch gleichgültig, ob der Arzt mir glaubte oder nicht, aber allem Anschein nach zweifelte er nicht an meiner Geschichte. Nach einigen Stunden im Krankenhaus befanden wir uns dann schließlich wieder auf dem Heimweg.

»Ich werde mich darum kümmern«, versprach George auf der Rückfahrt. »Geh einfach in dein Zimmer und lass mich machen, okay?«

»Okay«, flüsterte ich.

»Es muss doch möglich sein, dass ihr beiden unter einem Dach leben könnt«, murmelte er vor sich hin.

An seinem Ton merkte ich, dass er immer noch glaubte, ich hätte genauso viel mit unseren Auseinandersetzungen zu tun wie Carol, wenn nicht sogar mehr. Ich biss die Zähne zusammen. Mir wurde klar, dass er immer auf ihrer Seite sein würde – und dass sie niemals aufhören würde, mich zu quälen, solange sich daran nichts änderte.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Carols Auto nicht da sein würde, wenn wir heimkamen. Vielleicht hatte ich insgeheim auch gehofft, sie wäre weg. Aber ihr blauer Jeep stand wie immer in der Auffahrt. Wir hielten dahinter, ich schlüpfte vorsichtig mit meinem verbundenen Arm aus dem Auto und ging langsam zurück ins Haus.

Carol hatte das Glas aufgefegt und ein Stück klare Plastikfolie über die kaputte Stelle geklebt. Sie selbst war nirgends zu sehen, als ich in mein Zimmer ging und die Tür hinter mir schloss. Mein Arm war noch größtenteils taub, fing aber bereits an zu pochen. Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke, zu erschöpft, um mich der Wut oder der Traurigkeit hinzugeben. Stattdessen überließ ich mich meinen trägen Gedanken und hüllte mich in die Dumpfheit wie in eine vertraute warme Decke.

Von oben hörte ich erregte Stimmen und das Weinen von Leyla und Jack, aber ich schloss die Augen und blendete es aus. Kurz dachte ich, dazwischen auch Carols schluchzende, flehende Stimme auszumachen. Dann war es still, George kam die Treppe herunter und ging in die Küche. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.

Ich wachte erst auf, als es wieder hell war, blinzelte und merkte, dass ich immer noch angezogen auf der Decke lag. Ich warf einen Blick zur Uhr – in zehn Minuten würde mein Wecker klingeln.

Ich setzte mich auf, und ein ekelhafter Schmerz schoss durch meinen Arm. Heftig atmend fuhr ich in die Höhe. Der Arzt hatte mir gesagt, die Nähte dürften die ersten vierundzwanzig Stunden nicht nass werden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich duschen sollte, und ließ mich mit einem frustrierten Seufzer aufs Bett zurücksinken. Dann dachte ich daran, dass ich Sara und Evan gegenübertreten musste, und stöhnte erneut auf. Konnte ich heute nicht irgendwie der Schule fernbleiben?

Da es mir unmöglich erschien, einarmig zu duschen, wusch ich mich notdürftig mit dem Schwamm ab und band mir die Haare hoch, damit nicht jedem gleich ins Auge fiel, dass ich sie nicht gewaschen hatte. Als ich aus dem Bad kam, war es im Haus geradezu unheimlich still. Lauschend blieb ich auf dem Flur stehen, aber außer dem Brummen des Kühlschranks war kein Laut zu hören.

Schließlich ging ich vorsichtig und mit gespitzten Ohren in die Küche. Nichts rührte sich, weder hier noch im Esszimmer. Auf der Kücheninsel lag eine kleine Papiertüte mit einem Zettel, daneben ein Schlüssel.

 

Das ist die Salbe, die Du zweimal pro Tag auf die Schnitte auftragen sollst. Carol ist für ein paar Tage bei ihrer Mutter. Sie braucht ein bisschen Freiraum. Alles wird anders. Benutz den Schlüssel zum Abschließen, wenn du gehst.

 

Ich las den Zettel ein paarmal und schüttelte den Kopf. Glaubte er wirklich, dass alles anders werden würde? Meine Augen füllten sich mit Tränen, die sich einen Weg über meine Wangen bahnten, aber ich wischte sie weg und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.

