Mittwoch, 7. November 2007

 

Um vier Uhr morgens fuhr Kripo-Dienstchef Nick Baumgarten durch die leere Stadt Aarau. Er kam vom Tatort und war ziemlich aufgewühlt. Morde waren selten hier, und so prominente Opfer gab es praktisch nie. Er freute sich auf einen starken Espresso, eine lange, heisse Dusche und vielleicht sogar eine Stunde Schlaf. Wie gewohnt machte er einen Umweg über die Schiffländestrasse, hielt an und schaute nach oben – in Marinas Küche brannte Licht, und er griff zum Telefon.

„Machst du einem armen Nachtarbeiter einen Kaffee, wenn du schon wach bist?“

„Die Anfänge einer Migräne haben mich aus dem Bett getrieben, und die Tablette wirkt erst nach einer Stunde. Komm rauf.“

Er klingelte und wartete auf das Geräusch des Türöffners. Zu einem Schlüsseltausch war es noch nicht gekommen, obwohl ihre Beziehung schon ein halbes Jahr dauerte. Beide waren vorsichtig, wollten ihre Unabhängigkeit nicht so schnell aufgeben. Nun schloss er sie am frühen Morgen in die Arme und fühlte, wie sehr er diese wunderbare Frau mochte. Auf dem Küchentisch stand eine Schale mit Melonenstücken. Marina hatte in einer Zeitschrift geblättert und versucht, die aufkeimende Übelkeit mit Wasser und Früchten zu überlisten.

„Warum musstest du ausrücken?“

„Erzähle ich dir erst, wenn sich dein Kopf beruhigt hat, Liebes“, sagte er und trank seinen Espresso. Dann stellte er sich hinter sie und massierte sanft ihre Schultern und ihren Nacken. Wie liebevoll er ist, dachte sie, und wie genau seine Hände meinen Körper schon kennen. Mit ihm will ich alt werden. Sie spürte, wie das Medikament zu wirken begann, und entspannte sich langsam.

„Komm, ich will wissen, ob du bei deiner Geliebten warst“, forderte sie ihn mit einem Augenzwinkern heraus.

„Der Direktor des Spielcasinos ist ziemlich brutal erstochen worden heute Nacht.“

„Was, Tom Truninger ist tot?“

„Ja. Kanntest du ihn denn?“

„Mein lieber Nick, als Inhaberin des besten Kosmetikinstituts der Stadt kenne ich doch alle wichtigen Personen hier. Die Ehefrau von Tom ist unsere Kundin, aber ihn selbst kenne ich von früher. Er ist ein Teil meiner Vergangenheit.“

„Offensichtlich nicht ein Teil, von dem du mir schon erzählt hast“, sagte Nick mit einem Anflug von Eifersucht.

„Wir waren als Studenten ein paar Monate lang zusammen, das war wohl um 1980. Dann verschwand er eines Tages ohne Abschied nach Amerika, vermutlich mit einer anderen Frau. Ich tröstete mich mit einem Physiker und hörte nichts mehr von ihm, bis er vor drei Jahren als Chef der Spielbank hierher kam. Ich war damals Präsidentin des Gewerbeverbandes und wurde zur Neueröffnung eingeladen. Tom begrüsste mich distanziert und stellte mich seiner Frau als Bekannte aus der Unizeit vor, womit klar war, dass er ihr gewisse Details vorenthielt. Wenn wir einander zufällig begegnen, ist er höflich und macht Smalltalk, aber er hat ganz offensichtlich kein Interesse an mir.“

„Und du, bist – oder warst – du denn noch interessiert?“ kam es wie aus der Pistole geschossen.

Sie schmunzelte. „Schau, er war nur einer aus einer ganzen Anzahl von Liebhabern meiner wilden Jugend. Nein, da war nichts mehr, aber sein Tod berührt mich trotzdem.“

„Verzeih“, sagte Nick. „Ich bin manchmal eifersüchtig auf den Teil deines Lebens, den ich nicht mit dir verbracht habe.“

„Meine Vergangenheit hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin, ohne sie wäre ich anders. Und so, wie ich heute bin, gehöre ich zu dir, und zu niemand anderem – das weisst du, Herr Kommissar.“

„Können Sie das auch beweisen, Frau Kosmetikinstitutinhaberin?“

„Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar. Komm unter die Dusche.“

*

Um acht Uhr kam Nick Baumgarten mit raschem Schritt und einem fröhlichen „Guten Morgen!“ ins Grossraumbüro der Kriminalpolizei.

