6. Kapitel
Laut Heinz wüsste Stefan, was nun zu tun sei.
Zumindest bekam er diesen Gedanken mit auf den Weg, als er Heinz wieder in Heiders Obhut übergab. Anscheinend wusste Heinz immer noch viel mehr als Stefan, denn der hatte keine Ahnung, wovon der alte Mann sprach.
Gab es überhaupt irgendetwas, das für ihn zu tun war? Und wenn ja, was war es?
Alles, was Heinz erzählt hatte, war vor mehr als 30 Jahren passiert. Und trotzdem bestand laut seiner Auffassung akuter Handlungsbedarf. Es musste etwas mit seiner Vergangenheit und gleichzeitig mit Stefans Roman zu tun haben.
Alles, was Heinz ihm erzählte, war noch frisch in seiner Erinnerung. Er konnte fast jedes Detail aus Heinz’ Erzählungen aus seinem Kurzzeitgedächtnis abrufen. Als schwieriger empfand er es, sich an das zu erinnern, was er damals als Roman geschrieben hatte, und von dem ihm Heinz erzählte, dass es tatsächlich stattgefunden hätte. Und doch schienen beide Geschichten miteinander verknüpft zu sein.
Insbesondere die letzte Bemerkung über Schwarzenbeck war eindeutig. Diesen Mann gab es tatsächlich. Daran bestand kein Zweifel mehr.
Damals, als Stefan vor seinem Laptop saß und alles niederschrieb, sah er die ganze Story vor sich. Alles hatte Form und Gesicht. Wenn er nicht weiterwusste, schloss er einfach seine Augen, und die Handlung lief in seinem Innersten wie ein Film ab, sodass er sie nur noch aufzuschreiben brauchte.
Selbst die von ihm beschriebenen Personen und Charaktere hatten Gesichter. Egal, ob er Frau Kerner, Schwarzenbeck oder Maria beschrieb. Stefan sah sie im Moment des Schreibens alle vor sich. Ihre Mimik sowie ihre Gestik waren ihm bekannt.
Selbst der Keller unter dem Potsdamer Platz war ihm damals vertraut. Er kannte jeden Winkel und hätte ihn beschreiben können, als sei es seine eigene Wohnung.
Später erfuhr er von einem seiner ersten Leser, dass sich unter dem Potsdamer Platz, so wie er sich heute darstellt, tatsächlich viele Kellerräume aus dem Zweiten Weltkrieg befanden. Ein anderer Leser teilte ihm sogar mit, dass er genau wisse, welches Gebäude gemeint war, in dem sich der Fahrstuhl zum Keller befand.
Seinerzeit sagte Stefan, dass er ihm in diesem Punkt etwas voraushabe. Denn schließlich war er selbst davon überzeugt, dass alle beschriebenen Orte lediglich seiner Fantasie entsprungen waren. Doch die Bilder in seinem Kopf verblassten mittlerweile. Er hatte inzwischen mehr Schwierigkeiten als seine Leser die Personen und Orte zu visualisieren. Einmal erklärte ihm jemand, wie Frau Kerner ausgesehen haben muss.
Man saß zusammen beim Essen, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Dame, welche gerade an seinem Tisch vorbeilief, genau so aussähe, wie Frau Kerner damals von ihm beschrieben wurde.
Später fragte er sich, ob sie es vielleicht sogar war. Er musste an Heinz denken und an das, was er gesagt hatte. Es gab etwas, das zu tun wäre.
Also machte er sich an die Arbeit.
Irgendwo in Heinz’ Erzählungen und dem Buch musste es Hinweise geben. Hinweise, die es zu erkennen galt. Doch woher sollte er die Zeit dafür nehmen?
Das gesamte Repertoire an Ausreden gegenüber seinen Mitarbeitern und Freunden war bereits erschöpft. Er hatte damals jede mögliche Entschuldigung aufgeschrieben und inzwischen veröffentlicht, die es ihm erlaubt hätte, seiner Firma auf unbestimmte Zeit fernzubleiben.
Diesmal konnte er keinen Freund am Bodensee trösten oder sich für den Konzern auf Geschäftsreise begeben. Jeder hätte ihn aufgrund seines Buches sofort als Lügner entlarvt.
Stefan musste sich also wohl oder übel etwas Neues einfallen lassen. Seiner Kreativität war er sich inzwischen nicht mehr so sicher. Schon einmal hatte er an sie geglaubt und eine Geschichte aufgeschrieben, die sich später als wenig fantasiereich herausgestellt hatte.
Stundenlang überlegte er, wer diesmal als glaubhafte Entschuldigung herhalten könnte. Nach einer Weile ging er in sein Schlafzimmer, um wie jeden Tag in die bequeme Hauskleidung zu schlüpfen.
