Zwei
Abwägungen
Mara spürte etwas Nasses auf ihrem Gesicht.
Während ihre Sinne langsam zurückkehrten, erkannte sie verwirrt, daß Papewaio ihren Kopf sanft in seine Armbeuge gebettet hatte, während er ihr Gesicht mit einem feuchten Lappen betupfte. Mara öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihr Hals zog sich zusammen. Sie hustete, schluckte dann mühsam. Sie blinzelte mit den Augen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen; aber sie begriff nur, daß ihr Nacken und Hals fürchterlich schmerzten und der Himmel über ihr in einem unglaublichen Blaugrün erstrahlte. Dann bewegte sie die rechte Hand; ein qualvoller Schmerz durchzuckte sie und brachte schlagartig die Erinnerung zurück.
»Was ist mit dem Attentäter?« fragte sie kaum hörbar.
Papewaio deutete mit dem Kopf auf eine Gestalt, die neben dem glitzernden Teich lag. »Tot.«
Mara wandte sich um; ungeachtet ihrer Schmerzen wollte sie es selbst sehen. Der Körper des Mannes lag auf der Seite, die Finger der einen Hand hingen im blutgefärbten Wasser. Er war klein und auffallend schlank, besaß einen beinahe zarten Körperbau und war in eine schlichte schwarze Robe und wadenlange Hosen gekleidet. Seine Kapuze und Maske waren jetzt zur Seite gerutscht und enthüllten ein weiches, jungenhaftes Gesicht mit einer blauen Tätowierung auf der linken Wange – eine Hamoi-Blume, stilisiert zu sechs konzentrischen Kreisen wellenförmiger Linien. Beide Hände waren bis zu den Handgelenken rotgefärbt. Mara schauderte, ihr Körper brannte noch immer bei der Erinnerung an das, was diese Hände ihr angetan hatten.
Papewaio half ihr auf die Beine. Er ließ den Lappen, ein abgerissenes Stück ihres Kleides, zu Boden fallen und reichte ihr den weißen Umhang, der eigentlich für das Ende der Zeremonie gedacht gewesen war. Mara kleidete sich an; sie beachtete die Flecken nicht, die ihre verletzten Hände auf dem zart bestickten Material hinterließen. Sie nickte, und Papewaio führte sie von der Lichtung.
Mara folgte dem Pfad, dessen Vertrautheit nicht länger Beruhigung und Trost verströmte. Der grausame Einschnitt des Seils an ihrem Hals hatte sie zu der Erkenntnis gezwungen, daß ihre Feinde sie sogar mitten im Herzen der Domäne der Acoma treffen konnten. Die Sicherheit der Kindheit war für immer vorüber. Die dunklen Hecken, die die Lichtung umgaben, schienen jetzt eine Freistätte für Attentäter zu sein, und der Schatten unter dem Ulo-Baum mit seinen weit ausladenden Ästen ließ sie erschauern. Mara rieb sich über die verletzte, blutige Hand und unterdrückte den Impuls, vor Furcht zusammenzuzucken. Obwohl sie so erschreckt war wie ein Thyza-Vogel beim Schatten eines goldenen, über ihm kreisenden Mördervogels, trat sie mit jenem Rest von Etikette durch das Zeremonientor, der von der Herrscherin eines großen Hauses erwartet wurde.
Nacoya und Keyoke warteten schon draußen, zusammen mit dem Gärtner und zweien seiner Gehilfen. Niemand außer Keyoke sprach. »Nun?« fragte er nur.
Papewaio antwortete in grimmigen, knappen Sätzen: »Wie du vermutet hast. Ein Attentäter erwartete sie. Ein Hamoi Tong.«
Nacoya breitete ihre Arme aus und schloß Mara in die Umarmung jener Hände, die seit ihrer Kindheit ihre Wunden und Verletzungen gelindert hatten. Doch zum ersten Mal fand Mara darin nur wenig Geborgenheit. »Hamoi Tong, Keyoke?« fragte sie mit einer vom Würgen immer noch krächzenden Stimme.
»Die Roten Hände der Bruderschaft der Blume, Mylady. Angeheuerte Mörder, die keinem Stamm angehören; Fanatiker, die glauben, daß Turakamu diejenigen heiligt, die töten oder getötet werden. Sie sind überzeugt, daß der Tod das einzige Gebet ist, das der Gott erhören wird. Wenn sie einen Auftrag annehmen, schwören sie, ihr Opfer zu töten oder bei dem Versuch zu sterben.« Er hielt inne, während der Gärtner spontan eine Handbewegung machte, die den Schutz der Götter erbat; der Rote Gott war sehr gefürchtet. »Dennoch haben viele der Mächtigen begriffen, daß die Bruderschaft ihr einzigartiges Gebet nur dann ausspricht, wenn der Tong eine große Summe erhalten hat«, fügte Keyoke leicht zynisch hinzu. »Und die Hamoi sind sehr anpassungsfähig, wenn es darum geht, wessen Seele dieses Gebet an Turakamu herantragen soll.« Jetzt hatte seine Stimme einen deutlich mürrischen Unterton.
»Warum wurde ich nicht schon früher darüber informiert?«
»Dies zählt nicht zu den gewöhnlichen Huldigungen Turakamus, Mylady Es gehört zu den Dingen, über die Väter mit ihren Töchtern nicht sprechen, wenn sie keine Erbinnen sind.« Nacoyas Stimme erhielt einen leichten Vorwurf.
Da es jetzt zu spät für gegenseitige Beschuldigungen war, meinte Mara: »Ich beginne zu erkennen, weshalb Ihr meintet, wir müßten einige Dinge sofort besprechen.« Sie erwartete, nun in ihre Gemächer geführt zu werden, und wandte sich um. Doch die alte Frau hielt sie fest, und Mara war zu zittrig, um dagegen anzukämpfen. Sie gab dem Druck nach und blieb stehen.
Papewaio löste sich aus der Reihe der anderen und trat nach vorn, dann sank er vor ihr auf ein Knie ins Gras. Der Schatten des Zeremonientores fiel auf sein Gesicht und machte es unmöglich, den Ausdruck darauf zu erkennen, als er sein Schwert zog und, die Spitze gegen die eigene Brust gerichtet, Mara den Griff des Schwertes anbot. »Mylady, ich bitte darum, mein Leben mit der Klinge beenden zu dürfen.«
Einen langen Augenblick starrte Mara ihn verständnislos an. »Was wollt Ihr?«
»Ich bin in den Heiligen Hain der Acoma eingedrungen, Mylady.«
Da ihre Gedanken bisher nur um das Attentat gekreist waren, war Mara bis zu diesem Moment das Ausmaß von Papewaios Tat nicht bewußt geworden. Er hatte den Hain betreten, um sie zu retten – trotz des Wissens, daß ein solcher Verstoß ihm den sicheren Tod bescheren würde, ohne jede Möglichkeit auf Begnadigung.
Während Mara nicht in der Lage war, etwas zu erwidern, versuchte Keyoke vorsichtig, sich für Papes Anliegen einzusetzen. »Ihr habt Jican, Nacoya und mir untersagt, Euch auf die Lichtung zu begleiten, Lady. Papewaio wurde nicht erwähnt. Er hielt sich in der Nähe des Zeremonientores verborgen; als er die Geräusche eines Kampfes hörte, schickte er den Gärtner nach uns und trat ein.«
Der Kommandeur der Acoma bedachte seinen Kameraden mit einer seiner spärlichen Gefühlsregungen; für einen kurzen Augenblick zog er die Mundwinkel nach oben, als würde er nach einem schweren Kampf Sieg wittern. Dann war das schwache Lächeln auch schon wieder verschwunden. »Jeder von uns wußte, daß ein solches Attentat auf Euch nur eine Frage der Zeit sein würde. Unglücklicherweise wählte der Attentäter ausgerechnet diesen Ort. Pape kannte den Preis für das Betreten der Lichtung.«
Es war eindeutig, was Keyoke Mara zu erklären versuchte: Papewaio hatte Maras Ahnen brüskiert, indem er die Lichtung betreten hatte, und daher den Tod verdient. Nicht einzutreten hätte jedoch zu einem weitaus schlimmeren Schicksal geführt. Nach dem Tod des letzten Familienmitglieds der Acoma wären jeder Mann, jede Frau, alle, die Papewaio zu seinen Freunden zählte, zu Personen ohne Haus geworden, kaum mehr als Sklaven oder Gesetzlose. Kein Krieger hätte etwas anderes tun können als Papewaio getan hatte; sein Leben war der Ehre der Acoma geweiht. Keyoke erklärte Mara also, daß Pape den Tod eines Kriegers verdient hatte, den Tod durch die Klinge, denn er hatte das Leben seiner Herrin und all derer, die er liebte, über sein eigenes gestellt. Aber der Gedanke daran, daß dieser treue Krieger als Folge ihrer eigenen Dummheit und Unerfahrenheit sterben sollte, war zuviel für Mara. So sagte sie spontan: »Nein.«
Papewaio, der die Antwort als Weigerung verstand, ihm das Recht auf einen ehrenvollen Tod zuzugestehen, beugte den Kopf. Das schwarze Haar verbarg seine Augen, als er das Schwert in einer glatten, schnellen Bewegung durch die Luft führte und die Klinge vor den Füßen seiner Herrin in den Boden trieb. Mit offenem Bedauern winkte der Gärtner seine beiden Gehilfen herbei. Sie hatten Seile bei sich und eilten jetzt an Papewaios Seite. Einer begann, seine Hände am Rücken zusammenzubinden, während der andere eine lange Schlinge über einen dicken Ast warf.
Einen Augenblick verstand Mara gar nichts, dann begriff sie plötzlich: Sie bereiteten Papewaio für den schmählichsten aller Tode vor, für das Erhängen, eine Form der Exekution, die nur bei Verbrechern und Sklaven angewendet wurde. Mara schüttelte den Kopf. »Halt!«
Alle verharrten reglos. Die Gehilfen des Gärtners behielten die Hände halb erhoben in der Luft, schauten zuerst auf den Gärtner, dann auf Nacoya und Keyoke, schließlich auf ihre Gebieterin. Sie kamen dieser Pflicht mit sichtlichem Widerstreben nach, und die verwirrenden Wünsche ihrer Herrin vergrößerten ihr Unbehagen noch.
»Kind, so lautet das Gesetz«, sagte Nacoya.
Mara fühlte den unbändigen Drang, sie alle anzuschreien. Sie schloß die Augen. Die Anspannung, ihre Trauer, das Attentat und jetzt diese Eile, mit der Papewaio für eine Handlung hingerichtet werden sollte, die durch ihre eigene unverantwortliche Haltung herbeigeführt worden war – all das überstieg beinahe ihre Kräfte. Sorgfältig darauf bedacht, nicht in Tränen auszubrechen, antwortete Mara mit fester Stimme: »Nein … ich habe mich noch nicht entschieden.« Sie schaute sie der Reihe nach an; ihre Gesichter waren unbewegt. »Ihr werdet alle warten, bis es soweit ist. Pape, hebt Euer Schwert auf.«
Ihr Befehl barg eine krasse Mißachtung der Tradition, doch Papewaio gehorchte still. Mara sprach mit dem Gärtner, der unbehaglich dabeistand. »Schafft den Körper des Attentäters von der Lichtung.« Aus dem plötzlichen Bedürfnis heraus, ihrer Wut irgendwie Ausdruck zu verleihen, fügte sie hinzu: »Zieht ihn aus und hängt ihn neben der Straße an einen Baum, damit er jedem Spion, der sich näher heranwagt, als Warnung dient. Dann säubert den Natami und legt den Teich trocken; beide sind verunreinigt worden. Wenn dies geschehen ist, schickt nach den Priestern Chochocans. Sie sollen kommen und den Hain erneut weihen.«
Obwohl die anderen sie unschlüssig anstarrten, wandte Mara ihnen den Rücken zu. Nacoya bewegte sich als erste. Mit einem scharfen Schnalzen ihrer Zunge begleitete sie ihre junge Herrin in die kühle Stille des Hauses. Papewaio und Keyoke schauten voller beunruhigter Gedanken hinterher, während der Gärtner davoneilte, um die Befehle seiner Herrin auszuführen.
Die beiden Gehilfen des Gärtners rollten das Seil wieder zusammen, während sie Blicke austauschten. Es schien, als hätte das Unglück, das über die Acoma hereingebrochen war, mit dem Vater und dem Sohn noch nicht sein Ende gefunden. Maras Herrschaft als Lady der Acoma würde möglicherweise tatsächlich nur von kurzer Dauer sein, denn ihre Feinde würden nicht ruhen, während sie die komplexen Feinheiten des Spiels des Rates studierte. Dennoch, darin schienen die beiden Männer im stillen übereinzustimmen, lagen solche Angelegenheiten in den Händen der Götter, und schon immer wurden die einfachen Menschen im Sog der Mächtigen mitgerissen, von ihrem Aufstieg – und von ihrem Untergang. Das war weder grausam noch ungerecht. Es war einfach Schicksal.
