Es wäre leicht gewesen, einfach das große Band des Ringspiegels zu zerschneiden und frei in den Raum fliegen zu lassen, direkt aus der Ebene der Ekliptik hinaus. Genauso könnte man mit der Soletta verfahren. Man feuere einige der Positionierungsraketen ab, und sie würde davonwirbeln wie ein Feuerrad.
Aber das wäre eine Vergeudung von bearbeitetem Aluminiumsilikat gewesen, die Sax zuwider war. Er beschloß, die Möglichkeit zu untersuchen, die Richtungsraketen des Spiegels und ihr Reflexionsvermögen zu benutzen, um sie anderswohin im Sonnensystem zu treiben. Die Soletta konnte vor der Venus lokalisiert werden, und ihre Spiegel konnten so ausgerichtet werden, daß die Struktur ein riesiger Sonnenschirm würde, der den heißen Planeten beschattete und den Prozeß des Ausfrierens der Atmosphäre einleitete. Darüber hatte man in der Literatur schon lange diskutiert; und ganz gleich, welche anderen Pläne man für das Terraformen der Venus hatte, dies war der erste Standardschritt gewesen. Wenn man das getan hätte, müßte der Ringspiegel in die entsprechende polare Umlaufbahn um die Venus gebracht werden, damit sein reflektiertes Licht half, die Soletta als Sonnenschirm in Position gegen den Druck der Sonnenstrahlung zu halten. Damit würden beide noch Verwendung finden, und es wäre auch eine Geste, eine weitere symbolische Geste mit der Aussage: »Schaut her, auch diese große Welt könnte terraformt werden.« Das war nicht einfach, aber es war möglich. Damit könnte etwas von dem psychischen Druck auf den Mars als >die einzige andere mögliche Erde< gemildert werden. Dies wäre nicht logisch; aber es spielte keine Rolle. Die Geschichte war seltsam und die Menschen keine rationalen Systeme. In der merkwürdigen symbolischen Logik des limbischen Systems wäre es für Menschen auf der Erde ein Zeichen, ein Omen, ein Ausstreuen psychischen Samens, ein Zusammenwerfen. Schaut her! Geht hin! Und laßt den Mars in Ruhe!
So besprach er es mit den Raumwissenschaftlern in Da Vinci, die die effektive Kontrolle der Spiegel übernommen hatten. Die Labor-Ratten, wie die Leute sie hinter ihren und seinem Rücken nannten (obwohl er es doch zu hören bekam) - die Laborratten oder die Saxisten. In der Tat ernsthafte junge Marsforscher mit genau dem gleichen wechselnden Temperament wie graduierte Studenten und Doktoren in jedem Labor überall und zu jeder Zeit. Aber die Fakten spielten keine Rolle. Sie arbeiteten mit ihm und waren deshalb die Saxisten. Irgendwie war Sax zum Modell des modernen Mars-Gelehrten geworden. Erst als Laborratte im weißen Kittel, dann als ausgewachsener verrückter Wissenschaftler mit einem Füllhorn eifriger Gefolgsleute mit wildem Blick aber gemäßigtem Benehmen, kleine Mr. Spocks, die Männer so hager und ungeschickt wie Kraniche auf dem Boden und die Frauen langweilig in ihrer farblosen Schutzkleidung und ihrer neutralen Hingabe an die Wissenschaft. Sax war ihnen sehr zugetan. Er liebte ihren Hang zur Wissenschaft, er war für ihn sinnvoll - ein Drang, die Dinge zu verstehen und imstande zu sein, sie mathematisch zu formulieren. Es war ein sensibles Verlangen. Oft schien ihm, wenn jeder Physiker wäre, dürfte manches viel besser sein. »O nein, Menschen gefällt die Idee eines flachen Universums, weil sie negativ gekrümmten Raum schwierig zu behandeln finden.« Nun gut, vielleicht nicht. Auf jeden Fall waren die jungen Eingeborenen am Da-Vinci-Krater eine starke Gruppe, seltsam oder nicht. Derzeit unterstand Da Vinci ein großer Teil der technischen Basis des Untergrunds; und mit Spencers vollem Einsatz war ihre Produktionsfähigkeit niederschmetternd. Sie hatten die Revolution bewerkstelligt, wenn das wahr war, was man erzählte, und hatten jetzt de facto die Kontrolle des orbitalen Raums um den Mars.
