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Elspeth war jetzt etwas wärmer gekleidet: kurzer weiter Rock und Jacke. Sie hockte in dem kleinen Unterschlupf, den sie sich vor zwei Tagen gebaut hatte, und wartete auf Moir.

Wo blieb das Mädchen nur? Sie hatte versprochen, sofort zurückzukommen, wenn sie hörte, daß die Fremden auf dem Marsch zur Erdburg waren. Das war jetzt Stunden her, buchstäblich Stunden. Leute in einem Schiff von der Erde würden doch bestimmt nicht soviel Zeit mit bloßem Dasitzen und Beobachten vertrödeln?

Aber natürlich saßen sie nicht bloß so da und beobachteten. Sie hatten Augen-Roboter ausgeschickt, die das Gelände absuchten; von einem war sie heute früh entdeckt worden, als sie zur Fähre rannte, um auf die orbitierende Basis zurückzukehren. Was mochte sich wohl der Mann am Monitor bei ihrem Anblick gedacht haben? Eine schwarze Frau in der Welt pelziger Humanoiden … das Verwirrspiel wurde zweifelsohne zum Chaos: Nicht nur, daß er keine normale Kolonie vorfand; es kam auch noch ein nackter, ebenholzschwarzer Frauenleib hinzu, der wie der Blitz am Fluß entlangsauste zu der Stelle, wo der kleine Zubringer sicher im Busch verborgen lag.

Komm doch, Moir! Und warum hatte Moir darauf bestanden, daß sie hier warten sollte, hier mitten im Walde, nicht im Dünengraben?

Schlimm war nur, daß sie unmöglich allein ins Herz des crog gelangen konnte, um zu sehen, was diese Leute, diese Neuen Tiere, eigentlich wollten. Nur weil sie landfremd war, mußte ihr die Feuerstelle nicht unbedingt verboten sein – es gab viele nomadisierende Gruppen auf dem Aeran (hauptsächlich nues), die gelegentlich beim crog auftauchten, aus dem ihre Ahnen einst vertrieben worden waren; sie wurden in der Burg mit größter Höflichkeit behandelt – vorausgesetzt, daß sie friedlich waren –, aber das nützte Elspeth gar nichts. Sie wollte die Zugehörigkeit zur crog-Gesellschaft. Im Hinblick darauf hatten die Ungenn, die Ältesten aller Familien innerhalb der Erdwälle, empfohlen, daß sie die Feuer-Halle über die vorgeschriebenen Rundwege gewinnen sollte, die das Initiationsprogramm für die jungen Krieger-Anwärter vorschrieb: um den äußeren Wall des crog (das hatte sie schnell geschafft) und dann in den Dünengraben, die tiefe Rinne zwischen den Erdwällen; von hier aus konnte sie aber erst in die Burg hinein, wenn sie einen Schwarzflügler gefangen hatte. Das hatte sie jetzt getan und durfte durch eines der Tore im inneren Wall den äußeren Umkreis des Feuerscheins betreten, den offenen Raum um die äußere Feuergrube.

Doch hier waren noch die inneren Rundgänge zu passieren, labyrinthartige, von Blaurindenstämmen und Steinen begrenzte Pfade, die um die große Feuer-Halle mit dem Ewigen Feuer liefen. Dort wurden die Fremden, die Jenseitler, bewirtet. Und dorthin mußte sie. Doch sie durfte nicht …

Wobei Moir ihr helfen sollte, war eigentlich eine Dummheit, aber sie brannte darauf zu erfahren, weswegen das Schiff auf diesem unbedeutenden Kolonie-Planeten gelandet war. Wenn man sie entdeckte, würde sie alles verlieren, was sie gewonnen hatte, alles verderben, was sie erreicht hatte. Doch sie fand, so unvernünftig es sein mochte, daß sich das Risiko lohnte.

Schwitzend, in höchster Eile kam Moir aus dem Busch. Sie fiel neben Elspeth auf die Knie und lächelte, während sie wieder zu Atem kam.

„Warum bist du so gerannt?“ fragte Elspeth.

„Sie kommen jetzt. Wir müssen uns beeilen, sonst kommen unsere Leute durch den Tunnel heraus, ehe wir hineinkommen.“

„Ein Tunnel? Ach so. Ich wunderte mich schon, wie du mich hineinschmuggeln wolltest.“

„Und zieh dir auch deine Kleider aus … sie sind zu hell und auffällig.“

Elspeth mußte lachen. „Und meine Haut nicht?“

„Na ja …“ Moir war verwirrt. Sie sah den Rock und die Jacke an, und ihr junges Gesicht wurde sehr nachdenklich. „Sind das wirklich alles nues, wo du herkommst?“

„Die meisten. Aber wir haben keine Zeit zum Schwatzen, nicht wahr?“

Moir bekam einen Schreck. „Nein, das haben wir nicht. Komm, ich geh voran.“

Sie rannten durch den Wald, und Elspeth war aufs neue davon beeindruckt, wie schnell diese jungen Aerani laufen konnten. Moirs rosa- und orangefarbener Körper geriet ein paarmal beinahe außer Sicht; sie sprang über Äste und Gruben, stürzte sich in Büsche gefährlich aussehender Pflanzen, bei denen Elspeth, wenn sie hinterhersprang, fest die Augen zukniff und die Bauchmuskeln anspannte vor Angst, plötzlich von fleischigen Mäulern umringt zu sein. Doch für ein Wesen von Elspeths Größe war der Urwald ziemlich ungefährlich. Nur ihre Beine machten nicht mit. Sie wollten sich einfach nicht schnell genug bewegen.

Sie kam – sie wußte nicht, wie – in die weite Lichtung und rannte auf Moir auf, die stehengeblieben war, um wieder zu Atem zu kommen. Beide fielen zu Boden, und Moir lachte.

„Bin ich zu schnell gelaufen?“

Elspeth schüttelte den Kopf. Ihre Lungen schmerzten vor Anstrengung so, daß sie kaum sprechen konnte. „Wie kommst du denn darauf …“ Sie schlug sich an die Brust, um den Schmerz zu dämpfen. „Wir sind doch bloß so geschlendert …“

Moir kicherte wieder, rappelte sich hoch und kratzte sich unbewußt den Bauch. Nach der gestrigen leichten Feindseligkeit hatte sich das Mädchen auf einmal für Elspeth erwärmt und hatte sich heute früh besondere Mühe gegeben, sie zu finden und mit ihr zu sprechen. Vielleicht hatte Darren ihr Vorhaltungen gemacht, so daß sie sich nun ihrer Kälte schämte; oder vielleicht lag es auch an dem Scherz über das ‚Hängen’, daß Moir sie jetzt ohne weiteres Unbehagen akzeptierte. Auf jeden Fall war das, was Moir jetzt tat, nur als großer Freundschaftsdienst zu bezeichnen; denn wenn Elspeth in der Feuer-Halle entdeckt wurde und es herauskam, daß Moir sie hineingeführt hatte, stand für Moir mehr auf dem Spiel als nur der Verlust ihrer bisher erworbenen Rechte.

