10. Kapitel
Eine Schreibtischlampe erwachte zum Leben und in ihrem Lichtkegel blitzte eine Waffe auf, die auf die beiden Eindringlinge gerichtet war. Vorsichtig hob Stefan seinen Kopf, um zu sehen, wer sie in dem Moment bedrohte.
Der Arm, dessen Hand die Waffe hielt, verschwand in einer bordeauxroten Strickjacke, die er genau wie die Stimme, die ihn ansprach, nur einem Mann zuordnen konnte. Das Gesicht des Mannes erschien ihm jedoch etwas jünger, als er es damals in seinem Buch beschrieben hatte. Aber unmittelbar nachdem im Raum ein paar Leuchtstoffröhren summend ihre Arbeit aufnahmen, war er absolut sicher.
Vor ihnen saß Reiner Schwarzenbeck.
Anscheinend hatte er sie bereits seit längerer Zeit erwartet. Kühl lächelte er ihnen entgegen.
„Wollen Sie sich nicht setzen? Schließlich haben Sie eine anstrengende Nacht hinter sich. Ich hatte mir schon Gedanken darüber gemacht, dass Sie sich eine Erkältung zuziehen könnten.“
Stefan stand immer noch wie gelähmt nur ein paar Meter von ihm entfernt im Raum. Goran sah ihn kurz an und es bedurfte keinerlei Erklärung, mit wem sie es hier zu tun hatten. Anscheinend hatte Goran es bereits gespürt. Stefan wäre es zwar viel lieber gewesen, sein Begleiter hätte aufgrund seiner sensitiven Möglichkeiten die Gefahr vorher erkannt, aber dies war selbst ihm anscheinend nicht vergönnt gewesen.
Auch Marias Fähigkeiten und deren Intensität konnte Stefan kaum einschätzen, weil er sie in einer für ihn inzwischen fremden Realität kennengelernt hatte. Plötzlich plagten ihn schwere Gewissensbisse.
Einzig und allein durch seine Schuld befanden sie sich in dieser Lage. Er hätte bei der Suche vorsichtiger vorgehen müssen.
Schwarzenbeck griff mit der zweiten Hand unter die Platte des schweren Schreibtischs, an dem er saß.
Ein geräuschvolles Klicken verriet, dass die Tür hinter den beiden Eindringlingen entweder elektrisch geöffnet oder aber auch verriegelt wurde.
Da niemand eintrat, ging Stefan von der zweiten Möglichkeit aus, weshalb er beschloss, keinen Fluchtversuch durch die Tür zu unternehmen. Aber wohin hätten sie auch flüchten sollen?
Schwarzenbeck hätte sie mit Gewissheit sofort aufgespürt und dann wären sie wieder an genau dem Punkt angelangt, an dem sie sich gerade befanden. Sie waren ihm also restlos ausgeliefert. In eine Falle getappt, von der sie nicht wussten, wann sie aufgestellt worden war.
Wie lange wurden sie schon beobachtet? Wie viele Personen hatte Stefan durch sein unvorsichtiges Handeln noch in Gefahr gebracht? Wusste man über Ralf oder sogar Heinz inzwischen Bescheid?
„Setzen, sagte ich!“
Diesmal klang es weniger nach einer Bitte, sondern kam im unmissverständlichen Befehlston.
Vor dem schweren Eicheschreibtisch standen zwei Stühle bereit, und die Tatsache, dass Schwarzenbeck eine Waffe in der Hand hielt, ließ ihnen keine andere Wahl als zu gehorchen. Goran setzte sich auf den linken der beiden Stühle, während Stefan auf dem rechten Platz nahm. Inzwischen hatte Stefan sich mental wieder etwas erholt und war nun in der Lage, den Raum mit seinen Augen vorsichtig zu erkunden. Mit stolz geschwellter Brust ließ Schwarzenbeck ihn gewähren.
„Sehen Sie sich ruhig um. So etwas bekommt man als normaler Mensch schließlich nicht jeden Tag zu sehen.“
In diesem Punkt musste man ihm recht geben. Es handelte sich anscheinend um ein privates Büro und gleichzeitig auch um eine Art Kommandozentrale, von der aus Schwarzenbeck das komplette Projekt überwachen konnte.
Hinter ihnen neben der Tür waren mehrer Monitore in die Wand eingelassen, die nacheinander aufleuchteten und verschiedene Räume sowie diverse Außenaufnahmen zeigten. Stefan ging davon aus, dass sich alle diese Räume in der Anlage befanden. Wenn dies der Fall wäre, dann handelte es sich mit Gewissheit um eins der größten Höhlensysteme, die jemals entdeckt wurden. Weitere Eingänge als die gefundenen schienen nicht zu existieren. Die einzigen Außenkameras befanden sich an den schon bekannten Zugängen sowie einer Zufahrtsstraße.
Auch den Bootsanlegesteg sowie die verschiedenen Gänge, durch die sie kürzlich gekommen waren, waren auszumachen. Sie waren ohne größere Mühe und ohne jeden Widerstand in Schwarzenbecks Reich eingedrungen. Jetzt wussten sie auch, warum man es ihnen so leicht gemacht hatte. Sie waren blind in eine für sie aufgestellte Falle getappt.
Der Raum, in dem sie sie nun saßen, war stilvoll eingerichtet und jedes einzelne Möbelstück zeugte vom Geschmack eines Kunstliebhabers. Der Fußboden war aus Marmor, im Schachbrettmuster verlegt, das hier und da von kostbaren Teppichen verdeckt wurde. Eine der Wände diente offensichtlich als Privatbibliothek mit unzähligen Büchern, die bis unter die Decke reichten. Hinter Schwarzenbecks Rücken befand sich ein Gemälde, das sich über die ganze Wand erstreckte.
Dann sah Stefan es zum ersten Mal.
Rechts hinter Schwarzenbeck, vor einem Bergsee, der einen Teil des Landschaftsbilds einnahm, stand eine Glasvitrine, in der sich ein Buch befand.
