Oktober 2007
Die Lebensumstände mögen sich noch so positiv verändern, aber man wird die Vergangenheit nie los, seufzte Viktoria vor sich hin und stieg weiter hinauf in den vierten Stock. Sie wohnte im Zürcher Kreis 4, in einem renovierten Altbau, der einem Berufskollegen gehörte. Da sie wusste, dass er neben seiner Privatpraxis für Sozialpsychiatrie auch noch einen schwungvollen Handel mit Immobilien betrieb, hatte sie ihn nach ihrer Rückkehr aus den USA angerufen. Zu dieser grosszügigen, relativ ruhig gelegenen Wohnung war sie nur durch Manfred gekommen, und der Mietzins war im Vergleich zu ähnlichen Objekten erst noch äusserst niedrig.
Ein Whisky mit Manfred wäre jetzt genau das Richtige, dachte sie, stellte ihre Einkaufstasche vor ihrer Türe ab und und läutete im Dachgeschoss. Nichts regte sich, weder Fernseher noch Musik waren zu hören. Keiner zuhause, also bleibe ich allein mit meinen Erinnerungen heute Abend.
Sie packte ihre Einkäufe aus – Gemüse, Obst, Käse, frisches Brot – machte sich einen Teller mit Cheddar, Stangensellerie, getrockneten Tomaten zurecht, und leerte den Rest einer angebrochenen Flasche Rioja in ein Glas. Sie zündete die Kerze auf dem Küchentisch an und liess das Radio laufen, eine Mischung von Oldies, Pop und Rock. Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr, dachte sie: ich bin fünfundvierzig und in den Augen vieler Männer immer noch attraktiv, wohne anonym und komfortabel in der Grossstadt, habe einen Liebhaber, der genau wie ich sein eigenes Leben führt. Meinen Lebenslauf habe ich neu geschrieben, so dass ein Unbeteiligter niemals auf die Idee käme, ich hätte meine Zeit in den USA anders verbracht als mit Arbeit und Weiterbildung. Eine renommierte staatliche Klinik hat mich wegen meiner Fachkenntnisse und sprachlichen Kompetenzen ausgewählt, und ich habe eine gut bezahlte Aufgabe gefunden, die mir Spass macht. Und dann höre ich heute von der Patientin Senn den Namen Truninger, und alles ist in Frage gestellt. Er kann mich jederzeit auffliegen lassen, meine neue Existenz zerstören, mich in den Ruin treiben.
The Winner Takes It All klang aus dem Radio.
„Das lasse ich nicht zu, du gewinnst nicht noch einmal!“ stiess sie zwischen den Zähnen hervor und stellte die Musik ab.