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Es ist nur ein Traum. Zwar nahm ich Notiz von dem Gedanken, aber ich wehrte mich weiter mit aller Kraft gegen die Hände, die mich in die dunkelsten Tiefen des Wassers hinabzuziehen drohten. Meine Angst war stärker als meine Vernunft, und ich trat um mich, so fest ich konnte. Es ist nur ein Traum, hallte meine Stimme erneut durch meinen Kopf, aber ich konnte nicht aufwachen.

Jeder Atemzug brannte in meiner Lunge – panisch sah ich hinunter ins trübe Wasser. Aus den Händen wurden lange, schartige Krallen, und als ich wieder zutreten wollte, grub sich eine von ihnen in meinen Knöchel. Rotes Blut quoll unter den Nägeln hervor und umwaberte mich in dunklen Schwaden. Verzweifelt versuchte ich mich loszureißen, aber die Kralle bohrte sich nur noch tiefer in mein Fleisch. Ich schrie vor Schmerz, Luftblasen stiegen um mich herum auf, doch dann, als meine Lungen sich langsam mit Wasser zu füllen begannen, drückte sich plötzlich etwas auf mein Gesicht.

Es fühlte sich nicht mehr an wie ein Traum.

Keuchend fuhr ich aus dem Bett hoch, und das Kissen fiel von meinem Gesicht. Desorientiert und schwer atmend blickte ich mich um. Sara stand neben ihrem Bett und starrte mich mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an.

»Es tut mir so leid«, murmelte sie. »Ich dachte, ich hätte dich reden gehört. Ich dachte, du wärst wach.«

»Ich bin wach«, versicherte ich ihr, dann holte ich tief Luft und drängte die Panik zurück. Doch auch nachdem ich mich wieder einigermaßen erholt hatte, stand Sara immer noch wie angewurzelt da.

»Es war nicht okay, dir ein Kissen an den Kopf zu werfen. Entschuldige.« Sie machte ein zerknirschtes Gesicht.

»Ach, halb so schlimm«, winkte ich ab. »Es war nur ein Traum. Mir geht’s gut.« Ich atmete noch einmal tief durch, um das Zittern zu vertreiben, dann zog ich die Decke zurück, die an meiner verschwitzten Haut klebte.

»Guten Morgen, Sara«, sagte ich so ruhig wie möglich.

»Guten Morgen, Emma«, antwortete sie, endlich aus ihrer Starre gerissen. Und dann war zum Glück alles wieder normal. »Ich geh schnell unter die Dusche, wir müssen uns beeilen. In einer Stunde brechen wir auf.« Damit griff Sara sich ihre Klamotten und verschwand in Richtung Badezimmer.

Über einen Monat lang hatte ich versucht, mich auf diesen Tag vorzubereiten, ohne Erfolg. Jedes Mal, wenn ich auch nur daran dachte, überfiel mich Panik. Und heute war es nun so weit.

Seufzend ließ ich mich aufs Bett zurückfallen und starrte zu den Dachfenstern hinauf. Durch die Schneeschicht schimmerte gedämpft die Morgensonne herein.

Ich blickte mich in dem Zimmer um, zu dem ich eigentlich keine rechte Beziehung hatte. An der Wand hing ein großer Flachbildschirm, in einer Ecke stand ein mit allen möglichen Utensilien beladener Schminktisch, an dem ich schon unzählige Male neu gestylt worden war. Am Spiegel klebten Fotos von lachenden Freunden, die Wände waren mit farbenfrohen Gemälden geschmückt. Nirgendwo eine Erinnerung an mein früheres Leben, an die Zeit, bevor ich hier wohnte. In diesem Raum hatte ich mich versteckt – vor den voreilig gezogenen Schlüssen, dem Gegaffe und Getuschel.

Warum war ich hier? Ich kannte die Antwort. Am liebsten wäre ich für immer bei den McKinleys geblieben. Nicht dass ich eine andere Wahl gehabt hätte, ich konnte nirgendwo sonst unterkommen, aber sie würden mich niemals im Stich lassen. Sie waren meine einzige Familie, und dafür würde ich ihnen ewig dankbar sein. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie waren nicht meine einzige Familie.