Ab dem Augenblick, da die Lady der Acoma sich in die Abgeschiedenheit ihrer Gemächer zurückgezogen hatte, übernahm Nacoya das Kommando. Sie erteilte den Bediensteten entsprechende Befehle, und diese eilten geschäftig hin und her, um es ihrer Herrin bequem zu machen. Sie bereiteten ein duftendes Bad vor, während Mara auf den Kissen ruhte und ihre Finger geistesabwesend an der feinen Stickerei mit den Shatra-Vögeln spielten. Jemand, der sie nicht kannte, mochte vielleicht glauben, daß ihre Schweigsamkeit eine Folge des Schreckens und der Trauer war; Nacoya jedoch kannte die angespannte Intensität in den dunklen Augen des Mädchens und ließ sich nicht täuschen. Angespannt, ärgerlich und entschlossen versuchte Mara bereits, die weitreichende politische Bedeutung dieses Angriffes auf ihre Person zu ergründen. Sie ertrug die Fürsorge der Zofen ohne die gewöhnliche Rastlosigkeit und schwieg, während die Dienerinnen sie badeten und ihre Wunden versorgten. Eine Kräuterkompresse wurde auf ihre zerkratzte, mit blauen Flecken übersäte rechte Hand gelegt. Nacoya hockte ängstlich dabei, während Mara von zwei älteren Frauen heftig eingerieben wurde, wie sie es zuvor bei Lord Sezu getan hatten. Ihre alten Finger waren erstaunlich kräftig; sie machten die verspannten Stellen ausfindig und massierten sie nach und nach weg. Als Mara anschließend in einem sauberen Gewand dasaß, fühlte sie sich zwar immer noch müde, aber durch die Behandlung der alten Frauen war die nervöse Erschöpfung von ihr gewichen.
Nacoya brachte dampfende Chocha in einer feinen Porzellantasse. Mara setzte sich vor einen niedrigen Steintisch und schlürfte das bittere Getränk; sie zuckte leicht zusammen, als die Flüssigkeit ihren mitgenommenen Hals hinabrann. Auf der Lichtung war sie von dem Angriff so erschreckt gewesen, daß sie nicht viel mehr als ein kurzes Aufflackern von Panik und Furcht gespürt hatte. Jetzt stellte sie überrascht fest, daß sie zu erschöpft war, um überhaupt irgendeine Reaktion zu verspüren. Das Licht des späten Nachmittags leuchtete hinter den Papierläden der Fenster, wie in ihrer Kindheit. In weiter Ferne konnte sie das Pfeifen der Hirten auf den Needra-Wiesen hören, und ganz in der Nähe erklang Jicans Stimme, der gerade einen Haus-Sklaven wegen seiner Ungeschicklichkeit zurechtwies. Mara schloß die Augen. Sie war beinahe in der Lage, sich das weiche Kratzen vorzustellen, mit dem die Feder ihres Vaters über das Pergament geglitten war, wenn er Anweisungen an entfernte Untergebene niedergeschrieben hatte. Der Verrat der Minwanabi hatte solchen Erinnerungen jedoch für immer ein Ende gesetzt. Widerstrebend widmete sich Mara der still wartenden Nacoya.
Die alte Amme hatte an der anderen Seite des Tisches Platz genommen. Ihre Bewegungen waren langsam, ihr Gesichtsausdruck von Sorgen gezeichnet. Der zarte Muschelschmuck, der ihre geflochtenen Haare zusammenhielt, hing etwas schief, so als würde es mit dem Alter immer schwieriger, nach oben zu greifen, um die Haarnadel sauber anzubringen. Obwohl Nacoya nur eine Dienerin war, verstand sie viel von den Künsten und Feinheiten des Spiels des Rates. Jahrelang hatte sie Lord Sezu als rechte Hand gedient, dann seine Tochter erzogen, nachdem seine Frau bei der Geburt gestorben war. Die alte Amme war für sie wie eine Mutter gewesen, und Mara wußte nur zu gut, daß die alte Frau jetzt auf einen Kommentar von ihr wartete. »Ich habe einige schwere Fehler gemacht, Nacoya.«
Die Amme antwortete mit einem knappen Nicken. »Ja, Kind. Wäre etwas mehr Zeit zur Vorbereitung gewesen, hätte der Gärtner die Lichtung vor Eurem Eintreten untersuchen können. Er hätte den Attentäter entdeckt oder wäre getötet worden, aber sein Verschwinden hätte Keyokes Aufmerksamkeit erregt, und er hätte die Lichtung mit Kriegern umstellen können. Der Attentäter wäre gezwungen gewesen, herauszukommen oder dort drinnen zu verhungern. Wäre der Hamoi-Mörder jedoch vor dem Gärtner geflohen und hätte draußen herumgelungert, so hätten Eure Soldaten sicher sein Versteck gefunden.« Die Amme faltete ihre Hände im Schoß, und ihr Tonfall wurde jetzt härter. »Euer Feind rechnete damit, daß Ihr Fehler machen würdet … wie Ihr es ja auch getan habt.«
Mara akzeptierte die Zurechtweisung; ihre Augen folgten den trägen Dunstschleiern, die ihrer Tasse Chocha entstiegen. »Aber derjenige, der den Mörder geschickt hat, hat sich ebenso geirrt.«
»Das ist wahr.« Nacoya wandte den Blick, der in weite Ferne gerichtet gewesen war, wieder ihrer Herrin zu. »Er plante die dreifache Entehrung der Acoma, indem er Euch im Heiligen Hain der Familie töten lassen wollte, nicht ehrenvoll mit der Klinge, sondern durch Erwürgen, als wärt Ihr eine Gesetzlose oder Sklavin, die in Schande sterben mußte!«
»Aber als Frau –«
»Ihr seid jetzt eine Herrscherin«, stieß Nacoya heftig hervor. Lackierte Armreifen klirrten, als sie in einer ungeduldigen Geste mit der Faust auf ihr Knie schlug. »Von dem Augenblick an, da Ihr die Herrschaft über dieses Haus angetreten habt, Kind, seid Ihr zu einem Mann geworden, mit allen Rechten und Privilegien, die das Herrschen mit sich bringt. Ebenso wie zuvor Euer Vater als Lord der Acoma behauptet Ihr jetzt die Macht, und deshalb hätte der Tod durch den Strang genausoviel Scham über Euer Haus gebracht, als wenn Euer Vater oder Euer Bruder auf diese Weise gestorben wären.«
Mara biß sich auf die Lippe, nickte und nahm noch einen Schluck Chocha. »Und die dritte Entehrung?«
»Dieser Hundesohn von Hamoi hatte sicherlich geplant, den Natami der Acoma zu stehlen und damit den Namen Eurer Familie für immer auszulöschen. Ohne Clan und Ehre wären Eure Soldaten zu Grauen Kriegern geworden, zu Ausgestoßenen, die in der Wildnis leben müssen. Alle Eure Bediensteten hätten ihr Leben als Sklaven beendet.« Nacoya endete voller Bitterkeit: »Der Lord der Minwanabi ist sehr arrogant.«
Mara stellte die Tasse Chocha fein säuberlich in die Mitte des Tabletts. »Du glaubst also, daß Jingu dafür verantwortlich ist?«
»Der Mann ist trunken von seiner eigenen Macht. Er steht jetzt nach dem Kriegsherrn an zweiter Stelle im Hohen Rat. Sollte das Schicksal Almecho von seinem weiß-goldenen Thron stoßen, würde sicherlich ein Minwanabi sein Nachfolger werden.
Der einzige andere Feind Eures Vaters, der Euren Untergang wünscht, ist der Lord der Anasati. Aber er ist viel zu klug, um ein solch schamvolles Attentat einzufädeln – das dann auch noch so schlecht ausgeführt wird. Hätte er den Hamoi-Mörder gesandt, seine Anordnungen wären einfach gewesen: Euer Tod um jeden Preis. Der Attentäter hätte einen vergifteten Pfeil aus einem Versteck abschießen können, er hätte Euch rasch ein Messer zwischen die Rippen stoßen und sich schnell davonmachen können, um die Nachricht Eures Todes zu verbreiten.«
Nacoya nickte entschieden, als hätte das Gespräch ihre eigenen Gedanken bestätigt. »Nein, der Lord der Minwanabi mag der mächtigste Mann im Hohen Rat sein, aber er benimmt sich wie ein wütend gewordener Harulth, der Bäume niederreißt, um einen Gazen zu zertrampeln.« Sie breitete ihre Finger aus und deutete mit ihnen die Größe des scheuen kleinen Tieres an, das sie erwähnt hatte. »Er hat seine Position von seinem mächtigen Vater geerbt, und er hat starke Verbündete. Der Lord der Minwanabi ist gerissen, aber nicht sehr schlau. Der Lord der Anasati hingegen ist sowohl gerissen als auch schlau. Er ist jemand, vor dem man sich unbedingt in acht nehmen muß.« Nacoya gestikulierte mit ihrer Hand in der Luft. »Er gleitet durch den Sumpf wie eine Relli, leise und verstohlen, und er schlägt ohne Vorwarnung zu. Dieser Mordversuch wirkt, als hätte der Lord der Minwanabi dem Attentäter Euren Tod aufgetragen und gleichzeitig dafür gesorgt, daß der Stempel seiner Familie zu erkennen war.« Nacoya kniff gedankenvoll die Augen zusammen. »Daß er so schnell von Eurer Rückkehr erfahren hat, spricht für seine Spione. Wir hatten angenommen, er würde erst einige Tage später herausfinden, daß jetzt Ihr die Herrscherin seid. Wenn er den Hamoi so schnell schicken konnte, muß er gewußt haben, daß Ihr das Gelübde nicht abgelegt habt, seit Keyoke Euch aus dem Tempel holte.« Sie schüttelte mit einem leichten Selbstvorwurf den Kopf. »Wir hätten damit rechnen müssen.«
Mara dachte über Nacoyas Rat nach, während ihre Tasse Chocha auf dem Tisch langsam abkühlte. Sie war sich ihrer neuen Verantwortung so bewußt wie niemals zuvor und akzeptierte, daß unangenehme Angelegenheiten nicht mehr länger aufgeschoben werden durften. Obwohl sich die lockigen Haare mädchenhaft um ihre Wangen kräuselten und der Umhang mit dem kunstvollen Kragen viel zu groß für sie war, richtete sie sich mit der Entschlossenheit einer Herrscherin auf. »Ich mag dem Lord der Minwanabi zwar wie ein Gazen erschienen sein, aber jetzt hat er diesen Pflanzenfresser gelehrt, Reißzähne zu entwickeln. Schickt nach Keyoke und Papewaio.«
Ihr Befehl setzte einen Läufer in Bewegung, einen kleinen Sklavenjungen mit Sandalen an den Füßen, der wegen seiner Flinkheit ausgewählt worden war. Er sprang von seinem Posten an der Tür auf, um die Nachricht zu überbringen. Die Krieger erschienen nur kurze Zeit später; beide hatten auf ihren Ruf gewartet. Keyoke trug seinen offiziellen Helm; der Federbusch, der auf seine Stellung hinwies, raschelte am Türsturz, als er eintrat. Barhäuptig, aber beinahe genauso groß, folgte Papewaio seinem Kommandeur. Er bewegte sich mit der gleichen Anmut und Stärke, die ihn nur wenige Stunden zuvor befähigt hatten, einen Mörder umzubringen. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Spur von den Gedanken über sein unentschiedenes Schicksal. Der Anblick seines Gesichts, das noch gelassener wirkte als sonst, und der Stolz in seiner Haltung ließen in Mara das Gefühl aufsteigen, als würde das Urteil, das sie jetzt fällen mußte, womöglich ihre Kräfte übersteigen.
