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Wieder träumte sie von der Steinzeit. Beim Erwachen war sie enttäuscht, weil die Bilder so schnell schwanden und nur Kälte und seltsame, fremdartige Gerüche zurückließen. Wie lebhaft war doch die Erinnerung an jenen großen Hügel gewesen, wie durchdringend der Klang der primitiven Meißel auf den Steinen, der in der stillen Sommerluft widerhallte. Und die vertrauten Gesichter, die sich in dem kleinen Raum drängten, und das erregte Geplapper, das in der feuchten Enge des Grabgewölbes so unwirklich und hohl klang. Flackerndes Licht hatte die Felswand erhellt, die den Gang begrenzte … Schmerz und Lust hatte sie erlebt … doch als sie beim Erwachen daran dachte, waren es nur bedeutungslose Worte, und geblieben war ihr das Gefühl hohen Alters, rätselhaften, bizarren Tuns in der Morgendämmerung der menschlichen Kultur … Alles Vorherige war Traum gewesen.
Der Traum zerfiel, doch Elspeth Mueller blieb noch ein paar Minuten liegen und wartete ab, bis die Nachbilder sich völlig aufgelöst hatten und der Wald, in den sie blickte, volle Wirklichkeit gewann. Das Lustgefühl verging, doch nicht der Schmerz. Der Schmerz blieb.
Ein Weilchen später richtete sie sich auf, um ihr Fußgelenk zu untersuchen, das in dem niedrigen Unterschlupf, einem flüchtig aus Blaurinde und totem Gestrüpp errichteten Zelt, seine Schwierigkeiten hatte. Die Schnittwunde war tief, alles war voller Blut. Es war auf ihren Unterschenkeln getrocknet und hatte das weiße Leder ihrer Mokassins durchdrungen, an denen sie stundenlang gearbeitet hatte und auf die sie so stolz war. Sie zog den Schuh von dem verletzten Fuß und erschauerte vor der fettigen Imprägnierung, weil ihr einfiel, woher das Fett stammte. Zögernd berührte sie den klaffenden Schnitt und zog unter Schmerzen die Wundränder auseinander. Ein spitziges Stück Blaurinde, Teil des bogenförmigen Rahmens ihres Unterschlupfs, war ihr, während sie schlief, in den Knöchel gedrungen. Vielleicht war es, da es unter Spannung gestanden hatte, abgesprungen; irgendwann in der langen Nacht hatte sie sich aufgespießt. Erwacht war sie nicht, aber noch im Traum hatte sie den Schmerz verspürt.
An diesen Schmerz, der ihren zweiten, unterbewußten Besuch jenes steinzeitlichen Hügels begleitet hatte, erinnerte sie sich jetzt wieder. Und an einen anderen. Seltsam, wie sich diese beiden, viele Jahre auseinanderliegenden elementaren Ereignisse so vage und doch in einem so logischen Zusammenhang vereinigen konnten – während eines kurzen Traumes, eines kurzen Transzendierens aus der normalen Zeit. Ein fast tödlicher Schmerz in der Kindheit und ein Erlebnis der jüngsten Vergangenheit (die Erforschung des Hügelgrabes) waren im Halblicht ihres schlummernden Geistes zusammengeflossen.
Schmerzen waren ihr vertraut. Der rituelle Schmerz in ihrer Pubertät, der letzte, kaum noch ertragbare Eingriff bei der Jungfrauenweihe, und zwar einer ganz speziellen Form derselben – der Weihe zur magda, das heißt zur Frau ohne Brüste, ohne Kinder –, verfolgte sie jetzt immer öfter und stärker in den Stunden des Schlafes …
Als ob mein Hirn das Schwinden des Gedächtnisses spürt – und sie berührte ihre Brust –, als ob es wüßte, wie bald ich vergessen werde …
Doch in jenem alten Tal auf dem Planeten Erde hatte sie keine Schmerzen gehabt. Gewiß, es schmerzte, wenn die anderen über ihre fast abseitige Fremdartigkeit lachten und ihre Witze machten, wenn eine Freundschaft, die auf ganz natürliche Weise zur Liebe reifte, dann welkte und abgeschnitten wurde, weil ihr das fehlte, was jenes Ritual ihr genommen hatte.
Diese Jahre, diese zwanzig Jahre, die sie in der normalen Gesellschaft verbrachte, hatten vergiftet, was an ihrer Jungfrauenweihe schön gewesen war. Wenn sie jetzt an ihren Heimatplaneten dachte, so erschien er ihr als eine brutale Welt von barbarischen Sitten, eine schreckliche Welt, die hinter ihren Jalousien aus Stahl und Glas so primitiv war wie der Aeran mit seinen Schleudern und Steinen.
Und doch – sie berührte die beiden blitzenden Juwelen, die fest und tief in die Haut ihrer Brust eingenäht waren –, und doch ist die Erde in mir, in meiner ganzen Rasse. Erde und Stein, eng verbunden mit dem blutvollen Leben meines Leibes …
Vielleicht deswegen fühlte sich Darren – fast noch ein Knabe, doch schon ein sehr erfahrener Jäger – von ihr so stark angezogen.
,Steinfrau’ nannte er sie, und diesen Namen hatte er ihr aus Respekt und Zuneigung gegeben. Und seit kurzem sagte er ‚meine Steinfrau’.
Sie lächelte bei dem Gedanken und blickte durch den weiten Einschlupf ihres Schlafschirms auf die riesigen, feuchten Wedel der Blaurindenbäume, die schlaff im dichten Wald hingen, den Frühnebel aufsogen und in dem kaum spürbaren Wind, der im Laubdach wie in einem Filter hängenblieb, leise schwankten. Eine Fremde zu lieben, sich mit einer nue, einer Jenseitlerin zusammenzutun, mit einer nackthäutigen, schwarzhäutigen Fremden von jenseits der Luft und des Himmels …
Und wie würde es sich auf sein Ansehen im crog auswirken? Welche Gedanken schwirrten durch die rauchige Luft hinter jenen Erdwällen?
Die meisten hatten es hingenommen, die Ältesten, der Seher, die Erd-, Wind- und Steinsänger; sie hatten es jedenfalls nicht geradezu verwerflich gefunden.
Geräusche: der Wind hoch überm Wald, der in Wirklichkeit durch die verfilzten grünen und rosafarbenen Gewächse gar nicht bis nach unten drang; das leise Zischen der Lichtsammler-Ranken, spielend wie züngelnde Schlangenzungen hoch überm Laubdach.
Geräusche: das Schnattern der skitch, die für eine Stunde oder so von der Windung des Flusses herüberkamen und gewisse saftige ‚Würmer’ suchten, die während der Nacht in das warme Unterholz heraufkamen, bis Kühle und Morgenröte sie wieder in den moosigen Boden zurücktrieben.
Geräusche: das explosionsartige Keuchen eines gup, der rückwärts von Ast zu Ast hüpfte, auf der Flucht vor irgendeinem unsichtbaren Schrecknis, einer plattzähnigen Schlingpflanze vielleicht oder einem Schnappdrachen (jawohl, Schnappdrachen; sie konnte das stakkatierte Schnappen dieser schleimigen Monstren hören, eines ganzen Schwarmes, stellte sie sich vor, der durch den Blaurindenbaum strich und alles verschlang, was in diesem ‚Baum’ wohnte).
Etwas später mischte sich ein neuer Laut in diese Symphonie fremdartiger Waldgeräusche. Stimmen – Plappern und Lachen eines Mädchens, zorniges Grunzen eines Jungen. Sie waren nicht so nahe, wie es den Anschein hatte; die Blaurindenwedel mit ihrer speziellen Leitfähigkeit trugen die Waldgeräusche meilenweit. Die Gruppe konnte Meilen entfernt sein, kam vielleicht gerade aus dem crog, freudig erregt von der Aussicht auf einen Ganztags-Jagdausflug den Fluß hinunter oder in die scree-Ebene vor dem Marschland.
Elspeth streckte die Beine aus, so daß ihre Füße aus dem schützenden Schlafschirm hervorsahen. Strömend rann das Blut von der klaffenden Wunde in das Moos, das wie ein dicker schwammiger Teppich den Boden der Lichtung deckte. Und wie ein Schwamm absorbierte das Wedelmoos die seltsame fremde Flüssigkeit, so daß keine Spur zurückblieb als der Geruch nach rohem Fleisch.