Es wirkte primitiv zu einem Werk zusammengebunden, und der obere wie auch der untere Buchdeckel bestanden aus einer dünnen verwitterten Holzplatte. Auf eine besondere Ausleuchtung hatte man anscheinend bewusst verzichtet. Es war der einzige Bereich des Raumes, der düster im Schatten lag.
Stefan erinnerte sich an einen Besuch im Archiv einer großen Berliner Tageszeitung, wo er erfahren hatte, dass alte Schriften grundsätzlich dunkel aufbewahrt werden müssen, um sie nicht zu zerstören. Dass dieses Buch zu den alten und zu den zu schützenden Schriften gehörte, das konnte selbst ein Laie erkennen.
Ein Buchtitel war von seiner Position aus nicht auszumachen, aber das war auch nicht mehr erforderlich. Stefan kannte ihn auch so. Zum Greifen nah, und doch in dem Moment für ihn unerreichbar lag es endlich vor ihm.
„Libri Cogitati“
Es reichte schließlich völlig aus, dass er Goran und sich in diese Situation gebracht hatte.
Anscheinend hatte er seine Blicke länger als es ihm bewusst war, darauf verweilen lassen. Schwarzenbeck sah ihn kurz an, als wolle er etwas dazu sagen, unterließ es jedoch.
Schnell versuchte Stefan, sich wieder auf ihn zu konzentrieren und sah ihm direkt in die Augen. Da war es nicht mehr erforderlich, seine Beziehung zu Heinz preiszugeben. Schwarzenbeck wusste vielleicht noch nicht, dass sein großer Widersacher von einst und Stefan sich inzwischen kannten. Für ihn war Heinz damals im Jahre 1972 gestorben, ermordet von ihm und seinen beiden Begleitern. Und so sollte es auch bleiben.
In seinen Augen, so hoffte Stefan, waren Goran und er nur zu zweit hergekommen, um das aktuelle Projekt zu stoppen. Nichts ahnend vom Geheimnis der Macht, derer sich Schwarzenbeck bereits bediente.
‚Dem Spiel mit der Zeit.’
„Nun“, begann der Mann mit der Waffe in einem fast schon freundlichen Tonfall zu reden „Ich hätte eigentlich nicht damit gerechnet, dass Sie sich tatsächlich an unsere erste Begegnung erinnern würden.
Schließlich wusste selbst ich bis vor ein paar Tagen nicht einmal, dass Sie überhaupt existieren. Mir waren nicht mehr als ein paar kleine Erinnerungen geblieben, die aber genauso gut auch rein fiktiv gewesen sein konnten. Sie kamen darin übrigens gar nicht vor.
Und das hätte auch für immer so bleiben können, wenn Sie sich nicht so hartnäckig auf die Suche nach Maria gemacht hätten. Bereits unmittelbar nach ihrer telefonischen Buchung in Carlas kleinem Hotel läuteten bei uns im ›Club‹ sämtliche Alarmglocken. Ich rief sofort Rudi an, auf dessen Loyalität bis dahin immer Verlass war. Aber wie heißt es doch immer so schön? ? Traue niemanden ? Aber das ist ein ganz anderes Thema.“
Da war er wieder. Dieser Gesichtsausdruck, bei dessen Anblick einem das Blut in den Adern gefror. Ohne auch nur einen einzigen weiteren Moment an den Tod Rudis zu verlieren, sprach Schwarzenbeck weiter.
„Eigentlich war es nicht mehr als eine ganz normale Routineüberwachung.
Als Sie ihm jedoch erzählten, warum Sie in Mexiko auftauchten und was Sie suchten, wurden wir alle richtig neugierig. Sofort stellten meine besten Leute Nachforschungen zu Ihrer Person an.
Und glauben Sie mir: Meine Leute sind wirklich gut. Inzwischen wissen wir fast alles über Sie.
Angefangen von Ihrer Schulzeit, über Ihre Beziehung zu Teichmanns Firma bis hin zu Ihren laienhaften Schriftstellerversuchen, haben wir alles in Erfahrung gebracht, was uns wichtig erschien.)
Ich persönlich war ernsthaft überrascht und gleichermaßen fasziniert von Ihrem Buch. Zwar nicht besonders einfallsreich formuliert, aber mit einem interessanten Inhalt.
Dadurch erfuhr ich wenigstens, wie weit mein kleines Projekt bereits schon einmal vorangeschritten war. Für mich hatte diese Zeit zwar stattgefunden, aber sie war nicht mehr rekonstruierbar.
Sie wissen schon: Der berühmte Butterflyeffekt.
Jede Veränderung in meinen Handlungen führte zu einem veränderten Resultat und so weiter. Darum entschied ich auch, es diesmal ganz anders anzugehen. Ich hatte genau dieselben Lücken in der Erinnerung wie Sie auch, wahrscheinlich sogar noch mehr.
Wenn ich noch einmal in eine solche Situation käme, dann würden mir wohl alle Erinnerungen am Erlebten erhalten bleiben.
Inzwischen konnte ich auch diese meine Fähigkeit perfektionieren, sodass ich die meisten Veränderungen, die eine Zeitmanipulation nun mal mit sich bringt, viel besser kontrollieren kann. Würde ich uns beide heute noch einmal in die Vergangenheit schicken, dann würden mir bestimmte Fehler nicht noch einmal passieren.
Dann hätten bereits erlebte Dinge für Sie nie stattgefunden, während ich alles noch parat hätte.
Sicherlich ist dies die Antwort auf eine Frage, die Sie seit damals mit Gewissheit quält. Nun darf ich Sie von dieser Unsicherheit erlösen. Ich war dafür verantwortlich, dass Sie Erinnerungen haben, von denen Sie nicht wussten, woher sie kamen. Eigentlich müssten Sie mir dankbar sein. Sie haben tatsächlich einen Abschnitt in Ihrem Leben zweimal erlebt.
Aber, wie gesagt, hatte ich damals gehofft, dass ich als derjenige, der dieses Paradoxon auslöste, auch als Einziger die vollen Erinnerungen daran behalten würde.
