Epilog
Seinen Freund Heinz hat Stefan nie vergessen. Auch wenn diese Freundschaft nur vor kurzer Dauer war, konnte er von diesem Mann mehr lernen als in seinem ganzen bisherigen Leben zusammen.
Längst hat er seine Arbeit wieder aufgenommen und geht seinen Geschäften nach.
Die Ermittlungen gegen den Club, wie Schwarzenbeck ihn genannt hatte, verliefen nach Medienberichten erfolglos, weil alle Computerdaten gelöscht waren und auch die beschlagnahmten Akten nichts Sinnvolles hergaben. Es handelte sich um ein paar unverständliche Programmcodes, für die es jedoch nirgends auf der Welt eine brauchbare EDV-Anlage gab, um sie auszuwerten. Anscheinend hatte jemand die vorhandene Hardware durch Überspannung unbrauchbar gemacht, sodass wohl nie ein Mensch erfahren wird, welche Ziele die Leute im Club wirklich verfolgt hatten.
Goran und er hatten mit nur einer Ausnahme alles in Erfahrung gebracht, was möglich war. Nur eine einzige Frage blieb auch für sie unbeantwortet.
Wer war der Verräter im Club, über den Rudi damals sprach.
Wer war in der Lage gewesen, das Projekt immer wieder zu boykottieren, indem er Computerviren einschleuste?
Aber da war auch noch etwas anderes.
Stefan dachte lange Zeit über Heinz und die alten Bücher nach.
Immer wieder stellte er sich die Frage, warum Heinz diese schwere Bürde über all die Jahre auf sich nahm. Warum hatte er Domenicos Tagebücher nicht einfach verbrannt, um sie vor Missbrauch zu schützen?
Stattdessen ernannte er kurz vor seinem Tod Goran und Stefan zu den Hütern der beiden Werke.
Doch warum?
Wie alle anderen Trauergäste, die Bernd Heider geladen hatte, weinte Stefan damals auf Heinz Beerdigung. Doch etwas unterschied ihn von allen anderen. Er sah Goran und sich als die beiden Erben des alten Mannes, von dessen Geheimnis die Welt nicht wusste. Er stand etwas abseits der vielen Trauergäste, die nacheinander auf Bernd Heider zugingen und kondolierten. Die eigentliche Trauerfeier fand in der Residenz statt, in der Heinz so lange Jahre gelebt hatte. Langsam setzten sich die Menschen in Bewegung zum Parkplatz des Friedhofs, wo sie in ihre Autos stiegen und in die Clayallee fuhren. Stefan hatte Bernd Heider schon vorher mitgeteilt, dass er nicht an der Feier teilnehmen wolle, deshalb verabschiedete sich dieser noch einmal persönlich auf dem Parkplatz von ihm. Betroffen kam er auf Stefan zu, der gerade in sein Auto steigen wollte.
Die beiden Männer sahen sich an.
„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte Stefan.
„Ich glaube, es wäre Heinz’ Wunsch gewesen, dass ich mich weiterhin um alte und kranke Menschen kümmere. Deshalb habe ich beschlossen in der Seniorenresidenz zu bleiben. Und Sie? Können Sie Heinz vergessen?“
Stefan lächelte. „Ich? Nein, ich werde diesen besonderen Menschen nie vergessen. Und wer weiß? Vielleicht werde ich eines Tages derjenige sein, der vor Ihnen in einem Bett in der Clayallee liegt. Dann wünsche ich mir einen Menschen wie Sie an meiner Seite.“
Sie verabschiedeten sich mit einem stillen Kopfnicken, bevor Heider sich wieder den anderen Gästen zuwandte und Stefan sein Auto bestieg und nach Hause fuhr.
Er setzte sich in sein Wohnzimmer und sah sich die neuesten Nachrichten im Fernseher an. Unruhen im Irak, Verfolgung von Terroristen weltweit, Demonstrationen gegen Atomwaffen und auch Naturkatastrophen bestimmten wie immer diese 10-Minuten-Nachrichten.
Jetzt endlich verstand er, was der alte Mann über all die Jahre getan hatte. Endlich erkannte er die Bestimmung der Bücher und der ihm zugedachten Aufgabe.
Wir alle tragen Verantwortung für unsere Welt. Auf der Suche nach Erkenntnissen und vermeintlichen Wahrheiten tun wir alles dafür, uns eines Tages selbst zu vernichten. Ob im Namen der Forschung oder der Religion führen wir Krieg gegen Mensch und Natur.
Ja, auch gegen die Natur.
Ozonlöcher, Wirbelstürme, atomare Wolken und vieles mehr sind inzwischen fast immer Produkte unserer eigenen Fehler, unseres Wissensdurstes und Machthungers.
Eines Tages, zu einer Zeit, die wahrscheinlich nicht mehr fern ist, stehen wir mit Gewissheit vor dem endgültigen Aus unseres Seins. Dann werden wir alles zerstören, was wir kennen.
Und dann ist der Tag gekommen, den Heinz in seiner Weisheit voraussah.
Zu dieser Zeit sollen beide Werke wieder zusammenkommen.
Das eine trägt die Macht über die Zeit und das andere die Macht über unsere Gedanken in sich. Wenn wir es also tatsächlich geschafft haben, uns selbst zu zerstören, und das Ende bereits an unsere Tür klopft, dann liegt in diesen beiden Büchern unsere letzte Hoffnung auf eine zweite Chance.
Der kleine Mike stand gerade an der Hand seiner Mutter Myriam mitten in New York. Er war erst neun Jahre alt und sah zum ersten Mal in seinem Leben die große bunte Lichterwelt der Stadt, die niemals schläft. Trotz seines Namens war er kein gebürtiger Amerikaner, sondern stammte aus Deutschland.
Es war bereits der letzte Tag eines vierwöchigen Urlaubs, den Mutter und Sohn in diesem Land verbrachten. Hinter den beiden lag eine Rundreise, auf der sie viele Touristenattraktionen gesehen hatten. Myriam hatte ihrem Sohn gerade ein Eis gekauft und wollte bereits weiterlaufen, als dieser mit großen, leuchtenden Augen die riesige, computergesteuerte Reklametafel auf dem Times Square entdeckte.
Völlig fasziniert blickten seine großen Kinderaugen nach oben. Da stand tatsächlich in großen Buchstaben etwas, was er lesen konnte. Inmitten dieser amerikanischen Metropole erschien ein Text in deutscher Sprache. Ein Text, den in dieser Stadt nur wenige Menschen lesen konnten.
„HALLO! HALLO!
BITTE HELFT MIR DOCH
ICH SUCHE MEINEN AMIGO
ICH MUSS IHM DOCH SAGEN,
DASS DIE BÖSEN WIEDER
EINE WELT
MACHEN“