Bin ich rohes Fleisch? Für ein Tier ist jedes andere Tier nur eben das – lebendes, rohes Fleisch, Blut schmeckt wie Fleisch. Ich schmecke wie Blut. Natürliches, lebendes, pulsierendes Fleisch, nach Verwesung stinkend. Ich bin Verwesung. Wie seltsam.
Und sie starrte auf die schmerzende Wunde an ihrem nackten Körper, an dem etwas fehlte.
Merkwürdig. Es ist so lange her, daß …
Ihr Schiff, ein treuer Diener, ein segelnder Stern unter Sternen, so hoch über ihr – jahrelang hatte das Schiff sie beschützt, Schmerzen, Wunden, Krankheiten von ihr abgehalten. Sie hatte fast vergessen, was es heißt, normal zu funktionieren. Zum erstenmal in ihrem Leben als Erwachsene wußte sie jetzt, was es heißt, ganz Mensch zu sein.
Wo bleibt dieses Jungvolk?
Sie konnte ihre Stimmen hören, die schwebend durch den stillen Dschungel widerhallten. Sie rannten durch den Nebel, folgten instinktiv dem ungebahnten Pfad bis zu der kleinen Lichtung, wo Elspeth und Darren das Schlafzelt gebaut hatten. Es hörte sich an, als seien sie erregter als sonst, vielleicht weil heute der Tag war, an dem sie der Jenseitlerin, ihrer seltsamen haarlosen Freundin (und der ‚festen Frau’ Darrens, des ältesten der drei Jünglinge) zeigen wollten, wie man Schwarzflügler mit der Schlinge fängt.
So viele Stunden hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, so viele verzweifelte Stunden …
Plötzlich fiel ihr ein, wie lange sie schon auf dem Aeran war, und ihr Herz setzte aus. Sie blickte auf die winzige Uhr, die sie immer noch am linken Handgelenk trug. Die grünen Ziffern wechselten flackernd und zählten die vertrocknenden Sekunden. Beinahe einhundert Stunden. Seit fast einhundert Stunden war sie auf festem Boden.
Lange bevor sie den Orbit des Aeran erreicht hatte, war ihr klar gewesen, daß ihr Aufenthalt auf dem Planeten begrenzt sein mußte, oder … nun, es war und blieb unwahrscheinlich und phantastisch, so grauenvoll überzeugend es auch sein mochte, so erschreckend es war, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. (Weißt du noch – Austin, der seine Angst, seine schleichende Zerstörung hinausschrie, ein Geisteskranker, von dem verzweifelten Wunsch erfüllt, sich an den Rest dessen zu klammern, was er einmal gewesen war …?)
Sie hatte sich dieses willkürliche Limit von hundert Stunden gesetzt. Länger durfte sie keinesfalls bleiben, wollte sie dem entgehen, was Austin kaputtgemacht hatte. Sie war über zwei Standardmonate im Orbit gewesen, hatte ein paar Stunden in den Ausläufern des crog verbracht, oder war zusammen mit ‚festen Paaren’ auf Jagdausflügen gewesen; doch jetzt (und das war ein Gunstbeweis) befand sie sich schon einen vollen Aeran-Tag auf dieser winzigen Lichtung, nackt bis auf ein Paar Mokassins und einen Ledergürtel, an dem ein roh zurechtgeschnitztes Knochenmesser hing. Das gehörte zur Vorbereitung auf ihre erste Jagd, bei der sie den ersten Begriff von diesem fremden Ritual bekommen würde. Und damit hatte sie ihre gesetzte Zeit fast aufgebraucht. Zehn Sekunden – mit wachsendem Schrecken sah sie zu, wie die letzten Augenblicke der Sicherheit verflogen.
Fünf Sekunden – die Stimmen Darrens und der anderen wurden lauter. Zwei Sekunden – sie schüttelte den Kopf, griff nach der Uhr und löste sie vom Handgelenk.
Hundert Stunden waren gekommen und gegangen. Sie riß sich die Uhr vom Arm, schleuderte sie von sich, tief in den Busch, setzte sich zitternd hin und wartete auf ihre Freunde.
Gewiß fühlte sie sich nicht anders als vorher, abgesehen davon, daß sie nun völlig dem Tod anheimgegeben war. Nicht dem Tod im physischen Sinne; sie wußte recht gut, daß dieser Tod immer gegenwärtig ist, daß sie von dem Augenblick, da sie aus dem Mutterleib herausgeschlüpft war, erst langsam, dann schneller und immer schneller den Weg zur Verwesung hinabglitt. Nicht diesen Tod, sondern den Tod alles dessen, was sie gewesen war, was sie jetzt war, was sie einst zu werden gehofft hatte. Wieviel Zeit ihr noch verblieb, wußte sie nicht. Sie hatte nicht herausbekommen, wie lange Austin auf dem Aeran gewesen war, ehe er merkte, was mit ihm geschah. Dieser willkürlich angesetzte Zeitraum war ohne jede Grundlage. Selbst hundert Stunden konnten schon zuviel sein. Doch das Überschreiten dieses selbstgesetzten Limits bedeutete, daß sie sich der Vertilgung anheimgegeben hatte, und sie hatte es so leichten Herzens, so ganz ohne Reue getan. Sie würde ihre eigene Vergangenheit sehr sorgfältig beobachten und ihr Verblassen genauestens registrieren.
Elspeth kroch unter dem primitiven Schutzschirm hervor, reckte sich zu voller Höhe und streckte die Glieder. Kälte, Feuchtigkeit, Beengtheit störten sie nicht, das hatte sie sehr bald gemerkt. Das nächtliche Leben des Waldes war lästig, und ihre Unterschenkel waren voller weißer Blasen: Dort hatten Gelbstecher während ihres leichten Schlummers an ihr gesogen. Die Blasen kamen nicht von den Bissen, sondern von der Immunreaktion ihres Körpers auf die peitschenförmigen Parasiten, welche die Gelbstecher ihr injiziert hatten. Keiner war sehr tief ins Körpergewebe eingedrungen. Der Schmerz in ihren Muskeln verging schnell; was blieb, war der ganz natürliche, permanente Schmerz ihrer Beinwunde.
Wie Elspeth Mueller so zur vollen Höhe ausgereckt dastand, maß sie über sechs Fuß und war einen halben Kopf größer als Darren, der für einen Aerani ziemlich groß war. Daß sie größer war als er, beeinträchtigte ihre Beziehung in keiner Weise. Damals, vor vielen Wochen, hatte sie dem jungen Jäger genau erklärt, wer sie war und woher sie kam, und obwohl es den Diskussionen über ihren ethnischen Ursprung ein Ende setzte, glaubte sie dann, es könnte ein Fehler gewesen sein und den Aufbau kultureller Beziehungen stören. Doch der crog hatte sich bald an ihre Größe gewöhnt.
Für die Männer des Aeran war ihre dunkelbraune Haut sexuell unattraktiv; sie machten sich über ihre Hautfarbe lustig. Darren jedoch blieb nicht an dieser Äußerlichkeit hängen; für ihn war sie nicht nur eine komische nue (das hieß: haarloses, männliches oder weibliches menschliches Wesen). Elspeth zweifelte nicht, daß er etwas für sie fühlte, das fast schon Begehren war. Schließlich hatte er sie gefragt, ob er ihr ‚fester Mann’ sein dürfe, und das war ein so offensichtliches Zeichen des Begehrens, wie sie in ihrem kurzen Leben nur je eines erlebt hatte.
Bisher hatte sie ihre Zustimmung noch nicht gegeben, doch sie sah durchaus ein, daß es ihr, wie er sagte, helfen würde, die innere Düne des crog betreten zu dürfen, die ihr zur Zeit noch verboten war.
Doch auf einmal kam Darren aus dem Unterholz herausgesprungen, heftig atmend, aber grinsend, ein Kristallmesser in der Hand, das er sonst an einer dünnen Lederschnur um den Hals trug. Zwei andere junge Männer folgten ihm, und dann kamen zwei jüngere Mädchen. Die beiden Männer kannte sie. Engus und Laurian hießen sie. Kräftige Kerle und ziemlich blutdürstig. Sie hatte gesehen, wie gut sie mit Stein, Schleuder und Speer umgehen konnten, doch sie genossen kein so hohes Ansehen wie Darren. Laurian hatte sogar beim Initiationsritual versagt und galt eigentlich überhaupt nichts, doch zu gegebener Zeit würde er es erneut versuchen. Inzwischen boten Darren und Engus ein Beispiel für einen sympathischen Zug des Lebens auf dem Aeran: Freundschaften wurden auf Dauer geschlossen. Sie hatten Laurian nicht fallengelassen, wie Elspeth erwartet haben würde, wenn sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie die Leute im Walde lebten.