Ihre Anspannung war jedoch nicht sichtbar, als die Krieger formell vor ihrem Tisch niederknieten. Der grüne Federbusch Keyokes zitterte leicht in der Luft; er war nahe genug, daß Mara ihn hätte berühren können. Sie unterdrückte ein plötzliches Beben und bedeutete den Männern, sich zu setzen. Ihre Zofe bot ihnen heiße Chocha an, aber nur Keyoke nahm eine Tasse. Papewaio schüttelte lediglich kurz den Kopf, als glaubte er, sich besser auf seine Gestik als auf seine Stimme verlassen zu können.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte Mara. »Ich werde versuchen, einen solchen Fehler nicht wieder zu machen –« Sie hielt abrupt inne, runzelte die Stirn und machte eine nervöse Bewegung, die die Schwestern von Lashima ihr abzugewöhnen versucht hatten. »Nein«, sagte Mara. »Ich muß es noch besser machen, denn im Tempel habe ich gelernt, daß meine Ungeduld manchmal mein Urteilsvermögen einschränkt. Keyoke, zwischen uns muß es ein Handzeichen geben, das ankündigt, wenn mein Leben oder die Existenz der Acoma in einer Art und Weise bedroht ist, die ich nicht verstehen kann. Dann wird sich vielleicht der Wahnsinn dieses Tages niemals wiederholen.«
Keyoke nickte, sein vernarbtes Gesicht blieb gelassen, doch sein Verhalten drückte Zustimmung aus. Er dachte einen Augenblick nach und fuhr mit dem Knöchel seines Zeigefingers über eine alte Wunde, die sein Kinn zerfurchte. »Lady, würdet Ihr diese Geste als Warnung erkennen, selbst an einem öffentlichen Ort voller Menschen?«
Mara lächelte beinahe. Keyoke hatte eine nervöse Angewohnheit Papewaios gewählt, das einzige Zeichen, das verriet, wenn er angespannt war. Keyoke wurde niemals unruhig; ihr Kommandeur, glaubte sie, verlor nie die Kontrolle, weder in gefährlichen oder angespannten Situationen noch in der Schlacht. Wenn er sich in ihrer Gegenwart an der Narbe kratzte, würde sie es also bemerken und hoffentlich wachsam werden. »Sehr gut. Machen wir es also so, Keyoke.«
Eine angespannte Stille breitete sich aus, als Mara ihre Aufmerksamkeit dem anderen Krieger zuwandte. »Mein mutiger Pape, hätte ich nicht zuallererst einen Fehler begangen, wäre ich jetzt tot und all unsere Güter und die zu den Acoma gehörenden Menschen wären ohne Herrin.« Sie wünschte, den Augenblick hinauszögern zu können, da sie das Urteil würde fällen müssen. »Wenn ich nur gesagt hätte, daß niemand mir zum Hain folgen darf …« Sie ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen. Alle wußten, daß ihr Befehl bis zum letzten befolgt worden wäre; die Pflicht hätte Papewaio gezwungen, im Haus zu bleiben und seine Herrin ihrem Schicksal zu überlassen.
»Und jetzt muß einer meiner verdientesten Offiziere sein Leben für einen loyalen und ehrenvollen Dienst dem Haus gegenüber hingeben«, sagte Mara.
»So ist das Gesetz«, bemerkte Keyoke. Seine unbeweglichen Gesichtszüge zeigten keinerlei Spur von Trauer oder Wut. Er war erleichtert, daß Mara die Kraft hatte, ihre Pflicht auszuüben, und der Federbusch auf seinem Kopf beruhigte sich.
Mara seufzte. »Ich fürchte, es gibt keinen anderen Weg.«
»Nein, Kind«, sagte Nacoya. »Ihr müßt die Art und den Zeitpunkt von Papes Tod festlegen. Ihr könnt ihm erlauben, sich in sein Schwert zu stürzen, und ihm dadurch den ehrenvollen Tod eines Kriegers zugestehen. Er hat zumindest das verdient, Mistress.«
Maras dunkle Augen funkelten; sie war wütend darüber, einen solch unerschütterlichen, treuen Diener verschwenden zu müssen, und zog gedankenvoll ihre Brauen zusammen. Eine Zeitlang sprach niemand. »Ich glaube nicht«, verkündete sie dann abrupt.
Keyoke schien etwas sagen zu wollen, doch dann nickte er einfach nur, während Papewaio mit dem Daumen über sein Kinn fuhr: Zeichen seiner starken Anspannung. Die Geste rüttelte Mara auf, und sie fuhr schnell fort: »Mein Urteil lautet folgendermaßen: Treuer Pape, es ist eindeutig, daß Ihr sterben müßt. Aber ich werde den Ort und die Umstände Eures Todes bestimmen, wenn ich es für richtig halte. Bis dahin werdet Ihr mir dienen wie bisher. Ihr werdet das schwarze Band der Verdammten um Euren Kopf tragen, damit alle wissen, daß ich das Todesurteil über Euch gesprochen habe.«
Papewaio nickte kurz. »Wie Ihr wünscht, Mistress.«
»Und sollte das Schicksal meinen Tod vor dem Eurigen bestimmen«, fügte Mara hinzu, »so habt Ihr die Erlaubnis, durch Eure eigene Klinge zu sterben … oder meinen Tod zu rächen, ganz wie es Euch beliebt.« Sie war sicher, welchen Weg Pape einschlagen würde. Und Papewaio blieb weiterhin in ihrem Dienst, bis sie Zeit und Art seiner Hinrichtung bestimmt hatte.
Mara betrachtete ihre drei engsten und treuesten Vertrauten. Sie fürchtete halb, daß jemand ihr ungewöhnliches Urteil anfechten würde. Doch Pflicht und Gebräuche forderten unbedingt Gehorsam, und niemand von ihnen sah sie an. In der Hoffnung, ehrenvoll gehandelt zu haben, entließ Mara die beiden Krieger. »Geht jetzt und widmet Euch Euren Aufgaben.«
Keyoke und Papewaio erhoben sich sofort. Sie nickten mit steifer Förmlichkeit, drehten sich um und verließen den Raum. Alt und längsam geworden in ihren Bewegungen, vollführte Nacoya ihre Verneigung weniger anmutig. Sie richtete sich auf, und eine Spur von Anerkennung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Das war hervorragend, Tochter Sezus«, flüsterte sie. »Ihr rettet Papes Ehre und bewahrt Euch einen überaus loyalen Diener. Er wird das schwarze Band der Schande tragen, als wäre es ein Zeichen der Ehre.« Dann, als wäre sie erschreckt über ihre eigene Kühnheit, verschwand die alte Amme hastig.
Die bei der Tür wartenden Dienerinnen mußten zweimal ansetzen, ehe Mara sie bemerkte. »Mistress wünschen?«
Die Gefühle und Anspannung des Nachmittags hatten die Herrin der Acoma völlig erschöpft. Der erwartungsvolle Ausdruck in den Gesichtern der Dienerinnen ließ sie erkennen, daß der Nachmittag längst vergangen war. Blaue Schatten legten sich auf die papiernen Läden der Tür und warfen ein trübes, finsteres Licht auf die dekorativ gemalten Jagdszenen. Voller Sehnsucht nach dem einfachen Leben ihrer Kindheit beschloß Mara, sich heute noch einmal dem formellen Abendessen zu entziehen. Morgen war früh genug, sich den Tatsachen zu stellen und den Platz ihres Vaters am Kopfende des Tisches einzunehmen. »Laß die frische Abendbrise ein und zieh dich dann zurück«, sagte sie zu der Zofe.
Die Dienerin beeilte sich, ihren Wünschen nachzukommen, und öffnete die großen Außenläden, die nach Westen zeigten.
Die orangefarbene Sonne hing tief, als würde sie den violetten Rand des Horizonts küssen. Ein rotgoldenes Licht lag auf den Sümpfen, wo die Shatra-Vögel sich gegen Abend sammelten. Noch während Mara sie beobachtete, schwangen sich die staksigen Geschöpfe in die Luft. Innerhalb weniger Minuten war der Himmel mit ihren anmutigen, eleganten Silhouetten bedeckt, und sie wirbelten über scharlachrot und pinkfarben flammende Wolken, vermischt mit dem Indigo der hereinbrechenden Nacht. Der Anblick war majestätisch. Obwohl Mara dieses Schauspiel in ihrer Kindheit unendlich oft gesehen hatte, raubten die Vögel ihr immer noch den Atem. Sie bemerkte nicht, wie die Zofe sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, und starrte fast eine Stunde gebannt auf die Vogelschwärme, die sich zu Tausenden sammelten und ihre Kreise zogen, ruhig dahinglitten, herunterstießen und wieder aufstiegen, während das Licht langsam nachließ. Als die Sonne verschwunden war, ließen die Vögel sich auf der Erde nieder. Im silbrigen Dämmerlicht sammelten sie sich in den Sümpfen, hockten nah zusammen, um die Raubtiere zu täuschen, während sie schliefen.
Die Dienerinnen kehrten in der warmen, lieblichen Stunde der Dämmerung zurück und brachten Öl für die Lampen und Kräutertee. Aber die Erschöpfung hatte Mara schließlich überwältigt. Sie fanden sie schlafend in den Kissen, eingelullt von den vertrauten Geräuschen der Hirten, die die Needra-Herden in die Unterstände trieben. In der Ferne erklang der traurige Gesang eines Küchenjungen, während er Thyza-Brot für das Morgenmahl knetete – ein sanfter Gegensatz zu den aus einiger Entfernung herüberklingenden Rufen von Keyokes Wachen, die auf dem Anwesen ihre Runden machten, um die Sicherheit der neuen Herrin der Acoma zu gewährleisten.
Mara war an die Disziplin des Tempellebens gewöhnt und erwachte sehr früh. Die ungewohnte Umgebung ließ sie zunächst verwirrt blinzeln; dann erinnerte die kostbare Tagesdecke über der Bettdecke sie daran, daß sie als Herrscherin der Acoma im Zimmer ihres Vaters lag. Ausgeruht, doch mit immer noch schmerzenden Verletzungen, die sie an den Attentäter der Minwanabi erinnerten, rollte sie sich auf die Seite. Ein paar Strähnen ihres üppigen Haares verfingen sich in ihren Wimpern; ungeduldig strich sie sie beiseite.
Die Morgendämmerung sandte ihre Strahlen durch die gen Osten gerichteten Fensterläden. Das Pfeifen eines Hirten, der die Needras auf die Weide zum Grasen trieb, vermischte sich mit dem morgendlichen Gezwitscher der Vögel. Mara war durch die Erinnerungen unruhig geworden und erhob sich.
Ihre Zofen bemerkten nicht, daß sie aufstand. Barfuß und dankbar über das Alleinsein schritt das Mädchen durch den Raum und griff nach dem Haken des Fensterladens. Sie schob ihn so leise wie möglich zurück. Kühle Luft liebkoste ihre Haut zwischen den losen Falten ihres Gewandes. Tief sog Mara den Geruch des Morgentaus und feuchter Erde und den kostbaren Duft der Akasi-Blumen ein. Aus dem sumpfigen Marschland stiegen Nebelschwaden auf, umflossen die an Kohlezeichnungen erinnernden Bäume und Hecken und hüllten auch die einsame Silhouette eines Hirten ein, der die trägen Needras vorantrieb.
Der Soldat, der im Hof Wache hielt, drehte sich bei seinem Rundgang um und bemerkte, daß das Mädchen in dem weißen Gewand und mit den vom Schlaf verworrenen Haaren seine Herrscherin war. Er verneigte sich ernst. Mara nickte geistesabwesend, als er sich wieder seiner Pflicht widmete. Sie betrachtete die weiten Ausmaße des Familienanwesens, zu einer Zeit, da der Morgen noch ungestört war vom Lärm und Gewirr des Tages. Bald würden alle, die auf dem Anwesen arbeiteten, geschäftig ihren Aufgaben nachgehen, in diesem Augenblick jedoch konnte Mara noch in Ruhe einen gelassenen Blick auf das werfen, was jetzt ihrem Schutz unterstand. Ihre Brauen wölbten sich besorgt, als sie begriff, wieviel sie noch zu lernen hatte, um dieses Anwesen wirklich führen zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt kannte sie noch nicht einmal das genaue Ausmaß ihres Erbes. Sie konnte sich erinnern, daß es auch Besitztümer in anderen Provinzen gab, aber sie wußte weder etwas über ihre Lage noch über ihren Wert. Ihr Vater hatte Einzelheiten über alles, was Ackerbau und Viehzucht betraf, nie sehr gemocht, und wenn er auch über sein Vermögen und das Wohlergehen seiner Leute mit Weisheit gewacht hatte, so war er in den Unterhaltungen mit Mara stets zu anderen Dingen abgeschweift, die ihn mehr interessiert hatten und von leichterer Natur gewesen waren.
Als die Zofe leise von der Zimmertür her rief, schloß Mara den Fensterladen wieder. »Ich werde mich sofort ankleiden und frühstücken«, ordnete sie an. »Dann möchte ich im Arbeitszimmer mit diesem neuen Hadonra, Jican, sprechen.«
Die Zofe verbeugte sich und eilte zu dem Kleiderschrank, während Mara ihr verworrenes Haar zu ordnen versuchte. Sie hatte sich im Tempel daran gewöhnen müssen, ohne die angenehme Hilfe von Dienerinnen auszukommen, und so hatte sie auch jetzt automatisch nach der Bürste gegriffen.
