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Vor einigen Stunden, gleich nachdem er Elspeth am Flusse alleingelassen hatte, war Peter Ashka an Bord zurückgekehrt, nachdenklich und erregt, besorgt und doch höchst interessiert. Dienstlich lag nichts für ihn vor. Das wunderte ihn zwar, doch es bedeutete zumindest, daß er etwas Zeit zu ungestörtem Nachdenken hatte. Er suchte seine kleine Kabine auf, schaltete das Licht ab und trat an das große Fenster. Draußen war es trübe, und die schwere Wolkendecke machte alles noch düsterer. Schon wurden auf der Erdbastei Fackeln angezündet, und ein Weilchen beobachtete er die geschäftige Tätigkeit.
Der Grund für seine Betroffenheit war Elspeth Mueller und das, was sie erzählt hatte. Es war vielleicht nur eine Laune des Schicksals, mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, die sie mit dem ching auseinandergebracht hatte; doch etwas Bestimmtes an ihrem Bericht ging ihm immer noch im Kopf herum. Er hatte ihr gesagt, daß er dergleichen noch nie gehört hätte; doch jetzt, als er sich alle Einzelheiten des Gesprächs ins Gedächtnis rief, wurde ihm klar, daß er nicht die Wahrheit gesagt und das auch sofort gemerkt hatte.
Aber wo? Und warum?
Es war ein Schnipsel Information, der nicht ans Licht kommen und sich identifizieren wollte. Irgendwann in all den Jahren seines Lebens hatte er gelesen oder gehört, daß eine solche bizarre Veränderung in den ching-Mensch-Beziehungen eingetreten war, und es war ihm so bemerkenswert erschienen, daß die Tatsache noch irgendwo in seinem Gehirn spukte. Aber sein Gedächtnis, zwar nicht so zerbrechlich wie sein Besitzer, doch vielleicht ein bißchen rostig, wollte sich einfach nicht so benehmen wie es sich gehörte. Es gab die Information, nach der er suchte, nicht frei.
Welch ein heimtückischer Freund ist das Gedächtnis, sinnierte er, daß es abwartet, bis man alt und hilflos ist, und dann erst seine neckenden Streiche spielt!
Sein nachlassendes Gedächtnis machte ihm am meisten Angst; Alter und Gebrechlichkeit störten ihn nicht weiter, nicht einmal, wenn er mit jungen Männern und Frauen zusammenkam, ihre Vitalität und Energie beobachtete und geschickt die Gefühls- und Verantwortungslosigkeit ihrer jugendlichen Konversation abbog, die ihn so oft verletzte, obwohl sie es ihm ja nur leichter machen wollten. Nein, es war nicht die physische Beeinträchtigung, unter der er litt, auch nicht die geistige, denn an Schnelligkeit des Denkens und allgemeiner Auffassungsfähigkeit übertraf er jeden an Bord – das mußte er auch, denn er war der Rationalist. Doch das Gedächtnis, ein Geistesgebiet für sich (wenn es auch nicht den Anschein hatte), eine von den anderen wesentlichen Qualitäten des Geistes getrennte Einheit – hier fühlte er den Stich der Eifersucht, ein unbeherrschtes Irritiertsein, wenn er merkte, daß er sich an Geschehnisse und Orte um die Lebensmitte nicht erinnern konnte, an die sich jüngere ganz klar erinnerten, obwohl sie zu der Zeit noch Kinder gewesen waren.
Was er an Gedächtnis noch übrigbehielt (und das war eine ganze Menge), hielt er wert wie einen Schatz. Der natürliche Abbau forderte seinen Zoll. Nur allzuoft kam es vor, daß er an einen zauberischen Augenblick seiner Jugend dachte, an ein Mädchen vielleicht oder an einen Freund, an Menschen, die er herzlich geliebt hatte, und der Name wollte nicht kommen. Das Gesicht war da, eine bestimmte Körperhaltung, der Klang der Stimme, vielleicht der Geruch des Schnees oder eines heißen, stillen Sommers, trockenes Gras, durch das Blätterdach schimmerndes Sonnenlicht. Eine einzelne Szene, ein paar Sekunden eines Erlebnisses, das Stunden gedauert hatte, ihm aber zu einer Essenz geronnen war. Wie ein Symbol, wie das simple Ornament, das soviel bedeuten kann, das nackte Zeichen, das eine Welt an Sinngehalt umfaßt, jedoch viel leichter in unserer auf Chiffren eingestellten Hirnrinde gespeichert werden kann.
Wie lästig, daß seine Lebensjahre auf bloße Minuten zusammengeschrumpft waren! Jede Minute mit Bedeutung vollgestopft, gewiß; doch im ganzen nur eine so unbedeutende Zeitspanne, daß er sich fragen mußte, was er mit all den anderen Stunden und Tagen gemacht hatte. Wie oft hatte er sich gewünscht, Zeit für dieses oder jenes zu haben, hier einen Planeten, dort eine Stadt aufzusuchen, und wie oft hatte die Zeit ihn besiegt; und doch … wieviel Zeit hatte er vergeudet beim Suchen nach dem inneren Frieden, der äußeren Befriedigung, nach der wahren Tiefe des ewigen Meeres der Zeit und der Wandlungen!
Gedächtnis. Es war der Schlüssel zu seiner Vergangenheit, und es schloß ihm nur einen geringen Teil der Türen und Fenster auf; es schränkte seinen Rückblick ein und schien mit einem eigenen Willen zu operieren. Das nahm er tief und bitterlich übel. Seine Eifersucht auf die Kraft und Zielsicherheit seines Jugendgedächtnisses war lediglich ein Symptom dieses Ressentiments. Schon seit langem hatte sich Peter Ashka in sich selbst zurückgezogen und sich auf soziale Isolation eingestellt. Er war sich darüber klargeworden, daß er als Rationalist, der er nun einmal war, dazu verurteilt war, jedermanns und niemands Freund zu sein. Jeder schätzte seine Gesellschaft, keiner wollte Peter Ashka seinen Freund nennen – jeder Rationalist war Freund seiner ganzen Rasse. Doch niemand, nicht einmal Gorstein, war als Mensch sein wahrer Freund. Niemand, außer seinem Gedächtnis und dem ching; und beide, so tröstlich sie auch sein mochten, hatten ihre Grenzen.
