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Langsam fuhr das Schwebefloß gegen die Strömung an, mit unerschöpflicher Geduld den Fluß hinauf, so friedlich, daß man glauben konnte, es habe kein Ziel. Es war aus silberglänzendem Metall, doch immerhin schon etwas abgewetzt: Wo die Metallplatten aneinanderstießen oder sich überlappten, waren Rost- und Korrosionsflecken, das dumpfe, von einem kratzigsummenden Nebengeräusch begleitete Tuckern des Antriebs wurde von dem unnatürlich stummen Wald verschluckt, und dazu rauschte leise das Kielwasser.
Das fremdartige Fahrzeug mochte vielleicht von einem Ausflug ins Marschland zurückkehren, durch das dieser Strom seinen Lauf nahm, oder auch von einer bloßen Routinefahrt in die Gegenden, wo der Wald schließlich dünner wurde, weil er auf dem mageren Boden und dem Gebirge, das an die übelriechenden Sümpfe grenzte, nicht mehr gedieh. Vielleicht wollte es auch weit in die Berge hinein, durch die Höhlen und Canons, welche die Nebenflüsse ausspien, die diesen breiten und oftmals wilden Strom ernährten. Vielleicht hatte es auch vor, am Ufer anzulegen und seine Besatzung an das in der Nähe liegende Raumschiff zu überstellen. Elspeth Mueller, die am Ufer in einer kleinen Lichtung saß, konnte nicht wissen, wo diese Männer gewesen waren oder was sie gemacht hatten. Es interessierte sie auch nicht weiter. Sie beobachtete den Mann, der im Bug des tuckernd auf sie zukommenden Floßes stand.
Während die anderen beiden Jenseitler auf den Uferwald blickten, stand dieser Mann, den sie als den Schiffs-Meister erkannte, noch aufgerichtet ganz vorn im Bug des Floßes, Hände auf dem Rücken, Beine breit; der sanfte Wind drückte ihm die weite Robe an den Leib. Er hob sich deutlich wie eine farbenfreudige Silhouette gegen Himmel und Wasser ab: ein untersetzter, muskulöser Mann mit breiter Brust und leicht gerundetem Bauch. Wie ein fester Knoten zeichnete sich sein Geschlechtsteil unter der Robe ab, fast obszön wirkend vor dem durch den Bug gespaltenen Wasser. Dieser Anblick amüsierte sie, denn sie dachte, er müßte es ebenfalls gemerkt haben.
Unvermittelt bog das Floß zum Ufer ein. Der Schiffs-Meister trat vom Bug zurück und setzte sich auf eine der niedrigen Bänke. Das Floß fuhr Tragflügel aus, hob sich aus dem Wasser und lief auf einem Luftkissen die Uferböschung hinan. Als es ebenen Boden erreicht hatte, stoppte es ab, hob sich zwei Fuß hoch über das Unterholz und blieb schwebend stehen. Elspeth, zwanzig Schritt entfernt, beobachtete es regungslos. Der Schiffs-Meister starrte sie unbeirrt an, und seine beiden Begleiter verhielten sich nicht anders.
Lächelnd stand Elspeth auf, schritt zum Floß hinüber, spürte den warmen Luftstrom an ihren nackten Beinen, denn der Auspuffwind wollte ihren Rock nicht in Ruhe lassen. Die beiden jungen Männer blickten interessiert auf ihre Blöße, doch der Schiffs-Meister sah sie nur einfach an – es war irritierend.
Elspeth starrte zurück; die Augen des stattlichen Mannes zogen ihren Blick unwiderstehlich an. Es waren dunkle braune Augen von der Art, die zu Lockerung und Freundschaft einladen – die Augen eines Mannes, dem niemand zu klein oder gering war; Augen, die man lieben konnte, braune Augen, freundliche Augen … und doch wirkten sie bei diesem Manne kühn, boten unmittelbaren Zugang zu seiner großen Stärke und seiner großen Schwäche: ein einsamer Mann, der über allen stand, die er kannte, selbstbewußt, egozentrisch, zornig. Und von Furcht erfüllt.
Dieses Abwägen dauerte nur einen Augenblick, einen zeitlosen Moment, vielleicht nicht länger als ein Herzschlag, als ein Windstoß, als der schrille Orientierungsschrei eines Schwarzflüglers – nur einen Augenblick –, doch gemessen an der inneren Zeitskala schien die Pause, der geistige Strom zwischen Gorstein und Elspeth Stunden zu währen.
Gorstein brach das Schweigen. „An Bord!“
Sie fuhr zusammen bei diesem abrupten Befehl. „Ist das eine Einladung?“ Sie sah, daß die beiden anderen Männer belustigt grinsten. Über sie? Ohne Gorsteins Antwort abzuwarten, kletterte sie ins Floß, setzte sich und hielt sich an einem Sicherungsring fest. Das Floß schwebte langsam über das Ufergebüsch, stieg dann hoch und über den Wald, so daß das Raumschiff und der mächtige Erdaufwurf des crog in der Ferne sichtbar wurden; dann senkte es sich langsam und landete mit den Männern und Elspeth ein paar Yards vor der bewachten Rampe des Raumfahrzeugs entfernt.
Als der Antrieb des Schwebefloßes verstummte, sprang Elspeth hinaus und starrte auf die bullige, häßliche Gilbert Ryle. Vor ein paar Stunden war sie bereits hiergewesen und hatte das Schiff ebenso angestarrt. Sie war wütend gewesen, ganz durcheinander von dem Duell und dessen Auswirkungen und von Peter Ashkas Mitteilung, daß die Orakel beider Welten zur Annahme geraten hatten.
Auf die Orakel hörten alle – sie, Elspeth, wäre nur die einsame Stimme der Unvernunft gewesen –, und doch wußte sie, daß sie recht hatte. Die Orakel hatten unrecht!
Wie enttäuscht sie gewesen war, als sie Gorstein nicht antraf, der landeinwärts gefahren war, um bei irgendeiner Routineaufklärung seinen Ärger abzureagieren. Während sie am Flußufer saß und auf seine Rückkehr wartete, hatte sie ihre Gedanken gesammelt, hatte im Geiste ihre Forderung, daß er den Aeran verlassen sollte, in mehrere Formen gebracht, doch von keiner glaubte sie, daß sie im gegebenen Moment günstig aufgenommen werden würde.
„Kommen Sie in mein Logis“, sagte Gorstein, und sie folgte ihm in das von seltsamen Gerüchen erfüllte Innere des Schiffes, durch hohe Korridore, an offenen Türen und den Geräuschen zielloser Aktivitäten vorbei. Gesichter starrten sie an, Gespräche erlahmten, als sie auftauchte, und wurden gleich wieder aufgenommen, sobald sie vorbei war. Offensichtlich fiel sie stark auf.