»Mylady, mache ich es Euch nicht recht?« Die Stimme und Haltung der jungen Zofe verrieten ihre starke Anspannung.
Mara runzelte die Stirn, sie ärgerte sich über ihren gedankenlosen Fehler. »Du machst es sehr gut.« Sie reichte der Zofe die Bürste und verharrte still, während die Dienerin sich ihrem Haar widmete. Während sie arbeitete, gestand Mara sich ein, daß ihre Entscheidung, Jican zu treffen, sowohl der Versuch war, Nacoya zu entgehen, als auch mehr über ihr Gut zu erfahren. Die alte Amme hatte die Angewohnheit, am frühen Morgen mürrisch zu sein. Und abgesehen von ihrer gewohnten Übellaunigkeit würde Nacoya ganze Bände voller Ermahnungen für ein junges Mädchen über ihre Verantwortung als Herrscherin zum besten geben.
Mara seufzte, und die Zofe hielt inne, wartete auf ein Zeichen ihrer Herrin, ob etwas nicht in Ordnung sei. Als Mara jedoch nichts sagte, fuhr das Mädchen fort, zaghaft, als würde sie die Mißbilligung ihrer Lady fürchten. Mara grübelte über die Fragen, die sie Jican stellen konnte, und wußte bereits, daß sie sich mit Nacoyas scheltendem Wesen würde arrangieren müssen. Wieder stieß sie einen Seufzer aus, wie früher, wenn sie für irgendeinen kindischen Unfug eine von Nacoyas Strafen hatte erdulden müssen. Erneut hielt die Zofe inne, um zu sehen, ob ihre Herrin unzufrieden mit ihr war. Nach einer kurzen Pause fuhr das Mädchen fort, die Haare ihrer Mistress zu richten, und Mara verlor sich in Gedanken über die Verwaltung ihres Anwesens.
Später saß Mara angekleidet und ordentlich zurechtgemacht mit aufgestützten Ellbogen auf einem Stapel Kissen. Vor lauter Konzentration knabberte sie mit den Zähnen sanft an der Unterlippe, während sie die letzten Exemplare eines nicht unerheblichen Stapels an Schriftrollen durchsah. Der Hadonra Jican, klein, sonnengebräunt und nervös wie ein Thyza-Vogel, schaute ihr über die Schulter. Gerade hob er seinen Finger, um auf etwas zu deuten.
»Die Guthaben sind hier eingetragen, Mylady Wie Ihr seht, sind sie von beträchtlicher Höhe.«
»Ich erkenne es, Jican.« Mara legte die Rolle auf die Knie, als Nacoya ihren Kopf durch die Tür steckte. »Ich bin beschäftigt, Nacoya. Ich werde bald Zeit für dich haben und mit dir sprechen, vielleicht gegen Mittag.«
Die alte Amme schüttelte den Kopf; ihre Haarnadeln saßen so schief wie immer. »Mit Eurer Erlaubnis, Mylady, es ist bereits eine Stunde nach Mittag.«
Mara wölbte überrascht die Brauen. Sie konnte die Ungeduld ihres Vaters, was die Verwaltung seiner abgelegenen Ländereien betraf, nachempfinden. Die Aufgabe war komplizierter, als sie vermutet hatte. Dennoch fand sie, anders als ihr Vater, auch die Feinheiten der Buchhaltung faszinierend. »Ich habe die Zeit vergessen. Aber Jican ist beinahe fertig. Du kannst draußen warten, wenn du möchtest«, sagte sie mit einem reumütigen Lächeln, als sie Nacoyas Ungeduld bemerkte.
Nacoya schüttelte verneinend den Kopf. »Es ist zuviel zu tun, Lady. Schickt Euren Läufer nach mir, wenn Ihr Zeit habt. Aber wartet nicht zu lange. Es müssen einige Entscheidungen getroffen werden, für die es morgen zu spät ist.«
Die Amme verschwand wieder. Mara hörte, wie sie unterwegs stehenblieb und Keyoke etwas zubrummte, der in dem dahinterliegenden Gang Wache hielt. Dann widmete sie sich wieder Jican und ihrer Unterrichtsstunde in Handel und Wirtschaft. Mara griff nach einer anderen Rolle. Dieses Mal erklärte sie die Bilanz selbst, ohne Jicans Hilfe. »Es mangelt uns vielleicht an Kriegern, Jican. Aber wir haben viele Besitztümer, sind möglicherweise sogar reich.«
»Das ist nicht schwer, Mistress. Sotamu hatte während der Jahre, in denen er Eurem Vater gedient hat, eindeutige Unterlagen angefertigt. Ich folge nur seinem Beispiel. In den letzten drei Jahren gab es sehr gute Thyza-Ernten, während die Hwaet-Braunfäule in den Provinzen der Ebene die Preise aller Getreidearten in die Höhe getrieben hat – Thyza, Ryge, Maza und sogar Milat. Bei einer solchen Knappheit an Hwaet würde nur ein allzu bequemer Verwalter sein Thyza nach Sulan-Qu schleppen und es dort verkaufen. Es kostet nicht viel mehr Mühe, mit einem Makler des Konsortiums der Kornhändler in der Stadt der Ebene zu verhandeln.« Der kleine Mann seufzte unbehaglich. »Mylady, ich möchte nicht respektlos gegenüber jemandem Eurer erhabenen Klasse scheinen, aber ich habe viele mächtige Herren gekannt, die die Einzelheiten der geschäftlichen Arbeit verschmähten. Zur gleichen Zeit jedoch verweigerten sie auch ihren Hadonras und Maklern, unabhängig für sie zu handeln. Daher haben wir mit großen Häusern verhandelt und die Händler der Stadt gemieden, wann immer wir konnten. Dies hat uns oftmals große Profite beschert.«
Der Hadonra hielt inne, die Hände bescheiden vor sich ausgestreckt. Dann, ermutigt durch die Tatsache, daß Mara ihn nicht unterbrach, fuhr er fort: »Und die Züchter … sie sind ein Geheimnis. Es ist ebenfalls nicht respektlos gemeint, aber die Herren des Nordens scheinen besonders kurzsichtig zu sein, was die Wahl von Zuchtbullen angeht.« Der kleine Mann fühlte sich jetzt etwas ungezwungener und zuckte verwundert mit den Schultern. »Ein übellauniger Bulle, der schwer zu handhaben, doch muskulös und grimmig ist und voller Ungeduld mit den Hufen scharrt, oder einer mit einem großen« – er senkte beschämt den Blick – »äh, männlichen Organ verkauft sich besser als ein fettes Tier, das gutes Fleisch zeugen wird, und auch besser als ein sanftmütiges, das eine gute, solide Herde heranzüchtet. So bringen Tiere, die ein vorsichtiger Mann vielleicht kastrieren oder schlachten ließe, Höchstpreise, während die besten hierbleiben. Und dann wundern die Leute sich über die Qualität unserer Herden und sagen: ›Wie kann das Fleisch der Acoma-Tiere so gut schmecken, wenn sie doch so schwache Bullen halten?‹ Ich verstehe dieses Denken nicht.«
Mara lächelte leicht; es war der erste entspannte Ausdruck in ihrem Gesicht, seit sie den Tempel verlassen hatte. »Diese edlen Herren suchen Tiere, die ihre eigene Männlichkeit widerspiegeln. Ich habe dieses Bedürfnis nicht. Und da ich auch kein Bedürfnis danach habe, mit irgendeinem Tier aus dem Zuchtstall verwechselt zu werden, dürft Ihr weiterhin die Kühe und Bullen auswählen, ohne darauf achten zu müssen, ob ihr Charakter zu meinem paßt.« Jican riß einen Moment die Augen weit auf, dann begriff er, daß das Mädchen einen Witz gemacht hatte. Er stimmte ein wenig scheu in ihr Lachen ein. »Ihr habt Eure Sache gut gemacht«, fügte Mara hinzu.
Bei diesem Dank lächelte der Mann, als wäre ein großes Gewicht von seinen Schultern genommen. Er genoß die ungewohnte Verantwortung seiner neuen Arbeit ganz offensichtlich, und er hatte befürchtet, daß die neue Herrin ihn fortschicken würde. Jetzt war er doppelt zufrieden, daß er nicht nur als Hadonra weiterarbeiten würde, sondern Lady Mara sogar seinen Wert erkannt hatte.
Aber Mara hatte von ihrem Vater auch den Sinn für das Herrschen geerbt – selbst wenn sich diese Fähigkeiten erst nach und nach zeigen würden – und wußte, daß sie in ihm einen fähigen, vielleicht sogar begnadeten Gutsverwalter besaß. »Euer Fleiß und Eifer bringen den Acoma soviel Ehre wie der Mut unserer Soldaten«, sagte sie deshalb. »Ihr könnt jetzt gehen und Euch Euren Aufgaben widmen.«
Kniend verbeugte Hadonra sich, bis seine Stirn den Boden berührte; eine Ehrerbietung, die bei einem Mann seiner Position mehr Unterwürfigkeit ausdrückte, als von ihm verlangt wurde. »Ich bade im Glanz des Lobes meiner Herrin.«
Jican erhob sich und ging hinaus, während eine Hausdienerin herbeikam und die auf dem Boden verstreuten Rollen einsammelte. Nacoya eilte durch die Tür, als der Hadonra an ihr vorbeiging. Weitere Diener folgten ihr mit Tabletts voller Erfrischungen, und mit einem Seufzen wünschte sich Mara, ihre ganz offensichtlich reichhaltige Dienerschaft könnte sich in kräftige Krieger verwandeln.
Nacoya verbeugte sich und nahm Platz, bevor Mara die Möglichkeit hatte, ihr die Erlaubnis dazu zu geben. »Denkt meine Herrin, sie könnte den ganzen Morgen arbeiten, ohne irgend etwas zu sich zu nehmen?« fragte sie. Die Dienerinnen verursachten leise klirrende, raschelnde Geräusche, als sie die Tabletts absetzten und anrichteten. Nacoyas alte dunkle Augen sahen Mara kritisch an. »Ihr habt an Gewicht verloren, seit Ihr zum Tempel aufgebrochen sind. Einige Männer könnten Euch für dürr halten.«
Immer noch mit dem beschäftigt, was sie mit Jican besprochen hatte, antwortete Mara, als hätte sie nicht zugehört: »Ich habe angefangen, etwas über mein Gut und meine Besitztümer zu lernen. Du hast eine gute Wahl getroffen, als du dich für Jican entschieden hast, Nacoya. Obwohl ich mich gerne und mit Wohlwollen an Sotamu erinnere, scheint mir dieser Mann doch ein Meister zu sein, was die Angelegenheiten des Handels betrifft.«
Nacoyas Haltung wurde etwas weicher. »Ich hatte es vermutet, Mistress, doch ich mußte zu der Zeit schnell entscheiden.«
»Du hast es gut gemacht.« Mara betrachtete das hübsch angeordnete Essen, und der Geruch des frischen Thyza-Brotes ließ ihren Hunger erwachen. Sie griff nach einer Scheibe, runzelte dann die Stirn und meinte: »Und ich bin nicht dürr. Unsere Mahlzeiten im Tempel waren nicht so dürftig, wie du denkst.« Sie nahm einen Bissen und kaute gedankenvoll. Sie blickte ihre unbezwingbare Amme an. »Also, was gibt es zu tun?«
Nacoya schürzte die Lippen; ein sicheres Zeichen, daß sie etwas vorhatte, das für sie ein schwieriges Thema war. »Wir müssen schnell dafür sorgen, daß dieses Haus gestärkt wird, Lady. Ohne weitere Blutsverwandte seid Ihr für viele ein allzu attraktives Ziel. Selbst jene, die bisher vielleicht keinen Anlaß zur Zwietracht mit den Acoma hatten, könnten jetzt neidische und zielstrebige Blicke auf Euren Besitz werfen. Die Ländereien und Herden hätten einen nicht ganz so mächtigen Herrn wohl nicht dazu verleitet, gegen Euren Vater vorzugehen, aber gegen ein junges Mädchen ohne Erfahrung und Kenntnisse? ›Hinter jedem Vorhang steckt eine Hand‹«, zitierte sie.
