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Sie ging direkt zum Fluß hinunter, wo ihr betriebsunfähiger Zubringer immer noch im Unterholz versteckt lag, und sprang ins kalte Wasser, mit Rock, zerfetzter Jacke und allem. Sie plantschte ein paar Minuten und ließ sich dann langsam zum Grunde des Flusses sinken, ungefähr in sitzender Stellung, die Arme ausgestreckt. So spürte sie die Strömung an sich vorbeiziehen. Als sie den Atem nicht länger anhalten konnte, stieg sie wieder hoch, schnappte nach Luft, schwamm ans Ufer und kroch durch den Schlamm aufs trockene Land. Sie kam sich vor wie ein Ausgesetzter, der unter lauten Dankes- und Freudenschreien dem Meer entsteigt und Land betritt. Sie schrie auch tatsächlich laut vor Freude und Dankbarkeit, aber das gehörte nicht zu dem kurzen, zusammenhanglosen Spiel, das sie spielte.
Denn sie fühlte sich wirklich erleichtert. Die Schlacht war noch nicht gewonnen, doch der Feind war schon halb auf ihrer Seite. Was war das für eine Schlacht? Irgendwann, bald, sehr bald, würde sie das Donnern des abhebenden Raumschiffes hören, das Heulen des atmosphärischen Antriebs, und dann adieu Gorstein mitsamt deinen Monitoren und deiner ganzen verdammten Arroganz!
Sie mußte lachen beim Gedanken an ihren Streit mit Gorstein, an ihre unvermittelte Abneigung gegen ihn, an ihre obstinate Weigerung, seinen egozentrischen Launen nachzugeben, und wie sie ihn beinahe dazu gebracht hätte, daß er die Mission durchführte, bloß um sie zu ärgern. Die ganze Sache hätte auch völlig anders ausgehen können. Komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln.
Flußtiere, wahrscheinlich skitch, knabberten an ihren Zehen, einer ziemlich schmerzhaft. Sie stieß mit den Beinen aus, ließ sich wieder ins Wasser gleiten und schwamm stromauf zu der Stelle, wo sie ihre Raumfähre versteckt hatte, und spülte sich dabei den zähen Schlamm vom Leibe. An einer bewachsenen Sandbank kletterte sie an Land, zog sich aus und blieb in ihrem Boot sitzen, bis sie trocken war.
Später zog sie einen Allwetteranzug über, enganliegend an den Beinen, locker am Körper, eine Uniform, die bei Hitze kühlte und bei Kälte wärmte. Die engen Hosenbeine irritierten sie, und sie schlitzte sie bis zum Knie auf, ohne daran zu denken, daß sie damit die eingewebte Thermostatik beschädigte.
Immer intensiver dachte sie an den crog und daran, was hinter den Erdbastionen vor sich gehen mochte, wer getötet und wer verbannt worden war. Welche Entscheidungen würden in Hinsicht auf die Jenseitler getroffen werden – und welche in Beziehung auf sie selbst?
Sie wollte schon durch den Wald laufen, um selbst zu sehen, was sie sehen konnte, da merkte sie, daß einige Meilen entfernt Schwarzflügler zum grauen Himmel aufstiegen. Ihr flatterndes Kreisen, winzigen Vögeln gleich, war interessant zu beobachten, obwohl sich die Entfernung nicht recht schätzen ließ. Doch Elspeth hatte schon etwas Erfahrung in der Jagd, sie wußte, daß es in dieser Himmelsrichtung nur einen Schwarzflüglerschlafplatz gab, und zwar an der Grenze des Marschlandes.
In der Annahme, daß Darren und seine Freunde (soweit sie noch am Leben waren) an diesem plötzlichen Aufruhr am Himmel schuld seien, änderte sie ihr Vorhaben und lief auf das moosige Land zu, das zu dem trockenen Hochpfad hinunterführte.
Als sie die schroffen Klippen und die verstreuten Gruppen schlafender Schwarzflügler sehen konnte, war sie außer Atem und hockte sich hin, um etwas zur Ruhe zu kommen. Nahe bei dem Stein, in den sie ihr erstes Symbol eingeritzt hatte, konnte sie einen Aerani kauern sehen. Vielleicht war es Moir, doch auf diese Entfernung war es schwer auszumachen. Als ihr Herz ruhiger schlug und sie wieder normal atmete, erkannte Elspeth, wie das Moorland wirklich war. Der zarte Pflanzengeruch, das geheimnisvolle Murmeln des Windes in der spärlichen Vegetation, ein fernes Klatschen, vielleicht der Anschlag von Tangelkraut gegen einen Stein, oder das Schnappen der ledrigen Flughäute eines Schwarzflüglers, der gegen den Wind aufstieg, um sich den Nachstellungen der Menschen zu entziehen. Und dann noch ein Laut, der Elspeth erschreckte: das krachende, unregelmäßige Rumpeln eines Robotfahrzeuges, das aus dem offenen Land heraus zum Fluß fuhr. Sie sah die Lichter an seiner Karosserie funkeln, sah ein Stück des Pfades, den es auf seiner Fahrt zurück zum Wald durch das dichte Unterholz pflügte. Wer spionierte da, fragte sie sich. Wessen Augen waren an die gläsernen Späher dieses mechanischen Parasiten angeschlossen?
Und Singen. Diesen Klang identifizierte sie noch, bevor sie auf die dort hinten kauernde Gestalt zulief und alle Naturgeräusche mit ihren Schritten ertränkte. Gesang. Eine hohe Mädchenstimme, das jammernde Tremolo eines Stein-Liedes, unzusammenhängend, unsicher.