Der Gedanke, sogar solche begrenzten Freunde zu verlieren, die Möglichkeit, daß diese Beziehungen durch etwas auf dem Aeran noch stärker abgebaut werden könnten, erfüllte den schmächtigen Asiaten mit großer Furcht. Er hatte schon soviel verloren, er konnte es nicht ertragen, noch mehr zu verlieren.
Er hatte gesagt, wenn er seine Freundschaft mit dem ching verlöre, könnte er nichts Besseres tun, als sich umzubringen. Laut und erschreckend tönten seine eigenen Worte in seinem Innern. Er mußte die Augen schließen bei dem Gedanken; doch sofort war das Vertrauen zum ching wieder auf dem Plan: sieben Monate. Sein Tod würde in sieben Monaten eintreten, und es würde ein friedlicher Tod sein. Selbstmord war kein friedlicher Tod. Dank sei dem tao, dachte er, Dank sei dem tao, daß ich es gewagt habe zu fragen.
Sogleich besserte sich seine Stimmung. Er öffnete ein Wandschränkchen und nahm einen seiner Schätze heraus, die Flachfotografie einer Gruppe junger Männer. Das Bild war schon ganz blau vor Alter; die Ecken waren trotz des harten Materials, auf das die Fotografie aufgepreßt war, zerknittert und eingerissen; aber die zehn Männer waren so lebendig wie eh und je, sitzend oder stehend schauten sie aus der Höhe von fünf Dekaden auf Ashka hernieder. Dieser Blonde am Flügel, der so breit grinste, daß es nur ein falsches Grinsen sein konnte, und doch … nicht falsch … lebhafte Augen, modische Kleidung, die Haltung eines Mannes von bestem innerem Gleichgewicht. Er trug ein Abzeichen mit dem ching-Hexagramm; es war Hexagramm 61, ‚Innere Wahrheit’. Die übrigen neun trugen andere Abzeichen. Da war ‚Stillhalten’, ein ernster Mann; sein Name war jetzt vergessen, doch die Gespräche mit ihm waren noch … noch in großen Teilen gegenwärtig. (Ashka runzelte die Stirn.)
Und da war sein sehr guter Freund … wer? Der Name war ihm auch entfallen, doch das Abzeichen wußte Ashka noch: Hexagramm 21, ‚Das Durchbeißen’. Diese Abzeichen waren natürlich ein Ulk, Spitznamen für die Teilnehmer an der Rationalisten-Konferenz, zu der diese jungen Männer als die frisch graduierten männlichen Rationalisten des Jahres geladen waren – später würden sie sich in die Einsamkeit zurückziehen … für wie viele Jahre? Waren es wirklich zehn gewesen? Sie kamen ihm vor wie zehn Wochen.
Er drehte das Foto um und spürte die Atmosphäre dieser Konferenz in seinem Blut, das lärmvolle Stimmengewirr, den Geruch der Tische aus Kiefernholz, das irritierende nächtliche Rascheln der grünen Vorhänge … und er las die Worte auf der Rückseite des Bildes: ‚Neue Rekruten, Jahrgang 3577. Die Carnuten. Es war seine eigene Handschrift. Carnuten? Da war doch etwas …
Wieder runzelte er die Stirn.
Er wußte, es war ein Scherz, und doch fiel ihm der Scherz nicht ein. Irgend etwas Historisches. Aber was war das für ein Name? Wieso wußte er, daß er dabei lächeln mußte, und doch bedeutete ihm dieser Name nichts?
Dieses Gedächtnis!
Die Tränen kamen ihm, als er wieder auf diese zehn Männer blickte, die ihn in ihrer vollen Jugendlichkeit ansahen. Alle Namen waren weg, außer dem des Grinsenden und seiner ‚Inneren Wahrheit’. Wie ich mich verändert habe! Verdiene ich diesen Spitznamen noch? Dem tao sei Dank – die ganze Konferenz war ihm ansonsten noch gegenwärtig … die raschelnden Vorhänge … die Gerüche … Mit krampfhaftem Griff hielt er das Foto in den Fingern; er starrte auf die Gesichter und strengte sich an, noch mehr Erinnerungen heraufzuholen.
Der Geruch, die Vorhänge, Wasser … Wasser in einem Springbrunnen? Was noch? Was wurde gesprochen, was getan?
Sein Gesicht war schweißnaß, es tropfte von der Kinnlade, Schweiß und Tränen, die still herausquollen, während er angestrengt versuchte, sich zu erinnern. Er wußte, daß er sich erinnern müßte – diese Konferenz lag ihm ständig im Sinn, oftmals durchlebte er wieder ganze Teile davon, ganze Gespräche. Es war doch nicht möglich, daß die Geschehnisse dieser Tage (Wochen?) so vollständig entschwunden sein konnten.
Und doch waren sie entschwunden.
Laute stiegen aus seiner Kehle auf, halbgeformte Wörter, halb vokalisierte Schreie. Was geschah mit ihm? Wie konnte er so völlig vergessen? Das war doch nicht etwa … Elspeth Mueller hatte doch nicht gesagt, daß der Aeran … Hatte er sie völlig mißverstanden? Hatte sie gemeint, daß der Planet tatsächlich zerstörte?
Die Konferenz, der größte Tag seines Lebens … und jetzt war nichts da, nur noch Kiefernholz, Vorhänge, Wasser – nichts weiter; die Konferenz selbst – gewiß, eine halberinnerte Vision von Männern und Frauen, Vertrautheit mit den Gesichtern auf dem Foto, Freundschaft mit den Männern neben ihm – und dann nichts weiter. Nur Leere.
Entsetzt, willenlos zitternd, öffnete Ashka den Schrank wieder und warf das Bild hinein. Schwer lehnte er sich ans Fenster; seine Stirn empfand das kühle Glas als angenehm, Nässe trübte die Scheibe und rann wie Regen daran hinunter zum Sims. Er weinte.