Dies war ein Grund dafür, warum viele von ihnen mißvergnügt oder zumindest verwirrt aussahen, als Sax ihnen von der Beseitigung der Soletta und des Ringspiegels erzählte. Er tat das bei einem Bildschirmtreffen; und ihre Gesichter verzogen sich zu alarmierten Mienen: Captain, das ist nicht logisch! Aber das traf auch für Bürgerkrieg zu. Und das eine war besser als das andere.
»Werden nicht Leute Einspruch erheben? Die Grünen?« fragte Aonia.
»Ohne Zweifel«, erwiderte Sax. »Aber gerade jetzt leben wir in Anarchie. Die Gruppe in Ost-Pavonis ist vielleicht eine Art von Protoregierung. Aber wir in Da Vinci kontrollieren den Weltraum des Mars. Und ungeachtet der Einwände könnte das einen Bürgerkrieg abwenden.«
Er erklärte das, so gut er konnte. Sie vertieften sich in die technische Herausforderung, in das Problem an und für sich, und vergaßen schnell ihren Schock über die Idee. Es war tatsächlich so, daß, wenn man ihnen eine technische Herausforderung dieser Art vorlegte, ihre Instinkte sich verhielten, als ob man einem Hund einen Knochen gab. Sie gingen fort, um die zähen Teile des Problems zu benagen, und waren schon ein paar Tage später beim Blankpolieren des Vorgehens angelangt. Zumeist infolge der Belehrung durch Computer, wie üblich. Es lief darauf hinaus, daß man, wenn man eine klare Vorstellung gewonnen hatte, was zu tun war, einem Computer bloß sagen mußte: »Bitte, tu das und das! Bring die Soletta und den Ringspiegel in einen Venus-Orbit und justiere die Jalousien der Soletta so, daß sie zu einem Sonnenschirm wird, der den Planeten vor aller ankommenden Sonneneinstrahlung isoliert!« Dann würden die Computer die erforderlichen Trajektorien, Raketenschüsse und Spiegelwinkel berechnen, und es wäre geschafft.
Vielleicht wurden die Menschen zu mächtig. Michel ließ sich immer über ihre gottgleichen neuen Kräfte aus, und Hiroko hatte in ihren Aktionen zum Ausdruck gebracht, daß es, was diese neuen Kräfte anbelangte, keine Grenze geben sollte. Sax selbst hatte einen gesunden Respekt für Tradition als eine Art Mangel an Überlebenskunst. Aber die Techniker in Da Vinci kümmerten sich nicht mehr um Tradition, als Hiroko es getan hatte. Sie befanden sich in einem offenen Moment der Geschichte und schuldeten niemandem Rechenschaft. Und so verhielten sie sich auch.
Dann ging Sax zu Michel. »Ich mache mir Sorgen wegen Ann.«
Sie befanden sich in einer Ecke des großen Lagerhauses von Ost-Pavonis. Die Bewegung und das Getöse der Menge schuf eine Art von Intimität. Aber nach einem kurzen Blick sagte Michel: »Laß uns nach draußen gehen!«
Sie zogen sich an und gingen hinaus. Ost-Pavonis war ein Labyrinth von Kuppeln, Lagerhäusern, Fabriken, Pisten und Parkplätzen. Es barg Tanks und Höfe, ebenso Müll- und Schrottplätze. Der mechanische Abfall war verstreut wie Vulkanauswürfe. Michel führte Sax nach Westen durch das Gerumpel, und sie kamen rasch zum Rand der Caldera, wo der menschliche Wirrwarr in einen neuen und größeren Zusammenhang gebracht war - eine logarithmische Verschiebung, welche die pharaonische Sammlung von Artefakten plötzlich wie einen Fleck von bakteriellem Wuchs erscheinen ließ.
Ganz an der Kante des Randes war der gefleckte Basalt in mehreren konzentrischen Absätzen zusammengebrochen, einer immer noch tiefer als der vorangegangene. Eine Anzahl von Treppen führte zu diesen Terrassen hinunter, und die unterste hatte ein Geländer. Michel führte Sax zu dieser Terrasse hinunter, wo sie über die Seite in die Caldera blicken konnten. Fünf Kilometer direkt nach unten. Der große Durchmesser der Caldera ließ es weniger tief erscheinen. Dennoch war da unten, sehr weit in der Tiefe, ein großes rundes Gebiet. Als Sax sich erinnerte, wie klein die Caldera im Verhältnis zu dem ganzen Vulkan war, schien Pavonis selbst sich unter ihnen wie ein konischer Kontinent auszudehnen, der aus der Atmospäre des Planeten bis in den niederen Weltraum reichte. Tatsächlich war der Himmel nur rings am Horizont purpurn und über ihren Köpfen fast schwarz. Die Sonne erschien wie eine harte Goldmünze im Westen und warf scharfe, schräg langezogene Schatten. Sie konnten das alles erkennen. Der von den Explosionen aufgewirbelte feine Staub war verschwunden, und alles hatte seine normale teleskopische Klarheit wiedergewonnen. Steine, Himmel und weiter nichts, mit Ausnahme der Gebäudereihen, die um den Rand errichtet waren. Anns Mars. Bis auf die Gebäude. Auf Ascraeus, Arsia und Elysium und sogar auf Olympus würde es die Gebäude nicht geben.