In der Lichtung befand sich ein Hügel, völlig regelmäßig, vielleicht fünfzehn Fuß hoch und dreißig im Durchmesser. Eine besondere Art Moos, gewachsen in den Jahrhunderten seit seiner Errichtung, bedeckte ihn; bei näherem Hinsehen erkannte Elspeth, daß er etwas gesackt war: Ursprünglich mußte er ein paar Fuß höher und entsprechend kleiner gewesen sein.

 

Es mußte eine natürliche Lichtung sein, ähnlich der Hochebene, wo der crog war. Auf allen Seiten war dichter Wald, doch die Muttererde war zu flach, um den dichten Dschungel zu ernähren, der das Werk der Menschenhand nicht erreichen, sondern sozusagen nur von ferne mißbilligend betrachten konnte. Wenn Elspeth genau hinsah, konnte sie jetzt die abgeflachten Gräben erkennen, aus denen die Erde des Hügels stammte.

„Wie lange steht das schon?“ fragte sie Moir, die den Hügel anstarrte.

„Weiß nicht. Wohl schon ewig lange.“

„Ist es ein Grabhügel?“

„Innen ist ein Gang und ein Tunnel zum crog. Grabhügel?“

Sie machte ein ganz verwundertes Gesicht. „Warum sollte sich jemand in so einem großen Erdhaufen begraben lassen?“

„Vor langer Zeit vielleicht? Ehe man die Toten in die Marschen und in die Blaurinden-Friedhöfe brachte?“

Moir schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie keine Ahnung, wozu der Hügel gedient haben könnte. Sie ging voran, ein Stück um ihn herum, und kroch gebückt in ein kleines Loch. Es war scheußlich eng und unbequem. Der Gang war nur zwei Fuß hoch und knapp zwei Fuß breit, die Wände bestanden aus kleinen, aufeinandergesetzten Steinbrocken, die Decke aus Platten eines Gesteins von mehr kristallinischem Charakter. Von oben drang ein schwacher Lichtschimmer ein, und als sie ein paar Fuß weit hineingekrochen war, fühlte sich Elspeth, auf dem Bauche kriechend, vorsichtig ab und zu nach oben blickend, äußerst unbehaglich.

Nach ein paar Yards erweiterte sich der Tunnel, so daß Elspeth aufrecht stehen konnte. Sie faßte hoch und konnte gerade die Decke berühren – es mußte eine kreisrunde Kammer sein, etwa zehn Fuß hoch. In der Dunkelheit fühlte sie eine Hand an ihrer Brust, die sich rasch zurückzog: Moir keuchte erschrocken auf, vielleicht weil sie die harten Diamanten in Elspeths Brust gefühlt hatte.

„Suchst du meine Hand?“ flüsterte Elspeth. Warum flüstere ich eigentlich?

„Ja“, erwiderte Moir, „warum flüsterst du? Hier hört uns keiner.“

Elspeth zuckte die Achseln, was ganz unnütz war. „Das kommt mir wie ein heiliger Ort vor. Wo bist du?“

Ihre Hände berührten und umklammerten sich; Elspeth packte Moirs kleine warme Hand mit ihren kalten Fingern, die zitterten … vor Angst? Oder Erwartung? Aber sie fühlten sich noch immer ein wenig unbehaglich.

„Das ist einer der alten Ausgänge des crog“, sagte das Mädchen. „Bei manchen Ritualen wird er immer noch benutzt. Da ist ein Loch im Boden …“

Elspeth fiel auf die Knie, ohne das Mädchen loszulassen. Tatsächlich – sie standen am Rande einer tiefen Grube. Elspeth stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, weil sie nicht weitergetappt war, als der Tunnel so unvermittelt endete; und auf einmal fühlte sie sich auch nicht mehr so beengt.

„Irgendwo an der Seite führen Stufen hinunter in die Höhlen. Wir müssen uns entlangtasten, bis wir an den Gang nach oben kommen. Hast du Angst vor der Dunkelheit?“

„Überhaupt nicht“, antwortete Elspeth voller Zuversicht, „nur vor dem, was vielleicht drin ist.“

„Ich auch“, entgegnete das Mädchen, „aber wenn wir zusammenbleiben, tut’s uns vielleicht nichts.“

„Was? Was kann uns was tun?“

Krampfhaft faßte Moir Elspeths Hand fester und gab irgendwelche Laute von sich, die vielleicht bedeuten sollten: Sei still. Das ist, als wenn man blind ist, dachte Elspeth, während sie den Boden der Kammer mit der freien Hand abtastete. Worauf habe ich mich da eingelassen?

Ihre Finger stießen an etwas Weiches in einer Ecke des Raumes. Weich und krümelig. Sie nahm ein bißchen davon auf und barg es in ihrer Tasche. Wenn es Menschenasche war, würde ihr hinterher wohl etwas komisch zumute sein.

Einen Moment ließ sie Moirs Hand los und tastete ein Stück der kalten felsigen Wand nach etwaigen Symbolen und Ritzzeichnungen ab. Sie fand ein paar einfache Sonnenbilder und die fließenden, verwobenen Linien, die so aussahen wie ein Fluß auf der Karte, die jedoch eine tiefere Bedeutung hatten, an die Elspeth kaum zu denken wagte … und das aufregendste war die unverkennbare Form einer engen Doppelspirale, zwei Spiralen mit einem gemeinsamen Mittelpunkt, parallel verlaufend. Bevor sie die Zeichnung in dem Pechdunkel genauer erforschen konnte, zupfte Moir sie am Ärmel. „Komm weiter!“

Zögernd wandte sich Elspeth von der Felswand ab und hockte sich am Loch nieder. So etwas gab es nirgends in den alten Gräbern in Irland, überlegte sie; es sei denn, die Steinplattenböden jener prähistorischen Tumuli waren in Wirklichkeit Falltüren …?