Sie stiegen zwei Decks höher und gelangten wieder zum Bug des Schiffes, wo Gorsteins Logis die ganze Länge des Korridors einnahm. Sein Geschäftszimmer, der Befehlsausgaberaum, sein Bad, sein privates Arbeitszimmer, sein Schlafzimmer, sein Erholungsraum, sein Konsultationszimmer, sein Salon …
Elspeth war von alledem leicht verwirrt. Sie kannte kein anderes Schiff, auf dem der Meister einen so außerordentlich hohen Anteil am Schiffsraum innehatte.
Sie folgte Gorstein in den Salon und blieb unter der Tür stehen. Sie spürte die Frische des Luftzirkulators und merkte, daß ihr die Normalatmosphäre, die sie plötzlich atmete, ein bißchen zu Kopfe stieg.
Der Raum paßte eigentlich nicht zu diesem arroganten Mann, den sie bereits zu kennen glaubte. Flüchtig überlegte sie, ob sie ihn nicht falsch beurteilt hatte – das war das Zimmer eines freundlichen Menschen, ein sanftes Zimmer: Bilder und Tapeten wirkten auf ihren ‚naturalistischen’ Geschmack friedlich und ästhetisch angenehm. Die Möbel waren niedrig und abgerundet, ohne scharfe Ecken oder aggressive Kurven. Es war nicht das Zimmer, das sie erwartet hatte.
Wie zur Bestätigung, daß sie sich trotzdem nicht geirrt hatte, sagte Gorstein: „Dieser Raum ist mir zuwider. Er hat keinen Charakter.“
„Dann geben Sie ihm doch Charakter.“
„Ich möchte schon“, sagte Gorstein, kam ihr etwas näher und sah sie in dem schmeichelnden, wenn auch ein bißchen unechten Licht kurz und prüfend an. „Aber mein Rationalist, wissen Sie, Peter Ashka – er ist ein sehr beharrlicher Mann. In einem unfriedlichen Raum kann man keinen inneren Frieden haben, sagt er. Und ich muß mir diese Dinger an die Wände hängen, dieses …“ – er blickte sich um, grimassierte theatralisch und lächelte dann – „… dieses unbeschreibliche Zeug.“ Wieder sah er Elspeth in die Augen. „Aber in dieser Beziehung lasse ich ihm seinen Willen. Es gibt ihm das Gefühl, daß er … wie soll ich sagen …“ Gorstein suchte offensichtlich nach den richtigen Worten und fuhr dann fort: „… daß er wichtig ist.“
„Ich kenne Ashka“, erwiderte Elspeth gelassen. Gorsteins Hochnäsigkeit gegenüber diesem netten Menschen mißfiel ihr heftig. „Ich mag ihn sehr gern. Er besitzt großes Wahrnehmungsvermögen .“
Gorstein musterte sie spöttisch. „Hat wohl Ihren attraktiven Kopf mit seinem mystischen Sternenschiet vollgestopft, was?“
„Beruht auf Gegenseitigkeit, glaube ich.“
Sein Lächeln war jetzt etwas gezwungen. „Oh – sagen Sie mir nicht, Sie sind auch Rationalist!“
„Sind wir nicht alle ein bißchen Rationalisten?“
Davon war Gorstein nicht beeindruckt. Seine Miene ließ keinen Zweifel darüber. Er wandte sich von ihr ab und trat an einen Wandschrank am anderen Ende des Raumes. „Sehr philosophisch“, sagte er säuerlich. „Ich ziehe mich jetzt aus, weil ich meine Kleidung wechseln will.“ Er wandte sich wieder ihr zu, stockte aber in der Wendung. Ein fragender Ausdruck trat in seine Augen. „Ich dachte, ich sollte Ihnen das sagen für den Fall, daß Sie Lust haben …“
Elspeth konnte sich nicht helfen – sie mußte lachen. Das ärgerte ihn offensichtlich. Kälte stieg langsam zwischen ihnen auf; jeder merkte am Blick des anderen, daß die Feindseligkeiten eröffnet waren. Gorstein, der sie immer noch anstarrte, ließ seine Robe fallen. Darunter war er nackt, und er schien Elspeth zwingen zu wollen, genau hinzusehen, irgendeine wenn auch noch so flüchtige Bemerkung zu machen, sich zu verraten. Absichtlich wandte sie sich ab und sah zum Fenster hinaus. „Eindrucksvoll“, sagte sie laut. „Die Bastion meine ich. Finden Sie nicht auch?“
Mit fast spürbarer Hemmung schloß er die Tür des Wandschranks, schnallte den Gürtel der Shorts zu, die er angezogen hatte, und trat an das breite Aussichtsluk. Lange schaute er hinaus, das helle Tageslicht ließ seine untersetzte Gestalt fast als Silhouette erscheinen. Endlich wandte er sich ab und lehnte sich an die Wand. Elspeth wich nicht von der Tür, an der sie ihrerseits lehnte. „Wer sind Sie?“ fragte er leise.
„Mein Name ist Mueller. Elspeth, wenn Sie wollen.“
„Das meine ich nicht.“
Erst war sie etwas verwirrt, dann begriff sie, worauf er hinauswollte. „Ach so“, sagte sie kalt und laut, „Sie meinen, was ich bin? Inwiefern ich auf Ihr Schicksal einwirke – meinen Sie das? Ob ich der Engel des Todes oder des Lebens bin?“ Mit plötzlichem Zorn sah sie ihn an, zornig vielleicht zum Teil deshalb, weil sie überhaupt nicht begriff, warum jemand so aggressiv sein konnte gegen jemanden, den er eben erst kennengelernt hatte. Das irritierte sie mehr als die Aggressivität selbst. „Das ist höchst … albern von Ihnen, Schiffs-Meister Gorstein. Höchst anmaßend!“ Sie hatte genug Anmaßung von Darren erlebt, der anfing, sie für seine ‚feste Frau’ zu halten. Wie konnte sich dieser Mann einbilden, daß ihrer beider Schicksale irgendwie verbunden seien!
Sie hatte ihn ärgern wollen, erst mit ihrem Zynismus, dann mit dieser Grobheit. Ärgerte er sich nicht, dann würde er sich vielleicht entspannen und lachen; das wäre immerhin geeignet gewesen, das Eis zu brechen. Aber das Eis blieb fest.
„Ich glaube nicht, daß meine Frage anmaßend war, Mueller. In keiner Weise anmaßend.“ Er drehte ihr den Rücken zu und blickte auf den fernen crog. „Schicksal“, sagte er, und es war, als schmecke er das Wort. „Ich zweifle nicht daran, daß Ihr und mein Schicksal Berührungspunkte haben. Ich glaube, das ist eine Selbstverständlichkeit. Ashka würde es nicht gerne hören, daß ich das sage. Nichts ist selbstverständlich, würde er einwenden. Nichts ist so einfach, wie es der Intuition erscheint. Aber es gibt Leute, die es besser wissen. Der Instinkt läßt sich nicht wegleugnen, und alle meine Instinkte sagen mir, daß uns beiden, Mueller, eine … gewaltsame Auseinandersetzung bevorsteht.“
Sie lächelte verdutzt und gab sich verzweifelte Mühe, nicht zu lachen. Der Mann war verrückt! „Was – gleich jetzt? Oder können wir uns erst unterhalten?“
Ohne auf die Frage einzugehen, sprach er weiter. „Ich habe Sie gesehen. Kurz nach meiner Landung. Ich sah Sie ein paar Sekunden, wie Sie am Ufer entlangrannten. Sie haben mich nicht gesehen, aber Sie haben meine ‚Augen’ gesehen.“
„Diesen Roboter, ja. Also waren Sie der Mann am anderen Ende. Sieh mal einer an.“
„Irgend etwas sagte mir, daß Sie und ich … wer Sie auch sein mochten …“ Er wandte sich wieder zu ihr um. Sein ständiges In-Bewegung-sein hätte man für etwas ganz Natürliches halten können, doch Elspeth spürte die innere Ruhelosigkeit, die Aufgestörtheit dieses Mannes. Das Licht von draußen machte ihn unruhig, ständig mußte er sich drehen und wenden, abwechselnd auf die Bastion und dann wieder von ihr weg schauen.