„Du bist aber frisch nach der langen Nacht“, brummte Gefreiter Peter Pfister, der selbst bleich und verschlafen in seinen Computer starrte. „Wie machst du das nur?“

„Kalte Dusche und heisser Kaffee,“ antwortete Baumgarten.

„Serviert von einer schönen Frau?“ tönte es aus der Ecke von Korporal Angela Kaufmann.

„Kein Kommentar. Also, was haben wir, Peter?“

„Der Pathologe ist noch an der Feinarbeit, aber Truninger ist zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr gestorben. Der Nachtwächter fand ihn um halb drei. Er wurde mit zwei gezielten Messerstichen von hinten getötet, einer davon ging direkt ins Herz. Die vermutliche Tatwaffe lag neben der Leiche, die Spurensicherung untersucht das Messer gerade. Sonst haben wir nichts Ungewöhnliches gefunden. In der Agenda von Truninger sind für gestern Abend keine Termine eingetragen, und er war bekannt dafür, dass er oft bis spät nachts arbeitete.“

„Überwachungsvideos?“

„Jede Menge. Wir sind dran, aber zaubern kann ich nicht“, seufzte Pfister.

„Schon gut. Wer hat die Familie informiert?“

„Ich konnte die Ehefrau nur telefonisch bei ihren Eltern im Engadin erreichen. Ihr Vater fährt sie heute Vormittag zurück“, sagte Angela. „Sie reagierte ziemlich gefasst auf die Nachricht, aber der Schock kommt wohl noch. Als Täterin kommt sie jedenfalls nicht in Frage, denn der Julierpass ist wegen Schnee geschlossen, und die Bahn fährt um diese Zeit nicht mehr.“

„Dann sprechen wir heute Nachmittag oder morgen mit ihr. Was ist mit den Angestellten?“

„Der Stellvertreter von Truninger hat die Holding informiert,“ sagte Pfister. „Der Verwaltungsrat trifft um neun Uhr mit dem Kader zusammen. Anschliessend werden die Mitarbeitenden informiert, und dann können wir mit den Befragungen loslegen. Nick, du solltest bei der Kadersitzung dabei sein, um Vertrauen zu schaffen. Die Spielbranche schätzt die Fähigkeiten ihrer eigenen Sicherheitsleute höher ein als diejenigen der Polizei.“

„Gut. Was weiss die Presse?“

„Unser Sprecher ist bereits in Kontakt mit dem PR-Manager der Holding. Sie wollen heute Abend eine gemeinsame Pressekonferenz abhalten, an der du, lieber Chef, leider auch teilnehmen wirst“, grinste Angela. „Briefing um fünf, Konferenz um halb sechs.“

„Gut. Peter, du gehst nochmals zu Truningers Büro und schaust, was du finden kannst, auch auf seinem Computer. Die Wirtschaftsabteilung soll die Geschäfte überprüfen, aber davon erhoffe ich mir nicht viel. Angela, du holst dir von der Pathologie die neusten Befunde und hilfst mir nachher bei den Befragungen der Mitarbeiter. Sobald Frau Truninger hier ist, fährst du zu ihr. Wir brauchen Freunde, Feinde, Qualität der Ehe, und so weiter.“

„Aye, aye, Chef“, tönte es zweistimmig zurück. Nick lachte und machte sich auf an die Sitzung des Verwaltungsrats.

*

Pfister schlug den Mantelkragen hoch, als er durch den Schneeregen zum Hintereingang des Grand Casinos am Apfelhausenweg ging. Grippewetter, ging es ihm durch den Kopf, und er fühlte schon die ersten Anzeichen. Und nun zu allem Übel auch noch ein Mord, was bedeutete, dass er vermutlich nicht regelmässig zum Schlafen kommen würde in den nächsten Tagen. Nur noch eineinhalb Jahre, dann würden er und seine Frau die Koffer packen und nach Las Rosas umziehen, dorthin, wo die Sonne wärmer schien und die Rente weiter reichte. Er nieste.