Das war Moirs Stimme, ganz gewiß. Das Lied klang selbst für Elspeths ungeübte Ohren so kunstlos, daß sie ein paar schreckliche Minuten lang fürchtete, Moir sänge ihr Sterbelied, und bei diesem angstvollen Gedanken fing sie an zu rennen.
Aber Moir lag nicht im Sterben, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Elspeth hielt ein paar Schritte vor ihr an und ging dann langsam um das kleine Mädchen herum, bis sie das junge Gesicht, die nassen Wangen, den schwach zuckenden Mund sehen konnte. Moir hatte die Arme geschlossen, die Arme um die Knie geschlungen. Sie schwankte vor und zurück, manchmal fast unmerklich; dann, wenn sie lauter sang, an den Höhepunkten, wurde die Bewegung übermäßig stark. Der Wind spielte in der dichten Behaarung ihrer Beine, blies ihr die Haare waagerecht nach hinten weg. Pflanzenteile und Schmutz hafteten in den gelben Strähnen, ihre Haut war mit Schmutz verschmiert, Blut verklebte den Schmutz auf Gesicht und Armen. Sie war schlimm verprügelt worden.
Das Lied klang furchtbar. Es lief in jammernden Sequenzen, von denen Elspeth manche wiederzuerkennen glaubte, aber Moir sang sie so schlecht, daß es unmöglich war zu sagen, ob Moir hier einen neuen Gesang erfunden hatte oder nur das alte Stück so sang, wie es ihren derzeitigen Gefühlen entsprach.
Die aufsteigenden Halbtöne, die den Steingeistern von des Sängers Traurigkeit berichten. Der dreifache Triller, ganz hinten in der Kehle, der mit dem Schicksal haderte. Die wiederholte Note mit dem zweitönigen Triller vor und nach der Sequenz, die dem Felsen, neben dem sie saß, die Trauer der Familie verkündete: Der Fels sog die Melodie ein und leitete die Trauer an die Erde weiter. Die Erde sang mit Moir, Licht und Wolken tanzten rhythmisch, aber ohne Sinn über den Himmel und das leere Land, dunkle Schatten hüpften über die Ebene, bedeckten Moir und verließen sie gleich wieder.
Moirs Klagelied endete abrupt, als ein tiefes Brummen die Stille über den Büschen zerriß. Die beiden Frauen blickten in die Ebene hinaus, dorthin, wo das Land des Tangelkrauts, der Felsen und der Schwarzflügler in das tiefe, nasse Moor überging – tausend Meilen unpassierbaren Sumpfes, Teiche und Schlamm, blubbernd und zischend – eine sanfte Einladung zum Selbstmord.
Hoch aufgerichtet spähte Elspeth in die schleierige Ferne. Wieder kam das Brummen, das plötzliche ohrenbetäubende Ausatmen eines der großen Leviathane, die in den tieferen, absolut unzugänglichen Teilen des Moors lebten. Dieses Tier, vermutlich ein Weibchen (oder ein Tier in seiner vorübergehenden weiblichen Phase), war an den Rand gekommen und tummelte sich zwischen den hornhäutigen menschenfressenden Bestien, die in Rudeln näher an das hochgelegene Land herankamen, jedoch niemals den festen Boden betraten, sondern die Kreaturen terrorisierten, die am Rande des Moores jagten – oder Augen und Hände der Entehrten fraßen.
Elspeth sah, wie sich der dreigegliederte Leib des Sauriers lethargisch faul aus dem saugenden Moor erhob und ein komplexes Luft- und Schattenmuster warf. Zwei- oder dreihundert Fuß war das Monstrum hoch, grau, schattenhaft, unbestimmt unter dem Schleier von Schleim und Dunst, der seinen Leib einhüllte. Vielgliedrige Krakenarme tasteten und griffen nach jedem Stamm und Stengel, das Licht brach sich auf den durchsichtigen Scheiben über den weitauseinanderstehenden riesigen Augen. Wieder ein Brummen, und das verspielte Monstrum sank ins Moor zurück.
Die Schwarzflügler in der Nähe kreischten vor Wut (oder panischem Schrecken) und sausten mit flatterndem Schwingenschlag hoch und hinweg. Weit hinten im Tal vernahm Elspeth den Zornruf eines Mannes.
„Er wird wohl nicht viel Glück haben“, sagte sie lachend, denn sie hatte Darrens Stimme erkannt, der so wütend geschrien hatte. Moir sprang beinahe senkrecht hoch vor Schrecken beim Klang von Elspeths Stimme. Obgleich Elspeth schon eine ganze Weile neben ihr stand, hatte Moir nicht gemerkt, daß sie nicht mehr allein war.
„Ich bin es nur“, sagte Elspeth verlegen.
Aus Moirs Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie vorhatte. Sie sah aus, als wolle sie entweder sofort in Tränen ausbrechen oder Elspeth an die Kehle springen. Aber sie bückte sich plötzlich, nahm einen kleinen Lederbeutel auf, drehte sich kurz um und rannte auf das ferne Marschland zu. Wenn sie auf ein Knäuel Tangelkraut trat, bogen sich einzelne Stränge faul nach oben und faßten nach der Körperwärme; sie mochten sie wohl für einen Schwarzflügler halten.
„Moir, warte doch!“ rief Elspeth, doch das Mädchen rannte weiter. Elspeth fluchte leise und rannte hinterher. Sie hätte das Rennen verloren, wäre Moir nicht gestolpert und kopfüber in einen Klumpen Tangelkraut gefallen, aus dessen offensichtlich liebevollen Ranken sie sich nicht so leicht befreien konnte. Elspeth kam herbei und sah auf das schmollende, tränenüberströmte Steinzeitkind hinab, das zusammengekrümmt und in fünfzehn oder mehr blaßbraune Schlangen verstrickt am Boden lag, den Ranken jener unberechenbaren Steppenflora. Lachend half sie dem Mädchen, sich zu befreien; schließlich kam Moir los, und Elspeth hatte einige Mühe, die Ranken von ihrem eigenen Körper abzuwickeln.
