März 2001

 

Die Personalpolitik des Golden Dune Hotel & Casino in Las Vegas verlangte von allen Kadermitarbeitern mindestens vier Schichten pro Monat an der Front, egal aus welcher Ecke der Organisation sie kamen. Blackjack statt Controlling, Roulette statt Bilanzen: Tom Truninger liebte es, die Genauigkeit des Finanzmenschen gegen die Präzision eines Croupiers einzutauschen und die Menschen zu beobachten, die mit ihrer Leidenschaft für die Einnahmen seines Arbeitgebers sorgten.

An diesem Abend war er ruhig und gelassen, seine Hände waren geschickt und arbeiteten fehlerlos. „Wie ein Fisch im Wasser – ob ich wohl den Beruf verfehlt habe?“ dachte er und wusste, dass es die Kombination der unterschiedlichen Tätigkeiten war, die ihm eine so tiefe Befriedigung verschaffte. Die Zeit verflog, und als er abgelöst wurde, blieb er noch einen Moment am Tisch stehen. Erst als er seinen Blick schweifen liess, wurde ihm bewusst, dass die gepflegte Frau mit der blonden Lockenmähne schon eine Weile Blackjack spielte. Plötzlich schaute sie Truninger direkt in die Augen, zwinkerte ihm zu und stand auf.

„Let’s go and try something else“, sagte sie zu ihrem eleganten Begleiter, „I need to see the ball rolling.“

„Haven’t you had enough for tonight, Vicky?“

„How can you say that? I’m just getting started!“ rief sie und zog ihn Richtung Roulette davon.

Attraktiv, Mitte dreissig, sprühend vor Energie – und sie hat mit mir geflirtet, dachte Truninger und spürte die Versuchung. Vergiss es, sagte er sich, du bist verheiratet und im Dienst, sie ist Kundin, und sie hat einen Mann dabei. Vermutlich Touristin. Ein leichter Akzent in ihrem Englisch liess ihn glauben, dass sie auf der Durchreise war, wie die meisten Kunden hier. Er ging zurück in sein Büro und tauschte seinen schwarzen Tux gegen einen dunkelgrauen Anzug mit einer dezenten Krawatte.

Auf dem Weg nach Hause ging er bei den Roulettetischen vorbei: da sass sie, und diesmal sah er ihn einmal kurz aufblitzen, den flackernden Spielerblick. Mist, dachte er, auch das noch. Nun schaute er genauer hin und beobachtete, wie fahrig sie ihre letzten Chips einsetzte, verlor, von ihrem Begleiter noch eine Handvoll zugesteckt bekam. „Nachher ist Schluss, Vicky“, hörte er den gross gewachsenen Mann sagen und sah, wie er sich ein paar Schritte von ihr entfernte. Sie nickte, obwohl ihr Blick bereits wieder dem Spiel zugewandt war. „Faites vos jeux“, sie setzte alles auf die rote Acht, gewann, setzte wieder alles ein, gewann nochmals. Ein paar Tausend Dollar lagen jetzt vor ihr, aber gehen wollte sie offensichtlich nicht. Sie gewann, verlor, gewann wieder, und die Sucht stand ihr ins Gesicht geschrieben. Casinoprofi Truninger kannte das Verhalten aus Erfahrung, und er wusste, was zu tun war. Er ging auf ihren Begleiter zu, identifizierte sich und fragte ihn, ob er die Frau kenne.

„Eine gute Freundin“, sagte der Mann in breitem Amerikanisch, „und wie Sie sehen natürlich spielsüchtig. Auf Viktorias Wunsch bin ich hier um dafür zu sorgen, dass sie nicht ihr ganzes Vermögen auf dem Tisch liegen lässt.“

Truninger staunte, dass der gut aussehende Typ das Thema so direkt ansprach.

„Ich heisse übrigens Andrew Ehrlicher, und Sie sind in ganz Las Vegas der Erste, der gemerkt hat, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Mein Kompliment.“

„Die Aufsichtsbehörden sind im Moment schlecht auf uns zu sprechen, und wir haben deshalb restriktive Vorschriften eingeführt. Wir haben immerhin unseren Ruf als saubere Industrie zu verteidigen.“ Truninger fühlte sich in der Gesellschaft von Ehrlicher seltsam wohl. Er erfasste blitzschnell die Stiefelspitzen aus Schlangenleder ebenso wie die Tatsache, dass der Anzug massgeschneidert war. Understatement, viel Geld, und trotzdem höchst sympathisch.