Leider kam es jedoch anders und so musste auch ich vor einiger Zeit wieder fast von vorne anfangen. Aber wenigstens war die Grundidee noch da. Und nur darauf kam es an.
Ich darf Ihnen im Übrigen verraten, dass wir dank Ihrer Hilfe bald wieder diese Phase erreichen werden, in der Sie mir damals in die Quere kamen.
Zwar haben meine Berater in der Vergangenheit oftmals Zweifel am gesamten System und seinem Erfolg geäußert, aber durch Ihr Buch wissen wir inzwischen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es ist grundsätzlich möglich eine virtuelle Welt zu erschaffen, um unsere eigene, die nur aus unseren Gedanken jeden Tag neu entsteht, besser manipulieren zu können.“
Schwarzenbeck lachte laut los.
„Sie haben mir übrigens Ihren jungen Begleiter noch nicht vorgestellt.“
Gerade als Stefan den Mund öffnen wollte, wurde er auch schon wieder gestoppt.
„Sagen Sie bitte nichts. Lassen Sie mich raten. Ich denke mal, dass dies der junge Goran ist, den Sie und Maria mir damals vorenthalten hatten.“
Stefan sah ihn verwundert mit großen Augen an. Er spürte deutlich, wie dieser Mann es allein mit Worten schaffte, ihm das Blut in den Adern stocken zu lassen.
„Maria“, murmelte Stefan leise. „Ist sie auch hier unten?“
„Ach ja, Sie waren ja einst mit ihr befreundet, hatten sogar eine besonders herzliche Beziehung zu ihr.
Nun ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Die Arme wurde vor ein paar Monaten plötzlich aufsässig. Sie wollte einfach unsere Arbeit boykottieren und auch ihren Bruder davon überzeugen, dass unser Projekt für die Menschheit gefährlich sei.
Ich habe sie daraufhin gemeinsam mit ihrer Freundin, Frau Kerner, in den wohlverdienten Ruhestand geschickt. Nur schade, dass Frau Kerner eine so schlechte Autofahrerin ist und mit defekten Bremsen nicht besonders gut umgehen kann.“
Das dämonische Lächeln, welches sich in diesem Moment im Gesicht von Schwarzenbeck breitmachte, würde Stefan, wenn er jemals entkommen könnte, in seinem ganzen Leben niemals vergessen. Am liebsten wäre er diesem Schwein an den Hals gesprungen. Dieser skrupellose Mistkerl ging über Leichen. Er war anscheinend bereit, alles aus dem Weg zu räumen, was seinem Machthunger in die Quere kommen könnte.
Doch warum hatte er Stefan und Goran so weit kommen lassen?
Er hatte sie offensichtlich bereits erwartet. Als hätte Schwarzenbeck diese Frage gespürt, gab er Stefan und Goran umgehend die Antwort darauf
„Nun, sicherlich fragen Sie sich, warum Sie so leicht hier eindringen konnten.“
Dann machte er eine rhetorische Pause, lehnte sich zurück und überheblich lächelnd sah er die beiden an.
Immer noch erschüttert über Marias Tod saß Stefan fassungslos da, unfähig zu reagieren.
„Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Ich muss Ihnen gestehen, dass mir so langsam die Telepathen ausgehen.
Nach Marias tragischem Ableben ist auch Henry nicht mehr derselbe wie früher. Immer öfter wirkt er unkonzentriert und geistig abwesend. Anscheinend hat ihn inzwischen die Lust am Leben verlassen. Teilweise verweigert er sogar die Nahrungsaufnahme und unsere Ärzte geben ihm höchstens noch ein Jahr.
Nennen wir es also Ironie des Schicksals, dass Sie persönlich mir heute Goran bringen, den Jungen, den Sie und Maria eigentlich vor mir schützen wollten. Er soll ja laut ihrem Buch über ganz enorme Fähigkeiten verfügen.“
Wieder lachte er seine wehrlosen Gegner offen aus.
„Können Sie sich vorstellen, wie sehr ich mich auf Ihren Gesichtsausdruck gefreut habe? Ich weiß, dass sich Goran die größte Mühe geben wird, uns dienlich zu sein. Nur hier bei uns gibt es Menschen, die in der Lage sind, ihn das sein zu lassen, was er ist. Nur hier kann er er selbst sein: ein Mensch mit ganz ungewöhnlichen Fähigkeiten.“
Goran sah ihn wütend an. „Niemals werde ich Ihnen helfen, niemals.“
Schwarzenbeck deutete mit der Pistole auf einen der Monitore hinter ihrem Rücken. Gleichzeitig drehten sich Stefan und Goran um. Dort wo gerade noch der Anlegesteg zu sehen war, schaltete der Kanal in dem Moment um.
Auf dem Bildschirm sahen sie nun Gorans Elternhaus.
Es handelte sich dabei, wie Schwarzenbeck stolz verkündete, um Livebilder, die sie zu sehen bekamen. Er musste nicht extra erzählen, was er ihnen antun würde, wenn Goran nicht kooperierte.
Darum waren sie also hier. Stefan war das Werkzeug und Goran war die Beute, die er ihm frei Haus lieferte.
Um seinen Triumph richtig auszukosten, sollten Stefan und Goran nun ein paar Details erfahren, die Schwarzenbeck sogar Werner Kemmner vorenthalten hatte.