Sara stand noch unter der Dusche, als das Telefon klingelte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, drückte den Hörer an mein Ohr und sagte: »Hi.«

»Oh! Du bist da«, rief meine Mutter überrascht. »Wie schön, dass ich dich endlich erwische. Wie geht es dir?«

»Ganz gut«, antwortete ich mit klopfendem Herzen. »Äh – hast du heute Abend schon was vor?«

»Nur eine kleine Feier mit ein paar Freunden«, antwortete sie und klang dabei genauso unbeholfen, wie ich mich fühlte. »Hör mal … Ich hatte gehofft, wir könnten versuchen … Ich meine, ich wohne jetzt ganz in der Nähe von Weslyn, also, falls du irgendwann vielleicht Lust hättest …«

»Ja, sicher«, platzte ich heraus, ehe der Mut mich wieder verließ. »Ich werde bei dir einziehen.«

»Oh, äh, okay …«, stammelte sie in angestrengt fröhlichem Ton. »Wirklich?«

»Klar«, antwortete ich und gab mir alle Mühe, aufrichtig zu klingen. »Bald bin ich auf einem College am anderen Ende von Amerika. Da raufen wir uns doch besser jetzt zusammen, oder nicht?«

Meine Mutter schwieg einen Moment – wahrscheinlich musste sie meine Ankündigung, bei ihr einzuziehen, erst einmal verdauen. »Äh, ja, das klingt prima. Wann wäre es dir denn recht?«

»Montag fängt die Schule wieder an, also vielleicht Sonntag?«

»Du meinst diesen Sonntag? In drei Tagen?« Jetzt war die Panik in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören. Mein Herz setzte einen Schlag aus. War sie womöglich doch noch nicht bereit, mich wieder bei sich aufzunehmen?

»Wäre das denn in Ordnung für dich? Ich brauche nichts, nur ein Bett. Eine Couch reicht auch. Aber wenn dir das zu viel ist … Sorry, vielleicht hätte ich nicht …«

»Nein … nein, das ist wunderbar«, unterbrach sie mich hastig. »Bis dahin hab ich genug Zeit, dein Zimmer herzurichten. Also … Sonntag, alles klar, abgemacht. Ich wohne in der Decatur Street. Ich schick dir eine SMS mit der genauen Adresse.«

»Okay, dann sehen wir uns am Sonntag.«

»Ja«, antwortete meine Mutter, und sie klang immer noch etwas verblüfft. »Frohes neues Jahr, Emily.«

»Dir auch«, gab ich zurück, ehe ich das Gespräch beendete. Einen Augenblick lag ich reglos da und starrte zur Decke empor. Was hab ich getan? Was hab ich mir dabei gedacht?

Dann schnappte ich mir meine Klamotten, ging an Sara vorbei ins Bad und bemühte mich, meine Panik in den Griff zu bekommen. Als ich geduscht und angezogen war, hatte ich mich einigermaßen mit dem Gedanken arrangiert. Es war die richtige Entscheidung.

 

»Ich muss euch etwas sagen«, verkündete ich und setzte mich auf den Stuhl neben Sara, während Anna, ihre Mutter, sich eine Tasse Kaffee einschenkte. »Ich habe vorhin mit meiner Mutter telefoniert, und …«

»Na endlich!«, fiel mir Sara ins Wort. »Du hast sie sechs Monate lang ignoriert.«

»Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Anna, ohne Saras Ausbruch zu beachten.

»Na ja … ich ziehe am Sonntag bei ihr ein.« Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie meine Nachricht langsam zu ihnen durchdrang.

Sara ließ ihren Löffel mit einem leisen Klirren in ihre Müslischüssel sinken, aber sie sagte kein Wort.

»Wie bist du zu der Entscheidung gekommen?«, fragte Anna ruhig und lenkte mich von Saras stummer Missbilligung ab.

»Sie ist meine Mutter«, erklärte ich mit einem Achselzucken. »Ich gehe bald aufs College, also ist das wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, unsere Beziehung in Ordnung zu bringen. Ich hab sie echt unfair behandelt, und sie hat trotzdem immer wieder versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen – so haben wir die beste Chance, uns zusammenzuraufen.«

Anna nickte nachdenklich. Sara stand abrupt auf, ging zur Spüle und stellte ihre Schüssel ab, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

»Nun, ich muss es mit Carl besprechen, da wir beide bis zu deinem achtzehnten Geburtstag die Vormundschaft für dich haben. Und ich würde mich gern mit deiner Mutter treffen, bevor wir etwas endgültig entscheiden. In Ordnung?«

Ich nickte, überrascht von Annas Antwort. Elterliche Fürsorge war ich nicht gewohnt, und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

»Ich verstehe deine Beweggründe«, versicherte mir Anna mit einem sanften Lächeln. »Aber lass uns erst darüber reden.«

»Danke.« Ich lächelte schwach zurück. »Es würde mir echt viel bedeuten, meine Mutter wieder kennenzulernen.«

Wortlos stürmte Sara die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ich atmete tief durch, bevor ich ihr folgte.