„Daß wir zusammengeraten und uns unaufhörlich zanken würden“, ergänzte sie. „Ach, was sind Sie doch romantisch, Schiffs-Meister!“
„Nicht eigentlich“, erwiderte er, „nicht so banal. Ich bin ein sehr sensitiver Mensch. Sensitiver als Ashka denkt.“
„Das will vielleicht immer noch nicht sehr viel heißen.“
„Verspotten Sie mich nicht, Mueller! Ich bin sensitiv …“
Und deswegen, dachte sie mit schiefem Lächeln, gibst du dir solche Mühe, mir das klarzumachen.
„Gleich bei der Landung, vor zwei Tagen, hatte ich das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Ich ahnte Konflikte, jawohl, Konflikte. Ich ahnte sie, als ich diese Erdbastionen sah, und ich spürte es auf andere Art, als ich ein wunderschönes, nacktes schwarzes Mädchen am Fluß entlangrennen sah.“
Schweigen. Elspeth fand nicht die Worte zu einer Entgegnung. Gorsteins Starren hatte deutlich etwas Fragendes, Forschendes. Er sah auf ihren Körper, und er sah durch ihre Augen in sie hinein, vielleicht wollte er dort ihre Sexualität erkunden, vielleicht die Natur ihrer Persönlichkeit (insoweit recht gut hinter der Fassade eines billigen Zynismus verborgen), vielleicht suchte er einen Hinweis darauf, wie dieser Konflikt ausbrechen würde.
Sein Interesse an ihr entfachte ihr Interesse an ihm. Er war kein besonders gutaussehender Mann, aber eindrucksvoll. Er strahlte Selbstvertrauen aus mit seinem ständigen Lächeln, seinen leicht zusammengekniffenen Augen, die sie nicht nur ansahen, sondern ausforschten. Er war körperlich nicht sehr gut in Form, an Armen und Beinen hatte er etwas Fett angesetzt, doch sie nahm an, das sei nur die vorübergehende Dicklichkeit beim Übergang von der Jugend zum mittleren Lebensalter, eine Folgeerscheinung der Verlangsamung seiner Physis. Gorstein war noch verhältnismäßig jung, immer noch auf der Höhe seiner Vitalität. Er würde das Übergewicht bald wegtrainiert haben.
Er war nur einen Zoll kleiner als Elspeth; sie fühlte sich ihm in dieser Hinsicht nicht überlegen, und ihm seinerseits schien es, als er näher trat, auch nichts auszumachen, daß die Frau etwas größer war. Äußerlich war Gorstein der Herr über alles, was unter seinem Befehl stand, und auch seine eigene Persönlichkeit hatte er voll unter Kontrolle. Er strahlte Vertrauen und Magnetismus aus, wie eine Lampe Licht und Wärme ausstrahlt. Und doch verbarg er so offensichtlich eine tiefer sitzende Schwäche, daß Elspeth sich versucht fühlte, ihm zu sagen: Bekenne!
Es war beinahe müßig, daß sie sich fragte, ob Gorstein sie begehre. Solche Gefühle können nur wenige Männer verbergen, selbst wenn sie es wollen; doch Gorstein war ein Mann von so verwirrender und augenblendender Selbstprojektion, daß sie den Verdacht, er schätze ihren Wert als Sexualobjekt ab, kaum für unfair halten konnte. Sie hoffte immerhin, daß sie sich da irrte. Auf jeden Fall würde sie es bald merken, wenn er dergleichen im Sinn hatte; sie bereitete sich auf eine unverblümte Attacke vor, denn Gorstein war bestimmt kein sehr subtiler Mann.
Schließlich brach sie das Schweigen. „Wann sollen wir uns den Krieg erklären?“
Gorstein lachte. „Wann immer Sie wünschen.“
„Eine Friedenserklärung wäre mir lieber. Ich habe verschiedenes mit Ihnen zu besprechen.“
„Ich nicht. Oh, wir können miteinander reden, ich wollte nicht sagen, daß wir das nicht könnten.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich traue Ihnen nicht.“
„Oh?“
„Warum sollte ich? Ein seltsames Mädchen auf einem sonderbaren Planeten. Läuft nackt herum, wenn es allein ist, und nicht viel weniger nackt in der Gesellschaft. Ich weiß, Sie sind von einer dieser barbarischen, rückständigen Stammes-Welten … Orgon? Phädra?“
Es dauerte den Bruchteil, nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie auf den Namen kam, den Namen ihres Planeten, ihrer Heimatwelt; und dabei durchfuhr es sie eiskalt. Wäre ihr der rettende Name nicht doch noch eingefallen, hätte man ihr den furchtbaren Schrecken sicherlich angesehen. „Neu-Anzar.“
„Ach so, ja.“ Er blickte flüchtig auf ihre Brust. Wenn er mich anfaßt, haue ich zu. „Ich dachte mir vorgestern gleich, daß es Diamanten seien. Sie sind eine magda, wie?“ Sie gab keine Antwort. „Neu-Anzar“, fuhr er fort, „nun, da haben Sie’s ja. Sie sind so weit entfernt von der Norm wie nur möglich. Sie sind mir so verdächtig, daß ich nicht einmal weiß, warum ich hier stehe und mit Ihnen rede.“
„Die Antwort darauf, Schiffs-Meister, ist, daß Sie außerdem von mir fasziniert sind.“ Sie lächelte lieb. „Ist es nicht so?“
„Ich möchte wissen, was Sie hier machen.“
„Oh, das ist ganz einfach“, erwiderte sie mit spöttischem Ernst. „Ich bin hier, um die Blätter von Ihrem Schicksalsweg zu fegen, um mich quer über den Abgrund der Unsicherheit zu legen, damit Sie sicher auf meinem Rücken hinüberschreiten können.“
Gorstein lächelte nicht, reagierte überhaupt nicht. Nach kurzem Schweigen sagte er: „Ich denke, Sie sind hier, weil Sie mich umbringen wollen.“
„Umbringen? Warum denn das?“ fragte sie erstaunt.
