Wiedergeburt

 

Die ersten warmen Winde der neuen Jahreszeit trugen den Geruch des Flachlandes in die Berge hinauf, zu der hohen Felsnadel, wo eine dunkelhäutige Frau stand und nachdenklich ins Weite starrte. Hinter ihr zerschnitt ein in Häute gekleideter Jäger einen kleinen Weißflügler in handliche Stücke, die er mit dem schnell schmelzenden Schnee zu Eiswürfeln formte, damit das Fleisch ein paar Tage frisch blieb. Er grunzte bei der Arbeit, sah ein paarmal zu der Frau hinüber und schimpfte schließlich: „Was stehst du da und starrst? Komm lieber und hilf mir!“

„Ich sehe mir die Erdmauer an“, antwortete sie, „und ich denke mir, wieviel leichter es sich dort lebt als hier in dieser Hölle.“

Der Mann nickte und wandte sich wieder dem toten Tier zu. Die beiden glitzernden Diamanten, die er, in einer Lederschnur verknotet, um den Hals trug, tanzten und reflektierten farbige Lichter in der Sonne.

Die Frau wandte sich von der Felsnadel ab und stampfte ein Weilchen mit ihren fellumwickelten Füßen, um sich zu erwärmen. Sie starrte auf den arbeitenden Mann, auf seinen muskulösen Körper, horchte auf die Geräusche, die er von sich gab – genauso grunzte und stöhnte er, wenn sie sich liebten, wenn sie zusammen töteten oder wenn sie rannten. Ein Mann von wenig Worten, doch ein erfreulich starker Mann.

„Sie töten uns, wenn wir uns dort wieder sehen lassen“, sagte er schließlich, als hätte er lange über eine Antwort nachdenken müssen.

Die Frau schwieg. Sie blickte auf ihre linke Hand; die Stummel zweier Finger waren ein häßliches Souvenir an die Feindseligkeit derer, die in der Erdfestung wohnten.

Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, eine verstohlene Bewegung zwischen den nächstliegenden Felsbrocken.

Auch der Mann hörte es und richtete sich langsam hoch.

„Schon wieder das Mädchen“, sagte er. „Diesmal erwische ich sie. Lange genug treibt sie sich bei uns herum.“

„Bleib, wo du bist“, befahl die Frau. „Du verscheuchst sie bloß, und Menschen sind etwas, das wir brauchen.“

Der Mann wandte sich um und sah sie an, wobei er sich die schneebeklebten Hände am Bauch abwischte. Er war narbig und zerstochen, und die Spuren von Kampf und Niederlage waren deutlich unter dem dichten schwarzen Haar zu sehen, das seine Haut bedeckte. Er trug nur eine Hose aus Weißflüglerleder, doch die Kälte schien ihm nichts auszumachen. Mit seinen engzusammenstehenden Augen, um die das lange schwarze Haar hing, das er mit getrockneten Sehnen zu mehreren Zöpfen zusammengebunden hatte, sah er wild und böse aus, doch die Frau kümmerte sich nicht darum. Während des bitteren Winters, bei ihrem Zug ins Flachland und den Scharmützeln mit den Aerani in der Erdburg hatte sie gelernt, mit seinen wilden Wutausbrüchen fertig zu werden und ihnen ihren eigenen Zorn entgegenzusetzen.

„Die da brauchen wir nicht“, knurrte der Mann. Jetzt rührte sich in den Steinen weiter oben am Hang wieder etwas; der Mann hörte es, fuhr herum und starrte hinauf, wobei er seine Augen mit der Hand vor der glänzendgelben Sonne schützte.

„Wir brauchen Krieger“, widersprach die Frau und band sich die Schnur ihrer weiten Lederjacke fester. Sie wickelte sich einen Gürtel aus dickem Pelz um die Mitte und hängte zwei schmale Steinmesser in seine Schlaufen. Ohne die Felsbrocken aus dem Auge zu lassen, nahm sie ihre Schleuder vom Boden auf, lud sie mit einem scharfzackigen Kiesel und hängte sich die Schleuder ebenfalls an den Gürtel.