»Okay, spuck’s aus«, forderte ich sie auf, während sie für die Übernachtung alle möglichen Sachen in ihre Reisetasche stopfte.

»Ich hab dir nichts zu sagen«, entgegnete Sara. Das stimmte natürlich nicht, aber sie rückte erst nach der dreistündigen Autofahrt zum Hotel und einem ganztägigen Styling-Marathon damit heraus.

 

Wir waren stundenlang von Kopf bis Fuß bearbeitet worden, und als wir schließlich ins Hotel zurückkamen, war ich todmüde – dabei waren wir noch nicht mal auf der Party gewesen. Vielleicht hatte mir auch meine etwas überstürzte Entscheidung, bei meiner Mutter einzuziehen, sämtliche Energie geraubt, jedenfalls fiel es mir schwer, mich auf den bevorstehenden Abend zu freuen.

»Ich verstehe nicht, warum du gleich bei ihr einziehen musst«, schimpfte Sara aus heiterem Himmel los, während sie meinen Lidschatten auftrug. »Solltet ihr nicht vielleicht erst mal … äh … miteinander reden? Mir gefällt das überhaupt nicht. Sie hat dich im Stich gelassen, Em. Warum willst du zu ihr zurück?«

»Sara, bitte«, beschwor ich sie leise. »Ich muss das tun. Ich weiß, es kommt dir verrückt vor, aber es ist wichtig für mich. Du wirst mich nicht verlieren, auf gar keinen Fall. Wenn es ganz furchtbar wird, ziehe ich einfach wieder zu euch. Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich meiner Mutter noch eine Chance geben sollte.«

Sarah seufzte theatralisch. »Ich finde es immer noch keine gute Idee, aber …« Sie schwieg einen Moment. »Du bist ein schrecklicher Sturkopf, und wenn es das ist, was du willst, dann kann ich es dir sowieso nicht ausreden. Du darfst die Augen jetzt übrigens wieder aufmachen.«

Etwas mühsam öffnete ich die Augen – die Mascara hatte meine Wimpern verklebt – und blinzelte.

Sara musterte mich einen Moment nachdenklich, schließlich meinte sie resigniert: »Also schön. Dann zieh eben bei ihr ein. Aber wenn sie sich noch einmal eine so gigantische Dummheit leistet wie damals, als sie dich bei deiner gestörten Tante untergebracht hat, kriegt sie es mit mir zu tun.«

Mir wurde warm ums Herz – ich fand es wunderbar, dass Sara so fürsorglich war. »Danke. Also … wie sehe ich aus?«

»Umwerfend, was für eine Frage«, meinte Sara und betrachtete mit einem selbstzufriedenen Lächeln ihr Werk. »Ich ziehe mich auch noch schnell um, dann treffen wir uns unten in der Lobby mit den Jungs.«

Ich nahm die Karte, die bei unserer Rückkehr schon auf uns gewartet hatte, in die Hand und fuhr mit dem Daumen über die elegante Schrift.

 

Liebe Emily, liebe Sara,

ich freue mich sehr, dass Ihr gut angekommen seid, und hoffe, Ihr hattet einen schönen Nachmittag zusammen. Ich kann es kaum erwarten, heute Abend mit Euch essen zu gehen. Ich habe einen Wagen bestellt, der Euch um 18.45 Uhr abholt, damit Ihr rechtzeitig um sieben im Restaurant seid.

Ich bin sicher, dass Euch unser Abendprogramm gefallen wird!

Mit besten Grüßen,

Vivian Mathews

 

»Hoffentlich blamiere ich sie nicht«, rief ich durch die Badezimmertür.

»Sei nicht so nervös«, erwiderte Sara. »Vivian legt großen Wert darauf, dass du dabei bist. Das ist ihr sehr wichtig. Sie hat sogar Jared überredet, mich zu begleiten, damit ich hier bei dir sein kann.«

Ich grinste, denn ich wusste, dass bei Jared nicht viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen war.