„Ganz einfach. Sie wollen etwas; Sie wollen etwas, das mit mir zu tun hat. Sonst wären Sie nicht hier. Ganz klar, daß ich Ihnen im Wege bin. Logischerweise ist der einzig mögliche Weg, es zu bekommen – was es auch sein mag –, der, daß Sie mich töten. Habe ich nicht recht, Mueller? Sie sehen ein bißchen besorgt aus.“
„Weil mir ein bißchen schlecht wird. Auf den Gedanken, Sie umzubringen, war ich gar nicht gekommen. Ich wollte mit Ihnen diskutieren und Sie von etwas zu überzeugen versuchen.“
„Sie sind hergekommen, um mich zu töten. Oder um zu sehen, wie Sie es am besten anstellen können.“
„Wie können Sie dessen so sicher sein?“ Diese seltsame paranoide Hartnäckigkeit brachte sie ganz durcheinander. „Ich bin wirklich nur hergekommen, um mit Ihnen zu reden.“
„Um es in Ihrer Wellenlänge auszudrücken: Ich habe das große ching konsultiert. Ich verstehe mich darauf, wenn Ashka auch anderer Ansicht ist – hol ihn der Teufel. Es hat mir gesagt, was ich bereits ahnte: daß mich der Tod erwartet. Ich wollte Genaueres wissen, aber ich weiß nicht, wie man mit diesem Aspekt des ching arbeitet; doch im Innersten wußte ich, wer es sein würde. Also fragte ich nach dieser Person …“
„Und es sagte, ich sei es?“
„Auf seine gottverlassene, taoistische Hintenherum-Art – jawohl. Sie, Mueller, Sie persönlich.“
Irgend etwas stimmte da nicht. Fraglos war er fest davon überzeugt, unleugbar glaubte er voll und ganz an die Voraussage, doch da sie im Innersten ganz genau wußte, daß ihr niemals in den Sinn gekommen war, Gorstein zu töten (was hätte ihr das auch genützt? Die Mission würde nicht automatisch aufgegeben werden, bloß weil der Schiffs-Meister starb), konnte sie nicht begreifen, wie das ching so etwas ausgesagt haben konnte.
Es sei denn …
Ich verstehe mich darauf, wenn Ashka auch anderer Ansicht ist …
Natürlich. Das war es. Gorstein war ein Narr, ein Dummkopf, den man nicht an das ching heranlassen durfte, weil er keine Ahnung hatte, wie man richtig damit arbeitete. Ashka mußte immer dabei sein. Doch jetzt hatte Gorstein das Orakel auf eigene Hand befragt und hatte es falsch interpretiert oder falsch benutzt.
Und das tat er immer noch – weil das ching, wie er glaubte, es vorausgesagt hatte, nahm er an, Elspeth sei notwendigerweise seine Feindin und eine Bedrohung seines Lebens. Er war offensichtlich entschlossen, diese Voraussage nicht zur Wahrheit werden zu lassen – er sah nicht aus wie ein Mann, der dem sicheren Tod ins Auge sieht –, doch Elspeth hatte das starke Gefühl, sein einziger Ausweg sei, sie zuerst umzubringen.
Und trotzdem – wie ein Mann, der einen Mord vorhat, sah er nun auch wieder nicht aus.
„Sie glauben tatsächlich, ich werde Sie töten?“
„Ich denke, Sie werden es versuchen.“
„Wann? Jetzt?“
„Weiß ich nicht. Aber ich werde darauf vorbereitet sein, wenn es soweit ist.“
Das ist wie ein Traum, dachte sie. Oder besser wie ein schlechter Holo-Film …
„Sie meinen also, es wird mir nicht gelingen?“
Er zuckte die Achseln. „Das werden wir ja sehen. Wenn Sie es schaffen, dann haben Sie es eben verdient.“
Eine verschleierte Drohung. „Dann wollen Sie mich also nicht etwa von hinten erdolchen, sowie sich die Gelegenheit bietet?“
„Gewiß nicht.“
„Gut. Dann werden Sie mir verzeihen, wenn ich Ihre Phobie zunächst ignoriere. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grunde hier. Ich möchte endlich darauf zu sprechen kommen.“
„Das klingt ja fast wie ein Antrag.“
„Nun, das ist es nicht.“ Sie hatte recht gehabt – keinerlei Feinheiten. „Wenn Sie mal versuchen könnten, nicht an Sex zu denken, dann würde ich wirklich gern etwas mit Ihnen besprechen.“
Er war viel zu arrogant, um sich von so einem leichten Seitenhieb beeindrucken zu lassen. „Unmöglich“, erwiderte er mit einem Blick auf ihre halbentblößte Brust und grinste. „In Gegenwart einer auch nur halb so begehrenswerten Frau, wie Sie es sind, Mueller, kann ich keine ernsthafte Diskussion führen. Auch keine über Mord. Ich würde viel lieber Liebe mit Ihnen machen und mir den Krieg für später aufheben.“
Elspeth prallte zurück vor diesem unvermittelten und, wie sie zugeben mußte, unerwarteten Antrag. Sie hatte Zweideutigkeiten und Anspielungen vorausgesehen, aber solche Grobschlächtigkeit (solche unerfreuliche Grobschlächtigkeit) erschreckte sie und brachte sie aus der Stimmung.
„Haben Sie denn keine Angst, daß ich Sie auf dem Höhepunkt Ihrer Lust töten werde?“
„Auf dem Höhepunkt meiner Lust? Wie romantisch!“ Er grinste wieder. „Nein, davor habe ich keine Angst. Ich denke, Sie sind noch nicht soweit, daß Sie mich umbringen. Ich denke, daß Sie, ebenso wie ich, mehr daran interessiert sind, die Natur der Bestie kennenzulernen – wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Schiffs-Meister, aber …“ – sie piekte mit dem Finger in seinen Bauch – „… dicke Männer interessieren mich überhaupt nicht.“
Da wurde er ernstlich böse. Beim Zuschlagen verzerrte sich sein Gesicht zu einer Maske der Wut, die jedoch so schnell verschwand, wie sie gekommen war. Aber noch während sie unter seinem Schlag taumelte, hatte er ihr blitzschnell die Jacke von den Schultern gerissen.
Als sie wieder hochkam und die Arme über ihrer Blöße kreuzte, sah sie Gorstein lachen – der Schlag hatte ihn ernüchtert. Er blickte auf die Diamanten, die in ihrer Hautfassung funkelten. Dieser gewalttätige, unangenehme Kerl war ihr zuwider; sein Benehmen war nicht nur roh, sondern unverzeihlich … und unberechenbar – eben das flößte ihr ein wenig Angst ein vor Schiffs-Meister Gorstein.
Sie überwand das instinktive Bedürfnis, sich vor seinen Blicken zu bedecken (das würde ihn gerade noch überheblicher machen, dachte sie – wie leicht war es doch, sich auf das Niveau eines so oberflächlichen Menschen hinunterzubegeben!), sondern sagte nur bitter: „Da haben Sie etwas ganz Dummes gemacht. Sie sind wie ein Kind, Schiffs-Meister. Ich kann kaum glauben, daß Sie dieses Wrack befehligen.“
„Nun – ich befehlige es, und lassen Sie sich durch das Aussehen der Gilbert Ryle nicht täuschen. Ein bißchen alt, aber ein feines Fahrzeug.“ Er starrte immer noch auf die Diamanten.