Das Gefühl von Kälte und Eingeschlossenheit, der modrige Erdgeruch glichen so sehr den rätselhaften Hügelgräbern auf der fernen Erde. So vieles war vertraut, so vieles sogar identisch – der bloße Gedanke daran ließ sie erschauern. Der Kopf schmerzte ihr, wenn sie darüber nachgrübelte, was hier auf dem Aeran vor sich ging, und dabei auf so vieles stieß, was ihr vertraut war.

„Komm doch weiter!“

„Weißt du bestimmt, daß das keine Begräbnisstätte ist?“

Moir schauerte. „Wer möchte sich hier schon begraben lassen? Es ist so … kalt.“

„Aber verbrannte Überreste … ihr verbrennt doch die Augen und Hände eurer ehrenvoll Verstorbenen, nicht war?“

„Diese Asche wird aber unter dem Schlafschirm des betreffenden Mannes vergraben. Hier, an diesem Ort, würde sie niemandem etwas nützen.“

Das muß also schon sehr lange her sein, dachte Elspeth. Vor der Tradition der Augen und Hände: Wenn man in Ehren starb, wurden sie verbrannt; wenn nicht, dann ließ man sie im Marschland verrotten. Der Leichnam wurde im Blaurindenwald an einen Baum gebunden, zum Verzehr durch die Erdgeister. Elspeth hatte diesen »Friedhof bei ihrem ersten Landgang gesehen, und es war ein abstoßender Anblick gewesen. Nach einem Todesfall war es zwei Tage lang verboten, im Wald zu jagen, damit die Geister in Gestalt der Schwarzflügler den Leib verzehren und unbehelligt wieder verschwinden konnten. So wurde die Körper-Anima bewahrt, und die Geister von Augen und Händen konnten die Familie beschützen.

Inzwischen hatte Moir die Stufen gefunden, und sie stiegen in das Loch hinab, vorsichtig und unter Schmerzen (denn die Steine waren rauh), etwa fünfzehn Fuß tief; dann standen sie in einem unterirdischen Gang. Hand in Hand tasteten sie sich vorwärts, berührten die eiskalten Felswände, stolperten, suchten, näherten sich der Stelle, wo der Gang unter den Erdwällen des crog hindurchging. Manchmal rührten Elspeths Finger an eingemeißelte, schadhafte Symbole, die sie schon kannte und bereits interpretiert hatte. Hier und da waren aber auch unbekannte Runen in den Stein gemeißelt.

In der Ferne rauschte Wasser, und einmal, als sie durch einen weitläufigen Raum kamen, öffnete sich zu ihrer Rechten ein Gang, an dessen Ende ein Licht schimmerte.

„Was ist das?“ flüsterte Elspeth.

Moir hätte beinahe aufgeschrien, um ihr Schweigen zu gebieten; sie schlug ihre kleine Hand über Elspeths Mund, murmelte eindringlich und zerrte die Jenseitlerin von dem Gang mit dem rätselhaften Schimmer weg.

„Der Seher“, hauchte sie.

Und sie kamen an den Tunnel, der nach oben führte. Moir kletterte voran, spähte durch den engen Ausgang, kroch hindurch, wandte sich um und winkte Elspeth nachzukommen. Sie stemmte sich durch den engen Spalt und befand sich zwischen behauenen Blaurindenstämmen und Steinen: ein dunkler Gang, verlassen, mit Lücken in der inneren Wand, die Durchblick in einen zweiten Gang gewährten. In der Ferne hörte sie Stimmen.

Sie war in der Feuer-Halle. Zurück konnte sie nun nicht mehr. Tief gebückt, in Deckung, so gut es möglich war, schlichen sie durch die Gänge und gelangten in den Hauptgang, der um das eigentliche Zentrum der Feuer-Halle lief. Diese war ein weitläufiger Raum, in dem das Ewige Feuer hoch und wild mit schräger Flamme prasselte. Kochgruben und Gefäße säumten die Wände; in der Mitte befand sich der leicht vertiefte Kreis für Versammlungen. Drei bejahrte Frauen, den Pelz mit Holzkohle beschmiert, hockten beim Feuer, bewachten die Flammen und warfen ab und zu Steinsplitter in die Glut.

Die inneren Wände bestanden aus Steinplatten, wohl die Reste eines Ringes von Menhiren; die Quer-Stürze waren entfernt und mit einer durchhängenden Flechtmattendecke ersetzt. Zwischen den Steinen spähten ein paar Gesichter, doch der Gang lag größtenteils im Dunkeln, denn er diente nicht dem Verkehr, sondern rituellen Zwecken. In diesem Schatten fühlte sich Elspeth einigermaßen sicher und geborgen.

Die Jenseitler waren schon da. Sie saßen steif und unbequem den drei Ungenn und mehreren Familienhäuptern gegenüber, den Ältesten jeder der drei Generationen der bedeutendsten Familien. Darren saß mit kalter, feindseliger Miene im Kreise neben seinem Vater, der mit seinem gelblichen Knochenschwert spielte. Es waren über zwanzig Aerani, manche jung, manche so alt wie der älteste Ungenn, Darrens Großvater.

Ihnen gegenüber: vier Männer und zwei Frauen. Der große, starkgebaute Mann, reich gekleidet, fließende Robe und Umhang, genietete Riemen über der Brust – dieser Mann mußte der Führer der Gruppe sein. Er bot einen prächtigen Anblick: tiefliegende Augen, das lange, dunkle Haar zurückgekämmt und im Nacken zu einem ausladenden, gelockten Schweif zusammengebunden. Die Männer und Frauen an seiner Seite sahen nicht so prachtvoll aus; sie waren alle gleich gekleidet und hatten alle die gleiche eindringliche Miene aufgesetzt – eine Maske eindringlicher Ausdruckslosigkeit. Steckte Furcht dahinter?

Da war einer, ein alter Mann, der an den Wänden der Feuer-Halle entlangging und die Waffen und Wandzeichnungen mit professionellem Interesse studierte. Er bewegte sich auf die Stelle zu, wo Moir und Elspeth hockten. Ob er sie sehen würde?

Das Feuer prasselte laut. In seinem glänzenden Widerschein traten die Runen und Symbole auf den Felswänden stark, faszinierend, reliefartig heraus. Elspeths Augen sogen alles ein, absorbierten jedes Detail der Feuer-Halle und blieben schließlich auf dem größten Stein der inneren Wand, direkt hinter den Ungenn, haften.