Später sah er jemanden draußen vor dem Schiff stehen, in dem gelblichen Lichtschimmer, der aus dem Luk des Mannschaftslogis neben seiner Kabine kam. Er erkannte den Seher der Kolonie. Der Mann hieß Iondai; doch sonst wußte Ashka nichts weiter von ihm.
Iondai suchte die erhellten Fenster in der steilen Bordwand ab. Wenn dabei sein Blick kurz an Ashkas Fenster hängenblieb, so ließ der Mann kein Zeichen des Wiedererkennens merken; allerdings konnte er ja auch nichts sehen. Suchte Iondai ihn? Oder studierte er nur die Fremden?
Ashka knipste das Licht in seiner Kabine an. Jetzt konnte er draußen nichts mehr sehen, doch sekundenlang betrachtete er den trüben Widerschein seines tränenüberströmten Gesichts. Es verwirrte ihn etwas, aber er ließ seinen irrationalen Emotionen freien Lauf, bis sie von selbst verblaßten. Als er das Licht wieder ausknipste, sah er, daß Iondai zu ihm heraufstarrte und ihm winkte.
Ashka nahm seine Leinentasche auf und fragte sich, was der Seher wohl im Sinn haben mochte, daß er herkam und so offensichtlich nach seinem Kollegen und Gegenspieler Ausschau hielt. Eilends begab sich Ashka wieder hinaus auf den Boden des Planeten. Doch als er unten an der kurzen Rampe stand, sah er sich erstaunt um: Iondai war nirgends zu entdecken. Hell angeleuchtet von dem hinter ihm aus der Luftschleuse fallenden Licht, vor der schwarzen Finsternis stehend, fühlte sich Ashka höchst verwundbar. Doch da sah er eine Gestalt an der Erdbastei, ein Stück links vom Eingang. Sie war schwierig auszumachen, doch Ashka glaubte, daß es Iondai war, und in diesem Gedanken schritt er durch das schwammige Unterholz vom Schiff weg.
Als er den Wall erreichte, war Iondai wieder verschwunden; Ashka ging längs des Walles weiter, nicht ohne ein gewisses Unsicherheitsgefühl, da er das Schiff nicht mehr sehen konnte.
In der völligen Finsternis fühlte er sich vor Humanoiden, die ihn und seine Genossen bedrohen mochten, völlig sicher; ganz und gar den Naturformen und -mächten einer Welt ausgesetzt zu sein, die er nicht beherrschen konnte, war jedoch nicht eben seine Vorstellung von einem gemütlichen Nachtspaziergang.
Ein plötzlich aufflammender Lichtschein erschreckte ihn: Ein Stück weiter vorn war eine Fackel angezündet worden (wie machten sie das, fragte er sich). Eine undeutliche Gestalt hielt die Fackel und winkte mit ihr. Ashka tastete sich weiter vor und löste sich vom Walde, schritt über offenes Gelände in ein busch- und baumbestandenes Gebiet. Die Fackel schwankte ihm voran, webte Lichtstriche zwischen den Bäumen, verschwand und tauchte hinter aufrecht stehenden Blöcken wieder auf, die Ashka im Vorbeigehen abtastete und rasch auf Zeichen hin untersuchte; doch konnte er nicht unterscheiden, ob es natürliche oder von Menschenhand geschaffene Gebilde waren.
Der Weg kam ihm endlos vor, doch dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Licht der führenden Fackel Schatten über einen großen Hügel warf, der sich aus dem Walde erhob wie der Buckel eines schlafenden Ungeheuers. Er war vier- oder fünfmal so hoch wie Ashka und hatte eine sanft gerundete Form, die, wie er meinte, einem Prähistoriker vertraut sein mußte, die ihm jedoch, unwissend wie er auf diesem Gebiet war, völlig fremd vorkam. Elspeth würde wissen, warum er gerade so groß und so geformt sein mußte; dieser Tumulus war zweifellos die Rekapitulation eines Stückes der Steinzeitkultur, die sie so faszinierte. Für Ashka war es ein von Menschenhand errichteter, ganz uninteressanter Bau, doch mit einem kleinen Eingang, bei dem man sich erheblich bücken mußte. Iondai wartete vor diesem Eingang und schwang die Fackel, als könne er damit die Beleuchtung des schwierigen Pfades irgendwie verbessern.
Kaum hatte Ashka den Hügel erreicht, da bückte sich Iondai, noch ehe Ashka etwas sagen konnte, und verschwand im Inneren. Ashka konnte noch kurz den reich ornamentierten Türsturz in etwa Gürtelhöhe erkennen, ferner ein komplexes Kerbmuster am Eingang des Ganges, das, wie er bestimmt glaubte, die Erdströme im Stein darstellte; dann war das Fackellicht nur noch ein ferner Schimmer, und er kroch durch den feuchten Tunnel, verkrümmt und unbequem, sein Atem hing in der eisigen Luft, unter seinen vorsichtig forschenden Fingern fühlte er den kalten, nassen Stein. Dieser klaustrophobische Felsenbau war entschieden unangenehm – ihm war, als ob ihm jedesmal, wenn er den Stein berührte, ein leichenfressender Dämon oder ein Gespenst in den Kragen atmete. Er zog sich ganz zusammen, als er den schrägen Gang weiter hinunterkroch, der bestimmt in die bittersten Tiefen der Erde führen würde. Das gelbliche Flackern der Fackel wurde sein Leitstern, der Brennpunkt seines Bewußtseins. Es bedeutete Wärme und Sicherheit.
Er war froh, als er den großen Saal erreicht hatte, der sicherlich zweihundert Yards lang war. Da stand auch Iondai, die Fackel in der Hand, das Antlitz maskenhaft, ohne Lächeln, mit tiefen Schatten.
„Wir sind beinahe am Ziel“, sagte er zu Ashka, der sich aufgerichtet hatte und um sich schaute.