Darren war schlanker und größer als die beiden. Er mußte zu Elspeth aufsehen, was er nicht gern tat, aber die meisten anderen in der Kolonie überragte er. Er hatte ein recht ansprechendes Gesicht unter seinem langen gelben Haar, das schlaff und dreckig um seinen Nacken hing. Sein Körperhaar schien dichter als bei den anderen zu sein; es war dunkelgelb (an manchen Stellen fast orangefarben) und sah eher wie enganliegende Bekleidung aus als wie ein Fell.
Nur oberhalb der Kinnbacken war sein Gesicht nackt und rötlich. Und ebenso, wenigstens manchmal, auch sein Geschlechtsteil.
Die beiden Mädchen waren ebenso pelzig, nur waren bei der jüngeren, die noch in der Pubertät war, große Flächen von Brust und Schultern unbehaart. Elspeth kannte dieses Mädchen nicht, doch kannte sie das andere: Brigedd, Laurians ‚feste Frau’. Brigedd fühlte sich in dieser Stellung nicht wohl, da Laurian das strenge Initiationsprogramm nicht durchgehalten hatte (es war in der Hauptsache eine Prüfung der körperlichen Widerstandsfähigkeit), während sie selbst es ohne weiteres geschafft hatte. Daher hatte Elspeth trotz ihrer kurzen Bekanntschaft mit dem Pärchen den Eindruck, daß sie ständig stritten und im ganzen sehr unglücklich miteinander waren. Gelegentlich sprach Darren davon, Brigedd bald einmal zu ‚stehlen’ – er sagte es nur, wenn Laurian in Hörweite war, und der Nicht-Krieger wurde jedesmal wütend. Aber er war noch nicht berechtigt, Darren zum Zweikampf herauszufordern.
Sie umstanden Elspeth. „Das ist Moir“, sagte Darren und legte den Arm um die Schulter des jüngeren Mädchens. „Meine Schwester.“
Moir blickte zu der hochgewachsenen Negerin auf und schob den Unterkiefer ein paarmal hin und her, was eine zurückhaltende Begrüßung sein sollte. Sie ist sehr hübsch, dachte Elspeth; das wären richtig schöne Menschen, wenn sie nicht am ganzen Körper so behaart wären.
„Elspeth ist gut Freund.“ warf Brigedd hin, und die Jüngere lächelte verlegen. „Hallo.“
„Hallo, Moir. Deine erste Jagd?“
„Sie jagt nicht“, sagte Engus finster. (Warum war er immer so schlechtgelaunt?) „Sie sieht zu. Das heißt, daß ich auch zusehe.“
Elspeth wurde plötzlich klar, daß Moir Engus’ ‚feste Frau’ war. Darrens Schwester! Paßte das Darren nicht? Schon möglich.
Elspeth merkte, daß Darren und Engus sie von oben bis unten musterten. Sie spürte, daß sie rot wurde, und kämpfte mit sich, um nicht die Hände herunterzunehmen und sich zu bedecken. „Seht mich nicht so an!“
Darren lächelte und blickte ihr mit seinen blauen Augen frech ins Gesicht. „Warum denn nicht?“
„Schon gut. Wann gehen wir los?“
„Sobald wir können“, entgegnete Darren.
„Sie hat noch keine Symbole eingekratzt“, sagte Brigedd. Elspeth bekam Herzklopfen. Das Mädchen lächelte sie an, denn sie wußte, wie fasziniert Elspeth von den Symbolen war, die das Volk des crog benutzte. Jetzt erst bemerkte sie die tiefen Wunden auf Brigedds Armen – gerade erst begannen sie zu heilen. Sie mußte schwer gekämpft haben. Als sie Elspeths prüfenden Blick sah, berührte sie vorsichtig ihren linken Arm. „Ein Duell“, erläuterte sie; „ich habe gewonnen.“
Das muß wohl so sein, dachte Elspeth, denn sie wußte, daß die Duelle der Aerani bis zum bitteren Ende gingen. Ihre Duellvorschriften waren sehr kompliziert, ein Teil ihrer Kultur, den sie nicht völlig verstehen würde, solange sie das Gebiet hinter den Dünenwällen nicht betreten durfte.
Doch Elspeth wollte auf das Einritzen der Symbole zu sprechen kommen. „Gewiß“, sagte sie bereitwillig, „ich habe meine Pflichten noch nicht erfüllt. Wer zeigt es mir?“
„Ich natürlich“, sagte Darren. Auch er wußte, wie es sie erregte, wenn sie bei der Ausführung der komplizierten Symbole zusah, mit denen die Kolonisten (war diese Bezeichnung überhaupt noch angebracht?) jeden wichtigen Punkt ihres Lebens markierten. Wahrscheinlich wußte er auch, daß sie nicht so sehr an der Schwarzflüglerjagd interessiert war als daran, die Symbole selbst zu machen und sie sich von ihm erklären zu lassen. Heute würde ihr, wenn sie Glück hatte, ein kleiner Durchbruch zum Verständnis des Geschehens auf dieser Welt, dem Aeran, gelingen. Und heute würde sie, wenn sie überhaupt Glück hatte, einen großen, wichtigen Schritt zum Verständnis eines Mysteriums tun, das seit über siebentausend Jahren Bestand hatte und eine rätselvolle Attraktion für Touristen war.
Sie verband sich die Wunde am Knöchel, und dann liefen sie durch den schnell aufsteigenden Frühnebel bis zum Fluß. Hier kamen sie leichter voran und folgten dem verschlungenen Wasserlauf bis ans Ende des dichten, dschungelartigen Waldes. Das Land stieg in einer Reihe rollender Hügel an und war mit Felsbrocken besät, tief durchschnitten von Flußtälern, die aus dem fernen Gebirge kamen und sich durch den Wald und die Marschen schlängelten.
Hier auf den Hügeln, die mit einer tiefen weichen Lage von Wedelfarnen bedeckt waren, lief es sich sehr bequem. Sie verließen den Fluß und stiegen über den Rand des Tales, so daß sie über das silberne Band und bis zu den braunglitzernden Sümpfen hinunterblicken konnten. Die Seen, die Schlammbecken, das unwirtliche Land zwischen dem crog und dem weiten salzigen Meer – dort hatte sich noch kein Aerani hingewagt, dort gab es fleischfressende Raubtiere und menschenfressende Schlammlöcher. Dort am Rande des Sumpflandes wurden die Augen und Hände ehrlos gestorbener Aerani, deren Seelen nicht, wie es recht und billig war, vom Feuer verzehrt werden durften, der Verwesung anheimgegeben. Und dort waren auch rechteckige Haufen aufgeworfen, wie sonderbar geformte Gräber – doch diese Gräber bewegten sich manchmal: Es waren auch keine Gräber, sondern riesige Raubtiere.
„Hier entlang!“ rief Darren und führte die Gruppe vom Fluß hinweg in die Wedel-Ebene hinein. Die Luft war scharf und kalt; der starke vom Gebirge her über die Hügel wehende Wind trug die mannigfachen Düfte des dichten Waldes mit sich. Elspeth, die tief atmete, fand diese Gerüche erregend und sinnlich. Vom angestrengten Atmen war ihr schwindlig geworden. Sie blieb einen Augenblick stehen und blickte über das grüne und tiefrote Laub, die pfeilschnellen Schlangenzungen, die hin und her schießenden Flugtiere …
Hinter dem Wald erhob sich das Gebirge …
In den Wolken verschwimmend, schneebedeckt, zerklüftet und steil: die Berge. Sie warfen ihren Schatten über das Land, den Schatten des Schnees, der Erinnerungen an die Vergangenheit wachrief und eine Angst, die bis jetzt unter den Abzeichen ihrer Jungfrauenweihe verdeckt gelegen hatte. Die Angst stieg wieder hoch – Schneesturm, Blut … Kälte, tödlicher Frost, Eisnadeln …
Die schreckliche Erinnerung trat zurück, doch die Panik blieb. Sie lief hinter Darren und den anderen her, und ein stummer Schrei hallte (stumm) durch ihr Hirn. Und die Berge sahen zu …
Endlich kamen sie an einen großen festgetretenen Weg, der, etwas unter Bodenhöhe und von steilen Klippen flankiert, fast eine Meile lang war.