Der Magen drehte sich ihr um – eine Eingeweidereaktion, wie man sie bei völliger Überraschung hat. Ein großartiges Symbol, eines, das sie auf dieser Welt noch nicht gesehen hatte, und doch eins, das sie wohl kannte: ein großräumiges Drei-Spiralen-Muster, keine fortlaufende Linie, sondern drei Spiralen dicht beieinander in Dreiecksformation, ein doppelter Mittelpunkt, der in Parallelen ausstrahlte, das Auge zum Verfolgen der engen, sich bis zu ausladenden Armen erweiternden Kurven herausforderte, von mikroskopischer Kleinheit bis zu makroskopischer Weite. Ein Symbol, das sie bereits auf der Erde gesehen hatte, ein seltenes, rätselhaftes Symbol. Die Spirale an sich war etwas ganz Gewöhnliches, die Doppelspirale wohlbekannt, und verbundene Spiralen fand man überall auf dem westeuropäischen Kontinent; doch diese Dreierdarstellung war selten … selten auf der Erde, und auf dem Aeran hatte Elspeth sie bis jetzt auch noch nicht gesehen.

Fragend wandte sie sich zu Moir um und deutete auf das Spiralenmuster. Verwundert, vielleicht weil Elspeth nach so etwas Selbstverständlichem fragte, gab Moir den Blick zurück.

„Der Erdwind.“

Es klang ganz einfach, unbedacht, gleichgültig. Der Erdwind, das Symbol, das ihnen das Leben gegeben hatte, aber mehr als ein Symbol war, etwas, das tief in die Vergangenheit des Aeran hineinreichte, bis in die Wurzel dieser primitiven Menschen. Darren war es unangenehm gewesen, daß sie nach dem Erdwind fragte. Moir schien es nichts auszumachen; aber Moir war auch jünger, und vielleicht war sie unbewußter als die anderen jungen Leute, mit denen sie zusammen war. Elspeth bekam Lust, dieses tollkühne Unternehmen auf der Stelle abzubrechen, sich ganz unauffällig auf ihr Schiff zurückzuziehen und dort nachzudenken.

Moir keuchte erschrocken auf. Elspeth blickte hoch. Der alte Mann aus dem Schiff stand über ihr, an der anderen Seite des steinernen Ringes, und starrte sie an. Verwundert kniff er die Augen zusammen, doch er sagte nichts. Gleich darauf stand ein zweiter Mann neben ihm, aber der sah sie nicht.

Elspeth erkannte den Seher der Kolonie, einen alten Mann namens Iondai.

Die beiden Männer schienen einander wortlos, vielleicht unbewußt zu erkennen. Sie blickten sich lächelnd an und wandten sich dann den Stimmen zu, die sich unten, ein paar Yards tiefer in der Halle, in erregter Diskussion erhoben hatten. Das lodernde Feuer, dessen Wärme Elspeth trotz der beträchtlichen Entfernung von den prasselnden Scheiten spüren konnte, warf seltsame, tanzende Schatten auf die Felsenpfeiler und über den trockenen Erdboden. Die Züge des ältlichen Erden-Mannes über ihr schienen sich jedesmal, wenn er den Kopf hierhin oder dorthin wandte, leicht zu verändern, als ob das Fleisch nicht fest säße, sondern ein Eigenleben führe und kompliziertere Gefühle ausdrücke, als der Mann selbst merkte. Es war das Feuer, das Licht, die flackernde Flamme, die bei den Menschen, die so ernsthaft in dem umhüllenden Bogen seiner Wärme beieinandersaßen, das Verborgene an die Oberfläche brachte.

„Eine andere Welt hat durch die Vollkommene Finsternis nach uns gegriffen.“

Iondai hatte diese Worte leise ausgesprochen, tonlos, ohne Andeutung, an wen sie gerichtet waren. Der Fremde blickte ihn an. „Wie bitte?“ Er sprach, wenn auch mit einiger Mühe, Aerani, eine dem Inter-Ling verwandte Sprache.

„Eure fremde Welt – ich hörte dem Mann in der Mitte eurer Gruppe zu.“

„Ja.“ Der Fremde sah auf die Diskutierenden hernieder. „Eine riesige Staubwolke. Sie verdunkelt viele Sterne.“

„Die Vollkommene Finsternis“, wiederholte Iondai nachdenklich. „Es ist mir niemals der Gedanke gekommen, daß es jenseits davon auch noch Sterne geben könnte.“

„O doch“, erwiderte der Fremde. „Viele Millionen. In ein paar Jahrhunderten werden die helleren anfangen, durch die Wolken zu scheinen.“

Iondai lachte leise. „Das verstehe ich nicht. Aber es ist aufregend. Die Vollkommene Finsternis war die Geburtsstätte des Erdwinds.“ Er blickte zu dem Drei-Spiralen-Symbol hinauf. „Ich habe mich oft gefragt, was das für eine Stätte war.“

Der Fremde starrte auf den Felsen, und auch Elspeths Augen wurden wieder von der riesigen Zeichnung angezogen. Ihre Haut kribbelte.

Die beiden Männer wandten sich wieder der Diskussion zu, die unten weiterging, und entfernten sich langsam von Elspeth. Sie stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus und warf einen Blick auf Moir, die so stark zitterte, daß man es sah, obwohl sie im Dunkel hinter diesem Pfeiler hockte. Langsam schob sich Elspeth ein Stückchen vor – ihre dunkle Haut würde ihr wohl zusätzlich Schutz gewähren, so daß kein scharfsichtiger Krieger sie entdeckte – und hörte zu, was die Männer vom Schiff redeten.

 

Moir zupfte sie am Arm. Scharf fuhr Elspeth zu ihr herum, ärgerlich, weil sie aus ihrer Konzentration gerissen wurde. Es war schwer genug, alles zu hören, was in dieser Entfernung gesprochen wurde. „Was ist?“

Überrascht sah sie, daß Moirs Augen voller Tränen standen, ihr Gesicht eine Maske des Schreckens war. Sie legte Elspeth heftig die Hand auf den Mund und starrte angstvoll in die Feuer-Halle hinunter.

„Wir müssen hier weg“, drängte sie flüsternd, „o bitte, Elspeth, komm doch!“

Elspeth schüttelte den Krampfgriff des Mädchens ab und blickte in den Kreis der Männer und Frauen. Mehrere Gesichter waren zu ihr hingewandt. „Warum? Haben sie uns denn gesehen?“

In stummer Hysterie zerrte Moir an Elspeths Jacke, packte ihren Arm und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Tränen rannen über ihr Gesicht, doch sie gab keinen Laut von sich.