„Warum bist du weggelaufen?“
Moir starrte sie an, erst feindselig, dann ärgerlich, dann verwirrt, dann in Tränen ausbrechend. Elspeth schlang die Arme um das Mädchen, und Moir ließ sich auch umarmen, preßte ihr Gesicht an die Brust der älteren und zuckte ein paarmal in unterdrücktem Schluchzen auf. Sie weinte sich ihre Verwirrung aus der Seele heraus.
„Darren …“
„Dein Bruder versteht eine ganze Menge vom Frauenverprügeln.“ Sie blickte zu den Klippen zurück. Von dem jungen Mann war nichts zu sehen.
„Ist nicht mehr mein Bruder“, stieß Moir bitter hervor. „Ich hasse ihn genauso wie er mich.“
„Ach, Moir, das geht schon vorüber. Ihr werdet euch schon wieder zusammenraufen. Und wenn du ihn haßt, was tust du überhaupt hier?“
Moir sah sie an, als sei sie verrückt. „Wo soll ich denn sonst hin? Unser Blut ist geschieden; aber die Ungenn haben mich aus dem crog verbannt, und nur Darren kann ein Wort zu meinen Gunsten sagen.“
„Du willst ihm also überallhin nachlaufen, weil du hoffst, er wird dir verzeihen – ja?“
„Was kann ich denn sonst tun? Ich verhungere doch hier draußen.“
„Und alles, weil du nicht mit mir kämpfen willst. Findest du, daß ich schuld bin, Moir? Bist du deswegen weggerannt?“
Das Mädchen schwieg.
„Warum hast du dich freiwillig entehrt, Moir? Hattest du Angst vor meinen geheimen Kräften? Oder hattest du Angst, du würdest mir den Kopf abhauen, weil ich noch niemals ein Schwert geschwungen habe?“
Moir befreite sich aus Elspeths Armen und starrte gegen den Wind, wo Schwarzflügler aller Größen in Spiralen zu den Klippen hinunterkreisten. Die lauten Lebensgeräusche in den Marschen waren erstorben; dichter Nebel stieg aus den großen, glitzernden Teichen im Norden hoch und rollte mit Wind auf die beiden Menschen zu. Bald würde man nicht mehr viel sehen können. Eine Stunde vielleicht, vielleicht auch weniger.
Moir fuhr durch ihr Bauchhaar, teilte es und wandte sich zu Elspeth um. „Es tut manchmal noch sehr weh“, sagte sie, und Elspeth sah die breite, häßliche Narbe, die quer über den Nabel des Mädchens lief. Es war eine alte Narbe, gut verheilt, doch die Wunde war tief gewesen und mußte dem Mädchen schreckliche Schmerzen verursacht haben, als sie geschlagen wurde.
Elspeth suchte in Moirs ernstem Gesicht nach einer Erklärung. „Als ich knapp halb so alt war wie jetzt, noch fast ein Baby, hatte meine Mutter ein Duell mit der ‚festen Frau’ des Mannes, der meinen Vater getötet hatte. Ich war bei diesem Kampf auf dem Rücken meiner Mutter festgebunden. Sie war eine große Jägerin, sehr geübt in den Waffen, auch im Duell sehr erfahren; aber diesmal verlor sie. Die andere rannte ihr das Schwert durch den Leib, und die Klinge verletzte auch mich. Meine Mutter starb, ich blieb am Leben. Der Kampfgeist meiner Mutter ging auf mich über, als unser Blut sich bei ihrem Tode mischte, und Iondai sagte, ich würde eine große Kriegerin werden. Das Orakel bestätigte seine Voraussage. Ich war der Stolz meiner Familie. Ich hätte eine große Kriegerin werden müssen.“
„Aber warum hast du dann nicht gekämpft?“
„Weil ich wußte, ich würde gewinnen! Ich bin noch keine richtige Kriegerin, aber sobald ich dich getötet hätte, wäre ich ohne weiteres anerkannt worden. Kein kompliziertes Ritual, keine großen Prüfungen. Dein Tod wäre die Erfüllung der Voraussage gewesen. Wenn ich gefallen wäre … Elspeth, du hättest mich nicht töten können! Das Orakel irrt sich nie! Und ich wollte dich nicht töten, wirklich nicht.“ Die Augen wurden ihr wieder naß.
„Nicht weinen, Moir!“ Elspeth hockte sich bei der Kleinen nieder, so daß sie aufschauen mußte, um ihr in die Augen zu sehen. „Wenn das Orakel einmal gesagt hat, daß es dir bestimmt ist, eine große Frau zu werden, dann gilt das auch jetzt noch. Das Orakel irrt sich nie, wie du selbst gesagt hast.“
„Niemals“, erwiderte das Mädchen ruhiger. „Aber vielleicht hat Iondai den Spruch falsch verstanden. Vielleicht lag es auch an seiner Frage … Darren hat immer gesagt, den Starken müßte es gleich sein, was die Zukunft bringt; sie müßten leben und kämpfen ohne alle Furcht.“
„Das ist eine ziemlich häufige Ansicht“, entgegnete Elspeth lächelnd; „aber, Moir, jetzt solltest du das Orakel als etwas betrachten, das dir Kraft gibt. Es hat dir gesagt, daß du Ruhm ernten und schließlich in den crog zurückkehren wirst. Darüber solltest du froh sein.“
„Wie kann ich denn eine Kriegerin sein, wenn ich nicht töten konnte …“ – sie sah Elspeth liebevoll an – „… weil ich meinen Gegner so gern habe?“
Leicht verwirrt erwiderte Elspeth: „Du wirst eben eine andere Art Kämpferin sein, das ist alles. Du hast mehr Mitgefühl als dein Bruder und die anderen. Wahrscheinlich wird es eines Tages so kommen, daß der crog sich nach dir richtet.“
Moir lächelte und blickte dann zum Tal zurück. Sie wurde wieder ernst. „Aber Darren haßt mich noch, und ich ihn auch. Ich brauche ihn, aber ich hasse ihn. Er hat Engus getötet.“ Sie ballte die Fäuste und schien einem Zornesausbruch nahe, doch der Zorn ebbte ab, und sie beugte den Kopf. Sie starrte auf den kleinen schwarzen Beutel in ihrer Hand. „Er hat Engus getötet“, wiederholte sie leise, und dann schwieg sie.