Ein plötzlicher Windstoß wirbelte spiralige Schneewolken über den Fels und trug den Schweißgeruch des Mädchens mit sich, bestätigte den Verdacht, daß es ganz in der Nähe war.

Die Frau benetzte ihre Hand mit Schnee und strich ihr länger gewordenes schwarzes Haar zurück, so daß sie die Sicht ganz frei hatte.

„Krieger?“ lachte der Mann verächtlich. „Die ist doch keine Kriegerin.“

„Das wissen wir nicht.“

„Sie ist eine von denen. Eine Gelbhaarige“, sagte er grinsend. Das Wort hatte in ihrem privaten Slang, den sie sich zurechtgemacht hatten, die Bedeutung von etwas Häßlichem.

Die Frau ging auf die Felsbrocken zu und winkte dem Mann kurz und böse, zu bleiben, wo er war. Als sie an die Stelle kam, wo der Hang anstieg, trat das Mädchen hervor und schwang warnend, doch nicht direkt drohend ihre eigene steingeladene Schleuder. Sie war zierlich und noch nicht ganz erwachsen, denn ihre Schultern hatten noch unbehaarte Stellen, die in der Kälte bläulich angelaufen waren. Doch in ihren Augen war Kraft; auch in der Art, wie sie sich zur Verteidigung spannte. Rhythmisch summend wirbelte die Schleuder um ihre Hand.

An einer Lederschnur hing ihr ein Kristallmesser am Halse, eine schöne, tödlich aussehende Waffe.

Die dunkelhäutige Frau lächelte und hielt beide Hände hoch. „Lauf diesmal nicht weg. Wir wollen keine Feindschaft mit dir.“

Die Schleuder wirbelte immer noch, aber die Feindseligkeit in den Augen des Mädchens schwand, und sie blickte zu dem Manne hin. „Er tut dir auch nichts.“

Das Mädchen ließ die Schleuder hängen, nahm den Stein heraus und warf ihn weg. Sie sagte noch immer nichts, doch sie atmete leichter und blickte unentschlossen.

„Wer bist du?“ fragte die Frau. „Warum folgst du uns immer?“

„Moir … ich heiße Moir“, antwortete sie mit schwacher Stimme. Wahrscheinlich, dachte die Frau, ist sie hergekommen, weil sie hungrig und müde ist. „Du bist …“ Sie wußte anscheinend nicht, ob sie weitersprechen sollte; sie warf einen unsicheren Blick auf den grinsenden Mann, der ein Stück hinter der Frau stand und jetzt langsam näher herankam. Dann fuhr sie fort: „Heißt du noch Elspeth?“

Die Frau lachte. „Noch? Ich habe immer Elspeth geheißen. Kennst du mich denn?“ Sie erkannte das Mädchen nicht, das nach ein paar Sekunden den Kopf schüttelte.

„Nein … nein, eigentlich nicht.“

„Warum bist du dann immer weggerannt?“ fragte der Mann ärgerlich. „Wir hätten dir schon nichts getan.“

„Das ist Karl“, sagte Elspeth lächelnd, „er macht die Muskelarbeit.“

Das Mädchen zuckte die Achseln und starrte Karl unwillig an.