»›Und in jeder Hand ein Messer‹«, beendete Mara. Sie legte ihr Brot beiseite. »Ich verstehe, Nacoya. Ich habe daran gedacht, nach Rekruten zu schicken.«
Nacoya schüttelte den Kopf mit solchem Nachdruck, daß ihr sorgfältig befestigtes Haar sich zu lösen drohte. »Das ist zu diesem Zeitpunkt ein schwieriger und gefährlicher Versuch.«
»Weshalb?« Mara vergaß in ihrem Ärger das Essen. »Ich bin gerade mit Jican das Vermögen der Acoma durchgegangen. Wir haben mehr als genug, um zweitausendfünfhundert Soldaten zu halten. Wir haben sogar genug, um die Rekrutierungslöhne zu zahlen.«
Aber Nacoya hatte sich nicht darauf bezogen, daß ein neuer Herr den früheren Herrn für die Ausbildung jedes Rekruten entschädigen mußte. Sanft erinnerte sie Mara: »Es sind zu viele gestorben, Mara-anni. Es sind zu wenig Familienbande übriggeblieben, als daß sie von Bedeutung wären.« Nach der Tradition der Tsurani konnte ein Soldat nur dann in der Garnison eines bestimmten Hauses dienen, wenn bereits ein Verwandter dort als Soldat beschäftigt war. Da den ältesten Söhnen zudem dieselbe Loyalität wie ihren Vätern nachgesagt wurde, beschränkte sich dieses Verfahren auf die zweiten und späteren Söhne. Nacoya behielt dies im Kopf, als sie weitersprach: »Euer Vater hat sich bereits bemüht, alle verfügbaren Männer zu rekrutieren, als er sich an der Eroberung der barbarischen Welt beteiligte. Die meisten der fähigen Männer sind also schon fort. Jene, die Ihr jetzt noch finden werdet, sind jung und unerfahren. Der Lord der Minwanabi wird handeln, bevor sich diese als wirklich brauchbar herausstellen können.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.« Mara griff unter den Schreibtisch vor sich und holte ein Kästchen hervor, das mit kostbaren Schnitzereien verziert war. »Ich habe heute morgen nach der Gilde der Träger geschickt. Der Träger, der hier erscheinen wird, erhält dieses Kästchen, das er verschlossen und ohne weitere Mitteilung dem Lord der Minwanabi übergeben soll.« Grimmig reichte Mara den Kasten Nacoya.
Nacoya öffnete das feingearbeitete Schloß und zog eine Braue empor, als sie sah, was darin lag. Es war eine einzelne rote Kordel mit dem Blut von Maras Hand, zusammengerollt neben einer Shatra-Feder. Nacoya schloß den Kasten wieder, als würde er eine purpurne Dhast enthalten, die giftigste Schlange überhaupt. »Ihr erklärt dem Haus der Minwanabi damit offiziell die Blutfehde.«
»Ich erkenne nur die Fehde an, die bereits vor Ewigkeiten begonnen hat!« schoß Mara zurück. Der Mord an ihrem Vater und ihrem Bruder war noch zu frisch, als daß sie sich jetzt mäßigen konnte. »Ich erkläre Jingu lediglich, daß eine weitere Generation der Acoma bereitsteht, um sich ihm entgegenzustellen.« Peinlich berührt über ihre eigenen Gefühle starrte das Mädchen jetzt auf das Tablett mit dem Essen. »Mutter meines Herzens, ich bin noch unerfahren in dem Spiel des Rates, aber ich erinnere mich an viele Nächte, in denen Vater mit Lano seine Pläne diskutierte, seinem Sohn jeden Schritt beibrachte und auch die Gründe dafür. Damals hat auch seine Tochter zugehört.«
Nacoya stellte das Kästchen beiseite und nickte. Mara schaute auf, sie schwitzte leicht in der Hitze, hatte sich jedoch unter Kontrolle. »Unser Feind, der Lord der Minwanabi, wird glauben, daß mehr dahintersteckt, als es der Fall ist. Er wird sich bemühen, jeden Zug, von dem er glaubt, daß wir ihn tun, abzuwehren, und uns dadurch die Möglichkeit geben, einen Plan zu schmieden. Alles, was ich im Augenblick erhoffen kann, ist, etwas Zeit zu gewinnen.«
Nacoya schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Tochter meines Herzens, Eure Kühnheit ist bewundernswert, und dennoch, wenn diese Geste Euch auch einen Tag, eine Woche, womöglich gar mehr verschafft, am Ende wird der Lord der Minwanabi doch etwas unternehmen, um die Acoma auszulöschen.« Die alte Amme beugte sich nach vorn, um den folgenden Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Ihr müßt Verbündete finden, und dafür bleibt Euch nur eine Möglichkeit. Ihr müßt heiraten. Und zwar so schnell wie möglich.«
Mara schoß so schnell in die Höhe, daß ihr Knie gegen das Tischbein des Schreibtisches stieß. »Nein!« Eine bedrückende Stille entstand, während sich ein loses Stück Pergament in die Suppe verirrte.
Nacoya mißachtete den Ausbruch ihrer Herrin schroff. »Ihr habt keine andere Wahl, Kind. Als Herrscherin müßt Ihr von den jüngeren Söhnen einiger bestimmter Häuser des Kaiserreichs einen Gatten wählen. Eine Heirat mit einem Sohn der Shinzawai, der Tukareg oder der Chochapan würde eine Allianz mit einem Haus bedeuten, das in der Lage ist, uns zu beschützen.« Sie wurde einen Augenblick still. »So lange das überhaupt jemand tun kann. Doch im Laufe der Zeit könnte sich das Gleichgewicht der Macht ändern.«
Das Blut schoß Mara in die Wangen, und ihre Augen weiteten sich. »Ich habe keinen dieser Jungen gesehen, die du erwähnt hast. Ich werde keinen Fremden heiraten!«
Nacoya blieb dabei. »Wut spricht jetzt aus Euch, und Euer Herz bestimmt Euren Verstand. Wäret Ihr nicht in den Tempel eingetreten, wäre Euer Gatte unter denen ausgewählt worden, die Euer Vater oder später Euer Bruder für wert genug befunden hätte. Als Lady der Acoma müßt Ihr ebensoviel für das Wohl Eures Hauses tun. Ich lasse Euch jetzt allein, damit Ihr darüber nachdenken könnt.«
Die Amme legte ihre alten Finger um das Kästchen, das von der Trägergilde zum Lord von Minwanabi gebracht werden sollte. Sie verneigte sich steif und ging.
Mara saß in wütendem Schweigen da; ihre Augen waren, ohne wirklich etwas zu sehen, auf das durchtränkte Stück Pergament gerichtet, das langsam in den Tiefen der Suppenschüssel verschwand. Der Gedanke an eine Heirat rief eine namenlose Furcht hervor, die irgendwo tief in ihrer Trauer wurzelte. Sie zitterte, obwohl es ein heißer Tag war, und schnippte mit den Fingern nach den Dienerinnen, damit sie die Tabletts abräumten. Sie würde etwas ruhen und sich zurückziehen, um das zu bedenken, was ihre alte Amme vorgeschlagen hatte.
Auf Keyokes Rat blieb Mara den ganzen Nachmittag im Bereich des Hauses. Sie hätte sich zwar lieber mit der Sänfte einen Überblick über die Güter der Familie verschafft, aber dazu gab es nicht genügend Krieger. Ein großes Gefolge wäre nötig gewesen, um auf offenem Gelände für ihren Schutz zu sorgen, und dadurch hätten weniger Wachen für die üblichen Patrouillen zur Verfügung gestanden. Zu pflichtbewußt, um untätig herumzusitzen, studierte Mara weitere Unterlagen, um sich mit den entfernteren Besitztümern ihrer Familie vertraut zu machen. Sie ließ sich eine leichte Mahlzeit bringen. Die Schatten wurden länger, und in der Hitze des Nachmittags schien alles zu erstarren.
Die Arbeit ließ die Lady der Acoma einen feinen, aber wichtigen Aspekt tsuranischen Lebens erkennen. Zwar hatte ihr Vater es oft betont, doch erst jetzt begriff sie die Bedeutung seiner Worte wirklich: Ehre und Tradition bildeten nur zwei Wände eines großen Hauses; die zwei anderen waren Macht und Reichtum. Diese letzten beiden waren es auch, die das Dach vor dem Einsturz bewahrten. Mara hielt den Griff der Pergamentrolle krampfhaft fest. Wenn es ihr irgendwie gelingen könnte, die Feinde, die ihr nach dem Leben trachteten, so lange in Schach zu halten, bis sie stark genug wäre, um sich am Spiel des Rates zu beteiligen, dann … Sie beendete den Gedanken nicht. Das vordringliche Problem war jetzt, die Lords der Minwanabi und Anasati in Schach zu halten. Vergeltung war ein nutzloser Traum, solange sie das Überleben ihrer Familie nicht sicherstellen konnte.
Tief in Gedanken versunken hörte Mara nicht, wie Nacoya ihr von der Tür aus leise etwas zurief. »Mistress?« wiederholte die Amme.
Mara schaute verwirrt auf und winkte die Nacoya herein. Sie wartete gedankenverloren und unnahbar, während die alte Frau sich verbeugte und dann vor ihr niederkniete.
»Lady, ich habe über unser Gespräch von heute nachmittag nachgedacht, und ich bitte Euch, meinen Vorschlag in Ruhe anzuhören.«
Mara kniff die Augen zusammen. Sie verspürte keine große Lust bei dem Gedanken, die Diskussion über eine Heirat fortzuführen, doch die immer noch schmerzenden Stellen an ihrem Körper gemahnten sie an die Notwendigkeit, sich umsichtig zu verhalten. Daher legte sie die Rollen zur Seite und gab Nacoya mit einem Wink die Erlaubnis, fortzufahren. »Euer Status als Herrscherin der Acoma würde sich durch eine Heirat nicht ändern. Zwar würde ein Ehemann an Eurer rechten Seite sitzen, doch er hätte nicht das Recht, über die Angelegenheiten des Hauses zu bestimmen, sofern Ihr es ihm nicht zugesteht. Er –«
Mara machte eine abwehrende Handbewegung. »Das weiß ich bereits alles.«
Die alte Amme machte es sich auf der Matte vor ihrer Herrin etwas bequemer. »Ich bitte um Vergebung, Lady Als ich heute nachmittag mit Euch sprach, hatte ich vergessen, daß eine Dienerin Lashimas die weltlichen Angelegenheiten jenseits des Tempels aus den Augen verliert. All die Dinge zwischen Jungen und Mädchen – das Treffen mit den Söhnen edler Häuser, das Küssen und die spielerischen Formen des Berührens – blieben Euch im letzten Jahr und länger verschlossen. Der Gedanke an Männer…« Die wachsende Anspannung durch Maras Schweigen entmutigte Nacoya, und sie stockte; doch dann riß sie sich zusammen und beendete ihren Vortrag. »Vergebt dem Gerede einer alten Frau. Ihr wart eine Jungfrau – und seid es noch.«
Diese Aussage ließ Mara erröten. Während der Zeit im Tempel war ihr befohlen worden, die Belange des Fleisches zu verdrängen. Doch Nacoyas Sorge, das Mädchen könnte mit dieser Angelegenheit nicht umgehen, war unbegründet; ganz im Gegenteil war es für Mara ein harter Kampf gewesen, das beiseite zu schieben, was sie vergessen sollte. Nur zu oft hatte sie sich dabei ertappt, wie sie während des Tages von Jungen aus ihrer Kinderzeit träumte.
Mara rieb nervös an dem Verband, der die verletzte Hand bedeckte. »Mutter meines Herzens, ich bin noch immer eine Jungfrau. Aber ich verstehe sehr gut, was zwischen einem Mann und einer Frau geschieht.« Mit einem gewissen Nachdruck, als wäre sie ungehalten, bildete sie mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand einen Kreis, in den hinein sie den rechten Zeigefinger stieß. Hirten, Bauern und Soldaten benutzten dieses Zeichen, um Unzucht anzudeuten. Wenn es auch nicht obszön war, Sexualität war ein Aspekt des Lebens, dem die Tsuranis unbefangen begegneten, so war ihre Geste doch sehr gewöhnlich und ziemte sich nicht für die Herrin eines großen Hauses.
Nacoya war jedoch zu weise, um sich derart provozieren zu lassen. »Mistress, ich weiß, daß Ihr mit Eurem Bruder bei den Soldaten und Hirten gespielt habt. Ich weiß, daß Ihr gesehen habt, wie die Bullen die Kühe besteigen. Und noch viel mehr.« Die Nähe und Enge des tsuranischen Lebens hatten es unumgänglich gemacht, daß Mara und ihr Bruder viele Male in Hörweite deutlicher Leidenschaft geraten waren. Gelegentlich waren sie sogar in ein Stelldichein zwischen Sklaven oder Dienern geplatzt.
Sie zuckte mit den Achseln, als wäre die Angelegenheit nur von geringer Bedeutung.