„Gesundheit, Herr Pfister!“ sagte der uniformierte Kollege am Eingang. „Sauwetter, nicht wahr.“

„Das können Sie laut sagen“, antwortete Pfister und ging durch die Drehtüre. Das Casino öffnete seine Türen fürs Publikum erst um vierzehn Uhr, und Pfister war froh, dass er und sein Team vorerst noch ungestört arbeiten konnten. Er fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock und ging den Gang entlang zum Eckbüro, wo Truninger irgendwann letzte Nacht seinem Mörder begegnet war. Er schloss die Tür hinter sich und liess seinen Blick schweifen: dunkelbraunes Schiffsparkett, anthrazitfarbene USM-Möbel, eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder, zwei grosse moderne Bilder an der Wand. Ein männliches Büro, dachte Pfister, ohne Wärme – cool und trendy eben, wie die modernen Manager sich einrichten. Dass der Schreibtisch bis auf Bildschirm, Tastatur, Telefon und ein Familienfoto leer war, hatte er schon in der Nacht bemerkt. Entweder ein auffallend ordentlicher Mensch, der aufräumte, bevor er nach Hause ging, oder ein Mörder, der das für ihn erledigt hatte. Nun ja, dachte Pfister, die Auswertung der Videoüberwachung wird uns hoffentlich bald Klarheit darüber bringen, was gestern Nacht hier passiert ist. Sein Handy klingelte, und als er hörte, was sein Kollege zu sagen hatte, verflog die Zuversicht.

„Auf dem Film von letzter Nacht sind nur Schatten zu sehen. Die Kamera ist auf die Sitzgruppe gerichtet, während Schreibtisch, Türe und die andere Hälfte des Büros gar nicht im Bild sind. Wir haben nichts, nicht einmal den Zeitpunkt. Anscheinend hat Truninger selbst den Kamerawinkel verändert.“ Der Kollege seufzte. „Typisch Manager.“

„Woher weisst du das?“ unterbrach Pfister.

„Sprich mal mit dem Sicherheitschef, Schifferli heisst er. Er wollte es anders, aber Truninger hat die Sache selbst in die Hand genommen. Offenbar wollte er nicht ständig beobachtet werden.“

„Das hat gerade noch gefehlt. Danke trotzdem.“

Pfister legte auf und fluchte leise vor sich hin. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Sicherheitschef.

„Ich konnte mich am Ende nicht gegen ihn durchsetzen“, sagte Schifferli nervös. „Sein Argument war Diskretion, er führe Gespräche mit Leuten, deren Anwesenheit im Casino niemanden etwas anginge. Der Jurist der Holding hat mich nach langen Diskussionen angewiesen, Truninger machen zu lassen. Die Sicherheit sei durch die Schliessanlage gewährleistet, und man solle Truninger keine Steine in den Weg legen. Ein Albtraum, wie es sich jetzt herausstellt.“

„Wer wusste davon?“

„Die ganze Geschäftsleitung, da ich das Thema an einer Sitzung vor ein paar Wochen traktandierte. Alle Mitglieder der Geschäftsleitung haben eine Kamera im Büro, und keiner hatte ein Problem mit der Überwachung. Aber Truninger liess sich nicht umstimmen und bestand auf seiner Ausnahme. Seither richten meine Leute die Kamera immer wieder in die richtige Position, worauf regelmässig ein Riesentheater folgt – folgte, meine ich.“ Schifferli war sichtlich erschüttert. „Jetzt mache ich mir Vorwürfe, dass ich mich nicht durchgesetzt habe.“

„Gegen gewisse Leute kommt man einfach nicht an“, tröstete ihn Pfister und dachte dabei an seine eigenen Vorgesetzten. „Er war wohl ein eher unangenehmer Zeitgenosse.“

„Wegen der Videokamera schaltete er auf stur, aber sonst hatte ich keine Probleme mit ihm. Er führte im Allgemeinen seine Leute an der langen Leine, liess uns in Ruhe arbeiten, wollte nur regelmässig über Resultate und Probleme informiert werden. Er war ein guter Direktor, und er hat das Grand Casino aus der Krise in den Erfolg geführt, daran ist nicht zu rütteln“, verteidigte Schifferli seinen toten Chef. „Nur nützt ihm das jetzt nicht mehr viel.“

*

Nach der Kadersitzung, an der er höchstmögliche Diskretion versprach und die Kooperation der Anwesenden forderte, liess sich Nick Baumgarten von Personalchefin Elena Fuchs zu ihrem Büro führen.