Da er inzwischen über eine beachtliche Sammlung von Büchern verfügte, hatte er sich vor ein paar Monaten ein Bücherregal angeschafft. Es handelte sich dabei um ein einfaches Wandregal, welches er ohne Rückwand am Fußende seines Bettes platziert hatte. Gleichzeitig diente dieses Mobiliar auch als Sichtschutz, wenn er wieder einmal zu faul war, morgens sein Bett herzurichten.
Von der dem Bett abgewandten Seite sortierte Stefan damals alle Bücher ordentlich ein. Dabei ging er recht sorgfältig vor. Die Lexikothek nahm alleine ein komplettes Regalfach über die gesamte Breite des Betts ein. Über ihr befanden sich diverse Romane von namhaften Schriftstellern. Die restlichen Fächer füllten Sach- und Fachbücher sowie diverse Literatur, die sich mit übersinnlichen Fähigkeiten befasste.
Wie gesagt, standen alle diese Bücher ordentlich aufgereiht im Regal. Alle zeigten mit der Schnittkante zum Bett. Alle Buchrücken zeigten mit dem Buchtitel in den Raum.
Er saß also an diesem Tag auf dem Rand des Bettes und suchte immer noch nach einer Ausrede für die bevorstehende Abwesenheit, als sein Blick auf einen Buchrücken fiel. „Vom Buch zum Drehbuch“ war der Titel. Ohne Zweifel ein Sachbuch für Menschen der schreibenden Zunft.
Doch wo kam es her? Er konnte sich nicht daran erinnern, es gekauft zu haben.
Warum war es das einzige Buch, das verkehrt herum im Regal stand, sodass er es aus dieser Perspektive sehen konnte?
Sofort ging ihm das Gespräch mit Klaus durch den Kopf. Der Abend, an dem sie sich scherzhaft die Verfilmung seines Romans ausdachten.
Das war es!
Klaus würde vor Neid erblassen, wenn Stefan ihm erzählen würde, dass sich ein Filmproduzent für seinen Roman interessiere. Die Mitarbeiter in Stefans Firma hätten mit Gewissheit das vollste Verständnis für die Situation und würden wie immer ihr Bestes geben. Klaus würde ihnen jegliche Hilfestellung gewähren, und so hätte Stefan Zeit, sich um die Dinge zu kümmern, die für Heinz so wichtig waren.
Er zog sich rasch fertig um und ging ans Telefon. Klaus war gerade nach Hause gekommen und hatte sich wie immer sofort ein ausgiebiges Abendbrot genehmigt. Stefan war sich sicher zu hören, wie ihm bei der gut gelogenen Geschichte über den Filmproduzenten das Essen aus dem Mund fiel.
Am nächsten Tag würde Stefan seine Mitarbeiter informieren, und dann hätte er alle Zeit dieser Welt für die ihm von Heinz zugewiesene Aufgabe.
Noch am selben Abend machte er sich an die Arbeit.
Erst einmal hieß es, alle Daten und Informationen zusammenzutragen.
So, wie er es allem Anschein nach zumindest laut seinem Buch, ausgerechnet in einem Kloster, von einem ehemaligen Polizisten gelernt hatte, nahm er sich einen Stapel Papier zur Hand.
Mit einem Filzschreiber notierte Stefan jede Einzelheit auf ein separates Blatt. Jahreszahlen, soweit sie bekannt waren, Fakten, die er von Heinz erfahren hatte, Namen und vieles mehr fanden so ihren eigenen Platz. Es waren über 100 Blätter, die in dieser Nacht beschrieben wurden. Alles, was er von Heinz erfahren hatte, wurde in roten Buchstaben zu Papier gebracht. Um eine Abgrenzung zu seiner eigenen Geschichte zu schaffen, wählte er für diese Daten und Fakten die Farbe Blau.
Frau Janke rief am nächsten Morgen gegen 9.00 Uhr an und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden ihres Chefs. Ihr gegenüber gab er dieselbe Erklärung ab, die auch Klaus am Vorabend erhalten hatte. Sie wünschte ihm viel Glück und Erfolg. In dringenden Fragen wollte sie eine SMS auf sein Handy schicken, um die Verhandlungen, den Film betreffend, nicht zu stören.
Stefan saß vor der Arbeit, die ihn um seine Nachtruhe gebracht hatte, und betrachtete sie. Er wusste, dass dies erst der Anfang sein würde. Schließlich musste er seinen eigenen Roman Seite für Seite lesen und einen weiteren Stapel mit Notizen beschreiben.
Doch nun brauchte er erst einmal Schlaf. Unrasiert legte er sich ins Bett, und sofort übermannte ihn die Müdigkeit.
Bereits vier Stunden später weckte ihn sein Telefon recht unsanft. Klaus fragte an, ob er sich ein paar Formulare ausleihen könnte, die ihm gerade ausgegangen seien. Bei dieser Gelegenheit wollte er Stefan zum Mittagessen einladen, um die neuesten Entwicklungen zum anstehenden Film zu erfahren. Stefan lehnte jedoch dankend ab, sagte aber, dass er sich die nötigen Formulare selbstverständlich von Frau Janke geben lassen könne.
Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen, entschied er. Bereits nach 50 Seiten seines Buchs hatte er eine ebenso große Anzahl an Blättern wie bereits in der Nacht zuvor beschrieben.
Nach über 60 Stunden intensiver Arbeit, einem Stapel leerer Verpackungen des Pizzalieferanten seiner Wahl und unzähligen leeren Zigarettenschachteln war er fertig.
Alles, was ihm interessant oder wichtig erschien, war notiert.
Gerade wollte er sich wieder an die Arbeit der Auswertung machen, als es erneut an seiner Wohnungstür klingelte. Durch den Türspion entdeckte er einen Mann mit einem weiteren Pizza-Karton unter den Arm und öffnete die Tür. In dem Moment, als er dem Mann vor der Tür erklären wollte, dass er nichts bestellt hatte, blickte er in die Augen von Giovanni, der neben dem Pizzalieferanten stand.
Stefan erkannte ihn sofort wieder. Es war der Mann, der ihm in der Residenz immer wieder über den Weg lief und von dem er sich beobachtet fühlte.
„Da gibt es jemanden, der sich mit Ihnen unterhalten möchte“, teilte Giovanni freundlich mit, und als altem Krimifan war Stefan klar, dass er diese Einladung nicht ausschlagen sollte.
Er griff sich seine Wohnungsschlüssel sowie sein Handy und wollte gerade die Tür hinter sich zuziehen, als Giovanni ihn erneut ansprach.
„Könnten Sie mir bei dieser Gelegenheit meine Chipkarte wiedergeben? Sie müsste … …“
Er unterbrach kurz, zog ein elektronisches Gerät aus der Tasche und schaute kurz drauf,
„… … sich dort hinten in der braunen Jacke befinden.“
Stefan sah den Mann fragend an. Dann nahm er die Karte aus der Jacke, überreichte sie ihm und folgte den beiden Fremden zu einem Mercedes, der bereits vor dem Haus auf sie wartete.
Hilfsbereit öffnete Giovanni die hintere Tür, während der zweite Mann den Pizza-Karton in eine Mülltonne am Straßenrand warf.
Ein älterer, grauhaariger Mann im grauen Anzug, der ihm das Gefühl gab, unfreiwilliger Darsteller in einer weiteren Episode vom `Paten` zu sein, nickte den beiden Männern neben dem Auto zu, worauf diese sich entfernten. Der Fahrersitz war verwaist, aber auf dem Beifahrersitz drehte sich ein junger Mann, kaum älter als 30 Jahre um, der ihm mitteilte, dass sein Vater nur ein paar kurze Worte an ihn zu richten hätte.
Der Vater selbst sei der deutschen Sprache nicht mächtig, aber Stefan könne das komplette Gespräch über ihn führen.
Nach ein paar Worten, die der Vater seinem Sohn auf Italienisch sagte, teilte der jüngere, der sich als Roberto vorstellte, mit, dass niemand Stefan etwas Böses wolle. Ihre Familie wäre seit langer Zeit mit Heinz Steinberg befreundet, und man wolle lediglich den alten Mann vor Schaden bewahren.
Auch habe man nicht vor, Stefan in irgendeiner Art zu behelligen oder ihm zu drohen.
Nach jedem Satz, den der Vater seinem Sohn sagte, legte er eine Pause ein, damit dieser genügend Zeit hatte zu dolmetschen.
Die Bemerkung, dass sich ihre Familie Heinz gegenüber seit langer Zeit verpflichtet fühle und ihn um jeden Preis der Welt als einen ihrer Verwandten schützen wolle, solle Stefan keine Angst machen, sondern nur die Fürsorge der ‚Familie’ unterstreichen.
Offensichtlich hatte man Heinz und ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit beobachtet und festgestellt, dass Stefan das Vertrauen des Greises genoss.
Ein Vertrauen, das Stefan in keinem Fall enttäuschen durfte.
Ein Gespräch, das eine Stunde zuvor mit Bernd Heider geführt worden war, schien die gemachten Beobachtungen zu bestätigen.
Roberto versicherte Stefan ausdrücklich, dass sein Vater dieses Gespräch als Abschluss seines Interesses an Stefan ansah, dieses Interesse aber jederzeit wieder geweckt werden könne.
Was dieser Schlusssatz zu bedeuten hatte, musste er nicht weiter erklären. Der Vater schaute Stefan bedeutungsvoll an, um sich zu versichern, dass seine Ausführungen ihre Wirkung nicht verfehlten.
„Ich habe verstanden“, murmelte Stefan leise vor sich hin.
Roberto übersetzte auch diesen einen Satz, und das Familienoberhaupt nickte Stefan mit weit geöffneten Augen bedeutungsvoll zu.
Inzwischen standen Giovanni und sein Kumpan wieder neben dem Auto, und das Familienoberhaupt bedeutete ihnen mit einem stummen Kopfnicken, dass Stefan nun wieder nach Hause gehen könne.