„Nun, noch während Sie sich in Mexiko befanden, las ich sehr aufmerksam Ihr Buch. Es wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich herausgefunden hätte, wo Gorans Familie zu finden sein würde. Aber das brauchte ich auch gar nicht. Dafür waren Sie zuständig. Nachdem Sie so krampfhaft versuchten Maria ausfindig zu machen, war mir klar, dass Ihr nächster Weg Sie zu Goran führen würde. Ich brauchte also nur zu warten, bis Sie mit ihm zusammen hier auftauchen. Durch Henry und Maria hatte ich erfahren, dass Telepathen ihre Kräfte immer nur räumlich begrenzt einsetzen können. Wenn wir also versucht hätten, ihn aus seinem Zuhause und von seinen Eltern wegzuschaffen, dann hätte er einen Weg gefunden dies zu verhindern, indem er Einfluss auf meine Mitarbeiter genommen hätte. Jetzt jedoch sind seine Eltern weit weg und meine Leute bei ihnen. Er hat also auf diese Entfernung keine Chance etwas zu unternehmen. Die Leute vor Ort haben bereits vor einigen Tagen genaue Anweisungen bekommen, wie sie auf bestimmte Dinge zu reagieren haben. Jede Abweichung würde zu einer Maßnahme führen, die Goran bestimmt nicht gefallen würde. Letztendlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann unser junger Freund sich an die neue Situation gewöhnt hat. Schon sehr bald wird er von der süßen Frucht der Macht gekostet haben und dann wird er, wie alle Menschen, die dies erlebt haben, genauso denken wie ich.“
Stefan fühlte sich einfach nur schlecht. Genau das, was er zu verhindern versuchte, war nun eingetroffen. Hilflos saß er Schwarzenbeck gegenüber. Doch was hätte er in diesem Moment auch tun können?
Fieberhaft suchte Stefan nach einer Lösung. Die Situation schien jedoch völlig aussichtslos zu sein.
Sie brauchten unbedingt mehr Zeit. Zeit, die sie nutzen würden, um nach einer Lösung zu suchen. Sie brauchten nur eine einzige Chance, die sie erkennen und ergreifen könnten.
Vor ihnen saß ein Mann, der es genoss, ihnen seine Überlegenheit zu demonstrieren. Sein Lächeln war das Lächeln eines Siegers, der seinen Triumph auskostete. Was im Anschluss an diese Machtdemonstration mit Stefan geschehen sollte, das erwähnte er nicht einmal. Er hatte für seine Ziele bereits mehr als einmal gemordet, und Stefan zu töten oder töten zu lassen wäre für ihn eine ganz normale Handlung, so wie das morgendliche Zähneputzen für andere Menschen.
Dann wandte er sich dem Buch zu.
Diesmal war er es, der ungeniert auf „Libri Cogitati“ sah.
„Sie scheinen sich für mein Buch zu interessieren. Ich habe vorhin genau gesehen, wie Sie es intensiv betrachteten. Dabei gehe ich davon aus, dass Sie nicht einmal wissen, was dort vor Ihnen liegt.“
Er machte eine kleine Pause, um Stefan Gelegenheit zu geben darauf zu reagieren. Anscheinend sah er ihm an, dass sein Mund den Buchtitel formulieren wollte.
„Oh, Sie wissen also um mein kleines Geheimnis. Wie haben Sie es herausgefunden? War es die Tatsache, dass ich uns bereits schon einmal in der Zeit zurückschickte?
Oder hat es Ihnen jemand verraten?
Schließlich sucht es die halbe Welt seit Jahrhunderten, ohne zu wissen, was sie eigentlich suchen. Da ziehen Schatzjäger ihr ganzes Leben lang aus, um die kostbaren Schätze der Templer, den Heiligen Gral oder die Bundeslade zu finden, und dabei wissen diese armen Narren im Grunde nichts.
Ich darf Ihnen verraten, dass es all diese Dinge nicht gibt. Und selbst wenn einer dieser sogenannten Schätze jemals auftauchen sollte, dann wäre er im Verhältnis zu diesem Buch nicht mehr als ein Haufen Unrat. Das größte Geheimnis der Menschheit liegt hier in einer Glasvitrine. Und dort wird es auch für immer bleiben.
Egal ob namhafte Schriftsteller oder Hollywoods Filmemacher nach dem Gral suchen und sich die tollsten Verschwörungstheorien über Jesus und Maria Magdalena als seine Ehefrau ausdenken, das alles zeigt uns nur zu deutlich, wie dumm unsere Menschen sind.
Leser und Kinobesucher pilgern zu den Orten, die sich andere Menschen ausdenken und glauben tatsächlich daran, einem Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein.
Selbst der Vatikan füttert diese albernen Theorien mit seinem Boykott an. Ich darf Ihnen heute noch ein weiteres Geheimnis verraten. Weder die Bundeslade noch der Heilige Gral oder irgendwelche Goldschätze waren es, was die Templer einst fanden und schützten. Es war auch kein Geheimnis um Jesus oder Maria Magdalena, keine Nachkommen der beiden, die im Verborgenen leben.
Es war nicht mehr als ein Buch.
Dieses Buch.
Geschrieben zu einer unbekannten Zeit und dank der Tempelritter übersetzt aus dem Hebräischen ins Lateinische. Die Templer waren es auch, die das hebräische Original damals verbrannten, damit nur noch die lateinische Version existierte.
Damit ist dieses Buch ein einzigartiges Dokument, das Wertvollste, was unsere Welt zu bieten hat,, bis ich mit meinen Forschungen fertig bin.
Wissen Sie auch zufällig, wie es heißt?“
„Libri Cogitati“, flüsterte Stefan leise.
„Oh Sie haben Kronenbergs kleines Geheimnis entschlüsselt. Ich hätte schwören können, dass ich alle Spuren verwischt hatte. Anscheinend blieb mir dieser Teil Ihrer Nachforschungen jedoch verborgen.
Um ehrlich zu sein, haben wir Sie seit Mexiko für einige Zeit aus den Augen verloren. Selbst in Kroatien mussten wir feststellen, dass wir zu spät kamen. Ihre Fährte konnten wir erst gestern wieder aufnehmen, als sie erwartungsgemäß vor Teichmanns Firma auftauchten. Wie haben Sie eigentlich die Sache mit Ihrer Kreditkarte hinbekommen?“
„Sie verdammter Mistkerl!“, sagte Stefan möglichst laut, um ihn aus seiner Überheblichkeit zu reißen.
Doch Schwarzenbeck blieb völlig ruhig. Er hatte nicht nur die Waffe fest im Griff, sondern auch die Situation. Dessen war er sich genauso bewusst wie Stefan.