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagte sie leise. „Er war so voller Energie, arbeitete hart und viel, motivierte uns damit zu Höchstleistungen – ich weiss nicht, wie es ohne ihn weiter gehen soll, wirklich nicht.“

„Sie mochten ihn gut, nicht wahr?“ fragte Baumgarten.

„Er war ein mitreissender, kreativer Vorgesetzter, der es verstand, seine Leute hinter sich zu scharen und mit ihnen das Unternehmen zum Erfolg zu tragen. Er war entscheidungsfreudig, schnell im Denken, liess sich nicht von seiner Linie abbringen. Eine echte Führungspersönlichkeit halt. Wissen Sie, für uns Personalfachleute ist es unendlich wichtig, mit welcher Art von CEO wir zusammenarbeiten, denn das bestimmt unsere Position und unseren Einfluss. Ohne Unterstützung des obersten Chefs sind wir nur Administratoren.“

„Sind Sie Mitglied der Geschäftsleitung, Frau Fuchs?“

„Nein, ich gehöre zum Stab der Direktion, das ist so üblich in unserer Branche. Die Geschäftsleitung ist für die Strategie verantwortlich, und meine Arbeit bewegt sich eher im Operativen.“ Sie lächelte. „Ich habe kein Problem damit, Herr Baumgarten. Wissen Sie, lange Sitzungen sind mir ein Gräuel, und die Informationen, die ich brauche, erhalte ich direkt von den Mitgliedern der Geschäftsleitung.“

„Was hielten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihm?“

Baumgarten bemerkte ihr Zögern.

„Nicht alle gleich viel. Es gibt solche, die ihn als skrupellos bezeichnen, aber das sind meist persönlich gefärbte Urteile. Er entscheidet eben rasch, wenn ihm etwas nicht passt.“

„Zum Beispiel?“

„Ach, es gab ab und zu eine fristlose Entlassung, und das verkraften die Leute selten einfach so.“

„Ich hätte gerne eine Liste der Personen, die in den letzten zwei Jahren entlassen wurden. Sie sind alle potentiell verdächtig, das verstehen Sie doch?“

„Ja, natürlich. Es gab sogar einmal eine telefonische Morddrohung, aber der Chef hat das nicht lange ernst genommen. Angst hatte er keine, unser Tom.“

*

„Was haben wir?“ fragte Nick sein Team, als sie sich um siebzehn Uhr am Besprechungstisch versammelten. „Peter, du zuerst.“

„Über die Enttäuschung mit der Videoüberwachung habe ich euch schon orientiert. Ich werde mir die Bänder der fraglichen Zeit trotzdem nochmals ansehen, vielleicht finden wir irgendeinen Hinweis. Die Sekretärin von Truninger ist in den Ferien, weshalb er seine Termine selbst vereinbarte. Niemand weiss, ob sie alle in seiner Agenda eingetragen sind, oder ob er noch andere Personen traf. Er scheint gut organisiert gewesen zu sein, zumindest hat er am Abend jeweils alles aufgeräumt und die pendenten Akten in einer Schublade eingeschlossen. Nichts Auffälliges in den Papieren, keine codierten Termine in der Agenda – im Klartext, nichts Brauchbares.“

„Danke, Peter. Angela?“

„Der Pathologe hat die Tatzeit bestätigt. Truninger ist von jemandem ermordet worden, der genau wusste, was er tat: die beiden Einstiche sind so platziert, dass jeder für sich selbst tödlich war. Einer ging direkt ins Herz, der andere riss die Lunge entzwei. Der Mediziner sagt, dafür brauche es nicht sonderlich viel Kraft, bloss das entsprechende Wissen – und ein scharfes Messer. Es könnte eines der heute so beliebten japanischen Küchenmesser gewesen sein, sagt er, teuer und präzise gearbeitet, äusserst gut geschliffen. Er ist selbst ein Sushi-Liebhaber und meint, das Messer, mit dem er den rohen Fisch zubereitet, könnte etwa hinkommen. Seins stecke allerdings noch im Messerblock in seiner Küche.“