Man öffnete die Tür, Stefan stieg aus, und der Mercedes verschwand mit kaum hörbaren Motorengeräuschen aus seinem Sichtfeld.
Wer diese Familie war, musste ihm niemand erklären.
Auch beschloss er, über die Bedeutung des Wortes `Familie` vorsichtshalber nicht näher nachzudenken.
Völlig in sich gekehrt stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, öffnete die Tür, sah die Papiere, die er so mühsam erarbeitet hatte und machte sich wie in Trance an die Auswertung. Nur langsam kamen Ehrgeiz und logisches Denken wieder zurück.
Stefan entfernte ein paar Bilder von der Wand und ersetzte diese durch seine Notizen. Jedes leere Stück Tapete wurde genutzt. Mehr als eine Rolle Klebestreifen benötigte er für diese neue Dekoration seiner Wohnung.
Wo gab es Überschneidungen?
Warum war es erforderlich, jetzt zu handeln?
Das Denken fiel ihm von Stunde zu Stunde schwerer. Rote und blaue Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Sie verfolgten ihn sogar bis in seine Träume. Ständig sortierte er sie um, trat ein paar Schritte zurück und hoffte, aus der Ferne etwas zu erkennen.
Etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war.
Doch nichts tat sich. Die gewünschte Erkenntnis trat nicht ein.
Er glaubte, dem Wahnsinn zu verfallen. Was wollte Heinz ihm sagen?
Heider hatte Heinz nichts von seiner Unterhaltung mit Paolo und seinem Sohn erzählt, weil er mit ansehen musste, wie sich der Gesundheitszustand seines alten Freundes fast täglich wieder verschlechterte. Auch Dr. Mangold wusste keinen Rat. Inzwischen war Heinz schon wieder seit vier Tagen ans Bett gefesselt und schlief fast die ganze Zeit über. Dr. Mangold erklärte, alle messbaren Werte seien genauso wie zu der Zeit, als alle von einem Wunder sprachen. Trotzdem lag Heinz sichtbar geschwächt in seinem Bett.
Heider überlegte, ob er ihn wecken und ihm das Telefon geben sollte. Es war bereits der fünfte Versuch von Stefan mit Heinz zu sprechen, und er hörte sich ziemlich verzweifelt an.
Dr. Mangold hatte nichts dagegen, und so weckte er Heinz auf.
„Du bist in einer Sackgasse angekommen“, flüsterte Heinz sehr leise ins Telefon. Seine Stimme klang heiser, und Stefan konnte plötzlich verstehen, warum Heider so lange gezögert hatte, die beiden miteinander telefonieren zu lassen.
„Ich weiß nicht mehr weiter“, gestand Stefan kleinlaut.
„Lies die allerletzte Seite deines Buches“, forderte Heinz ihn auf.
Doch dies hatte er bereits mehr als einmal getan.
Es war die Stelle, als der Erzähler der Geschichte, also er selbst, damals im Hotel erwachte und die letzte Nachricht von Willi las. Alles deutete damals auf einen Traum hin.
Die ganze Geschichte schien sich in Wahrheit nie abgespielt zu haben. Außer der Tatsache, dass es Willi, den ersten virtuellen Geist, entstanden in einem Computer, immer noch gab.
„Die allerletzte Seite meine ich“, murmelte Heinz kaum hörbar.
Stefan wollte gerade noch etwas fragen, als Heider dem Alten das Telefon aus der Hand nahm.
„Heinz ist zu schwach, um weiterzureden. Bitte versuchen Sie es in ein paar Tagen noch einmal.“
Damit endete das Gespräch.
„Die allerletzte Seite“, waren seine Worte. Wieder einmal schlug Stefan sein Buch auf, und wieder einmal entdeckte er nichts Neues.
„Moment!“, schoss es ihm durch den Kopf. Er meinte nicht das Ende der Geschichte. Er meinte den Epilog. Eiligst schlug er die Seite auf.
„Epilog
Ich weiß bis heute nicht, ob ich bestimmte Dinge jemals wirklich verstehen werde. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie überhaupt verstehen will.
Bei all meinen Vermutungen über meine und unsere Existenz übersah ich anscheinend die ganze Zeit über einen wesentlichen Faktor. Wenn der Geist tatsächlich in der Lage ist, Gedanken, Materie und sogar Raum zu beeinflussen, ja, sie sogar zu kreieren, dann gibt es noch eine weitere Dimension, die er ebenfalls zu steuern in der Lage sein muss.
Es handelt sich dabei um die wohl mächtigste Dimension überhaupt. Die Dimension, die wir alle schon so oft verfluchten, weil wir sie als unseren größten Feind wähnen. Die einzige, die uns wirklich Angst macht.
Ich meine nichts Geringeres als die Zeit.