Völlig eingeschüchtert saßen er und Goran auf ihren Stühlen, während Schwarzenbeck sie an seiner Überzeugung sowie seiner Weltanschauung teilhaben ließ.
„Nun, da Sie wissen, wozu ich in der Lage bin, werden Sie auch verstehen, dass ich das, was ich tue, einfach tun muss.
Sehen Sie sich doch einmal in unserer Welt um. Die Menschheit ist im Begriff total zu verblöden.
Jeder will inzwischen für sich selbst entscheiden und womöglich noch mitbestimmen. In diesem Punkt hatten Gott und Jesus, wenn man der Bibel glauben könnte, sogar recht. Es sind Kinder! Die ganze Menschheit besteht aus dummen Kindern. Viel zu lange haben wir nur zugesehen und diese Kinder ihre dummen Spiele spielen lassen.
Damit muss nun endlich Schluss sein. Es kann auf dieser herrlichen Welt, die wir uns erschaffen haben, nicht jeder das machen, was er will.
Es muss jemanden geben, der die Richtung angibt, jemanden, der die Menschheit zu einer neuen Ordnung führt.
Seit Jahrhunderten lag das Buch hier unten versteckt und wartete auf mich, auf den Menschen, der als einziger weiß, was für uns gut ist. Und doch birgt es nur die Hälfte dessen, was ich benötige, um die verloren gegangene Ordnung wieder herzustellen.
Libri Cogitati ist in der Lage den Weg in eine vergangene Zeit zu ebnen. Aus ihm habe ich gelernt, woraus wir eigentlich bestehen. Aus purer Gedankenkraft, die ihren Ursprung weder in Materie noch im Raum findet. Alles ist nur relativ und nicht viel mehr als eine Illusion, die wir alle gemeinsam teilen.
Ich kenne die Tür zu dieser Welt, und sobald ich den Schlüssel entwickelt habe, werde ich sie öffnen und auf dem dann vor mir stehenden Instrument spielen.
Ich werde unsere Welt neu komponieren.
Und Goran wird an meiner Seite stehen und eines Tages mein Erbe antreten.“
Stefan sah zu Goran rüber.
Goran tat so, als müsse er sich jeden Moment übergeben, was er deutlich zum Ausdruck brachte.
Schwarzenbeck sah ihn kurz an, während Stefan heimlich in seiner Hosentasche die Notrufkombination auf Ralfs Handy drückte. Offensichtlich hatte er sich dabei jedoch ungeschickt angestellt.
„Würden Sie mir bitte zeigen, was sich in Ihrer Tasche befindet?“
Widerwillig händigte Stefan ihm Ralfs Handy aus.
Er nahm es in die Hand und betrachtete es neugierig. Dann sah er wieder zu Stefan.
„Nun, da meine Mitarbeiter Sie nicht orten konnten, gehe ich davon aus, dass dies ein neues Handy ist. Sie haben noch nicht einmal die Schutzfolie vom Display entfernt.“
Aufmerksam blätterte er durch die Liste der getätigten Anrufe und suchte nach Einträgen im Adressbuch.
„Leer!“, stellte er mit Erstaunen fest.
„Ich gehe davon aus, dass kein Mensch auf der Welt inzwischen ohne sein elektronisches Adressbuch aus dem Haus geht. Also darf ich um Ihr zweites Handy bitten, das Sie sicherlich noch bei sich haben.“
Da er es offensichtlich auf das Adressbuch sowie die Anruferliste abgesehen hatte, wurde Stefan klar, was er damit bezweckte. Er wollte wissen, mit wem Stefan in Kontakt stand.
Vor Stefans geistigem Auge sah er die Seniorenresidenz und den entsprechenden Eintrag, den er im Handy finden würde. Er würde Heinz aufspüren und ihn ein zweites Mal töten. Wahrscheinlich würde er sogar „Domenico – Diarium“ finden und dann könnte ihn nichts mehr aufhalten.
Trotzdem hatte Stefan keine Wahl. Er übergab ihm das Telefon und sofort stellte Schwarzenbeck fest, dass sich darin kein Akku befand.
„Clever“, erwähnte er mit einem bedeutsamen Lächeln, wobei er eine Augenbraue hochzog.
„Darum war eine GPS-Ortung nicht möglich. Da ich davon ausgehe, dass ein so cleverer Mistkerl wie Sie den Akku nicht bei sich hat, frage ich gar nicht erst danach. Darum können sich meine Leute auch noch später kümmern. Anders als Sie haben wir dafür jede Menge Zeit.“
Wieder grinste er Stefan breit ins Gesicht.
„Keine Angst, ich werde Sie nicht erschießen. Anfangs spielte ich zwar noch mit dem Gedanken, aber Sie haben mich gerade auf eine viel bessere Idee gebracht.
Ich werde Ihnen etwas zeigen, um das ich Sie fast beneide. Sie werden etwas kennenlernen, das Sie bisher nur aus Geschichtsbüchern kannten. Unsere weltliche Vergangenheit.
Schade, dass ich nicht da sein kann, um dieses einmalige Ereignis mit Ihnen zu teilen. Aber Sie verstehen sicherlich, dass ich für eine höhere Sache bestimmt bin. Ich muss eine Welt neu kreieren.“
Ralf steckte in einem spannenden Onlinespiel, als plötzlich mitten auf dem Monitor ein Fenster aufsprang.
Die Mitteilung bestand nur aus einzelnen Zahlen, Sonderzeichen und Buchstaben, aber natürlich wusste Ralf diese sofort zu interpretieren. Ohne zu überlegen gab er die Werte in Google Earth ein, um den genauen Standort der Quelle zu ermitteln. Vom Eintreffen der Nachricht an hatte er genau 30 Sekunden Zeit, die Notbremse zu ziehen. Ein kleiner Klick auf einen dafür vorgesehenen Button und die ganze Sache wäre sofort gestoppt worden. Die Spezialeinheiten würden nicht informiert werden.