Sogleich war Iondai wieder in einem Seitengang verschwunden, und jetzt klangen seine Schritte sonderbar laut und scharf in Ashkas Ohren. Er eilte hinter diesem seltsamen Aerani her und hielt sich jetzt näher bei ihm. Schon nach ganz kurzer Zeit stiegen sie eine steile Rampe hinunter und gelangten in einen kühlen, doch nicht so eisigen Raum, der hell von Fackeln erleuchtet und dessen Boden mit Fellen ausgelegt war. Die Wände waren mit Erdstrom-Mustern und anderen Gebilden ornamentiert, über deren Bedeutung nachzusinnen Ashka keine Zeit hatte. Mehrere Gänge stießen an diese natürliche Höhle; doch Iondai setzte sich hin und blickte seinen Gast an.
Ashka setzte sich ebenfalls auf den fellbelegten Fußboden und sah sich weiter in der Höhle um. Zweifellos wohnte der Seher hier, und hier machte er wohl auch seine Voraussagen. Einer der Gänge mußte in die Erdburg hineinführen. Durch den zweiten Gang, der vom Walde kam, waren Ashka und Iondai hierhergekommen; wohin also führte der dritte Tunnel? Vielleicht war es nur ein zweiter Ausgang.
Iondai lächelte, als er sah, daß Ashkas Blick auf dem unteren Tunnel ruhte. „Er führt in die Feuer-Halle“, sagte er.
„Ah“, sagte Ashka und lächelte zurück; dann erschauerte er, denn sein Körper konnte sich nicht gleich auf die Kühle einstellen. „Und der da? Wohin führt der?“
„Zum Orakel“, antwortete Iondai, „zum Lied der Erde. Möchtest du es sehen?“
„Sehr gern.“ Lied der Erde? Ein Bild, bei dem ihm kein Orakel einfiel, das er kannte. Hochinteressant. „Wer hat diesen Erdhügel errichtet?“ fragte er.
„Es gibt mehrere. Sie liegen verstreut um den crog, in kleinen Waldlichtungen. Unsere Ahnen haben sie als rituelle Ein- und Ausgänge zur Feuer-Halle gebaut. Unter dem Wald sind viele, viele Höhlen und Gänge; unsere alten Leute begeben sich oft unter die Erde, um dort zu sterben. Diese Kammer ist die größte von allen, und hier haben schon vor meinem Vater und Großvater die Seher gewohnt. Viele Generationen.“
„Haben sie alle das Lied der Erde befragt? Das Orakel?“
„Mein Vater war Seher, doch er gewann das Recht dazu in einem Wettbewerb. Ich habe es von ihm geerbt; aber ich habe keine Kinder, und wenn ich sterbe, wird es einen harten Wettkampf um die Ehre geben.“
„Ich bin sehr gespannt auf dein Orakel mit dem seltsamen Namen.“
„Es hat bereits Feindseligkeiten vorausgesagt.“
Ashka verstand nicht gleich, was er meinte. „Feindseligkeiten? Das heißt … was? Zwischen unseren beiden Völkern?“
„Feindseligkeiten innerhalb meines eigenen Volkes, wegen der Mission von euch Jenseitlern.“
Nachdenklich schwieg Ashka. Er dachte an seine ching-Lesung für Gorstein und die dunkle Andeutung von Feindseligkeit; er dachte daran, wie schwierig die ersten Verhandlungen zwischen den beiden Völkern gewesen waren. Ein Kampf schien fast unvermeidbar. „Wir müssen versuchen, das zu verhindern“, sagte er.
„Das ist nicht möglich“, erwiderte Iondai traurig.
„Nichts ist unvermeidbar“, beharrte Ashka, „wenn man weiß, wo man hineinrennt.“
Iondai verstand das anscheinend nicht. „Die Voraussage ist unabänderlich“, entgegnete er, „wir können nichts tun.“
Ashka konnte seine Überraschung nicht verbergen. Wenn Iondais Orakel tatsächlich funktionierte (und Ashka war nicht gesonnen, das unbesehen, nur auf Elspeths Behauptung hin zu glauben), dann war schwer zu begreifen, daß diese Menschen noch nicht erkannt hatten, daß Prophezeiungen abwandelbar waren. Wenn sie sich aus Tradition an den Wortlaut jeder Prophezeiung klammerten, so würde das natürlich Iondais Haltung erklären. Doch Ashka spürte, daß sein Kollege und Gegenspieler ein Mann von tiefen Gedanken war (so recht ein Mann mit dem Temperament eines Rationalisten); und es brauchte nur eine kleine Meinungsverschiedenheit oder Mißhelligkeiten als Folge einer Prophezeiung zu geben, dann nahm der Strom der Zeit einen anderen Verlauf – das war gar nicht so selten. Aber schließlich hatten so viele menschliche Kulturen, die prophetische Systeme entwickelt hatten, nicht erkannt, was die alten Asiaten erkannt hatten: nämlich, daß Zeit und Leben nicht prädestiniert waren, selbst dann nicht, wenn sie (vorausgesetzt, man überließ sie sich selbst) in eine ganz bestimmte Richtung gingen: in die Richtung des geringsten Widerstandes.
Ashka fragte sich immer noch, ob er das Recht hatte, den Seher auf subtile Art über den Weltenlauf zu belehren, diskret so viel Samen zu säen, daß rechtes Verstehen schnell aufblühen würde; doch da brach Iondai das sich in die Länge ziehende Schweigen: „Was für ein Orakel benutzt du?“
Ashka fuhr aus seinem Sinnen hoch. Erst dachte er, Iondai mache einen Scherz – was für ein Orakel? Hatte der Mann denn überhaupt keine Ahnung …? Und dann fiel ihm wieder ein, wo er war.