„Diese Steine, Mueller … sie müssen ziemlich wertvoll sein – oder irre ich mich da?“
Diese Frage empörte sie. „Weiß ich nicht mehr.“ Es war eine simple Tatsachenfeststellung, obwohl es wie Abwehr klang. „Sie ekeln mich an. Richtig zum Kotzen.“
Ihr war kalt am ganzen Leibe, ihr Herz schlug rasend. Sein Blick war so undurchsichtig wie die Edelsteine, nach denen er auf einmal so gierig war. Er wollte die Diamanten, wollte sie besitzen. Vielleicht empfand er in einer tieferen Schicht seines Bewußtseins, in die er normalerweise nicht hinuntergelangte, den Besitz der magda-Steine als den Besitz der magda selbst. Vielleicht war er auch nur unwissend und habgierig.
Jetzt bedeckte sie sich doch. Ekel und Abscheu waren ihr deutlich anzusehen. „In Ihrer Begehrlichkeit liegt etwas scheußlich Grausames“, sage sie und wußte nicht, ob sie ihn auslachen oder anschreien sollte. Konnte ein Mensch so bösartig sein? Machte er ihr nur kalt berechnend etwas vor, weil er sie ablenken wollte?
„Ich bin ein sehr grausamer Mensch“, entgegnete Gorstein, und Stolz klang aus seiner Stimme.
„Ein eitler Mensch sind Sie.“
„Ich kenne meine Stärke, soviel ist richtig.“
„Oberflächliche Stärke, Schiffs-Meister. Warum blicken Sie nicht ein wenig tiefer?“
„Brauche ich nicht. Es ist kein Grund vorhanden, mich zu schämen oder mich zu fürchten.“
„Weil bei Ihnen überhaupt nichts vorhanden ist.“
Er lachte laut auf – etwas gezwungen. „Sie sind ja ein rechtes Luder, Mueller. Ein richtiges Luderchen. Ich merke, daß es mit mir durchgehen will. Sie merken das auch und provozieren mich ständig. Ziehen Sie sich Ihre Jacke wieder an oder was noch davon übrig ist, ehe ich Ihnen was antue.“
Elspeth machte keine Anstalten, ihre zerfetzte Jacke aufzuheben. Gorstein drückte auf den Knopf eines Wandschranks, und eine Batterie blitzender Karaffen mit farbenfreudigen Likören wurde sichtbar. Er goß sich einen Drink ein und sah Elspeth an, als wolle er sagen: Nun – trinken Sie mit? Sie schüttelte den Kopf.
Er schloß das Schränkchen, trat wieder zum Fenster, hielt das Glas zum Licht empor und schwenkte es. Elspeth spürte ein scharfes, unangenehmes Aroma, das sie an die primitiven Spitäler auf gewissen Planeten erinnerte. Dieser Schnaps war vermutlich ein Wurzelextrakt, vielleicht ein Aphrodisiakum, vielleicht nur ein Stimulans. Er trank ihn, ohne abzusetzen, mit einem Schluck.
„Ja.“ Er setzte das Glas auf das Fensterbrett. „Ein richtiges Luder. Nun, Sie Luder, was genau kann ich für Sie tun?“
„Ist das nicht klar? Verschwinden Sie mit Ihrem Schiff von diesem Planeten. Hauen Sie ab und nehmen Sie Ihre Monitoren mit. Lassen Sie diese Welt in Ruhe.“
„Denken Sie, wir wollen hierbleiben?“ Erstaunt glotzte er sie an. „Natürlich starten wir wieder. Welcher vernünftige Mensch hätte Lust hierzubleiben? Wir heben ab, Mueller, keine Angst, sobald wir unsere Mission durchgeführt haben, starten wir.“
„Jetzt! Gleich jetzt sollen Sie starten! Ich fordere Sie auf, Schiffs-Meister, die Flagge zu hissen und auf Orbit zu gehen. Sehen Sie sich den Planeten von außen an!“
„Ich habe einen Auftrag …“
„Schiffs-Meister!“ unterbrach sie ihn scharf. Stellte sich der Mann wirklich so dumm? „Sehen Sie – die Kolonie auf dem Aeran ist keine gewöhnliche Wald- und Wiesenkolonie. Oder? Sie können das nicht abstreiten.“
„Ich streite es auch gar nicht ab. Die Kolonie ist verrückt und provokant.“
„Sie hat sich zu einer monolithischen Lebensform zurückentwickelt, oder? Und in vieler Hinsicht bleibt sie sogar noch darunter. Und damit ist sie zu einem Unikum im gesamten kartographierten Raum geworden. Stimmt’s?“
„Genau, ein Unikum – ja, das ist genau das richtige Wort für den Aeran.“
„Na also!“ erwiderte sie laut.
„Na also – was?“ entgegnete er ebenso laut. „Warum ich dieses Volk nicht in Frieden lasse? Warum ich diese primitiven Aeraner nicht weiter in Ruhe ihre Knochen schnitzen lasse? Warum ich dieses Volk sich nicht auf seine Art entwickeln lasse, ohne daß ihnen ein zivilisierter Mensch dabei über die Schulter sieht? War das die Frage?“
„Das war die Frage. Das wäre vernünftig und human.“
„Das sagt sich sehr leicht, nicht war? Aber Sie, meine süße Mueller, sprechen aus egoistischen Motiven, während ich aus Verantwortung handeln muß.“
„Egoistisch! Verantwortung! Verantwortung wem gegenüber? Der Elektra? Scheiß auf die Elektra! Verantwortung haben Sie nur gegenüber diesen Kolonisten hinter dem Erdwall da!“
„Quatsch!“ stieß er wütend hervor. „Ich muß an meine Mannschaft denken. Wissen Sie, wie das Fehlschlagen einer Mission bestraft wird?“
„Aber das wäre doch kein Fehlschlagen!“ protestierte sie.
„Natürlich wäre es ein Fehlschlagen.“
„Die von der Elektra würden es verstehen!“
„Nichts würden sie verstehen. Wissen Sie, was die Strafe dafür ist?“
„Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Diese Leute hier sind wichtiger als jede … jede Strafe. Sie haben das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Und durch sorgfältige Beobachtung können wir mehr über ihre Lebensweise lernen, als wenn wir tausend Jahre in der Vergangenheit herumbuddeln. Es kann ganz leicht passieren, daß Sie das alles kaputtmachen.“
„Wir können etwas lernen? Oder Sie?“ lächelte er höhnisch.