»Wir könnten wirklich alles oberhalb von etwa acht Kilometern zu einer Zone urtümlicher Wildnis erklären und für immer bewahren«, sagte Sax.
»Bakterien? Flechten?« fragte Michel.
»Wahrscheinlich. Aber spielen die eine Rolle?«
»Für Ann allerdings.«
»Aber warum, Michel? Warum ist sie so?«
Michel zuckte die Achseln.
Nach langer Pause sagte er: »Ihr Vater ist gestorben. Ihre Mutter heiratete wieder, als sie acht war. Von da an hatte ihr Stiefvater sie mißhandelt, bis sie zu der Schwester ihrer Mutter zog, als sie sechzehn war. Ich habe sie gefragt, worin die Mißhandlung bestanden habe, aber sie sagte, daß sie nicht darüber sprechen will. Mißhandlung sei Mißhandlung. Sie sagt auch, daß sie sich sowieso nicht an viel erinnert.«
»Das glaube ich.«
Michel schwenkte die Hand. »Wir erinnern uns an mehr, als wir glauben. Manchmal an mehr, als uns lieb ist.«
Sie standen da und schauten in die Caldera.
»Es ist schwer zu glauben«, sagte Sax.
Michel machte ein saures Gesicht. »Ist es das? Unter den Ersten Hundert waren fünfzig Frauen. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß mehr als eine von ihnen in ihrem Leben von Männern mißbraucht wurde. Eher waren es zehn oder fünfzehn, wenn man den Statistiken Glauben schenken kann. Sexuell vergewaltigt, geschlagen, mißhandelt... So war es nun einmal.«
»Das ist schwer zu glauben.«
»Ja.«
Sax erinnerte sich, daß er Phyllis einen Kinnhaken gegeben und sie mit einem einzigen Hieb bewußtlos geschlagen hatte. Darin hatte eine gewisse Genugtuung gelegen. Er hatte es allerdings nötig gehabt. So hatte er es jedenfalls damals empfunden.
»Alle haben ihre Gründe«, sagte Michel zu seiner Überraschung. »Oder glauben zumindest sie zu haben.«
Er versuchte das in der ihm eigenen Weise zu erklären, um es zu etwas anderem zu machen als schlichte Bosheit. Er blickte in die Region der Caldera hinunter und sagte: »In der Basis menschlicher Kultur gibt es eine neurotische Reaktion auf die frühesten psychischen Wunden der Menschen. Vor der Geburt und als Kleinkinder existieren wir in einer narzißtischen ozeanischen Wonne, in der das Individuum das Universum ist. Dann wird uns in der späteren Kindheit irgendwann bewußt, daß wir separate Individuen sind, verschieden von unseren Müttern und jedem anderen. Das ist ein Schlag, von dem wir uns niemals ganz erholen. Es gibt verschiedene neurotische Strategien, die angewandt werden, um damit umzugehen. Zuerst das Wiederverschmelzen mit der Mutter. Dann die Verleugnung der Mutter und Verlagerung unseres Ego-Ideals auf den Vater. Diese Strategie dauert oft für immer an und die Menschen dieser Kultur verehren ihren König und ihren Gottvater und so weiter. Schließlich kann sich das Ego-Ideal wieder verlagern, auf abstrakte Ideen, auf die Bruderschaft der Menschen. Es gibt Namen und Beschreibungen für alle diese Komplexe, benannt nach Dionysos, Perseus, Apollo und Herakles. Diese existieren alle und sind alle neurotisch, insofern sie alle zur Misogynie führen, mit Ausnahme des dionysischen Komplexes.«
»Ist das eines deiner semantischen Dreiecke?« fragte Sax.