»Kind, Ihr versteht vielleicht, was zwischen einem Mann und einer Frau hier vorgeht.« Die Amme tippte sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger an den eigenen Kopf, dann deutete sie auf ihr Herz. »Aber Ihr versteht nicht, was hier geschieht oder« – jetzt zeigte sie auf ihre Lenden – »hier. Ich mag zwar alt sein, doch ich erinnere mich noch. Mara-anni, eine Herrscherin ist auch eine Kriegerin. Ihr müßt Euren Körper beherrschen. Ihr müßt lernen, Schmerz zu überwinden.« Die Amme wurde nachdenklich, als alte Erinnerungen zurückkehrten. »Und manchmal ist die Leidenschaft schmerzhafter als jede Schwertstunde.« Das Sonnenlicht stand jetzt tief und fiel durch die Läden; es betonte ihre festen Gesichtszüge, als sie sich wieder auf Mara konzentrierte. »Bis Ihr Euren eigenen Körper kennengelernt habt und jedes seiner Bedürfnisse beherrscht, seid Ihr verletzbar. Eure Stärken und Schwächen sind gleichzeitig die der Acoma. Ein gutaussehender Mann, der Euch süße Worte ins Ohr flüstert, dessen Berührung in Euren Lenden ein Feuer entfacht, vermag Euch ebenso leicht zu zerstören wie der Hamoi Tong.«
Jetzt wurde Mara tiefrot, und ihre Augen blitzten hitzig. »Was schlagt Ihr also vor?«
»Eine Herrscherin muß frei davon sein«, sagte Nacoya. »Nach dem Tod Eurer Mutter unternahm Lord Sezu gewisse Schritte, um sicherzustellen, daß die Bedürfnisse des Fleisches ihn nicht zu dummen Taten veranlassen würden. Die Begierde nach einer Tochter des falschen Hauses hätte die Acoma ebenso vernichten können wie ein verlorener Kampf. Während Ihr im Tempel wart, ließ er Frauen aus der Ried-Welt hierher bringen –«
»Nacoya, solche Frauen waren bereits hier, als ich noch jünger war. Ich erinnere mich daran.« Mara holte ungeduldig Luft und bemerkte an dem schweren Geruch der Akasi, daß jenseits der Fensterläden Sklaven im Garten arbeiteten.
Aber die süßliche Luft schien keine Wirkung auf Nacoya zu haben. »Lord Sezu handelte nicht immer nur für sich, Mara-anni. Manchmal kamen die Frauen auch zu Lanokota, damit er die Dinge zwischen Männern und Frauen verstehen lernte und nicht den Absichten listiger Töchter und den Plänen ihrer Väter zum Opfer fallen würde.«
Der Gedanke, daß ihr Bruder mit solchen Frauen zusammen gewesen war, überwältigte Mara mit unerwarteter Heftigkeit; doch die Nähe der Sklaven zwang sie, sich korrekt zu verhalten. »Also noch einmal, was schlägst du vor?«
»Ich werde nach einem Mann aus der Ried-Welt schicken, der erfahren ist in –«
»Nein!« Mara schnitt ihr das Wort ab. »Ich will davon nichts hören!«
Nacoya beachtete den Einwand ihrer Herrin nicht. »– den verschiedenen Arten der körperlichen Lust. Er wird Euch alles lehren –«
»Ich sagte nein, Nacoya!«
»– was Ihr wissen müßt, damit sanfte Berührungen und süße Worte in der Dunkelheit Euch nicht betören können.«
Mara stand am Rande eines Wutanfalls. »Ich befehle dir, sofort aufzuhören!«
Nacoya hielt ihre nächsten Worte zurück. Die beiden Frauen sahen sich einen langen, schweigsamen Augenblick an, und keine von ihnen rührte sich. Schließlich neigte die alte Amme den Kopf hinab, bis ihre Stirn die Matte berührte, auf der sie kniete – das flehende Zeichen eines Sklaven. »Ich bin beschämt. Ich habe meine Herrin verärgert.«
»Geh! Laß mich allein!«
Die alte Frau stand auf; das Rascheln ihres Gewandes und der steife, alte Rücken spiegelten ihre Mißbilligung wider, als sie aus dem Zimmer verschwand. Mara winkte die Dienerin fort, die jetzt erschien, um weitere Wünsche ihrer Herrin zu erfüllen. Allein und umgeben von den kunstvollen, wunderschön beschriebenen Rollen, die im Namen der Ehre verbargen, was in Wirklichkeit ein grausames und tödliches Geflecht aus Intrigen war, versuchte Mara die Verwirrung zu ordnen, die Nacoyas Vorschlag hinterlassen hatte. Sie fand keinen Namen für die in ihr aufsteigende Furcht, die sie gefangennahm.
Sie schlang die Arme um sich und schluchzte lautlos. Ohne den Trost ihres Bruders und umgeben von Verschwörungen, Bedrohungen und der unsichtbaren Gegenwart ihrer Feinde, beugte die Lady der Acoma den Kopf, während ihre Tränen den Verband an ihrer Hand durchnäßten und in den langsam heilenden Wunden brannten.
Eine Glocke läutete schwach in der Ferne, das Zeichen für die Sklaven, sich zum Abendessen in ihre Unterkünfte zu begeben. Auch diejenigen, die sich um die Akasi-Beete gekümmert hatten, standen auf und legten ihr Werkzeug nieder. Ihre Herrin saß hinter dünnen Papierläden und stieß die Schriftrollen zur Seite. Sie neb sich über die vom Weinen geschwollenen Augen und rief mit leiser Stimme eine Dienerin herbei, die die Fenster im Arbeitszimmer öffnen und frische Luft hereinlassen sollte.
Dann stand sie auf. Sie fühlte sich leer und erschöpft, aber der feste Zug um ihre Lippen war bereits wieder zurückgekehrt. Gedankenvoll biß sie sich auf die Lippe und lehnte am polierten Rahmen des Fensterladens. Es mußte neben der Heirat noch eine andere Möglichkeit geben. Sie dachte angestrengt nach, fand aber keine Lösung. Die Sonne stand tief am westlichen Horizont, riesig und golden. Hitzeschieier hingen über den Feldern in der Ferne, und nicht ein einziger Vogel war am grünblauen Himmel über ihr zu sehen. Auf den weißen Steinen verwelkten Akasi-Blätter, die von den Arbeitern abgeschnitten worden waren; sie betonten die Zerbrechlichkeit der schläfrigen Stille, die das Herrenhaus jetzt umgab. Mara gähnte; Trauer und Sorgen hatte sie müde gemacht.
Plötzlich hörte sie jemanden laut rufen. Aufs höchste alarmiert, schoß sie in die Höhe. Ein paar Gestalten rannten eilig über die Straße auf die Baracken der Wächter zu. Mara wußte, das konnte nur mit schlechten Nachrichten zu tun haben, und so kehrte sie den Fensterläden den Rücken. Genau in diesem Augenblick eilte eine Dienerin in das Arbeitszimmer.
Hinter ihr folgte ein staubiger und verschwitzter Krieger. Er keuchte noch von der Anstrengung, denn schließlich hatte er in voller Rüstung eine ziemlich lange Strecke zurückgelegt. Ehrerbietig verbeugte er sich. »Mistress, mit Eurer Erlaubnis.«
Mara spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen zusammenzog. Es fängt bereits an, sagte sie sich in Gedanken. Trotz ihres tränenverschmierten Gesichts bewahrte sie Haltung. »Sprecht«, sagte sie.
Der Soldat schlug sich zum Salut mit der Faust gegen die Brust. »Mistress, der Kommandeur schickt Euch folgende Nachricht: Gesetzlose haben die Herden überfallen.«
»Schickt nach meiner Sänfte. Schnell!«
»Wie Ihr wünscht, Mistress.« Die Dienerin, die den Soldaten hergeführt hatte, rannte aus dem Zimmer.
Mara wandte sich an den Krieger: »Bereitet meine Eskorte vor.«
Der Mann verneigte sich und verschwand ebenfalls. Mara löste das leichte, kurze Gewand, das die edlen Frauen der Tsurani in der privaten Atmosphäre ihres Heims gewöhnlich trugen. Sie warf es einer ihrer Zofen zu, während eine andere bereits mit Reisekleidung zu ihr eilte – sie war länger und unauffälliger im Schnitt. Mara schlang noch einen dünnen Schal um den Nacken, um die unverheilten Stellen zu verbergen, und trat nach draußen.
Die Sänftenträger warteten bereits schweigend; sie waren nackt bis auf ihre Lendenschurze und schwitzten in der Hitze. Vier Krieger waren bei ihnen; hastig banden sie die Helme fest und rückten die Waffen an ihren Gürteln zurecht. Der Soldat, der geschickt worden war, um Mara zu benachrichtigen, reichte ihr achtungsvoll seine Hand und half seiner Herrin auf die Kissen. Dann gab er den Trägern und der Eskorte ein Zeichen. Die Sänfte schwankte leicht und bewegte sich mit einem Ruck nach vorn, als die Träger der drängenden Situation entsprechend auf die in größerer Entfernung gelegenen Weiden zueilten.
Die Reise endete weit eher, als Mara erwartet hatte, noch Meilen von den Grenzen ihres Besitzes entfernt. Das war ein entmutigendes Zeichen, denn Banditen wagten sich niemals so weit in das Innere eines Anwesens, wenn die Wachen in regelmäßigen Abständen und ausreichender Anzahl ihre Runden machten. Mara schob die Gazevorhänge zur Seite; ihre Wut ließ die Bewegung ungewöhnlich schroff erscheinen. »Was ist geschehen?«
Keyoke wandte sich von zwei Soldaten ab, die gerade den Boden nach Spuren absuchten, um etwas über die Anzahl der Plünderer zu erfahren. Seine ledrigen Gesichtszüge ließen nicht erkennen, ob er ihr tränenverschmiertes Gesicht wahrgenommen hatte. Er wirkte sehr beeindruckend, wie er so in der glänzenden Rüstung vor ihr stand, den Helm mit dem Federbusch am Gürtel befestigt, und auf eine offene Stelle im Zaun zeigte, die spärlich bekleidete Sklaven bereits wieder reparierten. »Gesetzlose, Mylady. Zehn oder vielleicht ein Dutzend. Sie töteten einen Hirtenjungen, brachen durch den Zaun und trieben einige Needras fort.«
»Wie viele?« Mara bedeutete ihm, ihr aus der Sänfte zu helfen. Das Gras fühlte sich merkwürdig unter den Sandalen an, nachdem sie monatelang in den Grenzen des Tempels gelebt und an den Widerhall der Steine gewöhnt gewesen war; ebenso unerwartet traf sie der Geruch der fruchtbaren Erde und der Khala-Reben, die sich am Zaun entlangrankten. Mara schüttelte die momentane Ablenkung ab und begrüßte Jican; dabei runzelte sie die Stirn, wie ihr Vater es getan hatte, wenn auf den Gütern einmal etwas schiefgegangen war.
Zwar hatte der neue Hadonra wenig Kontakt mit dem früheren Lord der Acoma gehabt, doch dessen Blick war legendär gewesen. Nervös preßte Jican die Schreibtafel an sich und verbeugte sich. »Lady, Ihr habt höchstens drei oder vier Kühe verloren. Ich kann es Euch aber erst mit Sicherheit sagen, wenn wir die umherstreunenden Tiere zusammengetrieben haben.«
Mara mußte sich anstrengen, um das Gebrüll der erregten Tiere und das Pfeifen der Hirten zu übertönen, deren lange Stöcke und Peitschen hörbar durch die Luft zischten, während sie ihre Schützlinge in die Koppel trieben. »Umherstreunende Tiere?«
Diesmal antwortete Keyoke; er war unzufrieden über Jicans Zaghaftigkeit. Seine Stimme paßte eigentlich besser zu einem Schlachtfeld in der barbarischen Welt als zu der zertrampelten Erde einer Needra-Weide. »Die Tiere auf dieser Weide standen kurz vor dem Gebären. Der Geruch des Blutes verwirrte sie, und sie stürzten davon, was wiederum die Hirten alarmierte.« Er hielt inne und konzentrierte seinen Blick auf die entfernten Wälder.
Keyokes Anspannung verstärkte Maras Besorgnis. »Was beunruhigt Euch, Keyoke? Sicherlich nicht der Verlust einiger Kühe und der Mord an einem Sklavenjungen.«
»Nein, Lady.« Er hatte den Blick noch immer auf den Wald gerichtet. Dann schüttelte der alte Soldat den Kopf. »Ich bedaure den Verlust von wertvollem Besitz, aber die Kühe und der Junge sind sicherlich das geringere Problem.« Er hielt inne, als einer der Aufseher etwas rief; die Sklaven mühten sich ab, einen neuen Pfosten aufzustellen. Der Kommandeur offenbarte jetzt seine schlimmsten Befürchtungen. »Seit dieser Hund von Hamoi versuchte, Euch das Leben zu nehmen, sind wir sehr wachsam. Dies waren keine gewöhnlichen Diebe. Der Überfall geschah am hellichten Tag; sie schlugen zu und verschwanden. All das läßt auf eine gute Planung und genaue Kenntnis unserer Patrouillen schließen.«
Mara spürte eisige Furcht in sich aufsteigen, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Spione?« Es wäre dem Lord der Anasati zuzutrauen, durch einen vorgetäuschten Überfall von »Banditen« die Stärke der Acoma in Erfahrung zu bringen.