„Witzbold“, murmelte Pfister. „Was sagt er zur Körpergrösse des Täters?“

„Leider nichts was uns helfen könnte. Der Täter ist vermutlich nicht über eins achtzig gross und nicht unter eins fünfundsechzig klein, weil sonst die Stiche in einem anderen Winkel eingedrungen wären. Das schliesst nur Riesen und Zwerge aus – leider. Truninger musste jedenfalls nicht langsam sterben, was es etwas leichter macht für die Familie.“ Obwohl, dachte Angela, leicht ist ein relativer Ausdruck in diesem Zusammenhang. „Ich habe mit Frau Truninger telefoniert: sie kann sich nicht vorstellen, wer so etwas tun würde, aber sie sagt, sie wisse nicht sehr viel über das Spielgeschäft. Sie hat meines Erachtens wirklich nichts damit zu tun. Glückliche Ehe, relativ zurückgezogenes Privatleben, kleiner Freundeskreis – alles unauffällig. Wir besuchen sie morgen. Sie hat uns einen Freund aus den USA genannt, der ihren Mann gut kenne und uns vielleicht weiterhelfen könne. Ich bin dran, ihn ausfindig zu machen, aber er ist ständig auf Reisen. Und du, Chef, was hast du im Casino herausgefunden?“

„Auch nichts Konkretes. Die Personalchefin hat ihn als Führungskraft sehr gelobt, aber ich habe den Eindruck, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Sie warf mit Management-Fachausdrücken um sich, sagte aber nicht wirklich, was sie persönlich von ihm hielt. Es hat ein paar Entlassungen gegeben im Laufe der Zeit, und das hat wohl nicht immer eitel Freude ausgelöst. Sie schickt mir eine Liste der Entlassenen, die wir so rasch wie möglich überprüfen müssen. Übernimmst du das bitte, Angela? Ach, und die Wirtschaftskriminalisten haben auch nichts gefunden. Alles ist transparent und gut dokumentiert, was mich nicht verwundert. Schliesslich wird kaum eine Branche so gut beaufsichtigt wie diese. Es könnte höchstens noch bei Truningers privaten Konten auffällige Bewegungen gegeben haben, und diese Information folgt morgen. Hat die Spurensicherung das Messer schon untersucht, Peter?“

„Es ist wirklich ein japanisches Küchenmesser, aber ein Fabrikat, das es in jedem guten Haushaltsgeschäft zu kaufen gibt. Die Blutspuren sind eindeutig von Truninger, und das ist leider auch schon fast alles: die Techniker haben zwar zwei verwischte Fingerabdrücke gefunden und versuchen sie auszuwerten, aber optimistisch sind sie nicht. Mit anderen Worten, wir haben alle den ganzen Tag gearbeitet und sind keinen Schritt weiter“, brummte Pfister. „Was habt ihr für ein Gefühl bei der Sache?“

Angela runzelte die Stirn. „Wir haben immer noch kein reales Bild von Truningers Charakter. Irgendwo muss doch ein schwarzer Fleck, ein dunkler Punkt sein, wieso sollte er sonst umgebracht werden?“

„Ich weiss auch noch nicht, wohin uns diese Ermittlungen führen“, sagte Nick.“Jetzt werde ich erst mal der Presse ein paar nichtssagende Informationen liefern, und dann mache ich mir heute Abend bei einem guten Glas Bordeaux weitere Gedanken. Bleibt nicht mehr zu lange, und wir sehen uns morgen früh.“

*

„Teilen wir uns den Rest noch, oder willst du morgen damit kochen?“ fragte Nick und hielt den 96er Cissac hoch.

„Zum Kochen ist er zu schade, sogar für einen cru bourgeois“, antwortete Marina und streckte Nick ihr Glas entgegen. Sie trug schwarze Jeans und einen langen, flauschigen Pullover in warmen Herbstfarben, der perfekt zu ihren rotbraunen Haaren passte.