Doch wo liegt nun wirklich die Quelle allen Seins? Wo steht die Wiege des Lebens? Wo war der Ursprung?
Gibt es vielleicht einen Schwarzenbeck, der von außen alles kontrolliert und steuert, so wie es in Utopia-World möglich war?
Ober gibt es eine immaterielle Gedankenwelle, in der wir alle nur ein kleines Glied in einer großen Kette sind?
Oder liegt das Ganze viel näher als man es selber wahrhaben will, und unser komplettes Tun und Handeln sowie unser komplettes Sein, und sogar unsere erlebte Welt, entstammen nur einer einzigen einsamen Quelle:
– Dem eigenen einsamen ›ICH‹ – ???“
Stefan las alles Wort für Wort. Schlagartig war er wieder hellwach, die Müdigkeit der letzten Tage fiel wie eine zentnerschwere Last von ihm. Da stand es.
… … nichts Geringeres als die Zeit
Wie in einer schnellen Diavorführung blickte er nacheinander gezielt zu den entscheidenden Blättern an der Wand.
Jeder Satz, jedes Wort sprang ihn jetzt förmlich an.
„Schwarzenbeck Projektleiter – Willi nach der Geschichte vorhanden – Libri Cogitati = Buch der Gedanken – zweites Projekt experimentiert mit der Zeit – Schwarzenbeck als Pfarrer“.
Nun hatte er endlich Gewissheit. Heinz hatte recht. Nichts von dem, was er damals geschrieben hatte, war seiner Fantasie entsprungen. Nichts war das Produkt seiner kreativen Denkweise gewesen. Alles hatte sich tatsächlich so ereignet, wie er es damals niedergeschrieben hatte.
Aber, jemand hatte die Zeit verändert. Und dies konnte nur eins bedeuten: Schwarzenbeck hatte es tatsächlich gefunden. Er war in den Besitz von Libri Cogitati gelangt, dem Buch, für das er, angeblich im Auftrag der Kirche, bereit war zu töten. Er oder irgendein anderer aus dem Keller war in der Lage, die alten Schriften nicht nur zu lesen, sondern das Wissen daraus auch anzuwenden.
Doch etwas war schief gegangen. Etwas hatte nicht so funktioniert wie geplant.
Stefan selbst war der Fehler in Schwarzenbecks Plan.
Er hatte Erinnerungen an etwas, das er in seiner Zeitlinie nie hätte erleben dürfen.. Nun war er sich der Gefahr bewusst, die von diesem Menschen ausging.
Das war es, was Heinz ihm mitzuteilen versuchte.
Stefan traute sich nicht auszumalen, wozu Schwarzenbeck im Namen seiner Auftraggeber fähig wäre, wenn ihm jemals das Buch von Heinz in die Hände fiele.
Domenico – Diarium
Wie weit waren sie damals im Keller tatsächlich gekommen?
Für wen hatte sich die Zeit verändert?
Fest stand, dass es noch unzählige Lücken gab. Schwarzenbecks Wissen und seine Fähigkeiten wiesen Fehler auf. Stefan selbst war der beste Beweis dafür. Aber wer hatte noch Erinnerungen an das, was damals passierte? Oder das, was vielleicht nicht passierte?
Gab es noch andere wie ihn?
Wusste Schwarzenbeck selbst von der Zeit im Keller, oder musste er nach der Zeitmanipulation auch wieder von Neuem anfangen und eine neue virtuelle Welt erschaffen, um die Menschen zu manipulieren? Wenn er selbst nichts mehr davon wusste, dann wäre Stefans Buch der größte Fehler gewesen, den er begehen konnte. Heinz ließ es von Heider in jede E-Mail an Stefan schreiben:
„Sie ahnungsloser Narr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben.“
Jetzt verstand er, was diese Worte bedeuteten.
Er hatte ein Buch veröffentlicht und darin alles aufgeschrieben, was sich damals abgespielt hatte. Wahrscheinlich waren Schwarzenbeck und seine Mitstreiter nur deshalb noch nicht darauf gestoßen, weil sie wieder in einem Projekt steckten, das ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
Doch wie lange würde dies so bleiben?
Der Verkauf des Buchs entwickelte sich ziemlich gut, und irgendwann würde seine Existenz auch Schwarzenbeck nicht verborgen bleiben.
Wie würde er wohl reagieren?
Davon ausgehend, dass sowohl sein voller Name sowie die Namen aller anderen real waren, musste sich Stefan darauf einstellen, eines Tages aufgespürt zu werden. Mit Gewissheit würde man sofort versuchen seiner habhaft zu werden.
Schwarzenbeck, so wie Stefan ihn in Erinnerung hatte, war davon besessen, jeden ins Boot zu holen, der ihm helfen konnte, und jeden unschädlich zu machen, der seine Pläne durchkreuzen könnte.
Dieser Mann würde über Leichen gehen. Menschen, wenn nötig, einfach spurlos verschwinden lassen.