„Was ist denn nur, Moir?“

„Komm doch bloß – du weißt ja nicht, was du tust!“

„Was tue ich denn?“ fragte Elspeth. Blanke Wut sprach aus ihr, sie hätte jeden Menschen ermorden können, der … was sie da unten hörte, war schlimm genug, und das irritierende Benehmen dieses Mädchens brachte ihre Wut auf den Höhepunkt.

„Du hast laut gerufen, Elspeth. Sie haben dich gehört. Wenn sie herkommen und sehen, wer wir sind, töten sie uns. Bitte komm doch!“ In ihrer schrecklichen Angst sprach sie jetzt selbst so laut, daß man unten aufmerksam werden mußte.

„Gerufen? Ich habe nicht gerufen …“ Sie zwang ihre Stimme zum Flüstern, doch es ließ sich nicht leugnen, daß die Diskussion unten stockte; verwunderte Gesichter starrten zu ihr empor. Niemand bewegte sich.

„Doch, Elspeth! Sie werden uns töten!“

Plötzlich merkte sie, daß die beiden alten Feuer-Wächterinnen quer durch die Feuer-Halle auf sie zugeschritten kamen. Darren war aufgesprungen und wartete anscheinend auf die Erlaubnis, hinüberzugehen und nachzusehen, was es da gab.

Elspeths Herz sprang und raste; ihr wurde plötzlich so schlecht, daß sie völlig hilflos war. Das kam teils davon, was sie gehört hatte, und teils davon, was sie getan hatte: Sie war laut geworden, unbewußt hatte sie ihre Wut über das Gehörte hinausgeschrien … hatte Aufmerksamkeit erregt, wo sie doch angstvoll und lautlos hätte sitzen bleiben sollen, unsichtbar und unbemerkt.

Moir sprang auf und rannte weg. In panischer Angst rannte Elspeth hinterher, durch die dunklen Gänge zum Fluchttunnel. Sie quetschten sich durch den engen Eingang und erreichten Sekunden später die Höhlen unter der Erdburg. Wurden sie verfolgt? Es war nichts davon zu hören, daß jemand direkt hinter ihnen herkam. Moirs drängendes Zupacken hatte sie der Gefahr entzogen. Sie rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren; mit den Händen an der Wand, laut keuchend, suchten sie den Weg zur Lichtung.

Sie erreichten den Schacht und kletterten in den Hügel hinauf; es war nicht so schwer wie das Hinunterklettern. Und zuletzt krochen sie durch den steinbegrenzten Gang von der durch Tragsteine gestützten Kammer in die kleine Lichtung hinaus.

Kalte Luft, der scharfe Geruch moosiger Vegetation – … kein Laut … kein Verfolger hinter ihnen.

Moir brach in Tränen aus, und Elspeth, an den trockenen Waldboden geschmiegt, schmutzig und zerkratzt von der mühseligen Flucht, schlang tröstend den Arm um das Mädchen.

„Du hattest doch versprochen, daß du still sein würdest“, schluchzte Moir.

„Ja – es tut mir leid, wirklich. Ich bekam eben so … so eine Wut.“

Moir wischte sich die Augen; der Pelz auf ihrem Handrücken war ganz strähnig vor Tränen. Sie hörte auf zu weinen, versuchte, die nassen Haare mit den Fingern zu trocknen, rieb sie heftig. Auf einmal sah sie zu Elspeth hoch, lächelte und schüttelte den Kopf.

„Ich habe uns wohl ganz schön Angst gemacht“, sagte Elspeth.

Moir nickte heftig. Sie lachten beide, doch Elspeth war weniger nach Lachen als nach Weinen zumute.

Diese Schweine!

Was bildeten die sich eigentlich ein? Sie würden alles kaputtmachen, ihre ganze Arbeit zunichte machen, das Aerani-Volk zunichte machen … doch wie sollte sie diese Leute davon überzeugen, daß das falsch war? Unbedingt mußte sie ihnen klarmachen, wie zerstörerisch ihr Angebot war.

Doch sie erkannte bei den Fremden die Symptome jenes Gefühls, das die stärksten Motive schafft – der Angst. Schiere Angst erfüllte diese Männer und Frauen, bis tief in die letzte Zelle ihrer Hirne, die letzte Faser ihrer Muskeln. Die Angst vor der Vergeltung. Als junges Mädchen, im Zentrum der Föderation, hatte Elspeth es kommen sehen, in einer Welt, wo das alte Regime bereits eine Minderheit war und die Sicherheitsbehörden praktisch aufgehört hatten, sich um die aufrührerischen Umtriebe der revolutionären Gruppen zu kümmern … es war schon selbstverständlich, daß die Alten weg mußten, die alte Ordnung einen Tritt bekam, das Zentrum der Macht von der kaputten alten Erde zu den neuen Hochburgen der Zivilisation um den Planeten Elektra verlegt werden mußte …

Elspeth hatte es kommen sehen, hatte es geschehen sehen (die Raketen über der Stammes-Stadt … und innerhalb eines Jahres war die Stammes-Stadt nur noch eine riesige Ruine, Jahrhunderte an Kultur und Kultus von der neuen Intoleranz zu Boden getrampelt), und tief im Innern hatte sie keine Angst gehabt, hatte es nicht bedauert. Allerdings hatte sie diese Entwicklung, diese Wendung nicht erwartet.

„Alle sind sie so böse“, sagte Moir; „ich mag das gar nicht mitansehen. Wir haben viel zu viele Duelle, zu viele Menschen werden umgebracht. Ich mag keinen Streit.“ Sie schauerte. Es gab, wie Elspeth wußte, keine Familie, die nicht in der jüngsten Vergangenheit einen oder mehrere Angehörige in blutigen, mörderischen Ehrenhändeln verloren hätte. An den Innenwänden der inneren Düne gab es Hunderte von Nischen in der Erde … jede dieser Nischen barg einen Kopf, abgehauen der Ehre wegen, mit diesem Begräbnis geehrt, damit er das Leben in der Erdburg von seinem bevorzugten Platz noch im Tode mitansehen konnte. Es gab wenige Aerani, die nicht die Hoffnung hegten, eines Tages in einem Ehrenhandel zu fallen – das war ihnen lieber als der Alterstod, nach dem sie als Asche unter den Schlafstellen ihrer Kinder enden würden.