„Wie gut kanntest du Truninger eigentlich?“ Er machte es sich auf dem Sofa bequem.

Sie schmiegte sich in seinen Arm und legte ihre Füsse hoch.

„Was willst du denn wissen?“

„Erzähl einfach, dann kann ich mir vielleicht ein Bild machen. Er ist für mich bisher nicht greifbar, und wir suchen immer noch nach einem Bruch in seiner Persönlichkeit, oder in seiner Vergangenheit.“

„Damals zeigte er einen schüchternen Charme, der unwiderstehlich war. Anderseits konnte er laut und deutlich aufbegehren, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte.“

Marina erinnerte sich an einen Professor, der Truninger für eine Seminararbeit eine mässige Note erteilt hatte, obwohl dieser der Ansicht war, sein Essay sei brillant geschrieben und sogar wert, gedruckt zu werden.

„Tom rastete beinahe aus, schimpfte und fluchte, demolierte ein paar Teller und konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, zum Haus des Professors zu fahren und seinen Geräteschuppen anzuzünden. Jugendlicher Leichtsinn“, seufzte Marina, „wir waren alle gleich damals. Etwas zu jung für die 68er Revolution, aber beseelt von ähnlichen Ideen. Im Rückblick motivierte uns natürlich etwas anderes: wir wollten nach Elternhaus und Schule endlich selbst an die Macht kommen, das Sagen haben, Noten verteilen, frei sein von Zwängen, unabhängig von elterlichen Geldquellen. Wie trügerisch diese Freiheit war, wussten wir damals alle nicht.“

Marina atmete tief ein und Nick spürte, dass sie mit ihren Gedanken weit weg war.

„Fühlst du dich denn heute nicht frei? Du bist immerhin die Chefin eines erfolgreichen Unternehmens und hast niemanden, der dir sagt wo es langgehen soll.“ Genüsslich nippte Nick an seinem dunkelroten Wein.

„Andere Zwänge sind an die Stelle der alten getreten. Ich trage die Verantwortung für meine Angestellten, muss den Kundenwünschen entgegenkommen, und auch die kantonalen Vorschriften werden immer mehr, mal abgesehen von der Steuerbelastung – aber dieses Lied kennst du ja, und schliesslich bezahle ich mit meinen Steuern deinen Lohn“, lächelte Marina.

„Und ganz persönlich, Marina, fühlst du dich frei?“ Nick war plötzlich ernst.

Marina schaute ihn lange an. Wohin steuerte er mit dieser Frage? „Mit dir, meinst du?“

„Ja.“ Leise.

„Du engst mich nicht ein, und ich fühle mich nicht wie in einem Käfig“, sagte sie und stand auf, um das Geschirr in die Spülmaschine zu füllen. „Wir verbringen dann Zeit miteinander, wenn wir beide Lust dazu haben, und das ist doch genau das Richtige für uns beide, bei unseren Berufen.“

Schon wieder ist sie ausgewichen, dachte er. Ich will mehr von dieser Frau als nur zwei Abende pro Woche, viel mehr. Aber sie spürte es jedes Mal, wenn er das Thema ansprechen wollte – heute würde es wieder nichts werden.

„Macht es dir etwas aus, heute Nacht in deinem eigenen Bett zu schlafen, Nick? Ich bin sehr müde und habe morgen einen vollen Terminkalender.“

„Kein Problem, Liebste, bei mir ist es ähnlich. Kriege ich einen Gutenachtkuss?“ Er schloss sie zärtlich in seine Arme und hielt sie lange fest. „Schlaf gut, mein Schatz.“

Marina schloss die Türe hinter ihm, räumte die Gläser weg und ging ins Bad. Rausgeschmissen habe ich ihn, dachte sie, aber warum muss er immer wieder unsere Beziehung ansprechen? Sie liebte ihre Freiheit zu sehr, als dass sie einfach so mit einem Mann zusammenziehen und sich damit in eine Abhängigkeit begeben würde. Lieber jede zweite Nacht allein schlafen als sich ausliefern – sie kannte den Schmerz des Verlassenwerdens, und sie wehrte sich gegen den Wunsch des Sichgehenlassens. Soll er warten, und wenn er nicht warten kann, soll er gehen.