»Ja. Die apollinischen und herakleischen Komplexe könnten industrielle Gesellschaften der Erde darstellen. Der perseische gilt für frühere Kulturen, natürlich mit starken Resten bis heute. Und alle drei sind patriarchalisch. Sie alle leugneten das Mütterliche. Das Feminine war Instinkt, Körper und Natur, während das Maskuline Verstand, Geist und Gesetz war. Und das Gesetz herrschte.«
Sax war durch so viele Kombinationen fasziniert und sagte nur: »Und auf dem Mars?«
»Nun, auf dem Mars könnte sein, daß das Ego-Ideal sich wieder auf das Mütterliche zurück verschiebt. Wieder auf das Dionysische oder zu irgendeiner Art von nach-ödipeischer Wiederintegration in die Natur, wobei wir noch im Prozeß des Erfindens sind. Irgendein neuer Komplex, der nicht einer neurotischen ÜberInvestierung unterliegt.«
Sax schüttelte den Kopf. Es war erstaunlich, wie blühend ausgearbeitet eine Pseudowissenschaft werden konnte. Vielleicht eine Kompensationstechnik, ein verzweifelter Versuch, mehr wie Physik zu sein. Was sie aber nicht verstanden, war, daß Physik, obwohl zugegebenermaßen kompliziert, immer sehr hart bemüht war, einfacher zu werden.
Michel setzte indessen seine Ausführungen fort. Der Patriarchie korreliert war der Kapitalismus, sagte er, ein hierarchisches System, in dem die meisten Menschen ökonomisch ausgebeutet und wie Tiere behandelt worden waren, vergiftet, verraten, herumgeschubst und erschossen. Und selbst in den besten Fällen standen sie unter der ständigen Bedrohung, beiseite gestoßen zu werden, den Job zu verlieren, arm zu sein, nicht imstande, für geliebte Angehörge zu sorgen, hungrig und erniedrigt. Manche, die in diesem unglückseligen System gefangen waren, ließen die Wut über ihre Verpflichtung an jedem aus, mit dem sie zu tun hatten, wo immer sie es konnten, auch wenn sich das gegen ihre geliebten Personen richtete, die ihnen am ehesten Trost gewähren mochten. Das war unlogisch und sogar töricht. Brutal und stupide. Ja. Michel zuckte die Achseln. Es gefiel ihm nicht, wohin ihn sein Gedankengang geführt hatte. Für Sax klang es wie eine natürliche Folgerung, wenn die Aktionen vieler Menschen darauf hinwiesen, daß sie leider recht töricht waren. Und das limbische System war in manchen Geistern völlig verdreht; so fuhr Michel fort und versuchte, sich davon abzuwenden und eine dezente Erklärung dafür zu geben. Adrenalin und Testosteron drängten immer auf eine rasche Reaktion; und in manchen üblen Lagen wurde ein Kreislauf von Befriedigung etabliert in der Achse von Verletzung und Wiedervergeltung; und dann verloren die betroffenen Menschen nicht nur das Gefühl für den Nächsten, sondern auch rationales Selbstinteresse. Wirklich krankhaft.
Sax fühlte sich selbst nicht ganz wohl. Michel hatte in weniger als einer Viertelstunde das menschliche Böse auf verschiedene Weise wegerklärt; und dennoch blieben den Menschen auf der Erde noch viele Antworten übrig. Marsmenschen waren anders. Obwohl es in Kasei Vallis Folterer gegeben hatte, wie ihm wohl bekannt war. Aber das waren Siedler von der Erde gewesen. Ja, ihm war nicht recht wohl. Die jungen Eingeborenen waren nicht wie jene. Waren sie es wirklich? Ein Marsmann, der eine Frau schlug oder ein Kind belästigte, würde verfemt, gebrandmarkt und vielleicht geprügelt werden. Er würde sein Heim verlieren, auf die Asteroiden verbannt werden und nie zurückkehren. Nicht wahr?
Etwas zum Nachdenken.
Dann dachte er wieder an Ann. Oder wie sie war: Ihre so hartnäckige Art, ihre Konzentration auf Wissenschaft und auf Steine. Vielleicht eine Art von apollinischer Reaktion. Richtung auf das Abstrakte, Verleugnung des Körpers und daher seiner ganzen Qual. Vielleicht.
»Was würde Ann jetzt helfen?« fragte Sax.