An diesen Klippen hingen, leicht schaukelnd, Tausende ledriger fledermausähnlicher Tiere. Schwarzflügler.
Laurian und Brigedd verschwanden; lautlos liefen sie über einen Felsgrat, um das andere Ende des Tales zu gewinnen. Engus und Moir verließen den Weg auf der anderen Seite, so daß das Mädchen beobachten und Engus ihr erklären konnte, wie die Jagd vor sich ging. Der junge Mann war ärgerlich, weil er seine Zeit mit solchen Belehrungen vergeuden mußte. Engus hatte immer schlechte Laune, außerdem konnte er Elspeth nicht leiden und mißbilligte, daß sie sich an die Kolonie herandrängte (manchmal schrie er sie an: „Was bildest du dir eigentlich ein? Du bist doch bloß eine nue!“); daher war es Elspeth unangenehm, wenn er mit dabei war.
„Wenn wir nicht einen von diesem Haufen fangen können“, sagte Darren und deutete auf die schlafenden Schwarzflügler, „dann müßten wir uns vor uns selbst schämen.“
Auf dem Bauche liegend blickten sie in das stille Tal. Schwarzflügler jagten am frühen Nachmittag; zwei, drei Stunden wilden Fressens und dann wieder zurück zum ‚Horst’ für den Rest des Tages und die ganze nächste Nacht, reglos hängend, jedoch nicht völlig ohne Bewußtsein, wie mancher erfolglose Jäger zu seinem Schaden gemerkt hatte.
„Du brauchst deine eigene Schlinge“, sagte Darren und schlüpfte hinter einen zackigen Felsen. Elspeth kroch hinterher, hockte sich hin und sah in die Leere der Wedelmoos-Ebene hinaus. Dunkles Land, wellige bräunliche Prärie, übersät mit Felsbrocken und Knäueln von Tangelkraut, das die Aerani-Jäger zu Schlingen verwenden. Es war kein böses Land; es war ein unwirtliches Land, und seine Kahlheit machte Elspeth stärker schauern als die Kälte auf ihrer nackten Haut.
Der Wind war abgeflaut und flüsterte nur noch. Ganz hinten am Weg hing noch immer ein dünner Nebelschleier, klebte am Tal und ließ nur schattenhaft erkennbar werden, daß sich dort etwas bewegte. Elspeth konnte Moirs murmelnde Fragen hören, auch ab und zu einen ärgerlichen Grunzer Engus’, der das Mädchen für ein paar Sekunden verstummen ließ. Plötzlich jedoch tönte ein anderer Laut zu ihr herüber. Moir sang.
Überrascht und mit gespannter Aufmerksamkeit horchte Elspeth auf das Lied, das bruchstückweise über das Tal herüberkam; es war nicht laut, nicht schrill, nicht erschreckend, nur eine sanfte fluktuierende Melodie, bezaubernd und sehr schön. Elspeth hatte von den Wällen des crog schon manchmal Gesang gehört – verschiedene Lieder mehrerer Sänger –, doch diesen Gesang, der von dem Mädchen auf dem Felsen herübertönte, kannte sie noch nicht.
„Sie wird die Schwarzflügler verscheuchen, oder?“ fragte sie Darren.
Kurz und entschieden schüttelte der junge Mann den Kopf. Er beobachtete seine Schwester mit halbzugekniffenen Augen, den Schatten eines Lächelns um die Lippen. „Es ist ein Erd-Lied“, sagte er leise, „sie hilft uns auf ihre Art.“
„Wie wirkt es?“
„Es gewinnt die Erde für uns“, sagte Darren sachlich. „Die Schwarzflügler mögen es, sie denken, alles ist in Ordnung. Wir brauchen weiter nichts zu tun, als ein Weilchen den Wind zu fangen.“
„Mit Gesang?“
„Nein“, antwortete Darren empört, „nicht durch Singen. Kannst du denn das Windlied singen? Traust du es dir zu?“
Elspeth zuckte die Achseln. „Also dann einkerben. Als Symbol.“
„Das kann nicht einmal ich“, erwiderte der Jüngling, „jedenfalls noch nicht. Nein, wir machen ein einfaches Wind-Opfer …“ Er verstummte und sah nach oben. „Hör auf ihre Stimme.“
Fließend, sänftigend, genau im gleichen, exakt getroffenen Ton. Aus der Ferne beobachtete Darren sie genau, voller Stolz – voller Liebe, wie es ihr vorkam.
Nicht weit von ihnen wuchs ein Buschen Tangelkraut. Sieben peitschenähnliche Arme zogen sich schlaff über den Boden, und nach Darrens Anweisung legte sich Elspeth über das Knäuel. Doch obwohl einer der Stränge sich ein wenig bewegte, schien das Kraut doch im ganzen uninteressiert zu sein. Sie gingen zu einer zweiten Pflanze, und hier hatten sie mehr Glück. Als Elspeth sich bäuchlings über das Herzstück des Krautes legte, erzitterten zwei von den Strängen, wickelten sich um ihre Glieder, zogen sich fest.
„Such dir eins aus“, sagte Darren. Elspeth nahm den längsten Strang, löste ihn vorsichtig aus dem Moos und schüttelte die zähe Muttererde von den dünnen Wurzeln. „Die Wurzeln kannst du abbrechen.“
„Muß das sein?“
„Es muß nicht, aber wenn du es nicht tust, bohren sie sich in deine Haut.“
„Oh.“ Vorsichtig löste sie die Wurzel ab; die Pflanze rollte sich kurz ein und wieder auf, dann wickelte sie sich um ihren Arm.
„Sie mag dich“, grinste Darren. Er schüttelte sein Haar zurück und blickte sich um. „Jetzt bin ich dran.“
Er griff nach demselben Büschel, und sämtliche Stränge wickelten sich um ihn. Sanft löste er sich aus den Schlingen und zog den längsten Strang heraus. Die Pflanze bog und wand sich dabei, ihre Bewegungen wurden immer schneller, seine Miene immer gespannter. Schließlich bewegte sich das Tangelkraut so schnell, daß Elspeth keine Einzelheiten mehr unterscheiden konnte. „Paßt du auch auf, Steinfrau? Paßt du auch auf? Du mußt diese Kunst können, wenn du eine Schlinge machen willst.“ Es klang stolz. „Versuch es mal!“
Das Kraut wand sich mit rasender Schnelligkeit in Elspeths Griff. Befriedigt nickte Darren. „Wenn du Glück hast, fängst du einen Schwarzflügler und bist noch heute abend im crog. Wenn das Kraut zugefaßt hat, darfst du auf keinen Fall loslassen. Dann wird es gefährlich. Aber wenn der Schwarzflügler erst einmal in der Schlinge ist, dauert es nur ein paar Augenblicke, dann steht sein Herz still. Du wirst schon sehen.“
Moirs Lied war verklungen. Traurig heulte der Wind den Weg entlang.
„Wann muß ich die Symbole ritzen? Jetzt?“
Darren lachte auf. „Na schön. Komm, wir nehmen diesen glatten Stein da.“
Er hockte sich vor einem Felsbrocken nieder, der direkt am Ausgang des festen Weges aus dem Moose wuchs, nahm sein Halsband ab und knüpfte das Kristallmesser los. Feierlich überreichte er Elspeth die kostbare Waffe (sein Initiationsgeschenk bei der Aufnahme in den Kriegerstand). Bewundernd wog sie es in der Hand.
Mit der Spitze kratzte sie vorsichtig das Karomuster ein, das die Kräfte im Felsen erweckte. Drei Rauten in einer Kette – das schien Darren für ausreichend zu halten. Er starrte den Felsblock an, als sähe er mehr als nur die Oberfläche, dann bedeutete er ihr, noch eine vierte Raute anzufügen.