Keyoke fingerte an seinem Schwert herum. »Ich glaube nicht, Mistress.« Er bewies einmal mehr seinen beinahe unheimlichen Scharfsinn, als er seinen Verdacht begründete: »Die Minwanabi sind niemals so raffiniert, und die Anasati haben so weit südlich keinen Vorposten, von dem sie so schnell einen solchen Angriff hätten organisieren können. Nein, dies scheint das Werk von Soldaten zu sein, und zwar ganz sicherlich von herrenlosen.«
»Die Grauen Krieger?« Mara dachte an die rauhen, clanlosen Männer, die in den Bergen hausten und sich häufig zu Banden zusammenschlössen. Zum jetzigen Zeitpunkt, da die Acoma so wenig Soldaten besaßen, stellten die Grauen Krieger unter der Führung eines klugen Anführers eine ebensolche Gefahr dar wie irgendein finsterer Plan ihrer Feinde.
Keyoke schlug den Staub von seinen Hosenbeinen und betrachtete wieder die Hügel, die jetzt im Schatten der Dämmerung dunkel wurden. »Mit Eurer Erlaubnis möchte ich Kundschafter aussenden. Wenn für diese Plünderung wirklich Graue Krieger verantwortlich sind, so suchten sie etwas zu essen, und folglich müßten Feuerstellen vorhanden sein. Wenn dies jedoch nicht so ist, können wir davon ausgehen, daß die Kunde von unserer Schwäche unseren Feinden schnell zu Ohren kommen wird.«
Er sprach nicht von einem Gegenangriff. Auf eine vorsichtige Weise subtil, wie Nacoya es nicht war, erkannte Mara an seinem Schweigen, daß eine offene Zurschaustellung ihrer Streitkräfte nur zu leicht in einem Desaster enden konnte. Sie hatten nicht einmal genügend Krieger, um eine Bande von Needra-Dieben zu vertreiben. Wie tief die Acoma gesunken sind! dachte Mara. Sie gab ihre Zustimmung zu Keyokes Vorschlag, und der Kommandeur eilte davon, um seinen Soldaten die entsprechenden Befehle zu erteilen. Die Sänftenträger richteten sich auf; sie warteten begierig darauf, nach Hause zurückzukehren, wo ihr Essen auf den Tischen der Unterkünfte erkaltete. Die Lady jedoch war noch nicht soweit. Sie wußte, daß Nacoya sie schelten würde, weil sie sich dort länger als notwendig aufhielt, doch der Hauptgrund ihrer unmittelbaren Bedrohung schien der Mangel an neuen Kriegern zu sein. Der Gedanke an eine Heirat als einzige Lösung behagte ihr immer noch nicht, und so winkte sie Keyoke zu sich heran.
Er verbeugte sich; sein Gesicht war dunkel vom Schatten. »Die Nacht bricht heran, Mistress. Wenn ich Euch einen Rat geben darf, nehmt mein Angebot an, Euch zu begleiten. Eure Sicherheit könnte in der Dunkelheit bedroht sein.«
Ein Gefühl der Wärme durchströmte Mara, als sie der gleichen Eigenschaften gewahr wurde, die bereits Lord Sezu an seinem Kommandeur geschätzt hatte. Sie lächelte und nahm dankbar die Hilfe des alten Kriegers an, während sie sich wieder in die Sänfte begab. Dann sprach sie ihn direkt auf das vor ihnen liegende Problem an. »Habt Ihr bereits damit begonnen, neue Krieger zu rekrutieren?«
Keyoke gab den Trägern den Befehl zum Abmarsch, dann schritt er in gleichem Tempo neben ihr her. »Mylady, zwei unserer Männer haben mit Cousins in entfernten Städten Kontakt aufgenommen und nach jüngsten Söhnen gefragt, die in Euren Dienst treten könnten. In ein bis zwei Wochen werde ich zwei weiteren erlauben, einen solchen Versuch zu unternehmen. Wenn ich es schneller vorantreibe, wird schon bald jede Kaserne von Ambolina bis Dustari wissen, daß die Acoma kaum noch Soldaten besitzen.«
Licht flackerte in den Schatten auf, als die Männer an den Zäunen Laternen entzündeten, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Als sich die Sänfte der Herrin auf das Herrenhaus zubewegte, begann erst einer, dann ein anderer zaghaft zu singen, bis schließlich alle einstimmten. Mara war sich bewußt, daß ihrer aller Sicherheit von ihrer Entscheidung, ihrem Urteil abhing. »Sollen wir Verträge abschließen?«
Keyoke blieb stehen. »Söldner? Gewöhnliche Karawanenwächter?« Mit wenigen kräftigen Schritten hatte er die Sänfte wieder eingeholt. »Unmöglich. Sie wären nicht zuverlässig. Männer, die nicht durch einen Blutsschwur mit dem Natami der Acoma verbunden sind, wären mehr als nutzlos. Sie schulden Euch keine Ehre. Um Euch gegen die Feinde Eures Vaters zu wehren, benötigt Ihr jedoch Krieger, die Euch ohne Zögern gehorchen, die auf Euren Befehl hin sogar sterben würden. Zeigt mir einen Mann, der für Geld sterben würde, und ich schwöre Euch, ich nehme ihn in unsere Dienste. Nein, Lady, ein Haus heuert Söldner nur für einfache Aufgaben an, für das Bewachen von Lagerräumen, für Patrouillen zum Schutz gegen gewöhnliche Diebe. Und auch dies wird nur getan, um den freien Kriegern zu ermöglichen, ehrenvolleren Pflichten nachzugehen.«
»Dann brauchen wir Söldner«, sagte Mara. »Und wenn es nur deshalb ist, um die Grauen Krieger daran zu hindern, sich an unseren Needras zu mästen.«
Keyoke band den Helm los und fingerte in der zunehmenden Dunkelheit an den Federn herum. »Mylady, in besseren Zeiten ja. Aber nicht jetzt. Die Hälfte der Männer, die Ihr anheuern würdet, wären Spione. Da ich nur ungern Ehre an herrenlose Männer abtrete, müssen wir warten und akzeptieren, daß sich unsere Reihen nur langsam wieder auffüllen.«
»Und sterben.« Mara hatte sich noch längst nicht mit Nacoyas Vorschlag angefreundet, doch die Idee einer Heirat schien unausweichlich näher zu rücken. Voller Bitterkeit preßte Mara die Lippen zusammen.
Keyoke war verwirrt, da er eine solche Anwandlung bei dem Mädchen bisher noch nicht erlebt hatte. Er befahl den Sänftenträgern anzuhalten. »Mylady?«
»Wann wird der Lord der Minwanabi von dem Ausmaß des Schadens, den er mit seinem Verrat angerichtet hat, erfahren?« Mara hob den Kopf; ihr Gesicht war kaum mehr als ein blasses Oval zwischen den weißen Vorhängen. »Früher oder später werden seine Spione erfahren, daß das Herz dieses Hauses schwach ist und nur noch eine Handvoll gesunder Krieger zur Verfügung steht, obwohl wir die Illusion aufrechterhalten, als hätten wir ausreichenden Schutz. Auch unsere entfernteren Besitztümer sind nahezu am Ende und werden nur durch eine List am Leben gehalten – durch alte Männer und unausgebildete Jungen, die in Kriegsrüstungen aufmarschieren. Wir leben wie die Gazen, halten die Luft an und hoffen, daß der Harulth uns nicht zertrampeln wird! Doch diese Hoffnung ist trügerisch. Jeden Tag kann unser Spiel durchschaut werden, und dann wird der Lord, der unseren Untergang will, zu einem brutalen Schlag gegen uns ausholen.«
Keyoke setzte den Helm auf; langsam und nachdenklich befestigte er wieder den Riemen unter dem Kinn. »Eure Soldaten werden sterben, um Euer Leben zu schützen, Mylady«
»Genau das, Keyoke.« Nachdem sie einmal damit begonnen hatte, konnte Mara das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, das in ihr aufwallte, nicht mehr unterdrücken. »Sie alle werden sterben. Genau wie Ihr und Pape, selbst die alte Nacoya. Dann werden die Feinde, die meinen Vater und meinen Bruder ermordet haben, meinen Kopf und den Natami der Acoma zum Lord der Minwanabi bringen und … die Acoma werden für immer ausgelöscht sein.«
Schweigend ließ der alte Soldat die Hände sinken. Er konnte den Worten seiner Herrin nichts entgegensetzen, und ihm fiel nichts ein, womit er sie hätte beruhigen können. Mit ruhiger Stimme befahl er den Trägern, sich wieder in Bewegung zu setzen, auf das Herrenhaus zu mit seinen Lichtern und der trostspendenden Schönheit und Kunst, die das Herz des Acoma-Vermächtnisses bildeten.
Die Sänfte ruckelte leicht, als die Sklaven die unebenen Wiesen verließen und den Kiesweg betraten. Beschämt über ihren Ausbruch löste Mara die Befestigung des Vorhangs wieder, um sich vor den Blicken der anderen zu schützen. Keyoke war einfühlsam genug, um damit zu rechnen, daß sie weinen könnte, und so blickte er starr und förmlich nach vorn. Ehrenvoll zu überleben erschien ihm wie eine unerreichbare Hoffnung, seit Lord Sezu und sein Sohn gestorben waren. Doch um des Wohls seiner Herrin willen, deren Leben er bewachte und schützte, widersetzte er sich der Überzeugung, die inzwischen unter den anderen überlebenden Kriegern verbreitet war: der Gedanke nämlich, die Götter würden dieses Haus mit Mißfallen betrachten, und das Glück der Acoma wäre unwiderruflich im Schwinden begriffen.
Maras Worte rissen den Kommandeur aus seinen Gedanken. Eine unerwartete Entschlossenheit lag in ihrer Stimme. »Keyoke, wenn ich sterben würde und Ihr würdet mich überleben, was wäre dann?«
Keyoke deutete auf die Hügel, die hinter ihnen lagen; dorthin hatten sich die Plünderer mit ihrer Beute zurückgezogen. »Wenn ich nicht Eure Erlaubnis hätte, mir mit der Klinge das Leben zu nehmen, würde ich genau wie sie werden, Mistress. Ein Wanderer, herrenlos und allein, ohne Ziel und Identität, ein grauer Krieger ohne Möglichkeit, die Farben eines Hauses zu tragen.«
Mara schob den Vorhang mit einer Hand zurück, so daß sie durch eine kleine Lücke hinaussehen konnte. »Diese Banditen, sind das alles solche Männer?«
»Zum Teil. Einige sind gewöhnliche Verbrecher, andere Diebe und Räuber, ein paar Mörder. Viele jedoch sind Soldaten, die ihre Herren überlebten.«
Die Sänfte bewegte sich jetzt auf den Innenhof des Herrenhauses zu, wo Nacoya mit einigen Bediensteten wartete. Mara fuhr rasch fort: »Sind es ehrbare Männer, Keyoke?«
Der Kommandeur sah seine Herrin ohne jeden Hinweis auf einen Vorwurf an. »Ein Soldat, der nicht zu einem Haus gehört, kann keine Ehre besitzen, Mistress. Bevor sein Herr starb? Ich vermute, die Grauen Krieger waren einst gute Männer, doch den Herrn zu überleben ist ein Zeichen, daß man das Mißfallen der Götter erregt hat.«
Die Sänfte war jedoch im Innenhof angekommen, und die Träger setzten sie mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck ab. Mara streifte die Vorhänge zurück und ließ sich von Keyoke beim Aussteigen helfen. »Kommandeur, ich möchte, daß Ihr heute nacht in meine Gemächer kommt, sobald Eure Kundschafter von den Hügeln zurückgekehrt sind. Ich habe einen Plan mit Euch zu besprechen, während alle anderen schlafen.«
»Wie Ihr wünscht, Mistress.« Keyoke verbeugte sich und preßte salutierend die Faust gegen die Brust. Für einen kurzen Augenblick jedoch, als Diener mit Laternen auf sie zueilten, sah sie eine Spur von Anerkennung auf dem vernarbten Gesicht des Kriegers.