Michel zuckte wieder die Achseln. »Darüber denke ich schon seit Jahren nach. Ich glaube, der Mars hat ihr geholfen. Ich glaube, daß Simon ihr geholfen hat, und Peter. Aber die sind alle irgendwie distanziert gewesen. Sie ändern nicht das Fundamentale in ihr.«
Sax zeigte auf die Caldera und sagte: »Aber sie liebt all dies. Wirklich!« Er dachte über Michels Analyse nach. »Es ist nicht bloß ein Nein. Es steckt auch ein Ja darin. Eine Liebe zum Mars.«
»Aber wenn man Stein und nicht Menschen liebt, ist das nicht irgendwie ein wenig... unausgeglichen«, wandte Michel ein. »Oder verfehlt? Ann ist ein großer Geist, wie du weißt...«
»Allerdings.«
»Und sie hat viel geschafft. Aber sie scheint damit nicht zufrieden zu sein.«
»Ihr gefällt nicht, was mit ihrer Welt geschieht.«
»Nein. Aber ist es wirklich das, was sie so verabscheut? Oder am meisten verabscheut? Ich bin da nicht so sicher. Es scheint mir wieder verfehlt zu sein. Die Liebe genau wie der Haß.«
Sax schüttelte den Kopf. Es war wirklich erstaunlich, daß Michel die Psychologie überhaupt für eine Wissenschaft halten konnte. Sie enthielt so viel, das zusammengewürfelt war. Die Vorstellung des Verstandes als einer Dampfmaschine, die während der Geburt der modernen Psychologie so bequeme mechanische Analogie. Das hatten die Leute immer gemacht, wenn sie über den Verstand nachdachten. Für Descartes ein Uhrwerk, geologische Veränderungen für die frühen Victorianer, Computer oder Holographie für das zwanzigste Jahrhundert. Auch für das einundzwanzigste ... und für die freudianischen Traditionalisten Dampfmaschinen. Anwendung von Wärme, Aufbau von Druck, Druckverlagerung, Herauslassen, alles verschoben in Unterdrückung, Sublimation und Wiederkehr des Zusammengedrückten. Sax hielt Dampfmaschinen nicht für ein passendes Modell für den menschlichen Geist. Der Geist war mehr - wie was? Eine Ökologie, ein Fjellfeld oder auch ein Dschungel, bevölkert mit wilden Tieren jeder Art.
Oder ein Universum voller Sterne, Quasare und Schwarzer Löcher. Nun, das wäre etwas großartig, wirklich mehr als eine komplexe Sammlung von Synapsen und Axonen, von chemischen Energien, die immer höher aufstiegen wie Wetter in der Atmosphäre. Das war besser - Wetter, Sturmfronten des Denkens, Hochdruckzonen, Tiefdruckzellen, Wirbelstürme, Strahlströme biologischen Verlangens, die immer ihre schnellen kraftvollen Runden machten... Leben im Wind. Gut. Zusammenwerfen. Der Geist war wirklich noch kaum erforscht.
»Was denkst du?« fragte Michel.
»Manchmal bin ich besorgt wegen der theoretischen Grundlage deiner Diagnosen«, gab Sax zu.
»O nein, sie sind empirisch sehr gut gestützt, sie sind sehr präzise und akkurat.«
»Sowohl präzise als auch akkurat?«
»Nun, das ist doch dasselbe, nicht wahr?«
»Nein. Bei Abschätzungen eines Wertes bedeutet Akkuratheit, wie weit man vom wahren Wert entfernt ist. Präzision bezieht sich auf die Fenstergröße der Schätzung. Einhundert plus oder minus fünfzig ist nicht sehr präzise. Aber wenn deine Schätzung plus oder minus fünfzig ist, und der wahre Wert beträgt einhundert und eins, so ist das recht akkurat, obwohl immer noch nicht sehr präzise. Oft lassen sich wahre Werte natürlich nicht wirklich bestimmen.«
Michel lächelte gönnerhaft. »Sax, du bist eine sehr akkurate Person.«
»Es ist bloß Statistik«, sagte Sax, sich verteidigend. »Nur ab und zu einmal erlaubt die Sprache einem, die Dinge präzise auszudrücken.«
»Und akkurat.«
»Bisweilen.«
Sie blickten in das Gebiet der Caldera hinunter.
»Ich möchte ihr helfen«, versicherte Sax.
Michel nickte. »Das hast du gesagt. Ich dachte, daß ich nicht wüßte, wie. Für sie bist du der Terraformer. Wenn du ihr helfen willst, dann muß Terraformen ihr helfen. Denkst du, daß du einen Weg finden kannst, in dem Terraformen ihr hilft?«
Sax dachte eine Weile darüber nach. »Es könnte sie ins Freie bringen. Im Freien ohne Helme, schließlich sogar ohne Masken.«
»Denkst du, daß sie das wünscht?«
»Ich meine, das wünscht sich wirklich jeder auf irgendeinem Niveau. Im Kleinhirn. Das Tier, weißt du. Es fühlt sich draußen wohl.«
»Ich weiß nicht, ob Ann sehr gut auf ihre animalischen Gefühle eingestimmt ist.«
Sax überlegte.
