Freitag, 9. November 2007

 

Ein uniformierter Polizist klopfte an die Glastüre des Teambüros.

„Besuch für Sie, Frau Kaufmann. Nick Baumgarten ist noch in einer Sitzung und kommt in wenigen Minuten. Er sagt, Sie sollen schon mal anfangen mit dem Gespräch.“

„Guten Tag, mein Name ist Andrew Ehrlicher.“

„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Herr Ehrlicher. Ich bin Angela Kaufmann. Bitte setzen Sie sich.“

Angela riss sich zusammen, denn am liebsten hätte sie diesen Mann einfach nur angestarrt: grau meliertes, kurz geschnittenes Haar, hohe Stirn und markantes Kinn, wache graue Augen – und vor allem diese Stimme, tief, voll, raumfüllend. Er trug Jeans und ein offenes Hemd, darüber eine perfekt geschnittene Wildlederjacke. Jenseits meiner Klasse, dachte Angela, aber hingucken darf man. Immerhin könnte er ein Verdächtiger sein, also gilt es einen kühlen Kopf zu bewahren.

„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Herr Ehrlicher. Tom Truninger scheint ein sehr guter Freund von Ihnen gewesen zu sein.“

„Danke, Frau Kaufmann. Die Todesnachricht hat mich ziemlich erschüttert, und ich bin so schnell wie möglich zu Maggie und Selma Truninger gekommen. Die beiden stehen immer noch unter Schock, insbesondere Toms Ehefrau.“

„Wir haben Sie hergebeten, weil wir möglichst viel wissen müssen über den Toten und seine Geschäfte. Seit wann kannten Sie ihn?“

Bevor er antworten konnte, erschien Nick Baumgarten. Angela stellte die beiden einander vor und bemerkte, dass auch ihr Chef von der Erscheinung Ehrlichers beeindruckt war. Sie setzten sich wieder, und Ehrlicher erzählte, wie er Tom in Las Vegas kennen gelernt hatte, als dieser im Golden Dune Resort arbeitete. „Er half mir dabei, für eine Freundin einen Platz in einer guten Suchtklinik zu finden und, was wesentlich schwieriger war, sie davon zu überzeugen, dass dies der einzige Weg für sie war. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, solange er in Las Vegas war, und es entwickelte sich zwischen uns eine tiefe Freundschaft. Als er in die Schweiz zurückkehrte, sahen wir uns aus geographischen Gründen weniger oft, aber die enge Verbindung blieb bestehen, auch zu seiner Frau und seiner Tochter, deren Pate ich übrigens bin. Es fällt mir überaus schwer zu glauben, dass er tot ist.“

„Können Sie sich vorstellen, wer ein Motiv gehabt haben könnte, ihn umzubringen?“ fragte Nick. „Frau Truninger sagt, Sie hätten Einblick in seine geschäftlichen Beziehungen. Hatte er Feinde, Konkurrenten, allenfalls Verbindungen zu illegalen Organisationen?“

„Sehen Sie, das Geschäft mit dem Glücksspiel ist heute längst nicht mehr an der Grenze zur Illegalität angesiedelt, zumindest nicht in Westeuropa und in den USA. Der Staat erhält einen sehr grossen Teil der Gewinne als Steuern, und kein demokratisches Land setzt sich freiwillig dem Vorwurf aus, es profitiere von unsauberen Geschäften. Die Gesetze sind deshalb äusserst strikt, und ihre Einhaltung wird streng kontrolliert, sodass keine illegalen Machenschaften möglich sind. Ich bin sicher, dass Tom und die Casino-Holding diesbezüglich absolut ethisch handeln.“

„Und die Konkurrenz, oder illegale Spiel- und Pokerkreise?“ fragte Angela.

„Sie erinnern sich vielleicht daran, dass die Vergabe der Casinolizenzen in der Schweiz von lauten Nebengeräuschen begleitet war. Zürich ging im Gegensatz zu Aarau leer aus, und das bewegte die Gemüter, aber ich glaube nicht, dass deswegen nach all den Jahren ein Mord geschieht. Auch die Drahtzieher der illegalen Spielhöllen und Pokerrunden wissen, dass sie sich nur die Finger verbrennen, wenn sie sich mit den lizenzierten Casinos anlegen. Nein, ich glaube nicht, dass Sie den Mörder in diesem Umfeld suchen müssen.“ Ehrlicher schaute auf die Uhr. „Ich habe gleich einen Termin mit Maggie Truninger und ihrem Anwalt. Wäre es Ihnen möglich, unser Gespräch später fortzusetzen? Ich mache mir Sorgen um Maggie und Selma, ich lasse sie im Moment ungern allein.“

Nick und Angela tauschten einen Blick und nickten.