„Ich weiß“, tröstete Elspeth, „ich weiß, wie das ist.“
Moir warf ihr einen scharfen Blick zu. „Hast du einen Bruder?“
Elspeth setzte zur Antwort an. Eine Antwort schien auf ihren Lippen zu liegen, doch als ihr Hirn versuchte, die wichtigsten Bilder der Vergangenheit zusammenzuketten …
Finsternis …
Leere …
Sie spürte, daß sie totenbleich wurde. Einen Bruder? Dieser Mann – nein, Knabe – der den schlaffen Leib … einer Frau … Mutter …? Schwester …? in den Armen hielt … Ein Jüngling, Schnee – Blut auf dem Schnee – aber ein Bruder? Bruchstücke von Bildern, ineinander verwoben. Eine Stadt, Straßen, Fahrzeuge, Leute – ein Gesicht schien aus der Menge hervorzutauchen, das Gesicht eines Mannes, den sie eigentlich kennen müßte, und doch – es entschwand, verging, tauchte wieder weg, von den schwarzen fremden Gesichtern verschluckt. Ein Bruder?
„Nein“, sagte sie und wußte instinktiv, daß sie log, und doch konnte sie das, was wahr sein mußte, nicht glauben. „Nein, ich habe keinen Bruder.“
„Dann kannst du auch nicht wissen, wie es ist. Du kannst es nicht verstehen.“
Ein ahnungsvolles Gefühl beschlich Elspeth, während sie voran zum Felsen ging. Der Wind wurde stärker, kälter, würde ganz bestimmt zu einem ordentlichen Sturm auffrischen; ein melancholisches Heulen in der oberen Atmosphäre, das trübe Licht in der weiten unfruchtbaren Farnmoos-Ebene bildeten vielleicht die psychologischen Ansatzpunkte eines Gefühls, das sie für eine vorübergehende Stimmung hielt, das aber andauerte und immer intensiver wurde. Sie fühlte instinktiv, daß Unheil lauerte. Noch vor Stunden hatte sie sich frei von feindseligen Einflüssen gefühlt. Ihr Streit mit Gorstein war eine Art Katharsis gewesen. Vom Zugriff der Spannung erlöst, beruhigt, weil Gorstein Verständnis für die Situation bewies, hatte sie ein paar wunderbare Minuten lang das Gefühl gehabt, daß die Not vorbei war. Als sie jedoch die Lage etwas realistischer überdachte, wurde ihr klar, daß das Unheil eben erst begann. Moir und Darren waren aufs schwerste zerstritten. Das Raumschiff hatte sie auseinandergebracht; und trotzdem waren sie einander noch immer verbunden. Haß war ein starkes Bindeglied, doch was sie beieinanderhielt, war mehr als Haß – Darren war immer noch für Moir verantwortlich, obwohl sie aus dem crog ausgestoßen war. Davor würde er sich auch nicht drücken; dafür sorgte der aus Brauch und Sitte gewachsene Instinkt. Aber wie sich dieses erzwungene Beieinander auswirken würde, konnte Elspeth nicht voraussagen. Vielleicht würde wieder eine gewisse Wärme zwischen ihnen aufkommen; vielleicht würde aber die Reibung unerträglich werden. Wenn das Orakel gesagt hatte, Moir sei dazu bestimmt, eine große Kriegerin zu werden, dann war vielleicht, da der Jüngling die Prophezeiung kannte, ein Element der Angst hinzugekommen, weil er gesehen hatte, wie Moir im Laufe der Zeit heranwuchs, stark wurde, immer mehr Selbstsicherheit gewann, die sie auch brauchen würde, um außerhalb der schützenden Wälle des crog zu leben. Und wie würden sich beide Elspeth gegenüber verhalten? Einer Jenseitlerin, einer aus dem verdächtigen Sternenvolk, das schuld war an dem ganzen Zwiespalt? Angenommen, sie würde nicht mehr im crog geduldet, würde wie Moir verbannt in das Land außerhalb der Erdwälle – angenommen, sie gestatteten ihr nicht mehr zu fragen, zu forschen, zu üben, zu lernen – angenommen, sie würde nie den Sinn der höheren Symbole herausbekommen … und jenes einen höchsten Symbols … Wenn sie stürbe, ohne erfahren zu haben, was der Erdwind war! Oder wenn sie weiterlebte, gesund, kräftig, ohne Vergangenheit, mit einer unsicheren Zukunft – der sie tätig und furchtlos entgegensah –, des Erdwinds bewußt, vielleicht sogar auf ihn reagierend, doch ohne Wissen von der Natur dieses Symbols, von dem, was es tat, was es für sie getan hatte, woher es kam … fremd oder nicht fremd … von drinnen oder von draußen …
Sie mußte es wissen!