Dann wurde die ganze Landschaft finster.
Sie schauten empor. Die Sonne war schwarz. Im Himmel um sie herum schienen Sterne. Um die schwarze Scheibe war ein schwacher Schimmer, vielleicht die Korona der Sonne.
Dann zwang sie eine plötzliche feurige Sichel wegzuschauen. Was sie zuvor gesehen hatten, war wahrscheinlich die erhellte Exosphäre gewesen.
Die verdunkelte Landschaft wurde wieder hell, als die künstliche Sonnenfinsternis endete. Aber die Sonne, die wiederkehrte, war deutlich kleiner als die, welche noch vor Augenblicken geschienen hatte. Die Welt war trüber, alle Farben der Caldera eine Schattierung dunkler, als ob unsichtbare Wolken das Sonnenlicht dämpften. Ein sehr vertrauter Anblick, faktisch das natürliche Licht auf dem Mars, das ihnen zum ersten Mal seit achtundzwanzig Jahren wieder schien.
»Hoffentlich hat Ann das gesehen«, sagte Sax. Ihm war kalt, obwohl er wußte, daß nicht genug Zeit gewesen war, damit die Luft hätte abkühlen können, und er auf jeden Fall den Schutzanzug trug. Aber es würde kühl werden. Er dachte grimmig an die über den ganzen Planeten verteilten Fjellfelder in Höhen von vier oder fünf Kilometern und noch tiefer in mittleren und höheren Breiten. Oben, an der Grenze des Möglichen würden jetzt ganze Ökosysteme zu sterben beginnen. Zwanzig Prozent weniger Sonneneinstrahlung. Das war schlimmer als jede irdische Eiszeit, eher wie die Finsternis nach dem großen Sterben im Ordovicium, Devon oder, am schlimmsten von allem, im Perm vor 250 Millionen Jahren, welche alle damals lebenden Arten tötete. Ein unterbrochenes Gleichgewicht, das nur sehr wenige Spezies überlebt hatten. Diejenigen, die das schafften, waren widerstandsfähig - oder hatten bloß Glück gehabt.
»Ich bezweifle, daß es ihr genügen wird«, sagte Michel.
-Davon war auch Sax überzeugt. Aber im Moment war er durch seine Gedanken darüber, wie man den Verlust des Solettalichts am besten ausgleichen könnte, abgelenkt. Es wäre besser, keine Biome zu haben, welche große Verluste erlitten. Wenn es nach ihm ginge, würden diese Fjellfelder gerade etwas haben, an das Ann sich zu gewöhnen hätte.
Es war Ls 123, genau in der Mitte des nördlichen Sommers bzw. südlichen Winters, nahe dem Aphel, wodurch zusammen mit größerer Erhebung der Südwinter viel kälter wurde als der nördliche. Die Temperatur sank regelmäßig auf 230 K, nicht viel wärmer als die vor ihrer Ankunft gewesene ursprüngliche Kälte. Jetzt, da Soletta und Ringspiegel verschwunden waren, würden die Temperaturen noch weiter sinken. Ohne Zweifel stand den Hochländern des Südens ein Rekord an Wintertoten bevor.
Andererseits war im Süden schon viel Schnee gefallen, und Sax hatte großen Respekt bekommen vor der Fähigkeit des Schnees, Lebewesen vor Kälte und Wind zu schützen. Das Milieu war unter Schnee recht stabil. Es könnte sein, daß eine Minderung des Lichts und entsprechend ein Absinken der Oberflächentemperatur über zugeschneiten Pflanzen, die durch ihre Winterhärte schon stillgelegt waren, nicht so viel Schaden anrichten würden. Das war schwer zu sagen. Er wollte sich in das Feld begeben und selbst schauen. Natürlich würde es Monate oder vielleicht Jahre dauern, ehe ein Unterschied quantifizierbar würde. Außer vielleicht beim Wetter selbst. Das Wetter konnte man nur durch Beobachtung der meteorologischen Daten verfolgen, was er schon tat, indem er viele Stunden vor Satelliten- und Wetterkarten verbrachte und auf die ersten Anzeichen wartete. Es war für ihn eine nützliche Ablenkung, wenn Leute zu ihm kamen, um gegen die Entfernung der Spiegel zu demonstrieren - eine in der dem Ereignis folgenden Woche so häufige Erscheinung, daß es schließlich lästig wurde.