Sie ritzte den Felsen, doch die Linien wurden wellig und ungleichmäßig, und ihre Hand zitterte so stark, daß sie kaum begriff, was sie da tat …
So hat der Mensch vor siebentausend Jahren die Steine in Irland geritzt … hatte das die gleiche Bedeutung wie jetzt?
Zufrieden mit dem Opfer an die Erde nahm Darren sein Messer wieder und leckte den Staub von der Spitze. Das Messer war sein größter Stolz.
„Was bedeuten sie?“ fragte Elspeth und berührte lächelnd ihre flachen Runen.
„Du hast dich in den Wind gestellt. Durch die Rauten gelangt deine Jäger-Seele in den Felsblock und von da in die Erde und in den Wind. Im Wasser wäre es anders, und durch den Wald noch wieder anders. Der Felsen selbst ist der direkteste Opferweg. Jetzt möge dir die Erde deine Gabe vergelten, indem sie dir hilft, einen Schwarzflügler zu erwischen.“
Wirklich ganz einfach. Elspeth zog die Form der Runen nach. Wieder eine neue Rune für ihr Antworten-Buch. Sie verstand schon eine ganze Anzahl Symbole, und es wurden immer mehr; und so sehr viele Felsenrunen gab es auch gar nicht. Aber diese war die erste, die sie selber eingeritzt hatte! Es mochte etwas ganz Einfaches sein, aber für sie war es doch ein großer Schritt vorwärts.
Sie beugte sich vor und küßte das Symbol, das sie eingeritzt hatte, und Darren grinste dazu. Dann rannte er zurück zum Schlafplatz der Schwarzflügler, legte sich flach in das schwammige Moos und sah in den Spalt hinunter.
„Ehe wir herkamen, haben wir unseren Seher um eine Voraussage gebeten“, sagte Darren langsam. Interessiert blickte Elspeth ihn an.
„Was hat er denn für eine Prophezeiung losgelassen?“
„Gutes Jagdglück. Neues Tier“, erwiderte der junge Mann.
Einen Augenblick schwieg sie, dann wandte sie sich um und betrachtete die Tiere, von denen sie vielleicht eins erbeuten würde. „Das ist das Dumme bei euren Orakeln – sie lassen keinen Raum zum Interpretieren. Also, wo ich herkomme, da gibt es ein Orakel …“
Darren winkte ihr, zu schweigen. „Da ist dein Schwarzflügler.“
Eins der ledrigen Flugtiere hatte sich aus seiner Schlafstellung herunterfallen lassen und war ein paar Meter den Weg hinuntergeklettert. Es rollte sich auf einem Felsblock zusammen, wickelte sich in seine harthäutigen Schwingen und barg den kugeligen Kopf in den Hautfalten seines Bauches.
„Ziele mit der Schlinge auf seine Beine.“
„Ja, gut.“
Elspeth nahm ihren Krautstrang fest in die Hand, schritt langsam in das Tal, wobei sie, so gut sie konnte, einzelne Steinblöcke als Deckung benutzte, und duckte sich ganz tief, als sie dem Tier näher kam. Sie schwitzte, und die sanfte Brise auf ihrer Haut ließ sie vor Kälte erschauern. Diese Art zu jagen hatte etwas erregend Primitives: ein Stück aus dem Biotop der Beute zum Fang zu benutzen, Stärke gegen Stärke zu messen, Schnelligkeit gegen Schnelligkeit. Ein Feuerstrahl aus ihrer Kiljarod Automatik würde den Schwarzflügler im Bruchteil einer Sekunde in ein besseres Jenseits befördern. Aber daran war nichts Aufregendes.
Fünf Meter vor dem Tier blieb sie stehen, hielt den Atem an und versuchte, ihren Körper zu beruhigen. Sie war tief im Tal, der Wind wehte jetzt ziemlich heftig, und im Weiterschreiten spürte sie ein Jucken an ihrem Fußgelenk, wo das getrocknete Blut abplatzte. Der Schnitt schmerzte immer noch, aber sie achtete nicht darauf. Stumm und reglos hingen, wohin sie auch blickte, die dunklen Schatten des Schwarzflügler-Volkes. Hoch oben, wo der blanke Fels wie eine ausgezackte Wunde im hellen Himmel stand, spähten zwei Gesichter zu ihr herab. Am anderen Ende des Tales pirschten sich Laurian und Brigedd in pfeilschnellen Sprüngen an zwei Schwarzflügler heran, die etwas abseits auf kleineren Steinblöcken dösten.
Mit vorsichtigen Schritten verringerte Elspeth die Entfernung zwischen sich und ihrer Beute. Das Tangelkraut in ihrer Hand schien so erregt und gespannt zu sein wie sie selber, als ob es auf ihren Befehl warte. Sie konnte erkennen, wie sich die Kehle des Tieres beim Atmen bewegte, konnte den dumpfen dreifachen Schlag seines ‚Herzens’ hören; Punktfliegen, die natürlichen Parasiten dieser Tiere, umschwirrten es mit scheinbar zielloser Geschäftigkeit. Jeden Moment konnte der Schwarzflügler erwachen, sie sehen und in diesem bizarren, sprunghaften Flatterflug entschwinden, der es so schwierig machte, die Tiere dieser Welt zu fangen.
Jetzt!
Langsam hob sie den Arm, hielt den Krautstrang auf das Tier gerichtet. Da öffnete der Schwarzflügler sein Auge, starrte sie an; auffordernd drückte sie das Kraut. Glatt rollte sich der Pflanzenstengel von ihrem Arm ab und wickelte sich um das Bein des Schwarzflüglers: Das Tier kreischte und flatterte auf, doch das Tangelkraut hielt fest. Elspeth fühlte sich hochgehoben, und sekundenlang geriet sie in Panik.
Loslassen!
Sie fiel mit dem Gesicht auf den Stein, schürfte sich die Nase, die Stirn, die Juwelenbrust. Über dem Felsbrocken liegend sah sie dem Schwarzflügler nach, der hinwegflatterte. In wenigen Sekunden war das Tier am anderen Ende des Tales, in wildem Zickzackflug, so daß sie ihm kaum mit den Blicken folgen konnte.
Wundersamerweise jedoch blieb es still im Tal, nur einige wenige Schwarzflügler flatterten in panischer Angst hinterher.
Elspeth zitterte heftig, ihre Haut schmerzte an den aufgeschürften Stellen. Sie lief zu Darren und fiel neben ihm auf die Knie.
Er lachte. „Du hast ja losgelassen.“
„Das weiß ich selber! Ich habe mir beinahe den Schädel eingeschlagen.“
Er streckte die Hand aus und berührte sanft ihre abgeschürfte Nase. „Du mußt schon entschlossener sein, wenn du Schwarzflügler fangen willst.“
„Bist du sicher, daß wir die richtigen Symbole gezeichnet haben?“
„Du und deine Symbole!“ Er amüsierte sich offenbar. „Ja, wir haben die richtigen gezeichnet. Das einzige, was falsch war, ist, daß du die Nerven verloren hast.“
„Na, das passiert mir nicht wieder.“
„Wir müssen warten, bis wieder einer – sieh mal, unten im Tal! Schnell!“
Sie sprang auf und starrte die Schlucht hinunter. Weit hinten, gerade noch erkennbar, hatte einer der dortigen Jäger einen Schwarzflügler gefangen. Das große Tier peitschte mit seinen vollausgestreckten Schwingen die Luft, flog in kurzen Sprüngen mit dem kleinen Menschen, der nicht losließ, etwa zehn Fuß unter sich. Eine Sekunde lang verschwanden Tier und Mann (oder Weib?) und kamen etwas weiter entfernt wieder zum Vorschein; doch der Jäger hielt immer noch fest, und der Schwarzflügler stürzte zu Boden. Eine Sekunde später lag das Tier bewegungslos, und der Jäger (Laurian war es) winkte ihnen zu.
„Es hat Geist-Sprünge gemacht, während er noch dranhing!“
„Ein starkes Tier“, sagte Darren nachdenklich. „Es ist ein merkwürdiges Gefühl, besonders wenn das Biest mitten im Sprung die Richtung ändert.“
„Und das können alle Tiere auf dieser Welt?“
Darren nickte. „Alle außer uns. Aber wir haben dafür den Erdwind.“
„Den Erdwind? Was ist das?“
Ehe Darren antworten konnte, kamen Engus und Moir angerannt. Moir lachte, als ein wohlgezielter Tritt ihres ‚festen Mannes’ ihren pelzigen Bauch traf.