Das Verbandszeug und die Salbe legte ich auf meinen Schreibtisch, dann sammelte ich meine Bücher zusammen und verließ das Haus, um Evan zu treffen. Ich horchte auf das Klicken des Riegels, als ich die Küchentür abschloss – ein Geräusch, das ich noch nie ausgelöst hatte. Immer noch mit den Tränen kämpfend, stapfte ich die Treppe hinunter.

»Ist sie hier?«, fragte Evan leise, nachdem ich die Autotür zugeschlagen hatte. Es hätte mich nicht wundern sollen, dass er die Situation sofort erfasste. Sosehr ich auch gehofft hatte, mein langärmeliges Shirt würde den Verband verdecken, zeigte es doch eine deutliche Ausbuchtung. Vermutlich diente ihm auch meine zusammengesackte Körperhaltung als Hinweis.

»Nein«, flüsterte ich und schaute aus dem Fenster. »Sie ist ein paar Tage bei ihrer Mutter.«

»Du kannst hier nicht mehr bleiben.«

Ich weiß, formte ich mit den Lippen, unfähig, einen Laut von mir zu geben. Meine Augen brannten, ich versuchte noch immer, die Tränen wegzublinzeln, und konnte Evan nicht anschauen. Mein Kopf blieb leer, ich wollte nicht daran denken, was seine Worte bedeuteten. Den ganzen Schulweg sprachen wir kein weiteres Wort.

Als wir auf dem Parkplatz hielten, stellte Evan den Motor aus und wandte sich mir zu.

»Emma?« Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mich ihm zuwenden sollte. »Bist du okay?« Ich schüttelte den Kopf.

Seine Hand strich über meine Wange, und plötzlich brach ich in seinen Armen zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen. Er hielt mich fest, bis ich nicht mehr weinen konnte, mir über die Augen wischte und ihn ansah. Als ich den Schmerz in seinem Gesicht wahrnahm, zerriss es mir fast das Herz. Er küsste mich sanft und hielt die Augen geschlossen, als ich mich zurückzog.

»Möchtest du jetzt sofort abhauen?«, fragte er, als er mich wieder anschauen konnte.

»Jetzt?«, stieß ich hervor.

»Warum denn nicht? Worauf wartest du noch?«

Plötzlich lag mir der Gedanke an eine Flucht wie ein Stein im Magen. Bilder schossen mir durch den Kopf – wie ich meine Tasche packte, wie ich mit ihm weglief –, Bilder, die mir den Hals zuschnürten und einen Adrenalinstoß nach dem anderen durch meine Adern jagten. Es war zu viel, ich konnte das nicht alles verarbeiten.

»Morgen«, erwiderte ich beschwörend, ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. »Sie ist heute Abend nicht zu Hause. Lass mir die Nacht zum Packen, und morgen können wir aufbrechen, wann immer du willst.«

Evan sah mir ins Gesicht, in meine flehenden Augen.

»Bei dir wird morgen früh niemand zu Hause sein, ja?«, vergewisserte er sich.

»Ja.«

»Dann pack bis morgen früh alles zusammen, was du brauchst, damit wir gleich loskönnen, wenn ich dich abhole.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, aber ich nickte. Würde ich das wirklich fertigbringen? Würde ich tatsächlich alles hinter mir lassen und meine ganze Zukunft aufs Spiel setzen können, um dieser Frau zu entgehen? Nach allem, was ich durchgemacht hatte, sollte ich dieser Frau gestatten, dass sie mich zerstörte – es erschien mir nicht richtig. Ich brauchte diese vierundzwanzig Stunden, um zu entscheiden, was ich tun wollte.

Evan und ich hatten unsere Morgenstunde verpasst und mussten uns im Büro das Formular für Zuspätkommer geben lassen, ehe wir zum Kunstkurs gehen konnten. Stumm liefen wir nebeneinanderher durch die Korridore. Evan wich nicht von meiner Seite, hielt meine Hand oder schlang den Arm um mich, und ich ließ mich neben ihm hertreiben. Seine Kraft hielt mich in Bewegung, doch gleichzeitig zerriss sie mich auch innerlich.