„Selbstverständlich, Herr Ehrlicher“, sagte Nick, „rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben. Bis später.“

Es ist nicht nur sein Name, der mir sagt, dass ich ihm glauben kann, dachte Nick. Im gleichen Augenblick sagte Angela: „Der sieht so gut aus, dass er Schauspieler sein könnte. Denkst du, er sagt uns die Wahrheit?“

*

Andrew stand im Wohnzimmer des Terrassenhauses und blickte nach Westen über die Lichter der Stadt Aarau in den Abendhimmel. Vor zwei Stunden war die Sonne mit einem spektakulären Schauspiel hinter dem Kühlturm des Kernkraftwerks versunken, und jetzt war es schon beinahe Nacht. Er hatte den Nachmittag mit Selma und Maggie verbracht, hatte getröstet und zugehört, Fotos angeschaut, manchmal geweint, getrauert. Er hatte Selma festgehalten, als sie plötzlich wütend wurde und um sich schlug: „Mein Daddy ist nicht gestorben, es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!“ Es war ihm gelungen, sie zu beruhigen, und sie war von ihrem Ausbruch so erschöpft, dass sie sich widerstandslos von ihm ins Bett bringen liess. Maggie war teilnahmslos gewesen, bleich, erstarrt, sie hatte nicht viel gesagt und sich vor einer halben Stunde zurückgezogen: „Ich werde heute ein Schlafmittel nehmen, vielleicht ist dieser Alptraum vorbei, wenn ich wieder erwache. Danke, dass du mit der Polizei sprichst, Andrew, ich habe keine Kraft dabei zu sein.“

Andrew hatte Baumgarten gebeten, nach Küttigen zu kommen, damit Maggie und Selma nicht allein blieben. Diesmal liess sich Nick ohne schlechtes Gewissen vom Lift den Hügel hinauftragen, schliesslich würde sein Abendessen ausfallen, und ein Glas Wein konnte er auch vergessen. Er betrat die Wohnung und bewunderte zum zweiten Mal den offenen Raum und den Ausblick: „Wir haben zwar ernste Dinge zu besprechen, Herr Ehrlicher, aber ich muss Ihnen einfach sagen, wie gut mir dieses Haus und seine wunderbare Lage gefallen.“

„Tom kaufte das Haus, kurz nachdem er CEO des Aarauer Grand Casinos wurde. Er und Maggie suchten eine ganze Weile, bis sie dieses Kleinod fanden, und die ganze Familie fühlte sich äusserst wohl hier – bis vor zwei Tagen, als ihre Welt zerbrach.“

Baumgarten lehnte mit Bedauern ab, als Ehrlicher ihm einen schottischen Whisky offerierte.

„Ich bin leider immer noch im Dienst. Sie haben heute Vormittag mit ziemlicher Bestimmtheit erklärt, dass wir den Mörder von Tom Truninger nicht unter seinen Konkurrenten oder in der Unterwelt finden werden. Können Sie sich vorstellen, wer ihn sonst umgebracht haben könnte?“

„Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, und ich komme zum Schluss, dass es in unserer gemeinsamen Vergangenheit niemanden gibt, dem ich einen Mord zutrauen würde. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich eher in seinem heutigen Umfeld suchen, Geschäftsleitung, Mitarbeitende, Lieferanten, unter Umständen auch die Behörden. Leider kenne ich diesen Personenkreis nicht, oder nur flüchtig.“ Ehrlicher lehnte sich im Sessel zurück und runzelte die Stirn. „Es gibt sicher Leute, denen er als CEO des Grand Casinos auf die Füsse getreten ist, das bringt diese Aufgabe mit sich. Allerdings wird ein Konflikt im Arbeitsumfeld meistens vor dem Richter und nicht mit einem Messer gelöst, nicht wahr?“

„Das hängt davon ab, wie verletzend der Streit ist“, sagte Baumgarten, „und wie nahe er einem Menschen geht. Das häufigste Mordmotiv ist allerdings nach wie vor Geld, dicht gefolgt von Eifersucht. Wer profitiert finanziell von Truningers Tod?“

„Der Anwalt hat uns heute eröffnet, dass Maggie und Selma die einzigen Erben sind. Es bestand eine Lebensversicherung, die eine halbe Million auszahlen wird, und für Selmas Ausbildung sind hunderttausend Franken auf einem Sperrkonto, aber viel mehr Kapital ist nicht vorhanden. Das Haus hier ist grösstenteils bezahlt, so dass die beiden sich für die nächsten zwei bis drei Jahre keine Sorgen machen müssen. Früher oder später wird Maggie vielleicht auch wieder in ihrem Beruf als Innenarchitektin arbeiten. Ich werde auf jeden Fall dafür sorgen, dass es der Familie finanziell an nichts fehlt.“

Baumgarten nickte. Er schaute Richtung Schlaftrakt und senkte seine Stimme. „Wie steht es mit Eifersucht? Hatte Tom Truninger vielleicht eine Geliebte? Oder gibt es jemanden, der ihn aus dem Weg räumen musste, um an Maggie heranzukommen?“

Die Antwort kam schnell und mit einem neuen, kühlen Unterton. „Sie haben Maggie heute erlebt, Herr Kommissar, und Sie glauben ebenso wenig wie ich, dass sie Ihnen etwas vorgespielt hat. Ich lege meine Hand ins Feuer dafür, dass die beiden sich sehr geliebt haben, und dass sie sich absolut treu waren, seit sie sich kannten.“

Er verteidigt die beiden, und ich kann es ihm nicht verdenken, sagte sich Baumgarten und erhob sich.

