Am nächsten Morgen schliefen sie lang und erwachten spät, benommen und verkatert. Sie lagen eine Weile in ihrem Schlafsaal und schlürften Kavajava. Dann gingen sie die Treppe hinunter und aßen, obwohl sie behaupteten, noch vollgestopft zu sein, ein mächtiges Herbergenfrühstück. Während des Essens beschlossen sie, zum Fliegen zu gehen. Die vom Kasei-Fjord herunterkommenden Winde waren so stark wie je auf diesem Planeten; und Windsurfer und Flieger aller Arten waren nach Nilokeras gekommen, um das auszunutzen. Natürlich konnten jederzeit Howler die Situation >außer Rand und Band< bringen und den Spaß für alle, außer den großen Windreitern, beenden. Aber die durchschnittliche steife Brise des Tages war fantastisch.

Die Operationsbasis der Flieger war eine Kraterinsel fern der Küste namens Santorini. Nach dem Frühstück ging die Gruppe zusammen hinunter zu den Docks und bestieg eine Fähre. Eine halbe Stunde später schifften sie sich auf der kleinen bogenförmigen Insel ein und wanderten mit den anderen Passagieren zum Segelflugplatz.

Nirgal war seit Jahren nicht mehr geflogen, und es war ein großes Vergnügen, sich in der Gondel eines Luftschiffgleiters anzuschnallen, den Mast aufzustellen, dann loszumachen und bei den kräftigen Aufwinden, die über den steilen inneren Rand von Santorini bliesen, hochzusteigen. Als Nirgal aufstieg, sah er, daß die meisten Flieger Vogelanzüge der einen oder anderen Art trugen. Es sah aus, als flöge er in einem Schwärm breitflügliger Kreaturen, die nicht wie Vögel aussahen, sondern eher wie fliegende Füchse oder mythische Mischwesen wie der Greif oder Pegasus.

Vogelmenschen. Die Vogelanzüge waren verschiedenartig und ahmten in gewisser Hinsicht die Gestalten unterschiedlicher Arten nach: Albatros, Adler, Lämmergeier ...

Jeder Anzug umschloß seinen Träger in etwas, das im Endeffekt ein sich ständig veränderndes Exoskelett war, das auf den Körperdruck des Fliegers reagierte, um Positionen einzunehmen und zu halten oder bestimmte Bewegungen auszuführen, die entsprechend der innen ausgeübten Kraft verstärkt wurden, so daß die Muskeln des Menschen mit den großen Flügeln schlagen oder sie gegen die große Drehkraft der Windstöße in Stellung halten konnten, und gleichzeitig die stromlinienförmigen Helme und Schwanzfedern in den richtigen Positionen hielten. Computer in den Anzügen halfen den Fliegern, die das nötig hatten, und konnten sogar als automatische Piloten fungieren. Aber die meisten Flieger zogen es vor, selbst zu denken und kontrollierten den Anzug als einen Waldo, der die Kraft der eigenen Muskeln vielfach verstärkte.

Nirgal saß in seinem Luftgleiter und beobachtete mit Vergnügen und Besorgnis zugleich, wie die Vogelmenschen in schrecklichen Stürzen an ihm vorbei auf das Meer zuschössen, dann ihre Flügel ausbreiteten, wegkurvten und wieder mit dem Aufwind der inneren Kraterwand aufstiegen. Es sah für Nirgal so aus, als erforderten die Vogelanzüge ein hohes fliegerisches Geschick. Sie waren das Gegenstück zu den Luftgleitern, von denen einige mit Nirgal über die Insel schwirrten und in viel sanfteren Stößen auf- und abstiegen und die Aussicht genossen wie wendige Ballonfahrer.

Dann entdeckte Nirgal, neben sich, in einer ansteigenden Spirale an ihm vorbeischwirrend, das Gesicht von Diana, der Frau, die die Jagd angeführt hatte.

Sie erkannte ihn auch, hob das Kinn und entblößte in einem flüchtigen Lächeln die Zähne. Dann zog sie die Flügel ein, kippte nach vorn und fiel mit schrecklichem Geräusch hinab. Nirgal beobachtete sie von oben mit ängstlicher Erregung und dann einem Moment des Schreckens, als sie dicht am Rande der Klippe von Santorini hinabtauchte. Aus seiner Perspektive hatte es ausgesehen, als ob sie aufschlagen würde. Dann war sie wieder oben und stieg im Aufwind in engen Spiralen hoch. Das sah so anmutig aus, daß er sich vornahm, selbst zu lernen, in einem Vogelanzug zu fliegen, selbst als er merkte, daß sein Puls immer noch vom Anblick ihres Sturzflugs raste. Stürzen und Steigen, Stürzen und Steigen - kein Luftgleiter konnte so fliegen, nicht einmal annähernd. Vögel waren die großartigsten Flieger, und Diana flog wie ein Vogel. Jetzt waren die Menschen außer allem anderen auch noch zu Vögel geworden.