„Kannst du ihnen das wirklich verdenken?“

„Sogar die Ungenn werden böse“, erwiderte Moir und sah zu Elspeth hoch. „Die dürften doch nicht böse sein – aber sie sind es doch.“

„Kannst du es ihnen verdenken?“ wiederholte Elspeth. Merkwürdig, wie sie angesichts der Betrübnis, der Angst dieses kleinen Mädchens ruhiger geworden war.

„Ich habe nicht verstanden, was da gesprochen wurde“, murmelte Moir. „Ich habe die Worte nicht verstanden. Sie hatten keinen Sinn …“

„Ich glaube, nur sehr wenige unter den Erwachsenen in diesem Kreise haben auch nur einen Teil dieser Worte verstanden“, tröstete Elspeth. „Aber sie haben ganz gut begriffen, daß sie Spione bei sich aufnehmen sollen.“

 

Sprachlich hatten sie natürlich alles verstanden – die leichte Abweichung des Inter-Ling, das die Besucher höchstwahrscheinlich gesprochen hatten, von der Aerani-Sprache bot keine Schwierigkeiten –, aber es war ungeheuer schwierig, das, was erklärt werden sollte, in einer Sprache zu erklären, die so viele Wörter verloren hatte – etwa das Wort ‚Mond’, sinnlos für eine Welt, die keinen solchen Satelliten mehr besaß, und zweifellos rasch vergessen –, und so hatte die Diskussion schief, gezwungen, scheußlich patronisierend geklungen. Der Schiffs-Meister – Gorstein hieß er wohl – hatte gut daran getan, ruhig und gesammelt zu bleiben und seinen Auftrag so klar vorzubringen.

Aber welch einen Auftrag!

„Diese … Dinger …“, begann Moir, und ihr Gesicht war ganz verzerrt vor Anstrengung, weil ihr das Wort nicht einfiel.

„Die Monitoren?“

„Ja. Wie sehen die eigentlich aus?“

Wie kann man beschreiben, wie der menschliche Verstand aussieht? „Sie sehen gar nicht aus, Moir. Das sind einfach – denkende Einheiten …“ Einheiten! Wie schwer ist es, Wörter nicht spezialisierend zu benutzen! „Sieh mal, Moir … du hast doch einen physischen Leib, ja? Und in diesem Leib hast du ein Stück, das denkt. Verstehst du?“

„Ich denke mit meinem Kopf, nicht mit meinem Leib.“

„Ja, natürlich. Jedenfalls, dieser denkende Teil, ohne den Kopf selber, ohne Fleisch und Knochen, das ist so etwas wie diese Monitoren.“

„Und diese Leute wollen uns noch Extra-Denkdinger in die Köpfe setzen. Wie komisch!“

„Das ist gar nicht komisch!“

„So meinte ich das auch nicht“, sagte Moir entschuldigend. „Ich meinte nur, es müßte komisch sein, wenn man zwei Denk-Dinger in einem Kopf hat. Das wäre so, als wenn Engus und ich alle beide in mir sind … na ja, manchmal ist er das ja …“ – sie kicherte, zwang sich aber zum Ernst, als sie sah, was Elspeth für ein ernsthaftes Gesicht machte.

„So wäre das nicht.“ Wollte Moir sie necken? „Der Extra-Verstand – das Denkstück – wäre ganz still, du würdest es gar nicht merken. Aber es würde alles aufnehmen, was du aufnimmst, und da es auch noch in einem anderen Hunderte von Meilen entfernten Körper denkt …“

Moir kam da nicht mehr mit; sie hatte es offensichtlich schon nicht verstanden, als Gorstein es erklärte. Wie konnte man das Prinzip der transspatialen kortikalen Resonanz einem Volk nahebringen, das noch nicht einmal das Prinzip des Hebels begriffen hatte? Wie konnte man ihm die besondere Angst klarmachen, die eine Regierung bewog, sogar die unbedeutendste Kolonie im Auge zu behalten, damit es nur ja keine Aufstände gäbe?

„Außerdem“, fuhr sie fort, um das Thema zu wechseln, „darum geht es ja gar nicht. Niemand hat das Recht, eine Kultur wie die eure zu manipulieren.“

„Sie haben uns doch gesagt, wir gehörten alle zum gleichen Volk … es gibt Millionen von uns, nicht nur in diesem crog – und dann noch die Bergnomaden.“ Moir wurde jetzt erregt. „Aber sie, und du auch, ihr seht so ganz anders aus. Das stimmt doch nicht. Wir können doch nicht alle zur selben Rasse gehören.“

„Nun …“ Es wurde kalt, und Elspeth war immer noch nicht zu einer Entscheidung gelangt, was zu tun war. „Es würde zu lange dauern, wenn ich es dir erklären wollte, aber ich glaube, es stimmt doch. Vor Hunderten von Jahren kamen deine Vorfahren aus einer viel größeren Siedlung in den crog. Und sie sahen, na ja, meistens rosa aus, wie deine Schultern. Deine Körperbehaarung ist etwas, das wir milieubedingt nennen – die Sterne am Himmel, die andere Luft, die verschiedene Ernährung, alles das macht Unterschiede …“ – was konnte sie dafür sagen? – „… die Umweltbedingungen – die unterschiedliche Umgebung. Jeder von uns, ich auch, ist in Harmonie mit allem, was um uns ist. Wenn man die Umgebung wechselt, dann passieren komische Dinge mit dem Körper. So wie Pelzbehaarung oder dicke Haut, oder … hundert Dinge. Wir nennen das unkritische ökokosmologisch-genetische Programmierung, ja?“

Moir riß die Augen weit auf. „Wie war das?“

„Laß nur. Die traurige Tatsache ist, daß eure Leute hier so ganz anders sind, als die Jenseitler erwartet haben, und zwar verschieden in Verhaltensweisen, die keiner von uns versteht. Ihr wißt nichts mehr von eurer Herkunft. Der Aeran ist ein sehr seltsamer Planet, und diese Leute im Schiff werden euch wahrscheinlich ganz und gar durcheinanderbringen.“

Moirs Gesicht war völlig ausdruckslos. Planet, Schiff … die Wörter sagten ihr wahrscheinlich gar nichts, obwohl die Aerani sie auch kannten, wenn auch in anderer Bedeutung. „Ich muß sie dazu kriegen, daß sie wegfahren und euch in Ruhe lassen. In einer Art ist der Schaden schon passiert – ein Mythos etabliert, eine Ungewißheit … und …“ Sie verstummte und barg den Kopf in den Händen. „Hör zu. Ich tue dasselbe. Ich sage dir Dinge, die du überhaupt nicht hören solltest.“