„Ich war mir nicht so sicher, daß ihr mich nicht töten würdet. Ich habe gesehen, wie ihr versucht habt, in die Erdburg einzudringen – damals, mitten im Schneesturm, und ich habe gesehen, was sie euch dort angetan haben. Ich dachte mir, ihr würdet schön wütend auf die Aerani sein. Und da wußte ich nicht, was ich tun sollte. Habt ihr was zu essen? Ich habe seit Tagen nichts gegessen.“

„Wir geben dir zu essen“, erwiderte Elspeth. „Weiter oben haben wir ein kleines Feuer in Gang, in der Höhle. Willst du bei uns bleiben?“

Das Mädchen lächelte und nickte langsam. „Ich möchte schon.“

„Bist du eine Kriegerin?“ knurrte der Mann. „Kannst du kämpfen?“

„Ja. Ja, ich bin eine Kriegerin, und … ja, kämpfen kann ich.“

„Wen hast du getötet?“ bohrte der Mann weiter. „Wo ist die Leiche? Wo ist der Beweis?“

„Karl!“ mischte sich Elspeth ärgerlich ein. „Laß das! Sie ist doch noch ganz kaputt.“

Aber Moir sagte schnell: „Ich habe meinen Bruder getötet, der ein großer Krieger war. Vor einiger Zeit habe ich ihn beerdigt, oben auf der Hochfläche, unter einem Schneehügel.“

Elspeth starrte das Mädchen nachdenklich an und nickte. „Wir haben das Grab vor ein paar Wochen gefunden. Wir haben ihn aufgegessen. Es war sonst nichts zu essen da.“

Jetzt fand Karl Gefallen an dem Mädchen. „Wir machen bald wieder einen Angriff auf die Burg der Gelbhaarigen. Wir brauchen gute Krieger, gute Kämpfer. Diesmal werden wir gewinnen.“

Doch das Mädchen lächelte nur. „Warum geht ihr nicht in Frieden hin? Habt ihr jemals daran gedacht?“

Karl kicherte laut und höhnisch. „Und dann stecken unsere Köpfe auf zwei Pfählen, wie?“

Elspeth war irritiert. Irgend etwas beunruhigte sie an dem Mädchen. Dann sagte Moir: „Wo seid ihr hergekommen?“

Elspeth lachte, weil sie nicht gleich verstand, was das Mädchen meinte. Dann antwortete sie: „Nun, von hier. Wir waren immer hier.“

„Seit wann? Zwanzig Jahreszeiten, zwanzig Tage?“

„Seit dem Nebel“, sagte Elspeth unbehaglich. „Den ganzen Winter. Vorher hat der Nebel unser Leben weggenommen.“

„Alles, was ihr kennt, ist also der Winter? Von vorher wißt ihr nichts?“

„Nichts, was wir das Recht hätten zu wissen“, antwortete Elspeth, und ihr Blick glitt zur hohen Bergspitze hinauf. „Der Nebel hat uns ein neues Leben gegeben. Wir wurden in einer Höhle geboren, dort oben, wo der Nebel wohnt.“ Sie sah dem Mädchen fest in die Augen. „So ist das eben und war immer so.“

„Ja“, sagte Moir leise, „so ist es immer gewesen.“

Hatte sie Tränen in den Augen?

Als Moir zu der kleinen schützenden Lederhütte gehen wollte, die ein Stück weiter entfernt stand, streckte Elspeth die Hand aus und berührte das Kristallmesser, das dem Mädchen am Halse hing. Moir zuckte zurück, doch vielleicht erkannte sie etwas in der Miene der Frau, einen Wunsch. Sie nahm das Messer ab und reichte es Elspeth.

Elspeth sah sich das Messer genau an, und langsam breitete sich ein Lächeln über ihre Züge. „Das ist schön.“

„Ich habe es meinem Bruder abgenommen. Ich habe ihn damit getötet.“

„Und jetzt gehört es mir.“ Elspeth sah den Mann an. „Das ist der Anfang, Karl, jetzt fängt es an. Bald werden wir so stark und mächtig sein, daß wir diese Tiere lehren, was es heißt, uns töten zu wollen …“

Sie ging zum Felsenrand und hielt das Messer hoch, hoch über das ferne, bewaldete Flachland. Auf den scharfen Kanten der Waffe erglänzte das Licht und warf seine Strahlen wie Speere über das Land, hell und stechend, zu den Erdwällen hin, ungebrochen, unabgelenkt durch den Wind, der über dem Flachland sang.