Wie durch das Auge einer fliegenden Kamera verfolgte Ralf den Weg nach Sizilien und wusste, dass dies kein Fehlalarm war. Ralf ließ die Computermaus los, damit die Ereignisse ihren Lauf nehmen konnten. Sein Computer würde alle erforderlichen Schritte einleiten und die Behörden vor Ort innerhalb der verbleibenden 11 Sekunden informieren. Stefan hatte die * 8 # gedrückt.
Jetzt konnte er für seinen Freund nur noch beten. „Alles Gute Stefan“, flüsterte er „Komm bloß gesund zurück. Du schuldest mir noch einen Spiele-Abend.“
Schwarzenbeck stand langsam auf und holte das Buch aus der Vitrine.
Stefan war sich sicher, dass er es für das, was gleich geschehen würde, nicht bräuchte. Er hatte es längst gelesen und auch damals, als er Stefan und sich selbst in die Vergangenheit schickte, hatte er es nicht benötigt .
Anscheinend war dies nur eine weitere Demonstration seiner Macht. Er wollte seinen großen theatralischen Auftritt einfach genießen. Und Goran sollte ihm dabei zusehen.
„Interessieren Sie sich für das Mittelalter?“, fragte er Stefan, während sich sein Mund zu einer hässlichen Fratze verzog.
Wenn Stefan einen letzten Versuch unternehmen wollte, etwas zu tun, dann musste es jetzt passieren. Er würde, wenn überhaupt, nur eine einzige Chance haben und die musste er versuchen zu nutzen.
Ein letztes Mal sah er Goran an. Er wollte Abschied von ihm nehmen. Seine Beinmuskulatur war gespannt wie die Sehne einer Armbrust. Das Blut schoss ihm in Arme und Beine. Eine letzte Handlung, die er vornehmen würde, um den Wahnsinnigen von seinem Vorhaben abzubringen. Jeden Moment würde Stefan aufspringen und sich auf Schwarzenbeck stürzen.
Sein Timing musste genau passen, und das würde der Moment sein, in dem Schwarzenbeck sich darauf konzentrierte, ihn zurück ins Mittelalter zu schicken. Stefan wusste, dass er sofort schießen und ihm mindestens eine Kugel durch die Brust jagen würde, sobald er sich bewegte. Und doch sah er nur diese eine Chance.
Eine einzige Chance für die Welt, so wie wir sie kennen.
Wenn ihm nur genügend Zeit bliebe, Schwarzenbeck im Fall die Waffe zu entreißen und sie gegen ihn zu richten, dann hätte er gewonnen, einen Sieg für die Menschheit errungen, die davon nie etwas erfahren würde. Dies wäre sein Vermächtnis, das zu geben er in diesem Moment bereit war.
Schwarzenbeck sah ihm entschlossen ins Gesicht und Stefan wusste, dass es so weit war.
Mit geschlossenen Augen sprang Stefan mit einem Hechtsprung vom Stuhl auf und landete mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte inmitten der darauf befindlichen Schreibutensilien.
Doch nichts passierte.
Kein Schuss ertönte.
Verwundert sah er zu Schwarzenbeck auf. Der saß völlig regungslos in seinem Sessel, die Waffe immer noch in der Hand. Seine Augen waren weit geöffnet und von einer unheimlichen Kälte umgeben. Stefan glaubte, in die Augen eines Toten zu sehen.
Goran stand auf, ging zu ihm, legte ihm seine Hand auf die Schulter und sagte ganz ruhig.
„Es ist vorbei.“
Wieder sah Stefan Schwarzenbeck an. Dann wieder zu Goran.
„Was ist passiert. Warum bewegt er sich nicht mehr? Ist er tot?“
„Nein, er lebt. Es war das Feedback. Ich habe ihn in seine eigenen Gedanken geschickt. Jetzt muss er nicht mehr neidisch auf dich sein. Er wollte doch das Mittelalter kennenlernen. Oder habe ich da vorhin etwas falsch verstanden?“
Überglücklich und nicht zuletzt auch unendlich dankbar sah Stefan Goran an, ohne zu wissen, was genau geschehen war. Dann schloss er ihn in die Arme. Goran hatte es tatsächlich geschafft, ihn aus einer ausweglosen Situation zu holen.
Er hatte Schwarzenbecks eigene Gedanken gegen diesen eingesetzt. Das Feedback, so wie er es nannte, machte Schwarzenbeck zum Opfer seiner selbst.
Doch noch waren sie nicht in Sicherheit. Da gab es schließlich noch Teichmann und seine Leute.
„Wollen wir unseren Auftrag zu Ende führen?“
Goran nickte.
„Wir müssen uns beeilen. Jeden Moment kann ein Spezialkommando hier eintreffen. Ich habe das Handy von Ralf benutzt. Und ich weiß nicht, was für Einsatztruppen die Italiener haben. Sicherlich sind die auch nicht schlechter ausgebildet als die GSG9, die es in Deutschland gibt.
Machen wir also, dass wir hier raus kommen. Aber vorher habe ich noch etwas zu erledigen. Ich brauche diese verdammt hässliche Strickjacke. Schwarzenbeck und ich müssten in etwa die gleiche Konfektionsgröße haben. Geh du zur Tür und passe auf, ob sich ihr jemand nähert.“
Die erstarrte, leblose Hülle des gerade noch so selbstsicheren Mannes saß immer noch aufrecht am Tisch mit der Waffe in seiner Hand. Die Augen starrten anscheinend ins Nichts.
Vorsichtig zog Stefan den Oberkörper nach vorn, um Schwarzenbeck die Jacke auszuziehen. Als größte Schwierigkeit empfand er es dabei, den Ärmel der Jacke über die Waffe zu streifen. Nur ungern hätte er sie ihm aus der Hand genommen. Zwangläufig hätte er seine Fingerabdrücke auf ihr hinterlassen. Trotzdem wollte er diese Jacke unbedingt haben.
Mit ihrer Hilfe sollte sich die Flucht etwas leichter gestalten lassen. Sie hatten zwar eine unterschiedliche Frisur und waren sich auch sonst nicht sehr ähnlich, aber aus einiger Entfernung müsste es möglich sein, eventuelle Verfolger zum Narren zu halten.