„Was kann ich Ihrer Meinung nach tun, um Viktoria zu helfen? Sie kommt übrigens aus der Schweiz, wie Sie.“

„Ach, ist mein Akzent so offensichtlich?“ fragte Truninger mit einem säuerlichen Lächeln.

„Entschuldigen Sie, das war unhöflich von mir.“

„Kein Problem, Mr Ehrlicher.“

„Meine Freunde nennen mich Andrew, und ich würde Sie jetzt gerne zu einem Drink einladen, wenn Sie mögen.“

„Gerne, ich bin offiziell nicht mehr im Dienst. Ich heisse Tom.“

„Vicky ist für die nächste halbe Stunde beschäftigt, so let’s go.“

*

Tom und Andrew sassen an der halbleeren Hotelbar des Dune und tranken Jack Daniels. „Eigentlich mag ich die schottischen Malts lieber, aber hier ist man patriotisch“, lächelte Ehrlicher. Auch Tom war nach einigen Degustationen in den Brennereien des Spey-Valley ein überzeugter Single Malt-Anhänger geworden, und sie fachsimpelten eine ganze Weile über den Torf-Geschmack, die Farbe und das Alter der besten Marken.

„Sagen Sie, Tom, was kann ich für Vicky tun? Sie ist wirklich süchtig, spielt vor allem Poker und Blackjack, und langsam geht ihr das Geld aus. Sie hat Medizin studiert und ist Psychiaterin, und trotzdem kann sie sich selbst nicht helfen.“

„Für diese Fälle gibt es im Prinzip nichts anderes als eine stationäre Therapie“, sagte Tom. „Sie dauert mehrere Monate und ist ziemlich teuer, aber ich kann Ihnen die Adresse einer Klinik in Taos geben, die sehr erfolgreich arbeitet. Entweder sind es die gute Luft und die beruhigenden Farben von New Mexico, oder das Therapiekonzept ist so klug, dass es bei neunzig Prozent der Klienten greift – auf jeden Fall haben wir damit gute Erfahrungen gemacht.“

„Geld ist kein Problem, aber ob ich Viktoria dazu bringe, sich monatelang in die Hände von Kollegen zu geben? Weit weg vom Spieltisch weiss sie, dass sie süchtig ist, und doch ist sie nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Ich habe ihr heute Nachmittag ins Gewissen geredet und versucht aufzuzeigen, dass sie ihre beruflichen Perspektiven total zerstört, und sie hat mir auch zugehört und Besserung gelobt. Was aus diesem Vorsatz geworden ist, haben Sie ja soeben gesehen. Ich bin wirklich ratlos.“ Ehrlicher schüttelte bekümmert den Kopf und trank seinen Whisky aus.

„Gehen Sie zurück und nehmen Sie sie mit nach Hause“, sagte Tom. „Morgen Vormittag kommen Sie mit ihr in mein Büro, und wir besprechen gemeinsam die nächsten Schritte. Sie können ihr sagen, dass wir planen, ihr Hausverbot zu geben, und dass wir gerne mit ihr die Alternativen erörtern möchten. Ich werde genügend Argumente haben, um sie zu überzeugen, und ich frage auch morgen früh gleich nach, ob ein Therapieplatz frei ist.“

„Danke, Tom, dass Sie sich Zeit nehmen für mich und Vicky. Sie sind mir eine grosse Hilfe. An Ihrem nächsten freien Wochenende lade ich Sie ein zu einer Degustation meiner feinsten Single Malts.“ Ehrlicher zahlte, stand auf und streckte Tom die Hand entgegen. „Bis morgen, mein Freund, und schlafen Sie gut.“

„Danke, bis morgen.“ Tom blieb noch einen Moment stehen und sah Ehrlicher nach. Ob Andrew wohl wirklich ein Freund werden könnte? Ein echter Freund, mit dem man vieles teilen konnte? Die gemeinsame Liebe zum schottischen Whisky war ein guter Ausgangspunkt, aber da war noch mehr: zum Beispiel die Vertrautheit, die sich so rasch eingestellt hatte. Wie ein Teil von mir selbst, dachte Tom, wie ein anderes Ich. Und er schmunzelte, als ihm einfiel, was die Initialen seiner neuen Bekanntschaft auch noch bedeuten könnten: Alter Ego.