»Was habt ihr vor?«, fragte Sara aufgeregt, als Evan und ich ihr von unseren Plänen berichteten. »Wie soll das funktionieren? Wie lange wollt ihr wegbleiben?«

Ich konnte sie nur stumm anstarren, ich hatte keine Antworten. Sie formulierte ja dieselben Fragen, die auch mir durch den Kopf gingen.

»Ich habe einen Plan«, war alles, was Evan bereit war zu sagen. »Ich erzähl dir später mehr, versprochen.«

Sara schüttelte den Kopf und staunte nur, dass es tatsächlich so weit gekommen war. Was sie tat und sagte, spiegelte genau meine Gedanken wider.

Doch ehe wir weitersprechen konnten, wurde ich über die Lautsprecherdurchsage aufgefordert, ins Büro des stellvertretenden Direktors zu kommen. Sara und Evan verstummten, mehrere Köpfe drehten sich zu mir um. Als ich aufstand, fühlte sich mein Magen an, als wäre dort ein Feuer ausgebrochen. Evan stand ebenfalls auf und wollte mich begleiten.

»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Wir sehen uns dann in Journalistik.«

Meine Füße fühlten sich bleischwer an, als ich mich widerwillig den Korridor entlang zum Büro des stellvertretenden Direktors schleppte. Mr Montgomery wartete bereits vor seiner Tür auf mich. Zögernd betrat ich den Raum und blickte nervös in die Gesichter, die am Konferenztisch saßen.

»Emily«, begrüßte Mr Montgomery mich freundlich, »bitte setz dich doch.«

Ich ging zu dem Stuhl am Ende des Tischs und blickte noch immer unruhig von einem zum anderen. Warum waren sie alle hier? Im Grunde wusste ich es genau. Ich kämpfte gegen den Kloß in meinem Hals und sammelte mich – ich würde mich von ihrem Verrat nicht unterkriegen lassen. Mein Rücken wurde starr und wappnete sich für das, was mir bevorstand.

»Wir sind alle hier, weil wir uns Sorgen um dich machen«, dröhnte Mr Montgomerys Stimme über den Tisch, so steif und diplomatisch, dass ich nicht einmal eine Spur von Mitgefühl darin erkennen konnte. »Wir möchten, dass du uns erklärst, woher deine Verletzungen kommen. Tut dir jemand etwas an?«

»Nein«, antwortete ich kopfschüttelnd. Alle meine Abwehrmechanismen wurden aktiviert.

»Emma«, meldete Coach Straw sich zu Wort, wärmer als der Vizedirektor, aber dennoch mit einem vorwurfsvollen Unterton. »Wir wissen, dass du nicht zu Unfällen neigst, so gern du uns das auch glauben machen möchtest. Wir wollen nur wissen, was los ist.«

»Nichts«, fauchte ich.

»Wir sind nicht hier, um dir dein Leben schwerer zu machen«, erklärte Ms Mier mit ihrer melodischen Stimme, aus der das Mitgefühl nur so strömte. »Wir sind hier, weil du uns am Herzen liegst und wir dir helfen möchten.«

Als ich in ihre sanften braunen Augen sah, kam der Kloß in meinem Hals zurück. Wie konnte sie mir das antun? Ich schluckte schwer.

»Mich muss niemand beschützen, das schwöre ich«, entgegnete ich, aber meine Stimme brach und strafte mich Lügen.

»Tut Evan Mathews dir das an?«, wollte Mr Montgomery wissen. Ich riss die Augen auf, entsetzt über diesen absurden Verdacht. Ms Mier warf ihm einen ähnlich fassungslosen Blick zu.

»Evan würde mir nie weh tun«, knurrte ich, voller Wut über seine Anschuldigung. Mein scharfer Ton erschreckte die Runde offensichtlich.