Schließlich war Stefan neben Heinz der Einzige, der um die Gefahr wusste, die von diesem Mann ausging.
Für seine damaligen Leser war das Ganze nicht mehr als reine Fiktion. Selbst der Lektor, der die Story damals für den Verlag bearbeitet hatte, war von der Story angetan. Er selbst gab als Grund dafür die Tatsache an, dass er ein Freund der Science-Fiction wäre.
Die Wahrheit kannten also nur wenige Leute.
Heinz hatte nicht mehr die körperliche Kraft, um Stefan bei dem zu helfen, was dieser nun zu tun hatte, und seine Existenz musste um jeden Preis der Welt geheim gehalten werden.
Fest stand, dass Schwarzenbeck das alte Buch nicht länger behalten durfte. Doch wo befand er sich.
Wo war Libri Cogitati?
Es gab verschiedene Szenarien, die man in Betracht ziehen musste.
-
Schwarzenbeck und seine Leute kannten inzwischen Stefans Buch. Dann wäre Stefan nicht mehr sicher. Sie würden ihn suchen und verhindern, dass er sich eines Tages an weitere Details erinnern könnte.
Dass genau das Gegenteil der Fall war und die Geschichte immer mehr in Stefans Kopf verblasste, konnten sie unmöglich wissen.
Dieses Szenario würde bedeuten, dass Stefan sofort alle Brücken abbrechen und sich verstecken müsste. Er hätte kaum eine Chance, weitere Experimente zu verhindern, ohne um sein eigenes Leben fürchten zu müssen.
Es gab jedoch keinerlei Hinweise auf die Richtigkeit dieser Theorie. Niemand bedrohte ihn oder trachtete nach seinem Leben. Ebenso wenig gab es Hinweise auf eine weitere Zeitmanipulation. Denn in diesem Fall wäre das Buch nie entstanden, geschweige denn je veröffentlicht worden.
-
Der Rücksprung.
Stefan erwachte, da die Zeit verändert wurde, ein zweites Mal am Tag nach dem Abendessen mit Dr. Birnbaum. Dies müsste allerdings nicht automatisch bedeuten, dass es auch alle anderen an diesen Tag verschlagen hatte. Für ihn war es einfach der Beginn der Geschichte, die ihn zum Experiment führte.
Wenn der subjektive Beginn der Geschichte dafür ausschlaggebend war, wo die Erinnerungen der anderen einsetzten, dann könnten Schwarzenbeck und seine Leute bereits irgendwo vor diesem Tag gelandet sein.
Gab es das Team schon?
Vielleicht existierte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal das Projekt. Und infolgedessen nicht einmal Willi.
Dann hätte er die wohl größten Chancen die Gefahr abzuwenden.
Doch wie weit wäre Schwarzenbeck diesmal schon gekommen, wenn er immer noch demselben Ziel hinterher jagte?
Mit Gewissheit würde er einen neuen Versuch unternehmen, uns Menschen zu beeinflussen.
Stefan würde es in jeden Fall herausfinden müssen.
-
Schwarzenbeck war selbst in der Vergangenheit gelandet, hat aber alle Erinnerungen daran bewahrt. Dann könnte er fast ohne Unterbrechung ungehindert weiter daran arbeiten, unsere Gedanken und somit unser aller Leben zu manipulieren.
Drei verschiedene Möglichkeiten, von denen jede mehr oder weniger infrage kam. Doch welche davon traf letztendlich zu? Es gab nur eine Tatsache, der Stefan absolut sicher war.
Domenico – Diarium dürfte nie in die Hände von Schwarzenbeck fallen.
Es würde das Ende von allem bedeuten, was wir kennen. Uneingeschränkte Macht, über die dieser Mann verfügen könnte, wäre die Folge. Macht über unsere Gedanken und das Leben, so wie wir es kennen. Er könnte uns das sehen lassen, was er gerade möchte. Uns das fühlen und denken lassen, was einzig und allein seinem Willen entspräche.
Die vordringlichste Aufgabe war es also herauszufinden, was aus den Experimenten in Utopia-World, so wie der Keller in seinem Roman hieß, geworden war, oder werden würde, oder … … …
Bereits am nächsten Tag wollte Stefan mit seinen Nachforschungen beginnen. Doch zuerst brauchte er dringend Schlaf, ein heißes Schaumbad sowie eine ordentliche Rasur.
Also ging er an diesem Tag sehr früh zu Bett, wo er die gewünschte Ruhe jedoch wieder einmal nicht finden sollte. Zu viele Gedanken bewegten ihn.
Er sah die unzähligen, grauenhaften Bilder des Krieges. Bilder aus Konzentrationslagern, die ihm einst im Schulunterricht vorgeführt worden waren.
Damals wurden Menschen bestimmter Herkunft schlechter behandelt als Vieh. Abgeschlachtet in eigens dafür geschaffenen Vernichtungsanlagen. Bilder, in denen die sterblichen Überreste dieser Menschen mit Schaufelbaggern zusammengeschoben wurden, gingen ihm seit damals nicht aus dem Kopf.
