Dienstag, 6. November 2007

 

Es klopfte. „Kommen Sie nur herein, Elena, ich bin gleich so weit. Setzen Sie sich.“ Ohne sich umzudrehen, vervollständigte Tom Truninger eine Tabelle auf seinem Bildschirm, importierte sie in eine E-Mail und sandte sie an die Konzernzentrale. „So, das hätten wir, damit sollte auch der Informationsdurst der Marketingabteilung befriedigt sein.“ Er rollte mit seinem Ledersessel zurück und erschrak – nicht Elena sass vor seinem Schreibtisch, sondern Sybille Senn.

„Frau Senn, guten Abend. Ich bin erstaunt und überrascht, Sie hier zu sehen.“ Er musterte sie, bemerkte ihre Anspannung und ihr leichtes Zittern. Sie trug ein gut geschnittenes Kostüm, aber der Stoff war zerknittert und die Bluse darunter ungebügelt, der graue Haaransatz war gut sichtbar und die Fingernägel abgebissen; der Unterschied zu ihrer früher sehr gepflegten Erscheinung war frappant. „Wie geht es Ihnen? Und was führt Sie zu mir?“ Er fragte sich, wer sie ins Gebäude gelassen hatte.

„Ich will Gerechtigkeit, Herr Truninger“, sagte Sybille mit lauter, fester Stimme. „Sie haben mein Leben zerstört, und jetzt will ich Gerechtigkeit.“

Tom lachte laut heraus. „Gerechtigkeit wollen Sie, Frau Senn? Die Welt ist ungerecht, das wissen Sie doch ganz genau. Im Übrigen habe ich Sie nur entlassen, nicht ihr Leben zerstört, wie Sie sagen.“

„Doch, das haben Sie. Meine Arbeit hier war sehr sinnvoll und hat mich immer glücklich gemacht, aber als Sie kamen und mich zu kritisieren begannen, da wurde alles anders.“ Ihre Stimme begann zu zittern, sie atmete flach und schnell. „Langsam und schleichend wurde ich krank, hatte Angst vor Ihnen, traute mir nichts mehr zu. Als dann die Kündigung kam, brach alles auseinander, meine Ehe, meine Familie, meine Selbstachtung. Sie haben mein Leben zerstört, und ich werde für Gerechtigkeit sorgen.“

In ihrer grossen Handtasche umklammerte Sybille das Küchenmesser, aber ihr Arm war wie gelähmt, sie schaffte es nicht, das Messer herauszuziehen und Truninger zu zeigen, welche Art von Gerechtigkeit ihn erwartete. Sie begann zu weinen und stiess hervor: „Ich werde Sie umbringen, Herr Truninger!“

„So, jetzt reicht es aber, Frau Senn.“ Truninger nahm das Telefon und drückte eine Taste. „Elena, kommen Sie bitte in mein Büro. – Nein, nicht in fünf Minuten, sondern jetzt. Frau Senn ist hier und will mich umbringen.“

Er stand auf. „Jetzt beruhigen Sie sich. Frau Fuchs wird Sie gleich abholen und mit Ihnen reden. Ich habe keine Zeit für solche Spiele.“

Er kam um den Schreibtisch herum und fasste sie unsanft am Arm. „Stehen Sie auf und verlassen Sie mein Büro. Sie haben hier nichts mehr zu suchen.“

Sie wehrte sich nicht, als er sie zur Tür führte, wo soeben Elena aufgetaucht war.

„Elena, nehmen Sie Frau Senn mit und geben Sie ihr eine Tasse Tee, dann beruhigt sie sich vielleicht. Und schauen Sie in ihrer Handtasche nach, ob sie irgendein Mordinstrument dabei hat. Sie kommt mir nicht mehr ins Haus, das müssen die Sicherheitsleute wissen.“

„Kommen Sie, Frau Senn, wir gehen in mein Büro.“ Elena legte der weinenden Sybille den Arm um die Schulter und begleitete sie hinaus.

Tom spürte, wie sein Herz raste. Zur Beruhigung schenkte er sich einen Whisky ein und nahm einen tüchtigen Schluck. Die Frau war wirklich verrückt, wer wusste wozu sie fähig war. Er beglückwünschte sich selbst dazu, wie schnell er sie wieder los geworden war, ohne sich seine plötzliche Angst anmerken zu lassen. Wie konnten die Leute in Königsfelden nur so blöd sein, jemanden mit Mordgelüsten frei herum laufen zu lassen, gemeingefährlich war das! Flüchtig erinnerte er sich daran, dass Andrew erwähnt hatte, Viktoria arbeite in der psychiatrischen Klinik. Vielleicht sollte er sich gelegentlich mit ihr darüber unterhalten – anderseits war er nicht sicher, ob Viktoria überhaupt mit ihm reden würde. Er trank seinen Whisky aus und beschloss, den Zwischenfall zu vergessen. Er würde später mit Elena weitere Massnahmen besprechen, und dann wäre die Sache erledigt.

*

„Sie hatte ein grosses Messer in der Handtasche, und ich habe es ihr abgenommen.“ Elena sass gerade aufgerichtet am Sitzungstisch von Truninger und berichtete. „Sie hätte Sie ernsthaft verletzen können.“

„Ach was, sie war mir nie nahe genug, um mir ein Messer in den Bauch zu stossen. Aber dass sie wirklich krank ist, das habe ich heute gesehen.“ Tom lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte den Kopf. „Und warum kann sie sich so frei bewegen?“

„Sie wohnt in der offenen Abteilung der Klinik und kann deshalb tagsüber ein paar Stunden lang tun, was sie will. Man ist offensichtlich der Ansicht, dass sie bald wieder gesund sein wird und die täglichen Anforderungen des Lebens meistern kann.“

„Kaum zu glauben, wie sich die Psychiater täuschen können. Rufen Sie doch in der Klinik an und versuchen Sie, mit dem behandelnden Arzt zu sprechen. Geben Sie ihm keine Details, aber lassen Sie ihn wissen, dass die Frau gefährlich ist, und dass die Behandlungsstrategie geändert werden muss. Wir können uns solche Zwischenfälle nicht leisten.“

Elena schaute Tom mit einem ungewöhnlich harten Blick in die Augen. „Glauben Sie nicht, dass auch wir ein klein wenig schuld sind am Zustand von Sybille Senn? Immerhin haben wir sie fristlos entlassen aus Gründen, die sie nie nachvollziehen konnte.“

„Was ist mit Ihnen los, Elena? Die Geschichte haben wir doch schon mehrmals durchgekaut, es gibt dazu nichts mehr zu sagen. Oder wollen Sie sich etwa auf die Seite von Frau Senn schlagen und drastische Massnahmen ergreifen? Das Messer hätten Sie ja“, lachte er und zog ein Aktenbündel zu sich hin. „Lassen Sie uns Frau Senn vergessen. Wir haben noch viel zu tun mit unseren Projekten.“

Sie ist nicht bei der Sache, dachte er nach einer Viertelstunde. Schon seit ein paar Tagen war sie kurz angebunden und verschanzte sich in ihrem Büro, die normalerweise weit offene Türe war geschlossen. Gerötete Augen hatte sie auch, vermutlich eine Liebesgeschichte, und die Szene vorhin hatte wohl nicht gerade zur Verbesserung ihrer Laune beigetragen. Weil auch er sich nicht konzentrieren konnte, brach er die Sitzung ab und schickte Elena nach Hause.