Es war, als ob er, Ashka, der Realität für einen Augenblick entschlüpft sei – wie stark war dieses Gefühl! –, ein lebendiger Traum, ein Moment der Entrückung, der Stunden zu dauern schien. Die reale Welt flutete zurück (welch passende Metapher!). In der fackelerleuchteten Höhle, wo die Symbole und die zerklüfteten Felsvorsprünge sich in dieser bizarren Lebensähnlichkeit bewegten, die flackerndes Licht hervorbringen kann, zog Ashka seine Leinentasche zu sich heran und auf seinen Schoß. „Wir nennen es das Buch der Wandlungen“, sagte er und holte das in Seide gewickelte ching unter den zahlreichen Dingen in seiner Tasche hervor. „Ein sehr altes Orakel, das aus mehreren philosophischen Werken entstanden ist, deren jedes im Laufe der Zeit noch erweitert wurde. Ideen, verstehst du – die Ideen vieler Menschen, die sich unversehens, vor Hunderten von Generationen zum Schlüssel des lebendigen Orakels kristallisierten, das dieses Buch darstellt.“
„Dieses Ding da?“ fragte Iondai, streckte die Hand aus und berührte die Seide. Ashka wickelte das ching aus, so daß Iondai sehen konnte, was es war. „Wir nennen das ein Buch“, erläuterte er; „Ideen, Rat, Weisheit – alles das ist auf seinen Seiten aufgeschrieben.“
Iondai war geradezu entzückt. Er sah zu, wie Ashka die drei Münzen herausnahm, Seite auf Seite umschlug, auf Wörter und Symbole deutete. Er war aufgeregt wie ein Kind.
„Und das ist das Orakel – du trägst es mit dir herum! Du mußt – entschuldige, wenn ich von Ehrfurcht ergriffen bin –, aber du mußt ein sehr großer Seher sein! Ein Seher, der ein Orakel mit sich herumträgt!“
Ashka lächelte. „Niemand ist groß, und niemand ist geringer als groß.“
„Aber das Orakel mit sich herumzutragen!“
„Das hier ist nicht das eigentliche Orakel“, erläuterte Ashka. Hoffentlich war es nicht zu verwirrend für diesen Frühmenschen. „Das ist nur meine Verbindung zum Orakel – mein Zugang zu ihm. Mittels dieses Buches befrage ich das Orakel selbst.“
„Und wo ist das Orakel selbst?“
„Überall. Das ganze Universum ist das Orakel, der Fluß der Zeit, die Kondensierung der Materie, die geheimen Orte, wo das Leben entsteht, das Ziehen der Schwerkraft.“
„Ich verstehe nicht.“
„Keiner versteht das, Iondai. Das ching – so nennen wir das Orakel gewöhnlich – verbirgt seine wahre Natur vor uns, doch es erlaubt, daß wir so nahe an ein Verstehen herankommen, daß wir Angst kriegen – Angst vor der Macht des Orakels bedeutet Glauben – und Glauben ist alles, was es braucht, um zu wirken.“
„Dann kommt also die Voraussage aus deinem Innern – geht das so vor sich?“
„In einem gewissen Sinne – ja.“ Für Ashka lag es natürlich auf der Hand, und auch insofern für jedes Kind in Ashkas Welt. Aber bei einem Steinzeit-Schamanen bedeutete diese einfache Feststellung eine großartige Leistung intuitiven Verstehens. Großartig. „Weit ist das tao“, zitierte Ashka, „das Erste und das Letzte, universal, immer vorhanden, immer seiend, Zeit und Raum umfassend, Anfang und Ende, den Menschen und alles Leben, das geringer ist als der Mensch.“ Er brach ab und sah Iondai an „Tao ist ein altertümliches Wort für Energie und Materie, die um uns und durch uns fließen, um und durch jeden von uns.“
„Winde“, sagte Iondai, „Hitze und Kälte; die Kräfte, die in Steinen und Felsen erscheinen, in der Erde; der eingefangene Atem der Zeit … ja, ich verstehe, glaube ich.“
Erdstrom im Felsen …
„Kannst du das wirklich sehen …“ – Ashka war jetzt plötzlich sehr angetan von des Sehers Worten – „… den Fels, das Leben …“ – Er brach ab. Irgendwie kam ihm das irrelevant vor; er würde Iondai später danach fragen. Iondai verstand offenbar die Konzeption des tao, wenn auch in primitiver Form.
Warum diese Angst auf der dritten Ebene seines Geistes? überlegte Ashka. Sie stand da, eine quälende Ungewißheit, ein Spottgelächter – worauf deutete es hin? Müßte nicht eigentlich Iondai ihm die Natur der Kräfte und Wandlungen erklären? Leben im Fels, der Fluß der Erdenergie – das sah nur der primitive Geist, oder man sah es nur mit Hilfsmitteln, die selbst so verfeinert waren, daß sie in eine Dimension jenseits des Zugriffs der normalen menschlichen Psyche hinabreichten. Welche Geheimnise barg Iondai hinter seinen Augen, hinter den Knochen und dem Blute seines Schädels? Er und sein ganzes Volk?
„Ja“, sagte Ashka laut, „diese Kräfte gehören dazu. Die nächtlichen Sterne – auch sie wirken mit ihren eigenen Kräften auf ihren Umkreis ein; und zwischen uns und den Sternen ist eine Leere, die erfüllt ist vom Echo … anderer Leeren, von kleinsten Partikeln von Materie, die auch zu anderen Universen gehören, nicht nur zu unserem – alles dieses bildet eine immense Struktur, die unseren Geist, unser Sein erfüllt und ständig ein- und ausfließt. Wir, die wir bewußt leben, sind auf sehr verzwickte Weise durch unser Leben mit dieser Struktur verbunden, und wir können auf den wechselnden Strömungen dieses mächtigen Flusses schwimmen. Zu bestimmten Zeiten sind wir sehr im Gleichklang mit der Energie um uns, zu anderen Zeiten sind wir es nicht. Wir können das physische Gleichgewicht ziemlich leicht regulieren, indem wir den Strom im Körper umleiten; doch beim Geist ist es schwieriger, und gerade der Geist trägt uns durch den langsamen Prozeß der Wandlung. Dieses Buch, das Buch der Wandlungen, sagt uns, wohin wir gehen, und so können wir uns überlegen, welchen Pfad wir einschlagen wollen. Es kann vorkommen, daß wir uns genötigt sehen, unsere Beziehung zum tao zu ändern, um Katastrophen oder Schwierigkeiten zu vermeiden. Da wir eine Ahnung vom Trend der Zukunft haben, können wir natürlich gegebenenfalls eine produktivere Beziehung zum tao suchen.“
„So ist also dieses Buch – mit seinen Symbolen – eine Brücke zwischen euch und diesem tao.“
Ashka lächelte und streichelte das Buch liebevoll. „Ohne dieses Buch wären wir alle nur Treibgut (sein Lieblingsausdruck) … Das ching, das Buch, ist nur ein Gegenstand, doch wenn es gebraucht wird, ist es voller Leben. Ich glaube – oder es wird allgemein geglaubt –, daß das Buch während des Gebrauches zu etwas Lebendigem wird – zu etwas Fühlendem irgendwo zwischen Leben und kaltem Tod.“
Nachdenklich blickte er auf das Buch und erinnerte sich der Jahre, die er mit ihm verbracht hatte, an die Tragödien und die Freuden, die sie miteinander geteilt hatten, sein Buch und er, das Halblebewesen und der engumgrenzte Mensch. Konnte es Zweifel darüber geben, daß das Orakel lebendig war – einerseits die Ausweitung der Bewußtheit des Fragenden, und andererseits die Ausweitung der Bewußtheit jenes großen Universellen –, das ching in zeitlich begrenzter Mittlerfunktion zwischen stofflichem und nichtstofflichem Leben?