„Es tut mir Leid, dass ich Sie mit solchen Fragen behellige, Herr Ehrlicher. Ich muss jede Möglichkeit erwägen, und dazu gehören auch sehr private Motive. Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Gute Nacht.“

Ehrlicher führte ihn zur Türe. „Schon in Ordnung, Herr Baumgarten. Auch Sie rufen mich an, wenn Sie etwas wissen möchten. Und ich verspreche Ihnen, wenn das alles hier vorbei ist, trinken wir zusammen einen guten Highland Malt. Abgemacht?“

*

„Kriminalpolizei, Pfister“. Er hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Niesen.

„Korporal Küng Anton, grüezi Herr Pfister. Wir haben am Wehr in Beznau eine Tote, vermutlich ein Selbstmord, können Sie jemanden herschicken?“

„Das ist gerade äusserst schwierig, Kollege Küng, wir haben einen wichtigen Mord aufzuklären.“ Und ausserdem geht es mir schlecht, ich will nach Hause ins Bett und nicht im unteren Aaretal im Regen herumstehen, dachte Peter Pfister.

„Sie wissen, dass wir in einem solchen Fall die Kripo einschalten müssen, Herr Pfister“, sagte Küng, „wir haben bekanntlich keine Entscheidungsgewalt in Fällen von Leib und Leben.“

„Schon gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Bleiben Sie vor Ort, bis Sie wieder von mir hören.“

Hustend erhob sich Pfister und ging in den Korridor hinaus, um Ausschau zu halten nach einem Opfer, aber da war nur gähnende Leere. Er fluchte halblaut vor sich hin, dann wählte er die Handynummer von Baumgarten. „Hallo Chef. Die Döttinger Kollegen haben in Beznau eine Wasserleiche gefunden, jemand von uns müsste hinfahren und sie sich anschauen. Ich fühle mich ziemlich krank und würde ehrlich gesagt lieber etwas früher Feierabend ... Also gut, wenn es unbedingt sein muss. Nachher fahre ich aber direkt nach Hause, sonst bricht die Grippe richtig aus. Ich informiere dich dann morgen, ciao.“

Er brauchte beinahe eine Stunde bis zum Kraftwerk – schlechtes Wetter, viel Verkehr, eine Baustelle in Würenlingen. Ausser Küng waren noch sein Streifenkollege und der Arzt am Fundort, die Leiche lag bereits im offenen Sarg. Den Anblick des aufgedunsenen Körpers hätte sich Pfister gerne erspart.

„Wer hat sie gefunden?“ fragte er mit heiserer Stimme.

„Ein Angestellter des Kraftwerks, bei der täglichen Kontrolle des Rechens. Das passiert etwa drei Mal pro Jahr, und er ruft uns jeweils sofort an. Er hat nichts Ungewöhnliches bemerkt – wollen Sie trotzdem noch mit ihm reden?“

„Nicht nötig. Wisst ihr, wer sie ist?“

„Keine Ahnung, wir haben weder Ausweise noch sonstige Papiere gefunden.“

„Mist. Kann man sonst etwas sagen, Kollegen?“

„Sie ist vermutlich über 50, die Kleider waren elegant und teuer, bevor sie nass wurden. Sie trägt einen Ehering und kleine Diamantstecker in den Ohren. Die Identifikation ist nur eine Frage der Zeit und der Effizienz bei euch in Aarau“, sagte Küng mit einem ironischen Unterton.

Pfister schnaubte, enthielt sich aber eines Kommentars. „Seit wann ist sie tot, Doktor?“

„Schwierig zu sagen, aber mindestens zwei Tage“, antwortete der Arzt und beendete seine Untersuchung. „Sie scheint bei erster Betrachtung keine äusseren Verletzungen zu haben, aber das werde ich noch genauer überprüfen. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich mehr weiss. Und jetzt zu den Lebenden“, schmunzelte der Arzt und stand auf. „Für heute Abend, Herr Pfister, gebe ich Ihnen zwei Wunderpillen, die Sie mit einem heissen Tee einnehmen. Dann legen Sie sich ins Bett, und morgen sind Sie ein neuer Mensch, das garantiere ich Ihnen. Tschüss!“

Pfister bedankte sich, obwohl er nicht so recht an die Wirkung der Tabletten glaubte. Er bat die beiden Regionalpolizisten, die Beschreibung der Toten nach Aarau durchzugeben und sie mit der Vermisstenliste vergleichen zu lassen. Die Tote konnte von irgendwoher kommen: Baden, Brugg oder sogar Bremgarten; Limmat, Aare oder Reuss konnten sie durchs Wasserschloss nach Beznau getragen haben. „Und überprüfen Sie, wo an den drei Flüssen Kraftwerke und Stauwehre sind“, sagte er zu Küng, „so können wir die Reichweite einschränken. Ich schaue mir die Resultate dann morgen an.“ Er verabschiedete sich und fuhr nach Hause, wo er – genau wie der Doktor gesagt hatte – eine halbe Stunde nach seinem Tee in einen tiefen, erholsamen Schlaf fiel.