Sie rannte, angespannt, naß vom Schweiß, der ihr kalt und unangenehm an der Innenseite ihrer zerfetzten Kleidung hinabfloß. Moir trabte hinter ihr her, ohne eine Ahnung von den Ängsten zu haben, die, wie schon so oft, die hochgewachsene Jenseitlerin bedrängten, fast beherrschten.
Als Elspeth wieder auf dem windigen Hochpfad war, mußte sie darüber lächeln, daß ihre egoistische Motivation so dominierend und so überragend wichtig geworden war. Es war eine so irrationale Geisteshaltung. Was hatte, im Vergleich zum bloßen Überleben, das Verstehen einer simplen Felszeichnung schon für einen Wert? Warum suchte sie so fanatisch nach seinem letzten Sinn? Es war, als sei etwas in ihr, was eigentlich nicht da sein sollte, das in sie hineingekrochen war – vielleicht in jener ersten Nacht, als sie mit dem Bewußtsein ihres jetzigen Abbaus im Wald eingeschlafen war; etwas Geheimnisvolles, das von ihr Besitz ergriffen hatte und sie antrieb: Suche, gib nicht auf, bis du es weißt, finde die Lösung, erhelle es, finde es … um des tao willen, laß nicht los … du mußt den Sinn herausfinden … um meinetwillen, um meinetwillen …
Sie lächelte. Ein Fremder in ihrem Kopf? Eine Psycho-Bestie oder ein winziger Parasit, schmerzlos, verborgen in einer winzigen Nische ihres Hirns? Dergleichen gab es natürlich nicht. Das wußte sie. Intelligentes Leben gab es nur bei den großen, fleischigen Tieren von der jetzt sehr verbreiteten humanoiden Varietät und bei diesen rückständigen Geschöpfen am anderen Spiralarm der Galaxis, Höhlenbewohner in der Morgendämmerung ihrer Zivilisation. Sie wußte nicht mehr, wie sie hießen. Das war ein weiteres Faktum, das ihr entfallen war, wie so viele andere. Sie wagte jetzt kaum noch, in die Vergangenheit zurückzudenken. Die Angst vor dem, was sie nicht mehr finden würde, war viel intensiver als die Erinnerung an irgendwelche schreckliche Begebenheiten.
Als sie wieder am Felsen waren und in die Schlucht hinunterblickten, sahen sie Darren dort unten, wie er, von Felsblock zu Felsblock in Deckung gehend, einen arglosen Schwarzflügler beschlich, einen Tangelkrautstrang um jeden Arm. Der Nebel rollte bereits vom fernen Ende der Enge zwischen den hohen Klippen heran, und bald würde alles undurchsichtig weiß sein. Zweimal hatte er seine Beute durch ein Geräusch oder eine unvorsichtige Bewegung verscheucht – jetzt, beim dritten Versuch, mußte es unbedingt glücken.
Elspeth wandte sich um, denn Moir hatte sie am Arm gefaßt. Das Mädchen deutete nach hinten. Elspeth sah hin: Vom fernen Wald näherte sich ihnen ein Schwebefloß. Ein einzelner Mann, der sich auf dem unsicheren Gefährt nicht recht wohlzufühlen schien, saß darauf. Sie erkannte Ashka. Ihr Herz setzte vor Spannung aus. Sie wußte, warum er hier war.
Moir glitt leise hinweg; vielleicht hatte sie Angst vor dem Floß, weil es vom Himmel kam; vielleicht spürte sie auch, daß Elspeth lieber allein sein wollte. Das Floß sank in einiger Entfernung zu Boden, und Ashka, jetzt etwas vernünftiger bekleidet (schwarzer Uniformrock und weite bauschige Hose), seine kostbaren Orakel am breiten, farbenfreudigen Gürtel baumelnd, ging auf Elspeth zu. Sein Gesicht war unbewegt, doch seine Augen waren – böse, sehr böse.
„Wenn Sie mich anbrüllen wollen – bitte nicht; ich habe genug Anbrüllerei für einen Tag hinter mir.“
„Davon habe ich gehört“, erwiderte er kalt. „Ich erhebe meine Stimme nie, Elspeth. Schadet den Stimmbändern. Ruhige Entschlossenheit ist lautem Gezänk überlegen.“
„Sie reden wie das ching. Ihr beide seid euch näher als ich dachte.“
Diese Worte besänftigten ihn durchaus nicht. Moir beobachtete ihn aus respektvoller Entfernung. Die ersten Nebelschwaden hingen in der Luft. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sicht ernsthaft beeinträchtigt war, doch die Ausdünstungen des Moores griffen bereits mit unangenehmen Fingerspitzen nach dem Pfad. Elspeth atmete schwerer; die klamme, feuchte Luft, der faule Geruch, der mit dem Nebel herankam, wurden ihr lästig.