Der Keller, den er inzwischen fast vergessen hatte, erwachte in seinen Träumen zu neuem Leben. Er erinnerte sich an jede Ecke, jeden Winkel. Doch es waren keine Wissenschaftler und Computerexperten, die da unten zu Gange waren.
Er sah elf kluge Köpfe, die im Auftrag des Dritten Reiches die mächtigste Waffe der Welt entwickeln sollten. Mit einer Vernichtungskraft, die wesentlich effektiver sein sollte als die aller Bomben, die jemals erfunden wurden, zusammen.
Gefährlicher als jedes Nervengift und jede biologische Waffe.
Während die anderen fieberhaft an der Erfüllung ihrer Aufgabe arbeiteten, saß ein einzelner Mann abseits von ihnen und überlegte, wie er dies alles verhindern könne.
Und er hatte damals sowohl den Willen wie auch die Kraft, es zu verhindern und sich selbst darüber hinaus im Anschluss an seine Flucht die schwierige Bürde auferlegt, das Geheimnis sein Leben lang zu bewahren.
Heinz hatte ihm in den vielen Stunden, die sie damals zusammengesessen hatten, auch erzählt, dass sein Name nicht immer Heinz Steinberg gewesen war. Bis zu dem Tag, als Schwarzenbeck mit seinen Schlägern aufgetaucht war, hatte er seinen Geburtsnamen getragen.
Seine italienischen Freunde waren es, die diesen Namen damals für immer auslöschten. Sie organisierten über deutsche Mittelsmänner sogar seine Beerdigung. Viele Geistliche sollen damals an seinem Grab gestanden und getrauert haben. Menschen aus der evangelischen Gemeinde weinten, als der Sarg damals in die Erde gelassen wurde, genauso wie fremde Menschen, die von dieser Geschichte nur aus der Zeitung erfahren hatten. Der Superintendent selbst hielt die Grabrede. Die Zeitungen sprachen von einem weiteren heimtückischen Mord eines Wahnsinnigen.
Doch wer damals an seiner Stelle beerdigt wurde, hatte selbst Heinz nie erfahren. Der Einfluss seiner italienischen Freunde reichte bis in die höchsten Ebenen unserer Gesellschaft genauso wie in die untersten.
Bis zur Rückkehr in seine Wohnung, ein halbes Jahr nach dem Überfall, wurde diese Tag und Nacht von den Italienern bewacht. Niemand hätte sich ihr unbemerkt nähern können. Nachdem Heinz damals die Tagebücher geholt hatte, wurde alles, was bis dahin zu seinem Leben gehört hatte, vernichtet. Jeder Brief, den er jemals erhalten hatte, und jedes Familienfoto starben damals mit ihm.
In dieser Beziehung hatte Schwarzenbeck wirklich Erfolg. Der evangelische Pfarrer, der Heinz damals war, starb an diesem Nachmittag tatsächlich. Ironie des Schicksals war allerdings, dass Schwarzenbeck zwar einen einfachen Pfarrer, jedoch nicht den Hüter der Tagebücher töten konnte.
Tagebücher, die ihn schon damals zum mächtigsten lebenden Geist gemacht hätten, und von deren Existenz er hoffentlich nie erfahren würde.
Denn dieser Hüter hatte all die Jahre überlebt. Sie konnten ihm damals seine Knochen brechen. Doch niemals seinen unbeugsamen Geist.
Nun war Stefan an der Reihe, etwas gegen Schwarzenbeck zu unternehmen. Er musste weiteren Schaden abwenden, ohne sein Wissen mit anderen Menschen teilen zu können. Zur Polizei konnte er nicht gehen. Niemand hätte ihm eine so absurde Story jemals abgenommen.
Was hätte er ihnen auch erzählen können?
Berichte über einen längst vergessenen ungeklärten Mordfall, der nie einer war? Oder hätte er ihnen von den zwei verschiedenen Büchern erzählen sollen, die kein Mensch der Welt kannte? Man hätte ihn bestenfalls in eine Gummizelle gesperrt und den Schlüssel weggeworfen.
Wie schon so oft im Leben war Stefan also wieder einmal auf sich allein gestellt.
Er musste ermitteln, wie weit Schwarzenbeck inzwischen gekommen war. Und der konnte genauso gut am Anfang wie auch am Abschluss seiner Arbeit stehen.
Das musste Stefan um jeden Preis herausfinden. Also machte er sich ans Werk.
Frank war vor einer halben Stunde vom Einkaufen nach Hause gekommen. Er war Single, und bei seinen einzigen Mitbewohnern handelte es sich um zwei Katzen. In zwei Stunden begann bereits wieder sein Dienst. Frank konnte sich nie so richtig an die Wechselschicht gewöhnen. Während er in der letzten Woche bereits morgens um 6:00 Uhr aufstehen musste, so konnte er theoretisch diese Woche ganze acht Stunden länger schlafen.