Darren rief ihnen zu, sie sollten ruhig sein, und beide ließen sich mit einem entschuldigenden Blick zu Boden fallen. Engus’ Reue verging sofort, als er sah, daß Elspeth ihn anblickte.
„Ganz nett für den ersten Versuch“, rief Moir. „Wir haben genug gesehen. Wir gehen ein Weilchen hängen.“ Sie rannten über das Wedelmoos, bis die Entfernung und die Dunstschranke sie den Blicken entzogen – dann waren sie weg.
„Ein Weilchen hängen? Was heißt das?“
Darren sah sie von der Seite an. „Wir machen das später auch. Wirst schon sehen. Diesmal lasse ich dich nicht so weg.“
Sex, dachte Elspeth. Das ist ihr Ausdruck für Sex. Ich bin nun schon so lange hier und habe noch nicht einmal ihre einfachsten Redensarten gelernt.
Ein plötzlicher, ohrenbetäubender Schwingenschlag lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schwarzflüglertal. Ein riesiges Männchen mit einer Flügelspanne von zwanzig Fuß ließ sich auf dem Felsblock nieder, bei dem sie kauerten. Vor Überraschung fiel Darren rücklings hin, als das große, einzelne Auge sich zu den beiden Menschen hindrehte; doch Elspeth sprang auf und gab ihrem Tangelkraut einen schleudernden Ruck, so daß es ausschoß …
Die Luft um sie wirbelte; die lederflügelige Bestie hieb nach ihr; doch vielleicht wegen ihrer ungewohnt dunklen Haut, vielleicht weil sie eine unbewußte Bewegung nach hinten gemacht hatte, verfehlten die rasiermesserscharfen Klauen sie. Ehe der Schwarzflügler wußte, wie ihm geschah, hatte er den Strang Tangelkraut um das linke Bein.
Er kreischte, reckte sich und kämpfte sich in die Luft.
„Halt fest diesmal!“ schrie Darren und sprang zur Seite, als die große Bestie zur Erde herniederschwang, weil sie sich nicht mehr so leicht in die Luft heben konnte.
„Hilf mir!“ kreischte Elspeth, als sie fühlte, wie sie nach vorn und nach oben gezogen wurde.
„Hilf dir selbst!“ schrie Darren voller Ergötzen.
„Ich kann nicht! O Gott!“
„Halt fest!“
Sie sah nichts anderes als das riesige, langgestreckte schwarze Gebilde vor ihr. Das Tangelkraut biß sich in ihr Handgelenk, wo es sich um ihren Arm gewickelt hatte, ehe es den Schwarzflügler am Bein erwischte, doch sie achtete nicht auf den Schmerz. Sie hatte furchtbare Angst, dieses Ur-Vieh würde sich im nächsten Moment auf sie stürzen, aber sie versuchte, auch diese Angst zu ignorieren. Der Schwarzflügler hatte jedoch zu sehr mit seiner eigenen Panik zu tun. Der Donner, den sie hörte, kam von den schlagenden Schwingen. Der Wind, den sie verspürte, war der Fahrtwind an ihrem Körper, der bei den Flugversuchen des Tieres halb über den steinigen Boden gezogen wurde.
Ihr wurde fast übel, und sie schüttelte den Kopf. Ihr drehte sich der Magen um, das betäubende Gefühl des Brechreizes durchfuhr sie blitzartig. Was war passiert?
Wieder – und noch einmal!
Die Klippen schienen zu springen, als würden sie in Sekundenschnelle entwurzelt. Ein Felsbrocken flitzte vorbei und war weg – nicht so, daß er an ihr vorbei nach hinten glitt, sondern er war einfach weg. Sie schrie auf. Und auch der Schwarzflügler fing an zu kreischen, mit schrecklicher Fistelstimme, laut, wütend. Er peitschte die Luft – doch nun sank er zu Boden.
Elspeth hielt das Tangelkraut fest, doch hielt sie Abstand von dem zappelnden Vieh. Langsam stellte sie sich auf die Füße. Sie zitterte am ganzen Körper, noch immer tat ihr der Magen weh von dem würgenden Gefühl, das sie während des Fluges verspürt hatte. Sie wußte wohl, was geschehen war, doch war sie so durcheinander, daß sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Was hatte dieser Schwarzflügler, immer mit ihr an der Leine, für einen irren Hier-Nicht-mehr-hier-Tanz vollführt! Der reine Sofort-Transport, jeweils von zehn, zwanzig Yards! Richtige Teleportation war das gewesen. Am Geist des Tieres und an einer pflanzlichen Peitschenschnur hängend – und wie gut hatte ihr die gedient! –,war sie durch den Raum gehüpft.
Der Schwarzflügler starb.
Das Zappeln und Schlagen hörte auf, das Auge blutete, das sepiafarbene Blut rann über die glänzendschwarze Haut. Elspeth lockerte ihren Griff an dem Tangelkrautstrang, und die Pflanze wickelte sich wieder um ihren Arm wie eine leidenschaftliche Schlange, eng und fest, tauchte ihre Spitze in die warme Nässe des Unterarms. Elspeth wischte sich die Hände an den Schenkeln ab, starrte auf das verschmierte Blut der abgeschürften Haut ihres rechten Handgelenks. Darren kam herbeigerannt und hockte sich neben den toten Schwarzflügler. Er schaute zum Himmel hoch, starrte auf die Klippen, wo noch zahlreiche Tiere hingen, reglos und unbeteiligt.
„Du hast Glück gehabt“, sagte er. „Bei diesem Todesschrei greifen sie sonst an. Das ist das einzige, was man fürchten muß: wenn der Schwarzflügler um Hilfe ruft.“
„Ein paar wurden aufgestört.“
„Aber sie haben nicht angegriffen.“ Darren sah sie an, streckte die Hand aus, berührte das Tangelkraut und ließ seine Finger über ihre Ebenholzhaut gleiten. „Vielleicht liegt es daran – daß du selber so dunkel bist. Ich habe noch nie erlebt, daß sie nicht angegriffen haben.“
Sie blickten auf ihre Beute. Die Schwingen begannen zu schrumpfen, da die Körperflüssigkeit aus ihnen in die langsam anschwellende Leibeshöhle rann; Darren kroch hinüber und faßte das skelettartige Gefüge der oberen Gliedmaßen des Tieres. Mit ziemlichem Kraftaufwand zerbrach er die Knochen und riß die Schwingen vom Rumpf. Mit einem scharfen Knochenende stach er die Leibeshöhle an, glitzernde Flüssigkeit spritzte auf den Boden und wurde blasenwerfend vom Moos aufgesogen.
„Hilf mir“, sagte er.
Elspeth faßte ein Bein des Tieres, Darren das andere, und gemeinsam schleiften sie die Beute zum Eingang des festen Weges. Atemlos hockten sie sich dort ein Weilchen hin und lachten. Ihr Lachen wurde erregter, kindisch. Elspeth sagte, es müsse wirklich komisch ausgesehen haben, wie der Schwarzflügler sie mitgezerrt hatte. Sie lachten. Ja, tatsächlich, sagte Darren. Sie lachten noch mehr. Elspeth sagte, in ihrem ganzen Leben habe sie noch nie solche Angst gehabt; sie schrien vor Lachen.
Ein paar Schwarzflügler verließen ihre Schlafplätze und flatterten geräuschvoll hinaus zu den fernen, verkrauteten Seen des Marschlandes; sie verschwanden in Dunst und Nebel unter den Blicken der beiden Jäger, die schweigend die Erlebnisse des Vormittags überdachten. Elspeth fuhr mit dem Finger die flachen Runen nach, die sie eingeritzt hatte, die zittrigen Linien des Rhombenmusters. „Danke“, flüsterte sie und hatte ein seltsames Gefühl dabei; unsicher sah sie den Stein an, als könne wundersamerweise irgendeine Antwort auf seiner grauen Oberfläche erscheinen.
„Wir kommen morgen wieder her und meißeln sie tief ein“, sagte Darren.