»Das weiß ich«, beschwichtigte Ms Mier. »Aber irgendjemand tut es. Bitte sag es uns.«

»Ich kann nicht.« Inzwischen erstickte ich fast an dem Kloß in meinem Hals und musste ständig blinzeln, um die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, notdürftig zurückzuhalten.

»Emma, ich weiß, dass das schwer ist«, warf Ms Farkis, die Schulpsychologin ein. »Aber wir versprechen dir, dass niemand dir etwas antun wird, wenn du es uns sagst. Dafür sorgen wir.«

»Wie wollen Sie das denn versprechen?«, flüsterte ich. Schweigend starrten sie mich an und warteten. Ich ballte die Fäuste, ich wollte nur weg. »Ich kann das nicht.«

Mit einem Satz sprang ich auf und rannte zur Tür. Hinter mir hörte ich Stühle scharren, vermutlich wollten ein paar der Anwesenden mir folgen.

»Lassen Sie sie gehen«, hörte ich Ms Farkis’ Stimme.

Die Augen voller Tränen rannte ich den Korridor hinunter. Als ich mich dem Journalistik-Raum näherte, wischte ich mir über das Gesicht und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Es war mir gleich, wer von ihnen mich als Erster bemerken würde. Da Sara bereits an der Tür stand, fiel mir die Wahl leicht. Sie entschuldigte sich, um zur Toilette zu gehen, und traf mich auf dem Flur.

»Wir müssen weg«, platzte ich sofort heraus und wollte zu unseren Spinden laufen.

»Was ist denn passiert, Emma?«

»Die versuchen rauszukriegen, was mit mir los ist, aber ich hab es ihnen nicht verraten. Sara, ich muss hier weg.«

»Wohin willst du denn?«

»Zurück nach Hause, damit ich packen kann. Hinterher ist es mir egal.«

»Soll ich Evan holen?«

»Nein, noch nicht. Erst wenn wir wissen, wo wir uns treffen können. Die hatten doch echt den Nerv, mich zu fragen, ob er mir weh tut.«

»Was?! Sind die wirklich so dumm?«, rief sie fassungslos.

Wir nahmen unsere Taschen, aber ich machte mir nicht die Mühe, meine Bücher einzupacken, schließlich hatte ich keine Ahnung, ob ich sie jemals wieder brauchen würde. Wir sausten die Seitentreppe hinunter, den Haupteingang mieden wir lieber. Sara rannte voraus, um ihr Auto zu holen, und ich wartete an die Hauswand gedrückt auf sie. Mein Puls raste, ich zitterte am ganzen Körper, während ich angestrengt Ausschau nach ihr hielt.

Als sie um die Ecke bog, rannte ich sofort zu ihr, ließ mich auf den Sitz sinken und versuchte mich zu entspannen, jetzt, da wir endlich wegfuhren. Aber ich konnte es nicht. Es fühlte sich falsch an, und es passierte viel zu schnell. Mein Hirn konnte keinen Sinn darin erkennen, ich war überwältigt von Angst. Tat ich das Richtige? Oder war alles nur eine Überreaktion?

Sara schwieg den ganzen Weg bis zu meinem Haus, und ich war so in meine Gedanken und Zweifel versunken, dass ich nicht einmal mitbekam, wie wir in unsere Straße einbogen. In Saras Tasche summte etwas, und sie sah auf ihr Handy.

»Hi«, antwortete sie und warf mir einen Blick zu. »Ja, wir sind unterwegs zu ihr, um ihre Sachen zu holen.«

Dann hörte sie eine Weile mit konzentriert zusammengepressten Lippen zu.

»Evan, ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist.« Dann lauschte sie wieder. »Okay, dann sehen wir dich da in einer Stunde.«

»Was hat er gesagt?«, fragte ich, als sie das Gespräch beendet hatte.

»Wir treffen uns in einer Stunde bei ihm zu Hause. Em, ich bin mir echt nicht sicher, ob Weglaufen eine Lösung ist. Ich glaube immer noch, dass es einen anderen Ausweg gibt.«

»Ich weiß«, räumte ich demütig ein. »Aber wir sollten uns wenigstens anhören, was er zu sagen hat.«

»Soll ich mit dir kommen?«, fragte Sara mit einem Blick auf das leere Haus.