Das Treffen zwischen Mara und Keyoke zog sich bis tief in die Nacht hin. Die Sterne glitzerten wie Eis. Das gekerbte, kupfergoldene Profil von Kelewans Mond stand im Zenit, als der alte Krieger den Helm aufnahm, der neben seinen Knien gelegen hatte. »Mylady, Euer Plan ist von gefährlicher Kühnheit. Doch da niemand einen Angriff von einem Gazen erwartet, könnte er funktionieren.«
»Er muß funktionieren!« Mara richtete sich in der Dunkelheit auf. »Wenn nicht, ist unser aller Stolz so gut wie dahin. Es bringt nicht viel Ehre, wenn ich als Gegenleistung für eine Heirat um Sicherheit bitten muß; es würden nur jene belohnt, die uns mit intriganten Plänen zu zerstören trachteten. Unser Haus wäre nicht länger ein wichtiger Spieler im Spiel des Rates, und die Geister meiner Ahnen wären aus dem Gleichgewicht. Nein, ich glaube, mein Vater hätte hierzu gesagt: ›Nicht immer ist Sicherheit das Wichtigste.««
Keyoke verschloß den Helm mit einer Sorgfalt, die der Vorbereitung auf einen Kampf ähnelte. »Wie Mylady wünscht. Aber ich beneide Euch nicht um die Aufgabe, Nacoya davon zu berichten.« Er verbeugte sich, stand auf und ging zu dem Fensterladen, der nach draußen führte.
Er schlüpfte hindurch und trat nach draußen. Mondlicht tauchte die Blumenbeete in sattes Gold. Die Gestalt des Kommandeurs war vor dem hellen Licht nur als Silhouette zu erkennen, und es schien, als wären seine Schultern aufrechter, seine Haltung etwas weniger angespannt. Mara erkannte erleichtert, daß Keyoke es vorzog, die Probleme der Acoma auf militärische Weise zu lösen. Er ging lieber das Risiko eines solchen Plans ein, als daß er die Familie der Acoma durch eine Heirat an die Gnade eines stärkeren Hauses fesselte. In einer Mischung aus Furcht und freudiger Erregung öffnete sie ihre verkrampften, feuchten Finger.
»Ich werde zu meinen Bedingungen heiraten – oder gar nicht«, murmelte sie in die Nacht hinaus. Dann lehnte sie sich in die Kissen zurück. Der Schlaf kam nur zögernd. Die Erinnerungen an Lano vermischten sich mit den Gedanken an die jungen, prahlerischen Söhne großer Häuser, von denen sie schließlich einen würde als Freier auswählen müssen.
Als der Morgen anbrach, war es bereits sehr warm. Ein trockener Wind wehte aus dem Süden und ließ nur in geschützten Senken noch etwas Feuchtigkeit aus der Regenzeit übrig. Die Needras, die auf die Weiden getrieben wurden, wirbelten ockerfarbene Staubwolken auf. Mara saß im inneren Garten im Schatten der Bäume und ließ sich von dem Plätschern eines reichverzierten Springbrunnens beruhigen. Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid aus Saffron und wirkte jetzt sogar noch jünger als siebzehn; ihre Augen waren zu hell und ihr Gesicht überschattet von Schlafmangel. Dennoch hatte ihre Stimme einen gebieterischen Ton, als sie Nacoya herbeirief.
Die alte Amme kam rasch zu ihr – griesgrämig wie immer um diese Tageszeit. Maras Ruf mußte sie während des Ankleidens erreicht haben, denn ihr Haar war nur eilig zurückgebunden. Mit verärgert zusammengepreßten Lippen verneigte sie sich brüsk. »Mylady wünschen?«
Die Lady der Acoma erteilte ihr mit einer Geste die Erlaubnis, sich zu setzen. Nacoya lehnte ab; ihre Knie schmerzten, und sie hatte keine Lust, um diese frühe Stunde mit einem dickköpfigen Mädchen zu streiten, deren Halsstarrigkeit die Ehre ihrer Ahnen in den Ruin treiben würde.
Mara lächelte ihre frühere Amme freundlich an. »Nacoya, ich habe über deinen Rat nachgedacht und die Weisheit erkannt, die in einer Heirat als Mittel zur Bekämpfung unserer Feinde liegt. Bereite bitte eine Liste mit möglichen Kandidaten vor, die du für akzeptabel hältst, denn ich werde Hilfe brauchen, um einen geeigneten Mann zu finden. Und jetzt geh. Wir werden zu einem anderen Zeitpunkt weiter darüber reden.«
Nacoya blinzelte; diese Meinungsänderung verwirrte sie ganz offensichtlich. Dann kniff sie die Augen zusammen. Sicherlich verbarg sich hinter einem solchen Einverständnis eine andere Absicht, doch der Brauch der Tsurani gestand den Bediensteten keinerlei Recht auf Kritik und Zweifel zu. Nacoya war überaus mißtrauisch, hatte jedoch keine andere Wahl, als sich der Aufforderung zu fügen und zu gehen. Sie verneigte sich. »Wie Ihr wünscht, Mistress, und möge Lashimas Weisheit Euch leiten.«
Schlurfend schritt sie davon, dabei murmelte sie leise vor sich hin. Mara nahm einen Schluck Chocha; sie entsprach ganz und gar dem Bild einer vornehmen Lady Dann, nach einer angemessenen Pause, gab sie ihrem Läufer leise einen Auftrag: »Laß Keyoke, Papewaio und Jican zu mir kommen.«
Die beiden Krieger waren bei ihr, noch bevor sie ihre Tasse geleert hatte. Keyoke trug seine glänzendpolierte Rüstung, und auch Papewaio war bewaffnet. Das schwarze Band der Verdammten war so ordentlich an seinem Kopf befestigt wie die Schärpe, an der sein Schwert hing. Wie Nacoya vorausgesagt hatte – er verhielt sich wie ein Mann, der eine ehrenvolle Auszeichnung für besonderen Mut erhalten hatte. Ansonsten war sein Gesichtsausdruck unverändert. In ihrem ganzen Leben gab es nur wenige Dinge, die so beständig waren wie Papewaio, dachte Mara.
Sie nickte der Dienerin mit der Kanne Chocha zu, und dieses Mal nahm auch Pape einen Becher von dem dampfenden Getränk.
Keyoke trank davon, ohne seinen Helm abzusetzen; ein sicheres Zeichen, daß er gerade über strategische Fragen nachdachte. »Es ist alles bereit, Mistress. Pape hat die Verteilung der Waffen und Rüstungen vorgenommen, und Befehlshaber Tasido kümmert sich um das Exerzieren. Solange es keinen Kampf gibt, werden Eure Krieger einen überzeugenden Eindruck hinterlassen.«
»Das ist gut genug.« Zu nervös, um ihre Chocha auszutrinken, legte Mara die schwitzenden Hände in den Schoß. »Jetzt brauchen wir nur noch Jican, damit er den Köder vorbereitet.«
Genau in diesem Augenblick trat der Hadonra in den Garten. Atemlos und schweißgebadet verneigte er sich, als wäre er in großer Hast hergeeilt. Seine Kleidung war staubig, und er trug noch immer die Tafel, auf der er seine Eintragungen gemacht hatte, als die Needra-Herden auf die Weiden getrieben wurden.
»Ich bitte um Vergebung für meine unordentliche Erscheinung, Mistress. Auf Euren eigenen Befehl hin sind die Hirten und Sklaven –«
»Ich weiß, Jican.« Mara schnitt ihm das Wort ab. »Eure Ehre ist nicht gemindert und Euer Pflichtbewußtsein bewundernswert. Nun, haben wir Korn und andere Güter im Lager, um eine Handelskarawane aufzustellen?«
Der Hadonra, verwirrt von dem Lob und dem völlig unerwarteten Themawechsel, reckte die Schultern. »Wir haben sechs Wagenladungen von Thyza niederer Qualität. Sie wurden zur Needra-Mast zurückgehalten, doch diejenigen, die nicht gebaren, kommen auch ohne sie aus. Die letzten Kälber wurden vor zwei Tagen entwöhnt. Wir haben einige Felle, die sich zum Verkauf an die Sattler eignen.« Jican verlagerte unmerklich das Gewicht und bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen. »Es würde eine kleine Karawane werden, und weder das Korn noch die anderen Güter könnten wirklichen Profit versprechen.« Er verbeugte sich ehrerbietig. »Es wäre besser zu warten, bis die marktfähige Produktion heranreift.«
Mara ignorierte den Vorschlag. »Ich möchte, daß eine kleine Karawane vorbereitet wird.«
»Ja, Mistress.« Die Knöchel des Hadonra wurden weiß, so fest hielt er die Tafel umklammert. »Ich werde unseren Unterhändler in Sulan-Qu –«
»Nein, Jican.« Mara stand abrupt auf und trat an den Springbrunnen. Sie streckte die Hand aus und ließ das Wasser durch die Finger gleiten, als wären es Juwelen. »Ich möchte, daß diese Karawane nach Holan-Qu reist.«
Jican blickte Keyoke verwirrt an, aber er sah keine Spur von Mißbilligung auf dem gefurchten Gesicht des Kommandeurs. Unruhig drängte er: »Mistress, ich gehorche Eurem Wunsch, doch trotzdem sollten Eure Güter zunächst nach Sulan-Qu geschickt werden, von da aus flußabwärts und dann von Jamar weiter per Schiff.« Es klang beinahe wie eine Bitte.
»Nein.« Tropfen rannen über die marmornen Fliesen, als Mara die Faust schloß. »Ich möchte, daß die Wagen den Landweg benutzen.«
Wieder warf Jican einen Blick auf Keyoke; doch der Kommandeur und sein Leibwächter standen da wie von der Sonne getrocknete Ulo-Bäume und sahen vorschriftsmäßig geradeaus. Der Hadonra bemühte sich, seine Aufregung unter Kontrolle zu bringen, und setzte noch einmal an: »Lady, die Bergstraße ist gefährlich. Banditen lauern in großer Anzahl in den Wäldern, und wir besitzen nicht genug Krieger, um sie vertreiben zu können. Um die Sicherheit einer solchen Karawane zu gewährleisten, müßten wir das Haus ungeschützt lassen. Ich muß dringend davon abraten.«
Mit einem mädchenhaften Lächeln wandte sich Mara vom Springbrunnen ab und widmete sich wieder den drei Männern. »Die Karawane wird keine Kräfte von der Verteidigung des Hauses abziehen. Papewaio wird eine Kompanie handverlesener Männer anführen. Ein Dutzend unserer fähigen Soldaten müßte genügen, um die Banditen aufzuhalten. Sie haben unsere Herden bereits geplündert und benötigen keine Nahrung mehr, und Wagen, die nur von wenigen Wachen umgeben sind, dürften für sie uninteressant sein, da sie offensichtlich Waren ohne großen Wert transportieren.«
Jican verneigte sich mit unbeweglichem Gesichtsausdruck. »Dann wäre es vielleicht klüger, gar keine Wachen mitzunehmen.« Seine Haltung verriet völlige Ungläubigkeit; um sie von einem Irrtum abzubringen, riskierte er sogar die für ihn unehrenhafte Mißbilligung seiner Herrin.
»Nein.« Mara umwickelte die tropfenden Finger mit den weichen Falten ihres Umhangs. »Ich brauche eine Ehrenwache.«
Einen kurzen Augenblick spiegelte sich blankes Entsetzen auf Jicans Gesicht, dann verschwand er wieder. Wenn seine Herrin wirklich vorhatte, dieses Unternehmen durchzuführen, konnte es nur ein Ausdruck dafür sein, wie sehr die Trauer ihrem Verstand geschadet hatte.
»Geht jetzt, Jican«, sagte Mara, »und kümmert Euch um meine Anordnungen.«
Der Hadonra sah Keyoke aus dem Augenwinkel an, als wäre er überzeugt, daß der Befehl seinen Widerstand hervorrufen würde. Doch der alte Kommandeur zuckte nur leicht mit den Schultern, als würde er fragen: Was ist da zu tun?
Jican zögerte noch und verharrte, auch wenn die Ehre es verbot, daß er sich ihrem Befehl widersetzte. Mara sah ihn mit strengem Blick an, und er wurde sich seiner demutsvollen Rolle wieder bewußt. Schnell verneigte er sich und verschwand mit hängenden Schultern. Gestern noch hatte sich die Lady der Acoma seines Lobes würdig erwiesen; jetzt aber schien sie nicht einmal die niederen Instinkte zu besitzen, die Lashima einer Needra schenkte.
Die in einiger Entfernung wartenden Bediensteten hüllten sich in gemessenes Schweigen, und Keyoke bewegte keinen Muskel unter dem wippenden Federbusch seines Helms. Nur Papewaio begegnete dem Blick seiner Herrin. Die Falten in seinen Mundwinkeln vertieften sich leicht. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er lächeln, auch wenn seine übrige Erscheinung so formell und unerschütterlich blieb, wie es seinem Stand entsprach.