„Unser Geist“, sagte er zu dem still kontemplierenden Iondai, „verbirgt vieles vor unserer Bewußtheit. Wir merken nichts von unserer Intimität mit dem Kosmos – dem tao –, wir können es nicht fühlen, nicht riechen. Tausende von Jahren hat der zivilisierte Mensch geglaubt, er bestehe aus Fleisch und Geist (und der Geist sei tot, wenn der Körper tot ist), und er sei ein Behälter von Reaktionen, ein undurchdringlicher Sack, der keine Verbindung zu irgend etwas anderem gestattet als durch physischen Kontakt. Es ist immer noch verzweifelt schwer zu begreifen, daß wir alle nur Staubteilchen auf den rollenden Wogen eines riesigen Ozeans sind. Ohne daß wir es wissen, reicht unser Geist in diesen Ozean hinein und artikuliert sich so, daß es die meisten Menschen gar nicht gewahr werden. Im Traum fassen wir manchmal ein Stückchen in diese wilde Leere hinein; in der Sprache erleben wir, daß Bewußtwerden an die Oberfläche kommt und sich einschleicht in die Art und Weise, wie wir ‚Wörter’ bilden … in die Symbole, durch die wir Gedanken ausdrücken …“
Iondai lächelte, als Ashka seinen abwesenden Blick auf des Sehers tiefverschattetes Gesicht lenkte. „Mein Freund“, sagte er mit sanfter Stimme, „es tut mir leid – aber jetzt verstehe ich nichts mehr.“
Ashka mußte lachen, als Iondai so um Verzeihung bittend lächelte. „Es ging mit mir durch. Entschuldige.“
„Schon gut. Mein Orakel, das Lied der Erde, ist viel einfacher.“
„Ich würde es gern sehen.“
„Bald. Dein Interesse an meinem Lied der Erde kann nicht größer sein als mein Interesse an deinem ching.“
„Gewiß. Möchtest du das ching befragen? Dir würde es bestimmt antworten.“
„Ich glaube, wir sollten es nachher beide zu Rate ziehen. Es gibt da eine Frage, auf die wir Antwort haben müssen. Du mußt dann diese Antwort deinen Leuten bringen; ich bringe sie meinen. Wir müssen also beide Orakel befragen.“
Sollte die Mission doch weitergehen? dachte Ashka. Angesichts der Situation und der unerwarteten Ereignisse auf dem Aeran war das die nächstliegende Frage. Er lächelte verständnisvoll.
„Aber wenn ich dich richtig verstehe“, fuhr Iondai fort, „wird uns dein ching nur sagen, was in der Zukunft geschehen könnte. Es sagt uns nicht, was geschehen wird.“
„Diese Macht hat kein Orakel“, erklärte Ashka. Er suchte in Iondais Gesicht nach einem Zeichen – irgendeinem Zeichen – der Verwunderung, doch sah er keins. „So wie das Universum, das uns umgibt, konstruiert ist, gibt es keine Möglichkeit, die Zukunft zu ‚sehen’. Das Leben ist nicht vorprogrammiert.“
„Dann könnte dir also dein Orakel nichts von Tod, Feuer, Überschwemmung oder Geburt sagen … es befaßt sich nicht mit Dingen, die geschehen werden, sondern nur mit den Beziehungen eines einzelnen Menschen zu seiner Umwelt.“
Das konnte Ashka nicht abstreiten. „Insofern als die Menschen gewöhnlich an Geschehnissen beteiligt sind, kann das ching auch benutzt werden, um die Möglichkeit eines Unheils vorauszusagen. Was den Tod betrifft …“ Er schwieg und ließ seinen Blick zu dem dunklen Gang wandern, der zum Lied der Erde führte. „Den Tod …“, wiederholte er. Wie seltsam, daß er nie erkannt hatte, wie nahe er bei seiner Todesvoraussage daran gewesen war, von der Regel abzuweichen; es war selbstverständlich kein Absolutum – wenn er wollte, könnte er zweifellos seinen Termin hinausschieben – mit einer Therapie zum Beispiel, oder durch Lebensverlängerung im Koma … aber wozu? Warum nicht friedvoll entspannt verlöschen? Dagegen war nicht das geringste einzuwenden, und die Voraussage würde eintreffen, genau wie er das Ereignis umschrieben hatte. Die Präzision von Frage und Antwort hatte jedoch das ching und den Fragenden gefährlich nahe an jene furchterregende Leere herangebracht, wo das tao selbst eher das Echo eines Energie-Zeit-Systems ist als die Matrix, in welcher diese bizarren Echos aufklingen und solche gelegentlichen und sehr flüchtigen Blicke auf ein mehr sachlich bestimmtes Resultat gestatten.
Jedesmal, wenn Ashka an diese Frage dachte, zitterte er bei dem Gedanken, wie nahe er daran gewesen war, seine eigene Beziehung zum ching zu zerstören. Das würde er Iondai überhaupt nicht erklären können.