»Nein, ich brauche nicht lange.«

 

»Emily?«, erklang Georges laute Stimme, kurz nachdem ich das Klicken der Hintertür gehört hatte.

Ich fuhr fort, meine Sachen in meine Sporttaschen zu werfen und ignorierte ihn auch, als er in mein Zimmer kam. Verwirrt betrachtete er die Taschen auf meinem Bett.

»Was machst du denn da?! Ich habe einen Anruf von der Schule bekommen. Sie haben gesagt, dass du aufgebracht weggelaufen bist, und uns um ein Gespräch gebeten. Was hast du denen erzählt?«

»Keine Sorge, George.« Ich wandte mich zu ihm um. »Ich habe ihnen nichts verraten.« Meine Stimme wurde immer lauter. »Aber ich kann hier nicht bleiben, ich kann so nicht mehr leben! Ich kann nicht mehr mit ihr leben!«

Er zuckte zusammen. Mein fremder, wütender Ton war für ihn ebenso schwer zu ertragen, wie er für mich hervorzubringen war.

»Du gehst hier nicht weg«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen streng hervor. »Hör zu, wir werden diese Sache klären, aber du verlässt dieses Haus nicht. Hast du mich verstanden?«

Die unterschwellige Drohung in seiner Stimme ließ mich zurückschrecken. Konnte ich einfach an ihm vorbeigehen? Würde er es zulassen? Sollte ich aus dem Fenster klettern, wenn er mich allein ließ?

Dann sah ich, wie seine Haltung sich entspannte und Traurigkeit in seinem Gesicht zu erkennen war. Schweigend nahm ich die Veränderung zur Kenntnis.

»Ich verstehe, dass du durcheinander bist, und ich verspreche dir, wir werden eine Möglichkeit finden, die für alle Beteiligten akzeptabel ist. Keiner von uns kann so weitermachen. Aber jetzt wegzugehen hilft niemandem. Carol übernachtet heute bei ihrer Mutter.

Wir gehen morgen zusammen zur Schule und klären alles. Niemand muss dadurch verletzt werden. Aber bitte bleib bis morgen – wenn du nach dem Treffen immer noch gehen möchtest, dann arrangieren wir das. Okay?«

Meine Gedanken rasten. Meinte er es ehrlich? Würde er mich morgen wirklich gehen lassen? Würde es mir erspart bleiben, mit Evan irgendwohin flüchten zu müssen, konnte ich hier bleiben? Nur eine weitere Nacht.

»Okay«, flüsterte ich schließlich.

»Dann sag Sara, dass ihr euch morgen seht.«

Tief in Gedanken versunken ging ich zu Saras Auto. Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Mein Instinkt flehte mich an, von hier zu verschwinden.

»Ich bleibe«, sagte ich leise zu Sara.

»Wie meinst du das?«, fragte Sara panisch.

»Carol ist heute Nacht nicht hier. Morgen früh gehen wir in die Schule, um alles zu klären, und George hat gesagt, dass ich gehen kann, wenn ich es nach dem Treffen immer noch möchte.«

»Und du glaubst ihm?«, fragte sie, nach wie vor beklommen.

»Ich muss«, flüsterte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Er bietet mir einen Ausweg, bei dem niemand verletzt wird und ich nicht weglaufen muss.«

Sara stieg aus und nahm mich in die Arme. Als wir uns wieder voneinander lösten, waren unsere Gesichter tränennass.

»Dann sehen wir uns morgen, okay?« Meine Stimme war heiser.

»Okay«, flüsterte sie und schniefte leise. »Was soll ich Evan sagen? Er wird nicht erfreut sein, wenn ich ohne dich auftauche. Wahrscheinlich wird er herkommen und dich holen wollen.«

»Sara, das geht nicht«, beschwor ich sie. »Überzeug ihn, dass alles gut wird und dass wir uns morgen sehen. Kannst du das bitte für mich tun?«

»Ich werde es versuchen.«

»Bring ihn dazu, dir zuzuhören. Ich verspreche dir, dass alles gut wird.«