Sanft und liebevoll strich Moir ihr das Haar aus dem Nacken und streichelte zärtlich die weiche Haut. Elspeth erschauerte vor Wohlgefühl. „Das ist schön. Aber du bist nicht vom richtigen Geschlecht.“

„Ich mag nicht, daß du so bedrückt bist.“

„Ich mag es auch nicht, Moir.“ Sie wandte sich um und sah dem jungen Mädchen ins Gesicht. „Du warst gestern so feindselig zu mir, so ablehnend.“

„Ich hatte Angst vor dir.“

„Aber jetzt nicht mehr?“

Moir schüttelte den Kopf. Lächelte. Sie fuhr mit der Hand an Elspeths Hals herab und um den Ausschnitt der Jacke. Wo die Haut über den zwei kleinen Diamanten gespannt und empfindlich war, spürte Elspeth die Finger des Mädchens – verführerisch, versuchend; sie tasteten und gingen wieder, fühlten in der Hautfalte zwischen Weichheit und kristallener Härte. Elspeth beugte sich vor, ihr Körper zitterte der jugendfrischen Berührung entgegen, sie preßte ihren Mund auf Moirs Lippen. Moir wich nicht zurück, sondern schloß die Augen, tastete Elspeths Zunge mit der ihren ab, ließ die Hand fester auf ihrem Körper ruhen.

Befangen löste sich Elspeth. Die beiden Mädchen starrten einander sekundenlang an und ließen sich dann los, wandten die Köpfe und blickten auf die Blätterwand, aus der im aufkommenden Wind fremdartige Töne erschollen.

„Ich verstehe gar nichts“, sagte Moir leise, „überhaupt nichts. Es ist alles so dumm. Aber fürchterlich ist es auch. Ich bin sehr froh, daß die Ungenn und alle Familien so böse darüber waren.“

„Du widersprichst dir ja! Eben hast du gesagt, sie hätten nicht böse sein sollen.“

„Habe ich das gesagt?“ Sie legte den Kopf auf die Knie. Ein Parasit, eine kleine, glänzend schwarze Kreatur, kroch an ihrem Bein hoch, sie faßte rasch zu und zupfte das Tierchen aus ihrem Pelz. Langsam riß sie ihm die Beine aus und sagte dabei: „Also, das habe ich mir anders überlegt. Jetzt bin ich froh, daß sie böse waren. Die Jenseitler bekamen anscheinend Angst.“

„Aber sicher“, nickte Elspeth und sah zu, wie die Stücke des kleinen Parasiten zwischen Moirs Beinen zu Boden fielen. „Es ist eine Angst, die eigentlich keinen Sinn hat, aber Angst hatten sie. Sie hatten Angst, als die Ungenn sich so hartnäckig weigerten, das Angebot anzunehmen, aber als das Tangelkraut die beiden Leibwächter entwaffnete, hatten sie keine Angst mehr. Hast du das bemerkt?“

„Sie wußten gar nicht, was geschah“, lachte Moir, „es ging so schnell.“

„Aber der Schiffs-Meister nahm es sehr übel. Ich dachte, Darren und sein Vater – dein Vater – würden einmal, als er so überheblich war, auf ihn losgehen.“

„Ich ärgere mich mächtig über meinen Vater“, sagte Moir bissig. „Er und Darren gehorchen dem Orakel nicht – oder jedenfalls gehorchen sie nur, wenn es ihnen paßt. Aber das Orakel weiß Bescheid, und sie sollten sich mehr nach ihm richten.“

Beide fielen in Schweigen, und dann griff Elspeth in die Tasche und holte das Pulver aus dem Hügel hervor. Sie starrte es an; es war ihr ein bißchen unangenehm, und schließlich ließ sie es durch die Finger zu Boden rinnen. Asche – unverkennbar Asche und pulverisierte Knochen.

Da hörten die beiden Mädchen, wie jemand aus dem Tunnel des Hügels herauskroch. Sie fuhren herum, starrten auf den Erdaufwurf, warteten eine knappe Sekunde, blickten einander entsetzt an, sprangen auf und rannten los.

Mit Windeseile verschwanden sie im Wald, blieben stehen, starrten zur Lichtung zurück und begannen dann einen sehr vorsichtigen und schmerzensreichen Rückzug.

„Wir müssen uns trennen“, schrie Elspeth – aber sie hätte es gar nicht zu sagen brauchen, denn Moir war schon ein ganzes Stück voraus.

Elspeth wechselte die Richtung und rannte zum Fluß. Als sie einen Moment stehenblieb, um zu lauschen, konnte sie nichts mehr von Moir hören, aber den Verfolger hörte sie ganz deutlich. Wahrscheinlich einer, vielleicht zwei waren hinter ihr her – und sehr schnellfüßig.

Sie zwang sich, nicht auf die Dornen und die scharfen Ränder bestimmter Blätter zu achten, über die sie sonst hinübersprang oder denen sie mit größter Vorsicht auswich. Laut und atemlos pflügte sie durch den Wald; wenn man sie fangen würde, mußte sie das Schlimmste fürchten, und sie war fest entschlossen, sich nicht erwischen zu lassen. Ein Stück weiter den Fluß entlang, gut versteckt, lag ihre Fähre.

Ihr Verfolger – Mann oder Frau – holte stetig auf. Als sie schließlich stehenblieb, um zu Atem zu kommen, und sich fragte, warum sie nicht ihren ‚zweiten Wind’ bekam, hörte sie ihn (oder sie) schnell näher kommen; er (oder sie) war höchstwahrscheinlich jung; und das war, wie sie wußte, noch schlimmer. Die Heranwachsenden waren sehr intolerant, wenn jemand auf frischer Tat beim Bruch der Ritualgesetze ertappt wurde.

Sie erreichte das dünnere Unterholz des Flußufers und lief noch schneller auf den zerfallenen Landesteg zu, wo die tiefe Rinne war, in der sie ihr Fahrzeug versteckt hatte. Ihr Rock war hinderlich, doch sie hatte keine Zeit, ihn auszuziehen. Ihre Beine waren ganz gefühllos, ihre Oberschenkelmuskeln schmerzhaft verspannt, doch sie trieb sie rücksichtslos vorwärts, obwohl sie wußte, daß sie große Schmerzen haben würde, wenn sie sich nachher vom Roboter-Schiffsmasseur bearbeiten ließ.