„Gorstein wollte mir nur sehr wenig sagen, außer, daß er die Implantation der Monitoren verboten hat. Sie müssen einen außerordentlichen Eindruck auf ihn gemacht haben.“
„Wir hatten eine ganz schöne Auseinandersetzung. Aber sehr beeinflußt habe ich ihn wohl nicht. Mit Ihrem Schiffs-Meister kommt man leicht ins Streiten. Vielen Dank für die Warnung.“
„Habe ich Ihnen nicht gesagt, wie er ist? Ich dachte, ich hätte Ihnen genügend Hinweise gegeben …“
„Hmm …“ – Sie schüttelte den Kopf in gespieltem Ärger. „Sie haben mich glauben lassen, er sei ein lieber, humorvoller Mensch.“
„Gorstein?“ Er mußte lachen, runzelte dann die Stirn, sah das Funkeln in Elspeths Augen und schüttelte den Kopf. „Sehr schlau.“
„Seien Sie nicht so böse mit mir, Peter. Darf ich Peter zu Ihnen sagen? Ich habe ihm wirklich nicht viel erzählt.“
„Es reicht“, erwiderte Ashka scharf. „Genug, daß er eine Dummheit machte, genug, daß er eine Entscheidung traf, die sehr unheilvolle Folgen für die Kolonie haben wird.“
„Nein, Peter. Es war wirklich nicht meine Schuld. Er hatte sich bereits entschlossen.“
Der Asiat war erstaunt. „Er hatte bereits entschieden, die Monitoren nicht zu implantieren?“
„Seine Gründe waren fast die gleichen wie meine. Er hat erkannt, daß die Aerani höchst merkwürdig sind, und er will nichts tun, was ihm bei den Elektranern schaden könnte. Ich glaube, er hat soeben Kontakt aufgenommen, um zu hören, was er tun soll. Sie werden ihm sagen müssen: Tun Sie gar nichts. Also wozu der ganze Wirbel? Schiffsführer sollen ja Leute mit furchtbar viel Initiative sein; und davon nimmt er eben ein bißchen. Warum sind Sie so böse?“
„Weil er sich nicht bei der Stelle Rat geholt hat, die einzig dafür in Frage kommt.“
„Das ching.“
„Natürlich. Es ist rücksichtslos von Karl Gorstein, auf eigene Faust zu handeln. Und dumm. Was ist, wenn er, so lobenswert seine Absichten auch sein mögen, falsch handelt? Angenommen, seine Initiative ist falsch, sein Instinkt hat ihn getäuscht?“
Sie wußte selbst nicht, warum sie Schiffs-Meister Gorstein in Schutz nahm. „Können Sie das wirklich glauben? Ich meine, ist es nicht das einzig Richtige, die Aerani in Frieden zu lassen?“
„Nein!“ rief Ashka aus. Das Blut schoß ihm ins Gesicht. Dieser Ausbruch überraschte Elspeth.
„Ich dachte, Sie werden niemals laut?“ sagte sie.
„Es gibt Gelegenheiten …“, erwiderte er drohend; doch dann lockerte er sich. „Elspeth, begreifen Sie denn nicht, was er mit diesem Blödsinn riskiert? Begreifen Sie denn nicht, wozu Sie ihn mit Ihrer Dummheit getrieben haben? Der Seher der Kolonie hat die Annahme empfohlen. Das ching hat gesagt: annehmen. Und nun verhindert Gorstein die Annahme, macht diese Voraussagen, diese Führung zunichte. Ein so primitives Volk muß sehen, daß Prophezeiungen erfüllt werden. Es gehört sich einfach, daß man tut, was das Orakel sagt.“
Elspeth zuckte die Achseln und sah den erregten, zutiefst betroffenen Mann lächelnd an. „Wenn das hiesige Orakel etwas vorausgesagt hat, dann trifft es auch ein“, sagte sie.
Verzweifelt schüttelte Ashka den Kopf. „Es wäre das einzig Richtige, aber eben das hat Gorstein verhindert.“
Jetzt lachte Elspeth. „Peter, auf dem Aeran gibt es keine Alternativen. Was das Orakel prophezeit, trifft ein. Soviel wissen Sie doch sicher schon. Sie haben doch gesehen, wie es funktioniert, nicht wahr? Es funktioniert nicht so wie das ching – es sieht … es sieht, wie es kommen wird.“
„Ausgeschlossen“, erwiderte Ashka. „Ich hatte nicht vergessen, was man dem Orakel zutraut; aber das ist unmöglich, und damit hat sich’s. Absolute Orakel gibt es eben nicht; alle Orakel im gesamten Ablauf der Geschichte haben sich mit Wahrscheinlichkeiten befaßt, niemals mit Gewißheiten. Ich stimme jedoch insoweit zu, daß die Aerani glauben, daß ihr Orakel absolut ist; und genau wie Sie bin ich dagegen, daß dieser Glaube zerstört wird. Doch dieser Glaube wird eben zerstört, wenn Gorstein die Monitoren nicht implantieren läßt.“
„Nein! Das darf nicht geschehen, Peter. Das ist untragbar! Alles, was diese Leute wollen, was sie brauchen, ist, daß man sie in Ruhe läßt.“
Sie merkte, daß Moir sich unter einen überhängenden Felsblock geschmiegt hatte und sie gespannt beobachtete. Der Wind war jetzt sehr stark, und die aufkommende Nebelwand verschleierte bereits das Marschland.
„Und in dem Glauben gelassen werden, daß ihr Orakel falsch ist?“ entgegnete Peter Ashka.
„Das werden sie vergessen oder wegrationalisieren.“
Der alte Mann sah müde aus, als erschöpfe ihn dieses Streitgespräch. „Elspeth … das ching hat gesagt, die Implantation wird keine Folgen haben. Das hat es präzise und eindeutig konstatiert. Setzt den Aerani die Monitoren ein, und nichts wird sich ändern. Beide Seiten werden glücklich und zufrieden sein, alles bleibt, wie es ist.“
„Das hat das ching wirklich gesagt?“
„Jawohl“, bekräftigte er laut, senkte aber gleich wieder die Stimme. „Sie müssen es mir glauben – die Aerani laufen ins Unglück, wenn diese Mission nicht durchgeführt wird, so unerklärlich sie ihnen vorkommen mag. Sie müssen damit fertig werden.“
Elspeth war immer noch im Zweifel. „Angenommen, sie stehen es durch, und ihre Lebenshaltung ändert sich; angenommen, sie gehen einen anderen Weg, nicht mehr den leichten, einen unerwarteten. Dann wird sich auch die Bedeutung der ching-Voraussage ändern. Es hat ja schließlich nur eine Wahrscheinlichkeit ausgesagt, nicht wahr? Sie wollen aber anscheinend beides auf einmal haben. Das hiesige Orakel kann nicht absolut sein, weil absolute Aussagen nicht mit dem tao vereinbar sind; doch in diesem Falle glauben Sie an die Unfehlbarkeit des ching, weil …“ Sie brach ab und starrte ihn an. Er schwieg. „Warum eigentlich, Peter? Warum liegt Ihnen so verzweifelt viel daran, daß diese Mission durchgeführt wird? Der Wert eines Orakels hängt doch nicht davon ab, daß man seine Voraussage eintreffen sieht … warum, Peter?“ wiederholte Elspeth ihre eindringliche Frage.