Unglücklicherweise war das Wetter auf dem Mars so veränderlich, daß schwer zu sagen war, ob es von der Entfernung der großen Spiegel beeinflußt wurde oder nicht. Nach Meinung von Sax eine sehr betrübliche Aussage über den Stand ihres Verständnisses der Atmosphäre. Aber so war es nun einmal. Das Marswetter war ein heftiges halbchaotisches System. In mancher Hinsicht ähnelte es dem der Erde, was nicht überraschte, da es dabei um Luft und Wasser ging, welche sich um die Oberfläche einer rotierenden Kugel bewegten. Die Corioliskräfte waren überall dieselben und so gab es wie auf der Erde tropische Ostwinde, gemäßigte Westwinde, polare Ostwinde, Ankerpunkte für Strahlströme und so weiter. Das war auch schon fast alles, was man über das Marswetter mit Sicherheit aussagen konnte. Nun gut, man konnte bemerken, daß es im Süden kälter und trockener war als im Norden. Daß es von hohen Vulkanen oder Bergketten Fallwinde mit Regen gab. Daß es am Äquator wärmer war und kühler an den Polen. Aber derart naheliegende Verallgemeinerungen waren alles, was sich zuversichtlich behaupten ließ, außer für einige lokale Muster, obwohl diese zumeist zahlreichen Variationen unterlagen und mehr eine Sache hoch analysierter Statistik als erlebter Erfahrung waren. Mit Aufzeichnungen von nur 52 Marsjahren, mit einer die ganze Zeit radikal dichter werdenden Atmosphäre und ständig an die Oberfläche gepumptem Wasser etc. war es wirklich recht schwierig zu sagen, was normale oder durchschnittliche Verhältnisse sein könnten.
Inzwischen fand Sax, daß es immer schwieriger wurde, sich auf Ost-Pavonis zu konzentrieren. Leute unterbrachen ihn, um sich über die Spiegel zu beklagen, und die unbeständige politische Lage schlingerte dahin in Stürmen, die so wenig vorherzusagen waren wie die des Wetters. Es war schon klar, daß die Beseitigung der Spiegel nicht alle Roten besänftigt hatte. Es gab fast jeden Tag Sabotage von Terraformprojekten und manchmal heftige Kämpfe zur Verteidigung solcher Projekte. Und Berichte von der Erde, die Sax sich zwang, täglich eine Stunde lang zu verfolgen, machten deutlich, daß es dort einige Kräfte gab, die die Dinge so zu halten suchten, wie sie vor der Flut gewesen waren - in scharfem Konflikt mit anderen Gruppen, die aus der Flut auf die gleiche Weise Vorteil zu ziehen beabsichtigten, wie es die Revolutionen auf dem Mars getan hatten, indem sie diese als einen Umbruch in der Geschichte und ein Sprungbrett für irgendeine neue Ordnung, einen Neuanfang, benutzten. Aber die Metanationalen gaben nicht so leicht auf, und auf der Erde hatten sie sich verschanzt. Sie verfügten über enorme Hilfsmittel, und kein bloßer Anstieg des Meeresniveaus um sieben Meter konnte sie außer Gefecht setzen.
Sax schaltete nach so einer bedrückenden Stunde seinen Bildschirm aus und traf sich mit Michel zum Essen draußen in seinem Rover.
Als er Wasser zum Kochen aufsetzte, sagte er: »So etwas wie einen frischen Start gibt es nicht.«
»Was ist mit dem Urknall?« meinte Michel.