„Eine erfolgreiche Jagd“, entgegnete Elspeth stolz, „und meine eigenen Symbole, die noch lange zu sehen sein werden.“
„Ein großer Augenblick“, stimmte Darren ihr bei. „Wenn du so weitermachst, wirst du bald den Erdwind einritzen.“
„Was ist denn das, Darren? Du hast schon einmal davon gesprochen. Was ist der Erdwind?“
Überrascht sah er sie an, dann blickte er auf die spinnenfüßigen Runen auf dem Stein. „Der Erdwind ist … nun eben der Erdwind.“ Er lächelte, sah sie wieder an und schüttelte den Kopf. „Das ist das Symbol, das uns das Leben gegeben hat und uns das Lied der Erde gibt, das uns führt.“
„Das Orakel“, rief Elspeth aus, erfreut, denn jetzt dämmerte ihr, was er meinte. „Das Orakel heißt ‚das Lied der Erde’. Meinst du das?“
Ihre Frage schien Darren unangenehm zu sein. Er fuhr Elspeths Runen mit dem Zeigefinger nach, runzelte die Stirn und schwieg.
„Der Erdwind“, beharrte Elspeth. „Darren, was ist das? Ich meine … also bitte … zeige es mir … bitte! Zeig es mir!“
„Zeigen kann ich es dir nicht …“ Darren verstummte und sah zur Seite. Er suchte nach Worten. Auf seinem Gesicht, über der Behaarung, glänzte der Schweiß.
Plötzlich sprang er auf und rannte zu dem toten Schwarzflügler zurück. „Komm, bringen wir ihn in den Wald, wo ihn die anderen nicht sehen können.“
Elspeth seufzte, entschloß sich aber, die Sache im Auge zu behalten. Es eilte ja auch nicht. Sie überschaute das Tal – von Laurian und Brigedd war nichts zu sehen. „Wo sind sie?“
„Die tun, was wir auch tun sollten“, entgegnete Darren. Elspeth spürte einen Knoten im Magen; Darren war so sachlich.
„Hängen?“
„Ja, hängen. Aber nicht, solange dieses Biest hier herumliegt, wo jeder Jäger es sehen und sagen kann, es sei seins.“
Sie schleiften das tote Tier zurück zum Fluß und von da zum Wald in die kleine Lichtung, wo sie sich alle vorhin getroffen hatten. Darren war außer Atem, sein gelbroter Pelz war naß und strähnig vor Schweiß. Elspeth fror einfach. Das Handgelenk tat ihr weh, sie hätte wenigstens Shorts oder sogar ein Paar anständige hohe Stiefel anziehen sollen. Ihre Mokassins scheuerten und rutschten an ihren schweißigen Füßen. Nacktsein brachte gewisse Unbequemlichkeiten mit sich.
Sie ruhten sich etwas aus. Darren hockte sich hin, wickelte sein Tangelkraut ab und bog es ein paarmal. Er sah sich um und entdeckte schließlich etwas in der Blätterwand. „Da – siehst du?“
Sie spähte durch die hohen Gewächse, die großen geteilten Stämme der Blaurindenbäume, deren schnurgerade Äste wie Windmühlenflügel aufragten, und sah so etwas wie ein großes Netz. Sie konnte nur schwer ausmachen, was sie sah … eine Art Kokon, der von einem der tieferen Äste hing – gelbrot, schwarz durchwachsen …
Zusammenzuckend begriff sie, was es war, und ihr Herz klopfte rasend. Engus und Moir hingen in einem Netz von Tangelkraut an einem Ast, schlaff baumelten ihre Beine, ihre Gesichter waren vereint in einem langen, fast bewegungslosen Kuß, jeder hielt sich mit einer Hand fest, und jeder war mit einem Ende seines Tangelkrauts festgebunden. Langsam schwangen sie in der Runde, völlig reglos, ohne der Umwelt auch nur die geringste Beachtung zu schenken.
Darren wurde aufgeregt, Elspeth bekam Angst. Sie war mehrere Zoll größer als der Jüngling und erheblich schwerer – sie wußte nicht recht, ob es eine gute Idee war, Sex zu machen, wenn man dabei an zwei Peitschenschnüren baumelte. Aber weswegen war sie hier, wenn nicht, um sich in dieses Volk zu integrieren, bis sie die Symbolik dieser Kultur völlig verstanden hatte?
Sie stand auf und tat einen tiefen Atemzug. Darren packte ihre Hand und zerrte sie fast mit Gewalt zum nächsten Blaurindenbaum.
„Mach es wie ich“, sagte er gelassen und streckte den Arm aus, so daß sich seine Schlinge um den untersten Ast wickeln konnte. Elspeth tat es ihm gleich, und die beiden Tangelkrautstränge rankten sich abwärts um ihre Leiber. Ihr blieb vor Überraschung fast die Luft weg, als sie sich hochgehoben fühlte und sich ihr Körper, die Edelsteine in ihrer Brust, ihr Bauch, starr vor Erregung, an Darrens pelzigen Leib schmiegte.
Einen Moment war ihr, als würde ihr der Atem aus dem Leibe gepreßt, doch als das Tangelkraut sie höher zog und ihre Rechte am Ast festen Halt fand, krochen die Ranken weiter nach unten, wickelten sich, ihr noch besseren Halt bietend, um Gesäß und Schenkel, was ihr ein ganz unerwartetes Lustgefühl verursachte. Darrens Lippen preßten sich auf die ihren, sie schloß die Augen, spürte seine warme Zunge in ihrem Mund, die ihre Zunge berührte. Mit einiger Schwierigkeit drang er in sie ein, unbewußt zog sie sich etwas höher hinauf, so daß er es leichter hatte. Das Tangelkraut zog sich zusammen, sie hatte vollkommen sicheren Halt.
Er bewegte sich ganz langsam, fast zu langsam für ihren Geschmack, doch als sie begannen, sich zu drehen, erst linksherum, dann zurück, vom Wind und der leichten Bewegung ihrer Körper geliebkost, zog das Lustgefühl wie ein Flüstern in ihren Körper ein, ihr Herzschlag wurde kraftvoll, leidenschaftlich hämmernd, und ihre Küsse wurden kompromißlos wild. So vieles wollte sie tun, doch das Tangelkraut gestattete ihr nur ganz leichte Drehungen und Bewegungen, so daß alle ihre Sinne auf den intimen Kontakt ihrer verschlungenen Körper konzentriert blieben.
Als sie auf die Lichtung zurückkamen, hatten Engus und Moir den Schwarzflügler bereits in leicht transportable Stücke zerlegt. Sie hockten am Boden, und Moir sah zu, wie Engus die Zähne des Tieres aus dem klaffenden Maul löste. Als Elspeth hinzukam und wortlos neben ihnen kniete, fing Moir an zu kichern.
„Was ist denn so komisch?“ fragte Elspeth. Der rechte Arm tat ihr weh, und an den Stellen, wo das Tangelkraut besonders starken Zug hatte aushalten müssen, zeigten sich böse Striemen auf ihrer Haut.
„Nichts“, sagte Moir mit einem verlegenen Seitenblick.
„Sie lacht uns aus“, sagte Darren und sah sich den zerlegten Schwarzflügler an. „Gut. Habt ihr gut gemacht.“
„Haben wir etwa komisch ausgesehen?“ fragte Elspeth betroffen. Engus lachte, antwortete jedoch nicht. Moir schob die Unterlippe vor und sah ihren Bruder an.
„Nun?“ fragte Darren mit gespielter Strenge. „Haben wir komisch ausgesehen?“
„Kein bißchen“, antwortete Moir.
„Ihr hättet nicht hinsehen sollen“, murmelte Elspeth. Sie hätte beinahe gesagt, die beiden hätten genauso komisch ausgesehen, aber sie hielt sich zurück.
Engus und Moir nahmen soviel von dem zerlegten Schwarzflügler wie sie tragen konnten und verließen die Lichtung, um zurück in den crog zu gehen. Darren half Elspeth, ihren Schlafschirm etwas zu erweitern, und sie hockte sich ein Weilchen hinein.
Der junge Mann band die restlichen Schwarzflüglerstücke auf eine große Platte Rinde. Elspeth hatte vor, für ein paar Stunden in den crog zurückzugehen und sogleich die Tatsache auszunutzen, daß sie ihren ersten Schwarzflügler erlegt hatte und nunmehr berechtigt war, im inneren Kreis der Erdwälle zu sitzen, mit den anderen Initiierten, die nach und nach ins Herz der Siedlung zurückkehren würden. Dann würde sie mit ihrer Raumfähre auf das im Orbit kreisende Schiff zurückfliegen, ihre Erlebnisse und Entdeckungen aufzeichnen, und dann – ein langes Bad, eine Stunde im Sanitätsraum, ein voller Tag Schlaf. Sie war gebissen, zerschunden, durchgeschüttelt worden, zuviel für ein Mädchen und für einen Tag. Jetzt war taktvoller Rückzug angebracht.