Sie erschrak vor dem schrecklichen Ausdruck seines Gesichts; er sah aus wie von bösen Geistern gejagt, nicht wie ein Mann, der mit dem tao im inneren und äußeren Frieden ist, sondern wie jemand, der das Gleichgewicht verloren hat und jeden Moment fürchten muß, in einen psychologischen Abgrund zu stürzen, in den zeitlichen und ewigen Tod.
„Sie haben natürlich recht“, sagte er schließlich. „Meine Angst, meine Verzweiflung gehen sehr tief. Diese Welt ist eine entsetzliche Welt, Elspeth, und ich bin entsetzt über sie; doch warum ich solche Angst habe, verstehe ich nicht ganz. Ich weiß nur, daß ich ein schwacher Mensch bin. Das habe ich nie verborgen, und ich habe mich dessen auch nie geschämt. Meine Schwäche war irrelevant, weil ich in anderer Hinsicht so stark war; das ist bei uns Rationalisten ganz natürlich. Aber ich bin dem Tode nahe, auf kurzfristigen Abruf, eine Sache von ein paar Monaten. Ich fürchte mich nicht vor dem Tode – ich fürchte mich vor der menschlichen Reaktion auf sein Näherkommen. In den nächsten Monaten brauche ich Stärke, Stärke von außen her, die Stärke eines bestimmten Mannes, denn nur ein Mann ist stark genug, um mich zu stützen …“
„Schiffs-Meister Gorstein …“
„Ja. Gorstein. Er war mein nächster Freund, mein bester Freund unter den Menschen, und das während des größten Teils meiner Mannesjahre. Merkwürdig, wie Freundschaft unbewußt bleiben kann, bis es zu einer Krisis kommt, nicht wahr? Ich habe erst kürzlich gemerkt, wie sehr ich ihn brauche, damit er mir durch meine letzten Lebensmonate hilft. Ich glaube, ohne ihn würde ich einen sehr schlimmen Tod haben. Mit ihm dagegen einen friedlichen. Und ein friedlicher Tod ist mein größter Wunsch.“
Elspeth wollte etwas einwenden, in einem ähnlichen Ton, wie Gorstein heute vormittag mit ihr gesprochen hatte, um Ashka die Selbstsucht vorzuwerfen, mit der er sein eigenes Leben über das der Kolonie stellte. Doch sie merkte, daß sie es nicht konnte, und auf jeden Fall hatte sie den Verdacht, daß es ihm nicht so sehr auf die Durchführung der Mission ankam, als darauf, daß er sich mit dem Schiffs-Meister im Einklang fühlen konnte.
Er fuhr fort: „Ich glaube, daß Gorstein sehr rasch mein Feind werden wird, wenn die Mission verschoben wird … Ich glaube es, weil mir das Orakel ‚Lied der Erde’ etwas ganz Bestimmtes gesagt hat … Sie können es mir armem Sterblichen vielleicht nicht so nachfühlen, aber die Aussicht, daß zwischen Gorstein und mir Feindschaft entsteht, ist vernichtend.“
„Sie haben mein Mitgefühl, Peter, glauben Sie mir. Aber …“ Sie brach ab und starrte ihm ins bleiche Gesicht; sein zerbrechlicher Körper zitterte vor Kälte; er wirkte mehr wie ein Kind als wie ein Mann von tiefer Intuition. Was geschah ihm, fragte sie sich. Wie konnte er so hartnäckig die Tatsache ignorieren, daß der Aeran anders war? Oder lag es an ihr selbst? Nahm sie dieses Anderssein so leicht in Kauf, daß sie eine vernünftigere Alternative übersah? Sie dachte dabei natürlich an das Orakel – daß das Lied der Erde, wenn es Feindschaft zwischen Gorstein und Ashka vorausgesagt hatte, etwas vorausgesagt hatte, das tatsächlich eintreffen würde, ganz gleich, wie sich die Beziehungen zwischen Raumschiff und crog entwickelten.
Armer Mann, dachte sie. Er rennt direkt in den Konflikt und klammert sich doch an den Glauben, daß ein Konflikt vermieden werden kann. Wie tragisch das für ihn sein wird … wie traurig …
Vorahnung durchschauerte sie. Sie sah Ashka so wie er war, todesbewußt, voller Angst vor dem Faktum des Todes, voller Angst vor dem Verlust der guten Freunde, die er hatte, voller Angst, kurz gesagt, vor all jenem Sterblich-Menschlichen, das andere unter Kontrolle hielten, weil er, der Rationalist, ihnen dabei half. Und ihm konnte keiner helfen.