Völler Schrecken sah sie, daß der helle Schimmer, den sie weit voraus erkennen konnte, der freigelegte Tragflügel der Fähre war. Hatte sie das Fahrzeug bei der letzten Landung nicht richtig getarnt? Bestimmt hatte sie es getan. Sie blieb einen Moment stehen, blickte über die Schulter, nahm zwei tiefe, köstliche Atemzüge – und dann sanken ihre Hoffnungen.

Eine Gestalt bewegte sich bei der Fähre, sprang von Deckung zu Deckung, doch sie erkannte die fließende Robe eines Jenseitlers. Die Hände an den Hüften, der dumpfen Schritte des Verfolgers gewärtig, fand sie sich damit ab, kämpfen zu müssen. Sie schätzte des Mannes Näherkommen ab – sie konnte seinen ruhigen Atem hören und wußte, in ein paar Sekunden würde er sie anfallen. Ihre Hand fuhr unter den Gürtel ihres Rockes und lockerte das winzige Stilett.

Sie wandte sich um, bereit, die Waffe zu ziehen und auf den Angreifer zu schleudern.

„Darren!“

Ohne zu bremsen rannte Darren in sie hinein, und ehe sie die Hände vors Gesicht nehmen konnten, schmetterte seine Faust gegen ihren Unterkiefer und warf sie um. Betäubt, während das scharfe Stechen in ihrem Kopf zu einem dumpfen, intensiven Schmerz wurde, richtete sie sich auf Hände und Knie auf und versuchte, den Erdboden klar zu sehen. Sie betastete ihren Kiefer und ließ die Hand fallen, denn ein brennender Schmerz durchzuckte ihren Schädel. Langsam ordnete sich die Welt wieder, aber ihre Beine wurden zu Sülze. Sie blickte hoch und sah Darren über sich stehen – offensichtlich stinkwütend.

„Steh auf!“ brüllte er sie an. Sie hielt ihm die Hand hin, damit er ihr helfen sollte. „Steh auf!“

Sie quälte sich auf die Füße, bewegte den Unterkiefer und sah ihm so fest sie konnte ins Auge.

„Du bist dumm, Elspeth!“

„Und du hast mir scheußlich weh getan, du Ekel!“

„Totschlagen müßte man dich!“

„Das hast du auch beinahe geschafft“, erwiderte sie und spürte, wie ihr Zorn stärker wurde als die Erschütterung über seine Grobheit. Ihr Kiefer fing an zu schwellen, das Blut sickerte aus den zerrissenen Gefäßen. Der Schmerz wurde stärker, Tränen traten ihr in die Augen. „Ein Menschenkopf ist nicht für solche Hiebe gemacht.“

Zu ihrem größten Erstaunen flog sie auf einmal durch die Luft und fiel in das eisige Wasser des Flusses, nur mit dem Oberkörper in die kalte Strömung, so daß der bittere Schock den Schmerz des zweiten Schlages ertränkte, der die andere Seite ihres Kopfes getroffen hatte, ohne daß sie ihn kommen sah.

„Hör auf!“ kreischte sie, als Darren sie aus dem Wasser riß und grob auf die Füße stellte. Ihre Hand suchte in ihrem Gürtel nach der tödlichen Klinge, aber die Bewegung sah zu deutlich nach Verteidigung aus; er packte ihr Handgelenk und riß es von der Gürtelschnalle weg.

Stöhnend sank Elspeth in die Knie, stützte den Kiefer mit den Händen und schloß die Augen.

„Warum hast du das getan?“ brüllte Darren. Es hörte sich an, als sei er ebenso enttäuscht wie wütend.

„Ich wollte den Auftrag wissen“, murmelte sie; Sprechen tat weh, und es wurde immer schlimmer. Sie konnte den Jüngling nicht ansehen.

„Ich hätte dir schon gesagt, was du wissen wolltest“, knurrte er. „Ich hätte dir alles erzählt. Diese Dummheit hättest du dir sparen können. Du wußtest doch, daß das Unrecht war.“

„Du hättest nicht verstanden, was sie meinen“, erwiderte sie leise und mühsam. „Ich mußte dabeisein.“

„Ich hätte dir die Worte sagen können. Ich hätte sie behalten, und du hättest verstanden, was sie bedeuten. Nein, Elspeth, es war dumm, daß du in die Feuer-Halle gekommen bist. Dumm.“

„Ja, es tut mir leid, aber nun ist es zu spät …“

„Ja! Zu spät!“

Sie fürchtete das Schlimmste. „Sie werden mich wohl töten, wenn ich in den crog zurückkomme.“

Er lächelte verächtlich. „Nein, du kannst ganz beruhigt zurückgehen. Keiner weiß, daß du es warst. Und ich werde es ihnen nicht verraten …“

Erleichtert und gleichzeitig ungeheuer gespannt sah sie zu ihm hoch. Darrens Gesicht war verzerrt und gefurcht, ein viel zu altes Gesicht. Zorn, Verwirrung, Panik waren in seinen Zügen vermischt, alles durcheinander, so daß sein Gesichtsausdruck fast undeutbar wurde, und doch traten alle diese Gefühle deutlich hervor. Denn Darren war aus einem Grunde, den Elspeth nicht verstehen konnte, an einen Wendepunkt gekommen und konnte nicht mehr zurück; sie verspürte eine kribbelnde Angst, als ihr klar wurde, daß sie nun vielleicht aus seinem Leben herausgeschnitten war. Er würde sie nicht töten, das hatte er ja bereits gesagt. Doch er würde ihr nicht mehr helfen, und das war ein großer Verlust für sie.

„Darren …“

Seine Hand klatschte auf ihren Mund und war dann weg. Seine Augen blieben kalt. Es war eine für alle Beteiligten eindeutige Geste.

„Ganz gleich, was du tust“, sagte er langsam, „schaff deine Jenseitler-Freunde aus diesem Land weg. Mach, daß sie weggehen!“

„Darren, ich kann doch nicht einfach …“

Er drehte sich kurz um und rannte los, ein angespanntes Muskelpaket, das in der schützenden Dunkelheit des Waldes verschwand. Elspeth sah ihm nach, die Hände an ihrem schmerzenden Gesicht, bis der Junge ganz und gar verschwunden war und sie nichts mehr hörte. Dann brach sie in Tränen aus. Das war wohl das einfachste.

Aus dem Nichts heraus kam eine Hand und berührte ihre Schulter. Sie schrie erschrocken auf.