Goran stand an der Tür und versuchte herauszufinden, ob der Gang davor immer noch leer war. Niemand war zu hören. Schnell zog sich Stefan die Jacke über.
Auf dem Schreibtisch stand ein Teller mit belegten Brötchen. Schwarzenbeck hatte es anscheinend vorgezogen allein zu speisen. Ausgehungert, wie Stefan war, konnte er nicht widerstehen. Er griff zu und nahm einen großen Bissen davon. Als er merkte, dass sich unter der Salamischeibe eine widerliche, süßliche Fettschicht befand, hätte er es am liebsten sofort wieder ausgespuckt. Schon allein für seinen schlechten Geschmack hatte Schwarzenbeck das verdient, was er nun bekam.
Stefan suchte den ganzen Schreibtisch ab, diesmal nicht nach etwas Essbarem, sondern nach dem Schalter, mit dem Schwarzenbeck die Tür verriegelt hatte.
Unter der Schreibtischplatte wurde er rasch fündig. Es waren zwei farbig markierte Tasten, eine rote zum Verriegeln und eine grüne, die das Gegenteil bewirkte: Ihr Ticket in die Freiheit.
Leise öffnete Goran die Tür einen kleinen Spalt. Immer noch war der Gang davor menschenleer. Bevor der Riegel wieder ins Schloss fiel, drückte Stefan die rote Taste. Sobald sie den Raum verlassen und die Tür wieder verschlossen hätten, würde sie niemand mehr ohne Gewaltanwendung von außen öffnen können.
Das Handy, mit dem Stefan einen Notruf abgesetzt hatte, legte er, nachdem er es sorgfältig mit seinem Ärmel abgewischt hatte, auf den Schreibtisch.
Dann griff er sich das Buch und machte sich auf den Weg. Ein letzter Blick zurück zu Schwarzenbeck, der zumindest in unserer Zeitepoche keine Gefahr mehr darstellen sollte. Schwarzenbeck saß immer noch kerzengrade mit der Waffe in der Hand an seinem Schreibtisch. War er wirklich noch körperlich vorhanden oder war auch dies nur eine Illusion, die nur sie wahrnehmen konnten? Doch diesem Gedanken konnte sich Stefan jetzt nicht widmen.
Mit dem Buch, das er unter Schwarzenbecks Jacke versteckte, ergriffen sie die Flucht.
Im Computerraum unter dem großen Fenster herrschte immer noch reges Treiben. Stefan konnte Teichmann erkennen, der neben einem der vielen Arbeitsplätze stand und mit einem Mitarbeiter redete. Dann sah er zu ihnen auf.
Hatte er Stefan erkannt?
Jetzt wurde Stefan dreist. Freundlich hob er seine Hand zum Gruß, sodass sie hoffentlich das Gesicht verdeckte, und winkte Teichmann mit seinem bordeauxroten Ärmel zu.
Goran, der vor ihm lief, verpasste er einen herben Stoß, so als triebe er ihn vor sich her. Goran spielte sofort mit und stolperte scheinbar ungeschickt über seine eigenen Füße. Nun hieß es kühlen Kopf zu bewahren.
Hatte diese kleine Show funktioniert?
Die folgenden Sekunden liefen anscheinend in Zeitlupe ab. Wie würde Teichmann reagieren? Er erhob ebenfalls die Hand zum Gruß, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte.
Das war der erste Teil des Weges. Jetzt galt es noch die Treppe zu überwinden und die Anlegestelle, die sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten, zu erreichen. Wenn es ihnen gelänge, eines der Boote zu starten, dann hätten sie es wahrscheinlich fast geschafft.
Gerade in dem Moment als sie die Tür zum Treppenhaus öffneten, gingen plötzlich laute Alarmsirenen los. Hinter ihnen tauchten Männer auf, die aufgeregt durcheinanderliefen. Eine Lautsprecherstimme ermahnte zur Ruhe. Anscheinend hatte eine der Überwachungskameras mehrere schnell näher kommende Einsatzfahrzeuge des Sonderkommandos entdeckt.
„Wir werden den ganzen Komplex sofort abriegeln. Bitte verhalten Sie sich alle ruhig. Ab sofort ist die Benutzung von Handys verboten. Abriegelung in 60 Sekunden.“
Diese Ansage wurde im Zehn-Sekunden-Rhythmus wiederholt. Wenn sie die Boote noch erreichen wollten, dann mussten sie jetzt die Beine in die Hand nehmen.
„Abriegelung in 50 Sekunden.“
Sie rannten gegen die Zeit, nahmen mehrere Treppenstufen auf einmal.
„Abriegelung in 40 Sekunden!!“
Noch immer hatten sie die unterste Ebene nicht erreicht.
„Abrieglung in 30 Sekunden!!“
Stefan drückte Goran das Buch in die Hand und schrie, er solle laufen, was das Zeug hält. Goran war erheblich jünger und dadurch auch wesentlich schneller als er.
Das Buch musste unter allen Umständen in Sicherheit gebracht werden.
Immer wieder drehte sich Goran zu Stefan um.
„Abriegelung in 20 Sekunden.“
Stefan war circa. 30 Stufen hinter ihm, als er die Halle erreichte.
„Nicht umdrehen! Lauf!“, flehte er ihn an.
So schnell sie es vermochten rannten sie durch die Eingangshöhle.
„Abriegelung in 10 Sekunden!!“
Noch immer konnte Stefan den Ausgang nicht sehen. Goran müsste ihn jedoch inzwischen erreicht haben.
„Abriegelung jetzt. Alle Torbereiche sofort verlassen.“
Endlich sah auch Stefan den Ausgang. Die Dunkelheit wurde durch eine silberne Stahlplatte unterbrochen, die sich schnell von der Decke herabsenkte.
‚Nur noch 10 Meter‘
Der Spalt unter der Stahlplatte wurde immer kleiner. Am Boden sammelten sich plötzlich Wassermassen und ein eisiger Wind wehte Stefan ins Gesicht. Der offene Spalt maß höchstens noch einen halben Meter.