„Es tut mir leid“, sagte sie, „aber ich bleibe bei meiner Ansicht. Wenn Gorstein nicht beschlossen hätte, die Implantation aufzuschieben, hätte ich weiter versucht, ihn dazu zu bringen. Und wenn er sich anders entschließt, gehe ich noch einmal zu ihm und diskutiere weiter. Es steht für diese Welt zuviel auf dem Spiel, als daß man geteilter Meinung darüber sein könnte, Peter. Hier ist nun mal etwas Seltsames geschehen, und es ist an Menschen geschehen, und es mag vor undenklichen Zeiten einer menschlichen Population schon einmal geschehen sein – und ebensogut kann es wieder geschehen. Wir müssen wirklich herausbekommen, was das ist, meinen Sie nicht auch? Aber wie können wir das in dem gegenwärtigen Klima? Deshalb muß diese Implantation verhindert werden.“
Bevor er etwas sagen oder einwenden konnte, rief Moir: „Darren fängt gerade einen Schwarzflügler. Kommt her und seht!“
Mit einem letzten Blick auf Ashka lief Elspeth zu dem Mädchen hinüber und spähte geduckt in den anrollenden Nebel, der den Jäger und seine schlafende Beute mit einem feinen weißen Schleier umhüllte.
Leise hockte sich Ashka neben Elspeth hin, und sie lächelte ihn an. „Passen Sie auf“, sagte sie, „es ist ziemlich eindrucksvoll.“
„Das essen die Aerani, nicht wahr?“
„Sie essen das Fleisch – es schmeckt scheußlich –; aus den Flughäuten machen sie Kleider und aus dem Skelett Waffen. Ein Allzweck-Wildbret!“
„Er will das Tier mit diesen Peitschenschnüren fangen? Das reißt ihn doch mit in die Luft. Das Vieh ist doch dreimal so groß wieder Junge.“
„Sehen Sie sich’s nur an“, entgegnete Elspeth. „So etwas haben Sie in Ihrem Leben noch nicht gesehen.“
„Da!“ kreischte Moir entzückt. Gespannt sah Elspeth ins Tal hinunter. Darren hatte den Schwarzflügler mit seinen beiden Tangelkrautranken erwischt. Kein Wunder, daß ihn das Tier mit diesen beiden fest zupackenden Schlingen am Bein nicht abschütteln konnte.
Laut klang sein Triumphschrei durch die schwere, feuchte Luft. Der Schwarzflügler fuhr zurück, geräuschvoll schlugen seine Schwingen, sein Schrei schrillte durch den Waldpfad, alarmierte die Tiere auf den Klippen. Darren erhob sich mit ihm und fing an zu zerren. Elspeth sah, wie seine kraftvolle Gestalt einen Augenblick auf den Füßen stand und dann von dem starken, um sein Leben kämpfenden Tier – halb Vogel, halb Riesenfledermaus – fortgerissen wurde. Der Schwarzflügler peitschte die Luft; Mensch und Tier hoben ab, stiegen zwei, drei Fuß über Bodenhöhe, berührten dann wieder das Moos, liefen, stolperten, hüpften wieder hoch; Darren hielt eisern fest, mit gestreckten Armen, starren, unter dem Haarpelz sich spannenden Muskeln – doch er ließ nicht los.
Dann wandte das Tier seine Schwirrflattertechnik an und verschwand mit dem Jäger für einen Sekundenbruchteil, um anderswo wieder zu erscheinen, entschwirrte nochmals ihren Blicken und tauchte wieder auf, flog über den Pfad in dieser sonderbaren Serie von Geist-Sprüngen, die Ashka schon einmal gesehen hatte. Und trotzdem ächzte er vor Entzücken … oder vielleicht vor Überraschung, oder vielleicht war es … Wiedererkennen? Irgend etwas erregte ihn.
Während der Schwarzflügler, immer noch in seinem verrückten Schwirrflug, im Nebel verschwand, immer noch kreischend, was unter der Schlaf-Population auf den Klippen große Aufregung verursachte, lehnte sich Elspeth zurück und wandte sich Ashka zu, weil sie seine Meinung über dieses Schauspiel hören wollte.
Er war nicht mehr neben ihr, und als sie sich im Sitzen umdrehte, sah sie ihn zu seinem Floß rennen.
„He, Peter – warten Sie auf mich!“
Sie rannte hinterher und holte ihn mühelos ein. Er rannte nicht mehr, sondern hinkte ein bißchen bei den letzten Schritten.
„Warum so eilig?“
„Es ist mir wieder eingefallen. Dem tao sei Dank – es ist mir eingefallen.“
„Was denn? Peter, langsam doch! Was ist Ihnen eingefallen?“
„Ich habe es schon einmal gesehen“, keuchte er; jetzt war er am Floß und kletterte an Bord. Er schnallte sich fest, ohne sich um Elspeth zu kümmern, die verwundert und befremdet danebenstand und ihn anstarrte.
„Was haben Sie schon einmal gesehen?“ beharrte sie, „Schwarzflügler?“
„Diese Bewegung“, rief er im Abheben. Elspeth trat zurück, um dem plötzlichen eiskalten Luftstrom auszuweichen. „Nicht Teleportation“, rief er, „ich muß an Bord und in Ruhe darüber nachdenken, sonst entwischt es mir wieder.“
„Nehmen Sie mich doch mit“, schrie sie. „Wenn es keine Teleportation ist, was ist es dann? Ach, Peter, Sie schrecklicher Mensch, nehmen Sie mich doch mit!“
Das Floß trieb weg und wurde schneller.
„Was ist es?“ brüllte sie hinterher.
„Zeit …“, schrie er zurück, doch seine Stimme war gegen den Fahrtwind und das Motorengeräusch kaum zu hören.
Zeit, dachte sie verwirrt. Zeitreise? Meint er das? Reisen die Schwarzflügler durch die Zeit?
Und dann …?