„Tod“, wiederholte er nochmals. „In meinem Universum gibt es keinen Tod – Aufhören des Körperlichen, gewiß; doch der Geist besteht weiter. Ich habe das ching gefragt, wie lange es noch bis zu meinem körperlichen Tod ist … und da hat es gesagt: sieben …“ – Rasch rechnete er sieben Monate in die Aerani-Zeit um – „… zwölf Fackel-Zyklen. Ich werde nicht dagegen ankämpfen.“
Ihm fiel der unwichtige Umstand ein, daß er keine Ahnung hatte, was ein Fackel-Zyklus dem Sinne nach war – vielleicht das Anzünden der Fackeln auf den Erdwällen. Wie unwissend man sein konnte, ohne es zu merken, und sogar ohne daß andere es zu merken brauchten. Kopfschüttelnd starrte Iondai auf das Buch der Wandlungen. „Wie kann ein Orakel funktionieren, wenn es nicht klar und deutlich sagt, was geschehen wird?“ Bei dieser Frage nahm er das ching vom Boden auf. Ashka empfand dabei nichts von dem Mißbehagen, das er gespürt hätte, wenn, sagen wir, Gorstein oder Elspeth das Buch in die Hand genommen hätte. „Wie befragt man es?“
„Zuerst führt man eine Serie zufälliger Entscheidungen herbei. Man wirft diese Metallscheiben und zeichnet auf, wie sie fallen. Auf diesen Vorgang hat der Fragende wahrscheinlich keinen Einfluß, aber, wie gesagt, während der Befragung sind Buch und Fragender eng miteinander verkettet, und die entstehende Voraussage ist sehr abhängig von der angeborenen … clairvoyance? … also von der Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, die allen Menschen eigen ist. Jedoch …“ – Er nahm Iondai das Buch aus der Hand und wischte mit unbewußter Pedanterie über die Stellen, wo die Finger des Sehers das kostbare Stück berührt hatten – „jedoch die meisten Menschen besitzen nur sehr geringe Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Und jetzt komme ich. Ich helfe bei der Auslegung, aber ich kann auch die ungeordneten Gedanken des Fragenden auf den rechten Weg bringen, während er unter den mehreren wirklichen und eingebildeten Voraussagen nach der richtigen sucht – nach dem Pfad, auf dem er zu ihr schreitet. Ich weiß natürlich nicht, was in seinem Geist vor sich geht, und ich kann das Resultat nur mittels des Orakels sehen – doch mein Einfluß ist oft von großer Bedeutung.“
„Machen wir’s kurz – wie befrage ich dein Orakel?“
Ashka wußte, daß es unmöglich war, ihm das verzwickte Verfahren in ein paar Minuten zu erklären. Es wunderte ihn keineswegs, daß er eine halbe Stunde dazu brauchte – aber er war dann tatsächlich überrascht, daß Iondai das Orakel anscheinend völlig begriffen hatte. Doch inzwischen hatte er gemerkt, daß er sich auf die erstklassige Intuition des alten Sehers voll und ganz verlassen konnte.
„Und deine Frage?“
„Es geht mir darum, ob es weise ist, die Monitoren anzunehmen“, sagte Iondai.
Eine höchst überraschende Frage. Gerade diese hatte Ashka nicht erwartet. Es war dessen ungeachtet eine ausgezeichnete Frage – sie suchte Voraussage und Führung, ganz gleich, wie die Antwort ausfiel.
„Dann wirf also die Münzen“, sagte er und beobachtete den Alten mit umfassender, tiefbewußter Aufmerksamkeit. Lange schüttelte Iondai die Münzen, horchte auf ihr Klingen beim Aneinanderschlagen, den metallischen Klang von archaischem Nickel, das gegen archaisches Nickel schlug, einen Klang, den er in seiner von Knochen und Stein geprägten Kultur noch nie vernommen hatte. Er öffnete die Hände. Die Münzen fielen auf die trockene Erde, von der er die Felle weggezogen hatte.
(Irgend etwas stimmte nicht. Da war eine unbekannte Spannung, Ashka spürte sie ganz deutlich, als er Iondais Einstellung zum ching im Geiste wahrnahm – etwas lief da ganz falsch. Schwer zu sagen, was es war.)
Zweimal lagen die Zahlen oben – Ashka notierte die Würfe als gebrochene Linien in den Sand.
(Falsch: Iondai hatte nicht die direkte Verbindung zum ching; nur Zufallswürfe ohne Einfluß und Wert; das ching war überhaupt nur gegenwärtig, weil Ashka dabei war und darauf drang – es lag zwischen den beiden Männern, lebend zwar und sensitiv, aber es tat nichts. Schrecklich falsch!)
Schütteln – der dritte Wurf. Iondai merkte nicht, daß da etwas falsch lief, doch Ashka spürte eine plötzliche Panik, sein ganzer Leib wurde kalt und steif …
„Halt!“ rief er, faßte zu und strich die Münzen vom Boden. „Hör auf! Es stimmt nicht!“
Erschrocken sah Iondai ihn an. Das unvermittelte Schweigen, ihre starren Blicke waren beängstigend.
„Entschuldige“, sagte Ashka, „da stimmte etwas nicht. Das ching hat bei dir nicht funktioniert, überhaupt nicht, nicht einmal andeutungsweise. Ich begreife nicht, warum, aber so ist es nun einmal. Tut mir leid.“
Iondai lächelte unsicher. „Laß nur. Frag du doch dein ching – du bist doch schließlich der Seher.“
„Ja.“ Ashka starrte auf die Münzen; die eine war halb im feinen Sand begraben. „Man nennt mich übrigens Rationalist, nicht Seher.“ Er nahm die Münzen auf und merkte, daß seine Hände zitterten. Oder sollte ich lieber Irrationalist sagen, dachte er bitter, als ihm bewußt wurde, daß er die Erkenntnis von etwas anderem verdrängte, eine furchtbare Erkenntnis, über die völlige Klarheit zu gewinnen ihm sein Unterbewußtsein offenbar nicht gestatten wollte.
Sekundenlang schloß er die Augen und war froh, daß Iondai achtungsvolles Schweigen bewahrte.