„Was ich lerne, erfahren andere auch.“
„Ja, aber in erster Linie Elspeth Mueller, nicht wahr? Nicht um ihrer selbst willen soll ich diese Leute in Ruhe lassen, sondern damit Sie sich durch Ihre Entdeckungen über den primitiven Menschen wissenschaftlichen Ruhm verschaffen!“
„Nichts dergleichen, Sie Schuft! Die sind nicht einfach primitiv; sie sind auf ganz besondere Weise primitiv. Sehen Sie sich doch nur mal ihre Symbole an, wenn Sie mir nicht glauben!“
„Für mich ist primitiv gleich primitiv.“
„Dann versuchen Sie doch mal, etwas anderes zu lesen als Comics! Das sind ganz ungewöhnliche Menschen, völlig einzigartig. Das haben Sie ja schon selbst zugegeben. Das Schiff, die Mission, alles an Ihnen bedroht das Leben dieser Leute, ist eine Bedrohung für alles, was sie sind und sein könnten, und eine Bedrohung meiner potentiellen wissenschaftlichen Forschungen!“
„Purer Egoismus!“ triumphierte er. „Ich wußte es doch! Glauben Sie tatsächlich, ich setze das Leben der gesamten Besatzung aufs Spiel, bloß wegen der paar Kratzer auf Steinen? O ja, ich habe die Symbole gesehen, von denen Sie so fasziniert sind. Kratzer, magische Zeichen, sinnlos außer für einen abergläubischen, von Schamanen beherrschten Mob.“
„Und Sie werden von Ihrem ching beherrscht – ist das kein Aberglauben?“
Gorstein lachte. „Im Gegenteil, Mueller. Genau im Gegenteil. Das ching, die Karten – all dieses Zeug, das der liebe Peter Ashka benutzt –, alles abergläubischer Unsinn. Ich habe das schon längst gespürt, und jetzt bin ich ganz sicher. Seit der Landung auf dem Aeran hat sich bei mir ein gewisser Wechsel vollzogen, als ob mir der Planet aufs Hirn geklopft hätte: Hör zu, Karl, entweder so oder so – entweder richte dich nach dem ching, oder laß es bleiben, aber mach nicht immer halb so und halb so. Das ching, dieses verdammte Buch, ist ein so eingewurzelter Bestandteil unseres Lebens! Es ist so schwer, davon loszukommen, und so erfrischend, die Trennung endlich doch vollzogen zu haben. Es ist purer Unsinn. Ich sehe es jetzt. Blinder Glaube, nützlich für blinde Gläubige. Aber ich bin nicht mehr blind, meine Süße! Ich sehe das große, helle Licht der Wahrheit! Versuchen Sie’s gelegentlich auch mal. Es kräftigt ungemein.“
„Dann ist dieses ganze Gerede, daß ich Sie töten will … was eigentlich – ein Scherz?“
„Kein Scherz. Na ja, ein privater Scherz vielleicht – doch, nein, ich meine es todernst.“
„Na, Sie sind vielleicht ein widersprüchlicher Mensch! Glauben Sie daran, was das ching Ihnen gesagt hat, oder glauben Sie nicht daran?“
Er zögerte mit der Antwort.
„Ich habe den Konflikt gespürt, der vor uns beiden liegt. Irgendwo tief innen habe ich ihn gespürt, Mueller. Was braucht ein Mann mehr, um sein Leben richtig zu leben? Ich habe das ching nur um des Fragens willen befragt. Natürlich hat es mir die Antwort gegeben, die ich wollte. Tut es das nicht immer? Es steckt so viel Zweideutigkeit in dem verdammten kleinen Buch, doch wenn man einen guten Rationalisten hat, rückt alles so hübsch ordentlich zurecht. Aber bedeuten tut es überhaupt nichts. Man hat ja immer einen gewissen Sinn für sein Schicksal; und wie das Orakel auch antwortet, es wird denjenigen Sinn herausarbeiten, den man selbst hören will, wenn man lange genug darüber nachdenkt.“
„Sie haben offenbar keine Ahnung vom Wert des ching. Aber das ist ja auch kaum wichtig, nicht wahr? Ich spüre ebenfalls einen Konflikt, Schiffs-Meister. Ich spüre ihn, weil Sie ihn spüren; aber nur weil Ihnen offenbar ganz egal ist, ob eine Kultur isoliert lebt oder nicht, auch wenn diese Kultur nur dann bestehen kann, wenn sie isoliert bleiben kann, wenn sie auch wirklich isoliert bleibt.“
„Es ist mir nicht egal, Mueller. Im Gegenteil. Es interessiert mich so sehr, daß ich begreife, daß Sie mit Ihrem Gerede eine größere Bedrohung für die Aerani sind als tausend Schiffe, die am Sternhimmel vorbeiziehen.“
„Wieso? Ich bin hier integriert. Ich bin eine von ihnen.“
„Das sind Sie eben nicht. Das wissen Sie selbst, und die Aerani wissen es auch. Sie spielen herum, Mueller. Ich kenne Ihren Typ – ihr spielt euer Spielchen, ihr versteckt euch hinter hohen Idealen und windigen Rationalismen, aber allesamt wollt ihr bloß spielen, und die Wirklichkeit kümmert euch einen Dreck. Sie spielen das Spiel ‚Verständnis der Primitiven und ihrer Symbolik’! Und was ist, wenn Sie fertig sind mit Ihrem Spielchen? Was dann? Es veröffentlichen? Warum sollten Sie es sonst gespielt haben? Dann wissen die Leute etwas, und dann werden sie neugierig und wollen es selber sehen. Sie sind eine Bedrohung, Mueller, eine größere als ich. Sie regen sich darüber auf, daß es den Aerani schaden könnte, wenn sie dieses Schiff sehen. Ich glaube nicht, daß wir nur halb soviel Schaden anrichten können, wie Sie bereits angerichtet haben.“
Wild klopfte Elspeths Herz vor Wut und Erregung; doch ihre ganze Feindseligkeit war auf einmal weg. Sie starrte den Schiffs-Meister an, der plötzlich ganz ruhig geworden war. Sekundenlang schwangen seine Wort wie ein Echo in ihrem Kopfe, dann verblaßten sie nach und nah. Sie hörte nur noch das Zischen des Luftzirkulators.
Es war zum Heulen, aber Tatsache war, daß es zum großen Teil stimmte. Zwar trieb sie kein Spiel im Sinne Gorsteins. Sie hatte nicht die Absicht, ihre aeranischen Funde zu veröffentlichen – nur wegen der Selbstbefriedigung ihres eigenen Wissensdurstes war sie hier. Und selbst dieser Wunsch nach Wissen könnte schnell verblassen, wenn nicht dieses eine Symbol wäre: der Erdwind.