»So wie ich es verstehe, gibt es Theorien, die vorschlagen, daß die Klumpigkeit des frühen Universums durch die frühere Klumpigkeit des vorherigen Universums verursacht wurde, das in seinem großen Schnurps zusammenbrach.«
»Ich hätte gedacht, daß dadurch alle Unregelmäßigkeiten kollabieren würden.«
»Singularitäten sind seltsam. Außerhalb ihres Ereignishorizonts erlauben Quanteneffekte das Erscheinen mancher Partikel. Dann bewirkte die kosmische Inflation, welche jene Partikel hinausbläst, anscheinend, daß kleine Klumpen auftraten und zu großen wurden.« Sax runzelte die Stirn. Das klang nach der Theoriegruppe von Da Vinci. »Aber ich hatte die Flut auf der Erde im Sinn. Die keineswegs eine so völlige Veränderung von Bedingungen ist wie eine Singularität. Tatsächlich muß es da unten Leute geben, die sie überhaupt nicht als einen Bruch ansehen.«
»Stimmt.« Aus irgendeinem Grund lachte Michel. »Wir sollten losgehen und nachsehen, he?«
Als sie ihre Spaghetti verzehrt hatten, sagte Sax: »Ich möchte hinausgehen ins Feld. Ich will sehen, ob es sichtbare Effekte durch das Verschwinden der Spiegel gibt.«
»Einen hast du schon gesehen. Diese Dämpfung des Lichts, als wir draußen auf dem Rand waren... « Michel erschauerte.
»Ja, aber das macht mich nur noch neugieriger.«
»Na schön, wir werden die Stellung für dich halten.«
Als ob jemand einen Platz physisch in Besitz nehmen müßte, um dort zu sein. »Das Kleinhirn gibt niemals auf«, sagte Sax.
Michel grinste. »Das ist es, warum du hinausgehen und es persönlich sehen willst.«
Sax runzelte die Stirn.
Ehe er ging, rief er Ann.
»Möchtest du... mich auf einem Ausflug nach Süd- Tharsis begleiten, um... gemeinsam die Obergrenze der Areobiosphäre zu erkunden?«
Sie war aufgeregt. Ihr Kopf zuckte vor und zurück, während sie darüber nachdachte. Die Antwort des Kleinhirns kam sechs oder sieben Sekunden vor ihrer bewußten verbalen Antwort: »Nein.« Und dann trennte sie mit etwas erschrockener Miene die Verbindung.
Sax zuckte die Achseln. Er fühlte sich schlecht. Er sah, daß einer seiner Gründe, ins Feld zu gehen, damit zu tun hatte, Ann nach dort hinaus zu bringen und ihr selbst die steinigen Biome der Fjellfelder zu zeigen. Ihr zu zeigen, wie schön sie waren. Zu ihr zu sprechen. Etwas dieser Art. Sein mentales Bild von dem, was er ihr sagen würde, wenn er sie wirklich dort hinaus brachte, war bestenfalls undeutlich. Nur es ihr zeigen. Sie es sehen lassen.
Nun, man konnte Leute nicht dazu zwingen, gewisse Dinge zu sehen.
Er ging, sich von Michel zu verabschieden. Michels ganze Aufgabe war es, Leute Dinge sehen zu lassen. Das war ohne Zweifel die Ursache für seine innere Frustration, wenn er über Ann sprach. Sie war vor jetzt mehr als einem Jahrhundert eine seiner Patientinnen gewesen und hatte sich noch nicht verändert oder ihm viel über sich erzählt. Sax mußte ein wenig lächeln, wenn er daran dachte. Obwohl das für Michel quälend war, der Ann offenbar liebte. Wie alle seine alten Patienten und Freunde, einschließlich Sax. Es lag in der Natur professioneller Verantwortung, wie Michel sie sah, daß er sich in alle Objekte seines wissenschaftlichen Studiums< verliebte. Jeder Astronom liebt die Sterne. Nun gut, wer wußte das schon...
Sax ergriff Michels Oberarm, der bei diesem Sax gar nicht ähnlichen Verhalten glücklich lächelte, über diese Veränderung im Denken<. Liebe, ja; und um so mehr, wenn das Studienobjekt eine Frau war, die man seit vielen Jahren kannte und mit der Intensität reiner Wissenschaft studiert hatte - ja, das würde ein wunderbares Gefühl sein! Eine große Intimität, ob sie in der Untersuchung kooperierte oder nicht. Tatsächlich könnte es noch verlockender sein, wenn sie das nicht täte, wenn sie sich überhaupt weigerte, Fragen zu beantworten. Schließlich wollte Michel doch Antworten auf seine Fragen haben, und zwar sehr ausführlich, selbst wenn sie gar nicht gestellt worden waren. Er hatte immer Maya, Maya, die allzu menschliche, die Michel in einem harten Rennen über das limbische System führte, einschließlich dessen, daß sie Dinge nach ihm warf, wenn man Spencer glauben konnte. Nach dieser Art von Symbolismus könnte sich Anns Schweigen als sehr liebenswert erweisen. Michel sagte: »Sei vorsichtig!« Der glückliche Gelehrte liebte wie ein Bruder, wenn eines seiner Studienobjekte vor ihm stand.