‚Jetzt müsste ich ein Limbotänzer sein‘, dachte er bei sich.
Das war es!
Ruckartig stoppte er seinen Lauf und schlidderte mit den Füßen voran durch den engen Spalt. Bis der weiche, durchnässte Sand des Strandes seine Schlidderpartie abrupt stoppte. Schnell rappelte er sich wieder auf und sah sich um.
Vom Rotorengeräusch eines Hubschraubers übertönt erreichte die Stahlplatte knirschend ihre Endposition. Die Anlage war nun tatsächlich komplett abgeriegelt.
Dann sah er Goran. Er hatte bereits eins der Boote erreicht und winkte ihm aufgeregt zu. Als Stefan dort ankam, reichte Goran seinem älteren Freund die Hand und zog ihn an Bord. Er war wesentlich kräftiger als Stefan angenommen hatte.
„Gibt es einen Schlüssel? Wir müssen diesen verdammten Motor starten“, sagte Stefan mit heiserer Stimme.
„Nein“, kam es kurz und bündig.
„Dann war alles umsonst!“
Stefan schlug wütend mit der Hand gegen die Armaturentafel.
„Du vergisst wohl, wo ich herkomme“, sagte Goran kühl. „Wer so ein Boot nicht ohne Schlüssel starten kann, der ist kein richtiger kroatischer Junge.“
Seine Hand verschwand kurz hinter einer unscheinbaren Abdeckung neben dem Steuerrad und im selben Augenblick heulte der Motor auf.
„Du hattest ja auch Hilfe. In der Dunkelheit hättest du das bestimmt nicht geschafft.“
Stefan zeigte auf den Suchscheinwerfer des Hubschraubers, in dessen Lichtkegel sie sich bewegten.
„Glaubst du, du kannst auch denen entkommen?“
„Beleidige nie einen Küstenbewohner. Halte dich lieber gut fest.“
Nun, fast jeder Mensch hat in Fernseh- und Kinofilmen schon die tollsten Verfolgungen gesehen. Besonders die, in der Gene Hackman mit seinem Auto einen Verbrecher in einer Hochbahn jagte, war vielen noch in guter Erinnerung.
Einem Hubschrauber zu entkommen erschien hingegen wesentlich schwieriger. Klar, sich mit einem Auto auf dem Festland unter Bäumen, Brücken oder in Tunneln zu verstecken, lag sicher im Bereich des Möglichen. Aber mit einem Schnellboot auf offener See einen Hubschrauber abhängen? Daran konnte auch Stefan beim besten Willen nicht glauben.
Goran steuerte auf die offene See zu. Das Wasser peitschte in hohen Wogen gegen das Boot. Erst jetzt bemerkte Stefan, dass er während seiner Schlidderpartie die teure Strickjacke völlig ruiniert hatte. Zum Glück gab es niemanden mehr, dem er sie zurückgeben musste.
Unter den Sitzen fanden sich eine warme Decke sowie zwei Schwimmwesten, von denen er eine anzog und die andere Goran zuwarf. Jede Welle, die den Bug schnitt, warf das Boot hoch in die Luft. Nur mit größter Mühe gelang es Stefan sich festzuhalten. Während der darauf folgenden Landungen glaubte er jeden Wirbel einzeln zu spüren. Wenn die Flucht in dieser Form weiterginge, dann wäre er, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hätten, sicherlich ein paar Zentimeter kleiner als vorher.
Immer noch fragte er sich, wie Goran entkommen wollte.
Die nächste Welle schleuderte das Boot mehrere Meter durch die Luft. Stefan verlor den Halt und wurde im hohen Bogen aus dem Boot geworfen, kurz bevor dieses mit dem Heck senkrecht ins Meer eintauchte. Im selben Moment schloss er seine Augen. Er wollte nicht mit ansehen, wie sein Gefährte, der sich noch an Bord befand, in den eisigen Fluten ertrank.
Plötzlich wurde es totenstill um ihn herum. Kein Motorengeräusch, kein Wind, der um seinen Kopf wehte. Kein Hubschrauberlärm über ihnen. Das Meer lag ruhig unter dem Boot. Die Nacht war sternenklar.
Im Licht des Vollmondes sah er Goran, der ruhig an der Reling saß und ihn anlächelte.
„Was ist passiert? Sind wir tot?“
Goran lachte.
„Die Leute im Hubschrauber, der gerade abgedreht hat, glauben es zumindest.“
Immer noch fragte sich Stefan, was denn passiert wäre.
„Nun, du erinnerst dich doch an die Geschichte von Maria. In deinem Buch schreibst du, sie hätte einem Menschen die Erinnerung an eine bestimmte Situation genommen.“
„Ja, ich erinnere mich, aber was hat das jetzt mit uns zu tun?“
Goran erklärte es sofort.
„Wenn Maria in der Lage war, jemanden die Erinnerung an eine Situation zu nehmen, dann müsste es auch möglich sein, jemandem eine Erinnerung zu geben, die er in Wahrheit nie hatte. Ich war nicht sicher, ob der Trick tatsächlich funktionieren würde. Deshalb habe ich dich vorsichtshalber in diese Illusion miteinbezogen.
Die Hubschrauberbesatzung hat genau dasselbe erlebt, was du gerade durchgemacht hast. Für die sind zwei Flüchtende gerade ertrunken. Also gab es für sie nichts mehr zu tun, weshalb sie abdrehten.
Wenn du übrigens endlich diese scheußliche, kaputte Jacke ausgezogen hast, dann können wir hoffentlich bald losfahren.“
Stefan lachte laut los.
Die Bemerkung über Schwarzenbecks Jacke war die Retourkutsche für Stefans abwertenden Kommentar, als er Gorans Polyesterbekleidung als Fackel gegen die Ratten einsetzte.
Goran warf ihm eine reale Decke sowie Schwimmweste zu, die Stefan dankend annahm. Dann startete er in aller Ruhe den Motor und steuerte das Boot im Flüstergang auf das offene Meer.