»Und, was denkst du? Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie dir dein Look gefällt.«

»Oh …« Ich trat vor den großen Spiegel, und fing sofort an zu lächeln. Die junge Frau vor mir ähnelte nur entfernt dem Mädchen, das lieber Jeans und einen Pferdeschwanz trug und das sich immer noch nicht selbst schminken konnte. Die strahlenden braunen Augen unter dem rosa Lidschatten und den schwarz getuschten Wimpern, die erhitzten Wangen und die vollen, vom Lipgloss schimmernden Lippen gehörten jedoch ganz eindeutig ihr.

Als ich mich zur Seite drehte, bauschte sich der Chiffonrock um meine Beine, und ich ließ sanft die Finger über die filigrane rosa Stickerei auf dem champagnerfarbenen Schnürtop gleiten. Sara hatte Bänder im selben Rosaton in meine Haare geflochten und einen Teil meiner Locken im Nacken zu einem kunstvollen Knoten zusammengesteckt. Sozusagen als Sahnehäubchen auf Saras Meisterwerk legte ich mir noch die Halskette um, die Evan mir geschenkt hatte, und strich zärtlich mit den Fingern über den funkelnden Diamanten.

Als Sara aus dem Bad kam, wandte ich mich strahlend um und wollte ihr für ihre Verwandlungskünste danken, aber ihr Anblick verschlug mir buchstäblich die Sprache. Ihr figurbetontes saphirblaues Kleid umspielte schimmernd ihre Rundungen, ihre langen roten Locken hatte sie elegant über die rechte Schulter frisiert. Sie war schlicht … hinreißend.

»Du wirst Jared um den Verstand bringen«, meinte ich, nachdem ich sie lange genug angestarrt hatte. »Sara, du siehst einfach phantastisch aus.«

Sie lächelte strahlend, und zwischen ihren knallrot geschminkten Lippen zeigten sich ihre makellosen weißen Zähne. »Kann schon sein.«

»Sara, sag jetzt bloß nicht, dass du mit ihm schlafen willst«, bekniete ich sie.

»Entspann dich, das werde ich schon nicht«, erwiderte sie und verdrehte die Augen. »Was aber nicht heißt, dass wir keinen Spaß haben können.«

In diesem Moment piepte mein Handy, eine SMS. Hab mit Carl geredet und Rachel angerufen. Sie ist sehr nett, und ich glaube, sie will dich auch bei sich haben. Treffe sie am Samstag, mit Sonntag geht wohl alles klar.

Sara gab mir meine Jacke und die Tüte mit meinem Geschenk für Evan.

»Deine Eltern haben nichts dagegen, dass ich bei meiner Mutter einziehe«, verkündete ich.

»Nun, dann ist es jetzt vermutlich offiziell.« Sara hielt mir die Tür auf und folgte mir hinaus.

»Scheint so.« Bei dem Gedanken wurde mir ein bisschen mulmig.

Als wir um die Ecke ins Hauptfoyer bogen und ich die Rückseite seines maßgeschneiderten schwarzen Anzugs sah, bekam ich weiche Knie. Langsam wanderte mein Blick zu seinen normalerweise immer etwas zerzausten hellbraunen Haaren, die er heute ordentlich zur Seite gekämmt hatte. Er war mit Jared ins Gespräch vertieft und bemerkte nicht, dass wir uns näherten.

Als sein Bruder jedoch staunend den Mund aufsperrte, unterbrach sich Evan mitten im Satz. Jared drohte wirklich den Verstand zu verlieren, das stand ihm mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.

Auch Evan drehte sich um. Meine Beine versagten mir fast den Dienst. Beim Anblick seiner rauchblauen Augen setzte mein Herz einen Schlag aus, und meine Wangen wurden heiß, als ich sein perfektes Lächeln sah. Es war gerade einmal zwei Wochen her, dass er zu seinem Skiausflug aufgebrochen war, aber aus irgendeinem Grund kam es mir vor, als begegneten wir uns zum ersten Mal.

 

 

 

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel ›Barely Breathing‹
bei Amazon Children’s Publishing, USA

© Rebecca Donovan 2013

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014

ISBN Print 978-3-7335-0032-2

ISBN E-Book 978-3-7336-0055-6