Das ching war krank. Welches andere Wort gäbe es dafür? Bei dieser vorzeitig abgebrochenen Befragung war ihm klar geworden, daß hinter diesen Linien keine lebendige Erkenntnis stand, sondern etwas … Fernes. Es war, als zöge sich das ching zurück und griffe trotzdem mit aller Kraft, die es aufbringen konnte, in das Gewebe des Universums. Es wurde aus Raum und Zeit herausgezogen oder -gestoßen. Es litt, es litt schrecklich … Er hatte das schon einmal gespürt, als Gorstein das ching konsultierte, und hatte gedacht, es sei Eifersucht. Eifersucht auf das hiesige Orakel. Doch es war keine Eifersucht, es war etwas Endgültigeres, weit Vernichtenderes. Siechtum, Krankheit, der Anfang zum Tode. Elspeth hatte ihm gesagt, was er zu erwarten hatte – nicht mit deutlichen Worten, aber gesagt hatte sie es, und weil er es nicht gleich spüren konnte, weil es nicht zu geschehen schien, hatte er es verdrängt. Aber sie hatte recht gehabt.
„Nein, nein!“
Er öffnete die Augen, starrte Iondai leeren Blickes an. Dieser musterte ihn unbewegt und fragte: „Was ist nicht in Ordnung?“
Er wollte aufspringen und weglaufen, fliehen vom Aeran, so schnell der Antriebsschub des Schiffes ihn nur tragen konnte. Doch Gorstein würde nicht auf ihn hören. Panik war sinnlos.
„Nichts ist in Ordnung“, erwiderte er; „aber vielleicht ist es nicht ganz so schlimm – Anpassungs- und Akklimatisationsschwierigkeiten. Vielleicht aber ist es viel schlimmer.“ Wieder starrte er auf das ching. Sein Mund war trocken, seine Haut eiskalt. „Mein Orakel stirbt.“
„Stirbt? Ich denke, es gibt keinen Tod?“
„Es schwindet. Es ist, als ob … als ob jemand es wegstößt.“
„Das ching kommt doch aus dem Inneren, nicht wahr? Wenn etwas nicht stimmt, dann muß es also an deinem Geist liegen, nicht an den Zeichen in deinem Buch.“
Ashka beugte den Kopf. Dieser primitive Mensch hatte diese einfache Tatsache ausgesprochen, während Ashka nicht imstande war, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Natürlich hatte Iondai recht. Nicht das ching war im Schwinden, sondern er, Peter Ashka! Doch was änderte das? Der Effekt war der gleiche.
„Frage es rasch, solange du noch kannst“, sagte Iondai; und ohne zu zögern schüttelte Ashka die Münzen und konzentrierte sich auf seine Frage.
Fast sofort spürte er es, das ching, die große Kraft des Orakels, lebendig, stark, nur mit einer ganz kleinen Unsicherheit, kaum der Rede wert. (Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät). Ashka warf seine Angst weit hinter sich, befaßte sich kurz mit der Korrektur seines psychosomatischen Gleichgewichts und ließ dann die Frage so klar wie möglich in seiner Bewußtheit aufsteigen: Was würde die Folge sein, wenn die Aerani die Monitoren annahmen?
Er warf die Münzen. Iondai zeichnete die Linien in den Sand, während Ashka weiter warf. Nach und nach nahm das Hexagramm Form und Bedeutung an.
Lächelnd studierte Iondai das Zeichen. „Hübsch. Im Augenblick bedeutet es mir nichts.“ Erleuchtung heischend blickte er Ashka an.
„Zweiunddreißig“, sagte Ashka leise. „Dauer. Gelingen, kein Makel. Fördernd ist Beharrlichkeit.“
„Ich glaube, ich kann verstehen, wie das gemeint ist“, sagte Iondai nach kurzer Überlegung.
„Das Orakel hat, wenn du ihm glauben willst, soeben gesagt, daß ihr unser Angebot annehmen sollt. Das ist eine fortschrittsträchtige und fehlerfreie Handlung.“
Iondai schwieg; in der schwach erhellten Kammer sah er aus, als sei er unter seiner schütteren, weißen Behaarung sehr blaß geworden. Ashka las ihm den gesamten Abschnitt aus dem Buch vor. Als er an die Stelle kam ‚So beruht die Selbständigkeit des Edlen auch nicht darin, daß er starr und unbeweglich ist. Er geht immer mit der Zeit und wandelt sich mit ihr’, zog Iondai scharf den Atem ein und sagte: „Ich verstehe. In Wirklichkeit ist es ganz gleich, ob wir annehmen oder nicht; so oder so wird es nicht falsch sein. Wir können ebensogut annehmen und mit euch in Frieden leben wie ablehnen und Feindseligkeiten riskieren.“
„Da ist noch etwas“, sagte Ashka und las den Satz über die yang-Linie an zweiter Stelle vor: „Reue schwindet.“ Er mußte lachen.
Iondai schüttelte den Kopf. „Ich kann es kaum glauben. Wird es tatsächlich keine Folgen haben, wenn wir diese Monitoren nehmen?“
„Sieht so aus; vielleicht bringt dein Orakel etwas mehr Klarheit in die Sache.“
„Vielleicht“, erwiderte Iondai nachdenklich. Er bückte sich, nahm die Münzen auf und tat noch drei Würfe, so daß zusammen mit den ersten drei Würfen ein neues Hexagramm entstand.
„Zweiundsechzig“, sagte Ashka, blätterte im ching, hielt an und las. „Es bestätigt, was wir von Hexagramm 32 erfahren haben“, sagte er dann. „Es betont jedoch, daß man zwischen dem ‚Großen’ und dem ‚Kleinen’ unterscheiden muß. Was hältst du davon?“
Iondai dachte kurz und tief nach. Dann sagte er: „Es meint, daß wir uns entscheiden müssen, ob Stolz etwas Großes ist oder nicht. Sollen wir uns durch den Stolz unseres Volkes davon abhalten lassen, das Angebot anzunehmen? Ja, das meint es, glaube ich.“
Lächelnd nahm Ashka seine Münzen wieder auf. „Du würdest einen verdammt guten Rationalisten abgeben“, sagte er. „Einen verdammt guten.“