Diese eine verzwickt-schöne Steinzeichnung reizte sie. Sie gehörte beiden Kulturen an, der alten und der neuen, und war doch etwas Außerhalb-Stehendes – und wenn sie jetzt und hier ihre Mission auf dem Aeran definieren sollte: nicht mehr und nicht weniger als herauszubekommen, was dieses Symbol der Aerani bedeutete, was es in sich einschloß, was es widerspiegelte. Da zwischen Erdwind und Orakel eine enge Verbindung bestand, konnte das eine hochinteressante Entdeckung werden. Und das war tatsächlich egoistisch, und vielleicht – wenn sie der Wahrheit ins Gesicht sah – war es der gleiche Egoismus, der sie an diesem Schiff und seinem schrecklichen Auftrag am meisten erzürnte. Doch sie fühlte tatsächlich etwas für den Aeran, und sie fühlte sehr stark, daß es unrecht war, dem Volk des crog eine Technologie (die Monitoren) aufzuzwingen. Und – damit hatte Gorstein auch wieder recht – ihr Einfluß war tatsächlich, wenn auch vielleicht nur in geringem Maße, schädigend. Sie wußte das bereits, und es hatte ihr erheblichen Kummer gemacht, und natürlich aus diesem Grunde hatte sie sich solche Mühe gegeben, sich in die prähistorische Kultur des Aeran zu integrieren. Tatsache blieb jedoch, daß sie kein Recht hatte, anderen zu predigen, sie sollten eine isolierte Kultur in Ruhe lassen, wenn sie selbst diese Kultur, diese Gesellschaft wissentlich durchsiebte, um möglichst viele Fakten zu sammeln.
Doch ihre momentanen Zweifel schwanden wieder. Schließlich, dachte sie bitter, habe ich die Aerani in keiner Weise dazu veranlaßt, ihre Ansicht vom Universum anzuzweifeln oder zu ändern. Ich habe nicht versucht, sie zu irgendeiner Religion zu bekehren oder ihnen beizubringen, wie man Metall oder Schußwaffen macht. Ich war nur eine Fremde, eine bizarre Fremde, gewiß; aber Fremde kann man immer tolerieren, ohne daß es gleich Veränderungen geben muß. Dieses Schiff und Gorsteins totale Sturheit waren keineswegs ebenso harmlos.
„Sie mögen recht haben“, sagte sie bitter, „aber ich habe versucht, so behutsam wie irgend möglich vorzugehen, und das ist bei Ihnen nicht der Fall. Ich habe meine Raumfähre versteckt, Sie Ihr Schiff nicht. Ich habe nichts von anderen Welten gesagt …“ Das stimmte nicht, erinnerte sie sich schuldbewußt. Sie hatte eine ganze Menge gesagt, ehe sie merkte, daß dies ein Fehler war. „Nichts von Wichtigkeit jedenfalls. Können Sie das gleiche behaupten? Kann das Ihr eigener Rationalist? Er hat Orakel ausgetauscht – ist das Nichteinmischung?“
Die Arroganz in Gorsteins Miene trocknete ein. Er starrte sie leer an, fast so, als wüßte er nicht, ob er ihr glauben solle oder nicht. „Das habe ich nicht gewußt. Wann …? Wann haben sie diese Orakel ausgetauscht?“
„Vor ein paar Stunden. Es hat ein Duell gegeben – um die Frage, ob Sie umgebracht werden sollen oder nicht. Die Gemäßigten haben gewonnen; aber es gibt eine Menge sehr gemischter Gefühle hinter diesen Wällen.“
„Wir haben gewissermaßen … den Strom des Lebens unterbrochen. Das muß ich zugeben.“
Endlich!
„Aber nicht unwiderruflich, Schiffs-Meister. Starten Sie jetzt, dann werden Sie zum Mythos, und die Aerani werden weitermachen wie seit vierhundert Jahren.“
Immer noch schwieg Gorstein nachdenklich. Elspeth erriet, wohin sein Gedankengang führte.
„Haben die Kolonisten ihren Seher wegen der Monitoren befragt?“
„Ja“, erwiderte sie. „Der Seher hat gesagt: annehmen. Aber kümmern Sie sich nicht darum … bitte kümmern …“
„Werden sich die Kolonisten danach richten?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube ja, obgleich es mehrere Familien gibt, die gegen den Seher und sein Orakel sind.“
Gorstein lächelte. Er lehnte sich auf das Lukenbrett. An Schultern und Rücken traten die Muskeln hervor und glätteten sich wieder – ein Zeichen innerer Spannung, glaubte Elspeth. „Das heißt also wohl, die Aerani sind ihrem Aberglauben so blind ergeben, daß sie selbst die Befehle eines unbegreiflichen, vom Himmel gefallenen Silberballes befolgen werden.“ Wieder sah er Elspeth an. „Sie werden es nicht verstehen, sie werden eine Todesangst davor haben, es wird ihre Lebensweise auf immer verändern, aber sie werden tun, was das Orakel sagt. Ja?“
„Ja. Sie dürfen es nicht dazu kommen lassen.“
„Ich wünschte, es ließe sich irgendwie vermeiden, Mueller.“
„Dann setzen Sie ihnen doch einfach keine Monitoren ein. Was wäre leichter, als nichts zu tun?“
„So leicht ist das nun wieder nicht.“ Gorstein schüttelte den Kopf. Er sah beinahe deprimiert aus. „Wenn sie jetzt wirklich glauben, es sei richtig, die Monitoren anzunehmen, und wir implantieren sie ihnen nicht – was dann? Dann hat das Orakel gesagt, es soll etwas getan werden, und es wird nicht getan. Das wäre vielleicht noch schädlicher, meinen Sie nicht?“
„Nein! Der Seher könnte das wegrationalisieren.“ Daraufhin lachte Gorstein laut und bitter. „Natürlich. Wie lax von mir, daß ich unsere wunderbaren Schamanen und ihre unfehlbaren Erklärungs- und Rationalisierungskünste vergessen habe! Wissen Sie, Mueller, daran ist etwas sehr Schäbiges. Diese Tatsache ist mir klargeworden, nachdem ich von diesen Dingen abgekommen bin. Früher war es Gott, und der wurde dann durch das tao ersetzt, was vermutlich schon immer Gott gewesen ist. Haben Sie mal was über Gott gelesen, Mueller? Man konnte ihm Opfer bringen; und wenn Gott den Wunsch dann nicht erfüllte, hieß es einfach nur: Das Opfer hat Gott nicht gefallen. Mit der Laune der allmächtigen Gottheit konnte man alles rationalisieren, was im Leben geschah. Heute haben wir das ching. Es sagt: Das und das könnte schlecht ausgehen, und wenn es tatsächlich schlecht ausgeht, dann hat man es eben nicht geschafft, sich in Einklang mit dem Strom des tao zu bringen. Wenn es dagegen gut ausgeht, dann hat man den Einklang eben erreicht.“ Er lachte. „Blöd, nicht wahr?“
„Wirklich rührend“, erwiderte Elspeth kalt. „Dieses Argument ist das erste, womit ein Kind in seinem Erziehungsprogramm konfrontiert wird. Sie sind offenbar ein bißchen zurückgeblieben in Ihrer Erziehung.“