Mit ihm, hinter ihm, um ihn, als ob sie einige jener kühnen Balztänze aufführte, die Mitglieder mancher Arten einander erweisen. Nach ungefähr einer Stunde lächelte sie ihm ein letztesmal zu, zog die Kapuze zurück und tauchte weg. Dann trieb sie in lässigen Kreisen zu dem Segelflughafen in Phira. Nirgal folgte ihr nach unten und landete eine halbe Stunde später mit einem Stoß gegen den Wind. Er lief und hielt kurz vor ihr an. Sie hatte gewartet, die Flügel um sich herum auf den Boden ausgebreitet.

Sie ging in einem Kreis um ihn herum, ganz als ob sie immer noch einen Balztanz aufführte. Dann ging sie zu ihm, zog die Kapuze zurück und bot ihm den Mund. Ihr schwarzes Haar spreizte sich in dem Licht wie ein Krähenflügel. Die Diana. Sie reckte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn voll auf den Mund. Dann trat sie zurück und beobachtete ihn ernst. Er erinnerte sich, wie er sie nackt vor der Jagd hatte laufen sehen, mit einem grünen Schal winkend.

»Frühstück?« fragte sie.

Es war schon um die Mitte des Nachmittags, und er hatte großen Hunger. »Sicher.«

Sie speisten im Restaurant des Segelflughafens, blickten auf den Bogen der kleinen Bucht der Insel und die Weite der Sharanovklippen und die Kunststücke der Flieger hinaus, die noch in der Luft waren. Sie sprachen über das Fliegen und das Laufen übers Land. Über die Jagd nach den drei Antilopen und die Inseln des Nordmeers und den großen Fjord von Kasei, der seinen Wind über sie strömen ließ. Sie flirteten; und Nirgal fühlte die angenehme Erwartung, was das anbelangte, worauf sie hinzielten. Er schwelgte darin. Es war lange her. Auch dies war ein Teil des Abstiegs in die Stadt, in die Zivilisation. Flirten, Verführung. Wie wundervoll war das alles, wenn man interessiert war und sah, daß auch die andere Person Interesse zeigte! Sie war noch recht jung, nahm er an. Aber ihr Gesicht war von der Sonne verbrannt, und die Haut hatte Falten um die Augen - keine Jugendliche. Wie sie sagte, war sie auf den Jupitermonden gewesen und hatte in der neuen Universität von Nilokeras gelehrt und hatte sich jetzt für einige Zeit den Wilden angeschlossen. Vielleicht zwanzig m-Jahre alt oder älter. In diesen Tagen schwer zu sagen. Auf jeden Fall eine Erwachsene. In diesen ersten zwanzig m-Jahren erwarben die Leute das meiste an Erfahrung, die ihnen je zuteil werden würde. Danach war es nur noch eine Sache der Wiederholung. Er hatte alte Narren und junge Weise fast ebenso oft getroffen wie das Gegenteil. Sie waren beide Erwachsene und Altersgenossen. Und da waren sie nun und erlebten gemeinsam die Erfahrung der Gegenwart.

Nirgal beobachtete ihr Gesicht, wenn sie sprach. Sorglos, schlau, vertrauensvoll.

Eine Minoerin: Dunkles Haar, dunkle Augen, Adlernase, dramatische Oberlippe. Mediterrane Vorfahren. Vielleicht griechisch, arabisch, indisch. Wie bei den meisten Yonsei war das schwer zu sagen. Sie war einfach eine Marsfrau, mit einem Dorsa-Brevia-Englisch. Und der Ausdruck ihrer Augen, als sie ihn beobachtete - wie oft war das auf seinen Wanderungen geschehen. Eine Konversation, die an einer Stelle eine Wendung nahm; und dann flog er plötzlich mit irgendeiner Frau in den langen Gleitflug der Verführung, und der Flirt führte in ein Bett oder eine tiefe Senke in den Hügeln...

»He, Zo!« sagte die Metzgerfrau im Vorbeigehen. »Gehst du mit uns zum Ahnenhals?«

»Nein«, sagte Zo.

»Ahnenhals?« fragte Nirgal.

»Boones Hals«, sagte Zo. »Die Stadt oben auf der polaren Insel.«

»Ahnen? «

»Sie ist John Boones Ururenkelin«, erklärte die Metzgerfrau.

»Über wen?« fragte Nirgal und schaute Zo an.

Sie sagte: »Jackie Boone. Meine Mutter.«

»Ah!« schaffte Nirgal es noch zu sagen.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. Das Baby, das er Jackie in Cairo hatte stillen sehen. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war deutlich, als er es wußte. Er bekam eine Gänsehaut, und die Haare sträubten sich an seinen Unterarmen. Er beglückwünschte sich und zitterte. Er sagte: »Ich muß wohl alt werden.«

Sie lächelte; und er merkte plötzlich, daß sie gewußt hatte, wer er war. Sie hatte mit ihm gespielt, vielleicht als Experiment eine kleine Falle gestellt oder um ihrer Mutter zu mißfallen oder aus irgendeinem anderen Grund, den er sich nicht vorstellen konnte. Aus Spaß.

Jetzt sah sie ihn finster an und versuchte ernst zu wirken. Sie sagte: »Das spielt keine Rolle.«

»Nein«, sagte er. Denn es waren noch mehr Wilde da draußen.