Bei ihren früheren Besuchen dieses Planeten war sie immer außerhalb der mächtigen Erdwälle geblieben, in Gesellschaft von zwei, drei Heranwachsenden, die gerade ihr Selbsterprobungsprogramm begannen. Hier hatte sie mit Jugendlichen und Erwachsenen gesprochen, hatte ihr Vertrauen gewonnen, ihr Interesse erregt; man hatte ihr sogar erlaubt, die äußere Umgrenzung abzuschreiten – das war der Graben zwischen den doppelten Wällen des crog (der Dünengraben, wie sie es nannten). In der ganzen Zeit hatte sie sich die größte Mühe gegeben, bei allem, was sie sah, Hinweise auf die kulturelle Bedeutung aufzuschnappen. Abgesehen von ein paar Zusätzen und Auslassungen war die Kolonie auf dem Aeran nichts Geringeres als die vollkommene Rekapitulation einer bestimmten Steinzeitkultur des Planeten Erde, zum mindesten hinsichtlich des Gräberbaus und der Steinornamentik dieser Kultur. Und diese Runen, diese Symbole waren faszinierend. Sie hatte dergleichen in Irland gesehen, auf dem zeitlosen Antlitz der Steine bewahrt, und sie hatte sich gefragt, was sie bedeuteten. Doch die Phantasie ist der schlimmste Feind der Vernunft, und so war ihr nichts geblieben als der Schmerz des Nichtverstehenkönnens. Hier aber lebten sie wieder, waren lebendige Symbole einer lebendigen Kultur. Sie mußte einfach herausbekommen, was sie bedeuteten und was hier geschehen war … Aber die ganze Zeit hatte sie es mit einem einzigen Problem zu tun gehabt: Namen und Bedeutungen mit Formen und Bildern zu verknüpfen. In über vierzig Stunden hatte sie nur sieben Runen interpretieren können; und wenn Austin recht hatte, dann blieb ihr nicht mehr viel Zeit.
Und es gab ein Symbol, das sie nie gesehen hatte und das bis heute noch nicht einmal erwähnt worden war: den Erdwind. Darren war ihr irgendwie bedrückt vorgekommen, als er vom Erdwind sprach, bedrückt, weil sie ihn nicht verstand. Er schien es kaum glauben zu können, daß jemand mit diesem Symbol nicht völlig vertraut war. Er hatte ihr gesagt, es sei das Symbol, das ihnen das Leben gegeben hatte. Offenbar ein Erd- oder Mutterleibssymbol. Doch ebenso offensichtlich war es für die Aerani etwas von überragender Wichtigkeit. Ihre nächste Aufgabe mußte es sein, dieses Symbol zu ergründen.
Bei ihrem Plänemachen hatte sie gar nicht bemerkt, daß Darren vor ihrem Schlupf stand und nach Süden zum Himmel emporblickte.
„Fertig?“ fragte sie. (Ob er etwa böse war, weil sie ihm nicht geholfen hatte?)
„Still. Horch!“
Elspeth kroch hinaus und stand auf. Sofort hörte sie es – den Ton, der ihn beunruhigte. Ein jaulender, heulender Ton, sehr weit weg – aber er kam näher.
Sie schaute durch das Blätterdach, das in diesem Teil des Waldes nicht sehr dicht war, in den grauen Himmel, wo spiralige Wolken über dem Dschungel wirbelten, von den Seen bis hoch hinauf zu den schneebedeckten Bergen. Der Ton hielt sich schwebend unterhalb der Gipfel, ritt auf dem Wind, breitete sich über dem Wald aus.
Lauter jetzt!
Der rhythmische Takt der Pulsatoren, die ein Raumschiff mit Unterschallgeschwindigkeit vorwärtstreiben, das Heulen des Stabilisierungsfeldes, das Kreischen von Metall, das sich im Fahrtwind abkühlt … für Elspeth vertraute, für Darren erschreckende Geräusche.
Der Jüngling war bleich unter seinem Pelz und blickte sie angstvoll an; doch da sie nicht floh, blieb er ebenfalls stehen.
„Weißt du, was das ist?“ fragte er und erstickte fast an seinen Worten.
„Ja. Ja, das weiß ich …“
„Ein Tier? Ein neues Tier …“ Er dachte wohl an die Prophezeiung des Orakels. Neues Tier. Etwas aus den Sümpfen, hatte er sicherlich geglaubt. Doch dieses Flugtier kam nicht aus den Sümpfen des Aeran.
Das Schiff gelangte gar nicht in ihren Gesichtskreis, sondern flog auf die Lichtung des crog zu. Am Wechsel des Rhythmus der Maschinen war deutlich zu erkennen, daß es die Fahrt verringerte und zur Landung ansetzte.
Als es außer Hörweite war, merkte Elspeth, daß sie fast ebenso stark zitterte wie Darren, der zu dem toten Schwarzflügler hinüberging und sich dort stumm und bedrückt niederhockte.
„Davor brauchst du keine Angst zu haben“, rief sie und ging zu ihm. Ich rede ja furchtbaren Unsinn. Wer weiß, was die hier vorhaben.
Eine fließende Erinnerung an ihre Kindheit: an die weitläufige Metropole Neu-Anzat auf der Pleidase IV, an das ständige Rumpeln der Raketenschiffe über der Stammeshauptstadt. An jenen Tag der großen Schmerzen, an die rituelle Brustamputation, die sie ertragen hatte, unter den Objektiven der Kameras, ohne einen Wehlaut, ohne eine Träne. An die großen Schiffe, die durch die Wolken gestoßen waren und die Invasion in das wüste Land der nördlichen Hemisphäre getragen hatten. Vor dem abscheulichen akustischen Hintergrund dieser röhrenden Schiffe hatte sie zugesehen, wie ihr Leib auf barbarisch schöne Weise verstümmelt wurde. Wie die blitzenden Juwelen in das rohe Fleisch der Wunden genäht wurden. Die Hymnen, das Heulen der Raketen, der Ozongeruch, das schreiende, stöhnende, formlose Geschiebe der Tausende von Stämmen, die in dieser Riesenstadt zusammengepfercht waren, tanzend, lachend, die Initiationsrituale der verschiedenen ethnischen Gruppen feiernd.
Sie erinnerte sich an ihre Freunde – so viele Freunde, so viele Tränen …
Doch als sie versuchte, sich an die Namen, die Gesichter zu erinnern, merkte sie, daß hierin ihr Gedächtnis versagte; davon war nichts mehr zurückgeblieben; die einzigen Erinnerungen waren die an das tödliche Gleiten des Operationsmessers, das ohrenbetäubende Donnern der Raketen, die feuchten Lippen des Chirurgen … er schnitt … er schnitt …
Ihre Freunde waren weg. Die Sekunden vor dem Ritual waren weg. Angestrengt versuchte sie, sich ihr Leben vor der Initiation ins Gedächtnis zurückzurufen … sie wandte sich von Darren ab und fing an zu schreien. Ihre Schreie hallten durch die Lichtung und wurden von den Resonanzböden der winkenden Blaurindenbäume durch den Wald getragen. Voller Überraschung und Schrecken sah Darren sie an, dann rannte er zu ihr und rief sie laut beim Namen.
Immer weiter schrie sie. In ihrem Kopf war Leere, Dunkelheit, ein Nichts, das sie jetzt erst erkannte.
Schiffe.
Schluchzen.
Drängen, Starre, Schmerz …
Doch nichts von dem, was vorher war. Die Vergangenheit entglitt ihr bereits. Sie wußte, daß es so kommen würde, sie hatte es erwartet; aber daß es wirklich geschah, war ein Schock, den sie nur ertragen konnte, indem sie schrie.
Als sie zu schluchzen aufhörte, hielt Darren sie noch im Arm. Es war dunkel. Irgend etwas war aus dem Dschungel herausgekrochen und hatte die restlichen Schwarzflüglerstücke geraubt.