„Besser spät als niemals“, erwiderte er liebenswürdig. „Warum denken eigentlich so wenige Menschen so wie ich?“
„Weil sie wissen, daß das tao existiert und daß das ching wirklich funktioniert.“
„Das habe ich auch nie bestritten. Ich sagte, es sei ein Werkzeug des Aberglaubens; und Aberglaube ist eine Geisteshaltung, nicht die funktionelle Fähigkeit oder Unfähigkeit des Werkzeugs. Natürlich funktioniert das ching. Es funktioniert, wenn man an sein Funktionieren glaubt. Wenn man sich keine Sorgen darüber macht, ob es funktioniert oder nicht, dann braucht man es nicht. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr sehe ich es als eine Krücke für ängstliche Menschen. Ich muß endlich mal einen philosophischen Zusammenstoß mit dem lieben alten Ashka haben. Ich könnte ihn vielleicht sogar einmal schlagen.“
„Bezweifle ich.“
Gorstein grinste höhnisch. „Und warum, bitte?“
„Weil er sieht, was jeder außer Ihnen sieht – daß Sie selber Angst haben, daß Ihre freche, vulgäre und fast heitere egoistische Oberfläche den kauernden, zitternden Schatten eines von Furcht erfüllten Mannes verdeckt.“
Mit wachsendem Ärger sah der Schiffs-Meister Elspeth an. Nach und nach schwand alle Liebenswürdigkeit aus seiner Miene. „So, meinen Sie?“ entgegnete er beherrscht. „Dann sagen Sie mir doch, Mueller, wovor hat dieser kauernde Schatten eines Mannes, den Sie so fachmännisch entdeckt haben – wovor hat er eigentlich Angst?“
„Vor der Strafe für Mißerfolge vielleicht?“
„Da haben Sie verdammt recht“, stieß Gorstein hervor und lachte dann. „Stimmt genau, ich habe Angst vor der Strafe für Mißerfolg. Wer hätte das nicht? Aber ich versuche gar nicht, das zu verbergen. Unter dieser ständigen Angst stehen wir alle. Sie macht mich unsicher, nervös, sie erleichtert die Entscheidungen und verhärtet das Gewissen. Ist das alles, wovor ich Angst habe? Dann könnte ich froh sein, glaube ich.“
„Und ich glaube, ich habe mich geirrt. Ich glaube, ganz tief drinnen haben Sie doch keine Angst vor Mißerfolg.“
„Oh, vielen Dank, Mueller. Ja, dann …“
„Sie haben vor etwas viel Fundamentalerem Angst“, fuhr sie fort, und Gorstein stöhnte leise. „Sie sind durcheinander, Schiffs-Meister, Sie wissen in Wirklichkeit nicht, ob Sie glauben sollen oder nicht, Sie wissen nicht, ob man in die Zukunft sehen kann oder nicht. Sie wissen nicht, ob Sie herausbekommen sollen, was das Schicksal für Sie auf Lager hat oder ob Sie es darauf ankommen lassen sollen. Das ist es, nicht wahr? Sie wollen nicht an das ching glauben, Sie wollen an sich selbst glauben, an Ihren Instinkt; aber im Grunde haben Sie weder das eine noch das andere, denn bezüglich des ching sind Sie unsicher geworden, und so sind Sie abgetrieben … Sie sind, was Peter Ashka Treibgut nennt. Die einzigen Sicherheiten, die Sie haben, sind Ihre Aggression und die Vergangenheit. Aber die Zukunft … Sie haben eine so tiefsitzende Angst vor dem, was kommt, daß Sie sich in eine winzige Kapsel zurückziehen, die auf der Welle des gegenwärtigen Moments hüpft wie ein Korken. Sie schließen sich vor der Zukunft ab, versuchen, Ihre eigene Unsicherheit zu rationalisieren, indem Sie das ching und das Aerani-Orakel als abergläubischen Unsinn abtun. Sie sind ein Mann, der kein Ziel hat, Schiffs-Meister, und irgendwo tief innen sind Sie ganz zusammengekrümmt vor Angst.“
„Raus hier!“
„Ich geh’ schon, keine Sorge. Sie ist schwer zu ertragen, nicht wahr, Schiffs-Meister? Die Wahrheit, meine ich …“
„Raus!“
„… aber, sehen Sie, wir, die wir glauben, wir abergläubischen Spinner, die ihre eigene Verbindung zum ching haben, wir müssen uns nicht mit diesen plötzlichen, furchtbaren Wahrheiten herumschlagen. Wir kennen unsere Schwächen und unsere Stärken, wir brauchen sie weder zu verbergen noch damit anzugeben, das ist nicht nötig. Wir leben alle in einer Harmonie, die Sie niemals kennengelernt haben – in Harmonie mit dem tao und in Harmonie mit unserem Selbst.“
„Aber trotzdem ist Ihr Leben eine Lüge. Machen Sie, daß Sie hier rauskommen!“
„Ich gehe. Ich gehe schon.“ Sie nahm ihre Jacke auf, einen zerfetzten Lappen, der weder etwas verbarg noch saß, wie er sitzen sollte. Sie ließ nicht nach. „Ich kam hierher, weil ich Sie bitten wollte, wegzugehen. Sie haben gedacht, weil ich Sie töten wollte. Nun, Sie gehen nicht, und ich habe Sie nicht getötet; wir haben uns wohl beide geirrt. Aber wenn Sie auch nur ein bißchen Mitgefühl in sich haben, Schiffs-Meister, dann werden Sie die Mission nicht durchführen. Lassen Sie die Aerani in Frieden.“
Im Moment schwieg Gorstein. Er leckte sich die Lippen, wandte sich von Elspeth ab und trat wieder zum Fenster. Er nahm das leere Glas und drehte es in den Fingern, so daß es hell aufblitzte. In diesen Sekunden des Schweigens kam er Elspeth wie ein Mann vor, der von der Hoffnungslosigkeit des Ganzen zermalmt ist; doch das war vielleicht mehr ihr eigenes Wunschdenken. Schließlich sagte er: „Mueller, ich habe bereits Befehl gegeben, die Operation auf dem Aeran einzustellen. Es war die unpopulärste Entscheidung, die ich je getroffen habe, und es wird eine Menge Ärger mit der Besatzung geben. Aber ich habe den Befehl gegeben. Machen Sie nicht so ein erstauntes Gesicht, das steht Ihnen nicht. Alles, was Sie von mir wollen, hatte ich bereits durchdacht. Ich sage nicht, daß nicht die Monitoren eines Tages doch noch implantiert werden; aber im Hinblick auf die Natur der Kolonie wird die Mission auf unbestimmte Zeit verschoben.“
Sie konnte es kaum glauben. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, ob sie noch etwas sagen oder einfach hinausrennen sollte.
„So war dieser ganze Streit … unnötig. Sinnlos.“
„Alles ganz sinnlos“, stimmte er bitter zu. „Alles ganz grundlos.“
Sie starrten einander an, finster, zornig. „Nun“, sagte Elspeth, „was geschehen ist, ist geschehen. Was gesagt ist, ist gesagt. Ich bin froh, daß Sie diesen Befehl gegeben haben. Sehr froh sogar.“
Sie dreht sich kurz um und verließ das Schiff, die Reste ihrer Jacke eng an sich gezogen, um sich vor den peinlichen Blicken der Mannschaft zu schützen.