Doch was blieb ihm anderes übrig? Er hatte zwar eine abgeschlossene Ausbildung als Handwerker, aber nie eine passende Arbeitsstelle gefunden. So verdingte er sich bereits seit drei Jahren als Kassierer auf einer Tankstelle. Die Bezahlung war halbwegs in Ordnung und reichte irgendwie, um die Ansprüche eines 27-Jährigen zu erfüllen.
Die eingekauften Lebensmittel waren verstaut und der Fernseher eingeschaltet, als das Telefon klingelte.
„Na du Schriftsteller?“, begrüßte er Stefan. „Was verschafft mir die unerwartete Ehre?“
Frank war einer der ersten Leser von Stefans Buch und damals derjenige, der glaubte, eins der beschriebenen Gebäude zu kennen.
„Ich dachte mir, wir sollten uns mal wieder sehen und wollte dich deshalb zum Essen einladen“, teilte Stefan ihm mit.
Bevor Frank antworten konnte, legte Stefan bereits Zeit und Ort fest. „Wie sieht es morgen um 12:00 Uhr an den Potsdamer-Platz-Arkaden bei dir aus? Hast du da Zeit?“
„Gerne, du weißt ja, dass ich für jede warme Malzeit dankbar bin“, bestätigte Frank scherzhaft den Termin.
„O. k., ich freu mich.“
Stefan hoffte, durch Frank zu erfahren, wo sich der Zugang nach Utopia-World, wie der Keller damals genannt wurde, befand. Auch wenn er noch nicht so recht daran glaubte, dass Frank das beschriebene Gebäude wirklich kannte, wäre das wenigstens ein Anfang.
Also trafen sich beide zur vereinbarten Zeit am Eingang der Arkaden. Stefan wartete schon seit 15 Minuten, als Frank schließlich mit einer kurzen Verspätung, ein Lied pfeifend, um eine Hausecke bog. Irgendwie tat er Stefan leid. Die Belastung der stets wechselnden Arbeitszeiten im Schichtdienst zeichnete sich deutlich unter seinen Augen ab. Schließlich musste er, wie viele andere auch, wesentlich mehr Stunden als früher arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
‚Wo wird uns dies eines Tages hinführen?’, dachte Stefan bei sich. „Die Schere zwischen Arm und Reich klafft inzwischen weiter auseinander, als sie es noch vor mehreren Generationen tat. Wann werden wir dort angekommen sein, wo unsere Vorfahren einst waren? Wenige Reiche beherrschen dann viele Arme.“
Erfreulicherweise war das jedoch an diesem Nachmittag nicht das Thema der Unterhaltung.
Sie sprachen über die unterschiedlichsten Dinge, bis sich Frank endlich, kurz vor Eintreffen der Rechnung, nach Stefans Buch und dem Verkauf erkundigte.
Das war seine Chance.
Stefan fragte, ob er sich noch an das erinnere, was er damals nach dem Lesen seines Buchs erzählt hatte. Sofort erkannte Frank, auf was er hinauswollte. Er wüsste genau, wo sich das Haus mit dem Fahrstuhl zum Keller befände, erklärte er damals. Neugierig wartete Stefan ab, ob er näher in das Thema einsteigen würde.
Als jedoch die gewünschte Reaktion ausblieb, ging er in die Offensive. „Ich hätte zu gerne mal das Haus gesehen, das ich damals so gut beschrieben haben soll.“
„Es ist gleich hier in der Nähe, wenn du Lust hast, dann zeige ich es dir“, bekam er nach kurzem Zögern als Antwort.
Dankbar nahm Stefan das Angebot an. Er bezahlte schnell die Rechnung, und dann machten sie sich zu Fuß auf den Weg.
Unterwegs erzählte Frank, dass er einmal für eine Wachschutzfirma gearbeitet hat, die ihn seinerzeit sehr oft am Potsdamer Platz einsetzte. Als er dann das Buch las, kam ihm sofort ein bestimmtes Gebäude in den Sinn.
Stefan hatte es anscheinend besser beschrieben, als es ihm selbst bewusst war.
„Wir sind da“, sagte Frank bereits nach einigen Schritten freudig erregt, als müsse Stefan jetzt stolz auf ihn sein. „Erkennst du es wieder?“
Sie standen vor einem Hochhaus, das anscheinend erst während der Umgestaltung des Platzes, die vor ein paar Jahren abgeschlossen wurde, entstanden war. Stefan schaute kurz auf und zählte die einzelnen Etagen. Es waren 20 an der Zahl.
Er erinnerte sich an sein Buch. Auch er hatte damals 20 Etagen beschrieben. Die Höhe des Gebäudes schien ihn beim Hochblicken geradezu erschlagen zu wollen.
Dann passierte es. Wie ganz kurze Blitzlichter tauchten Bilder in seinem Kopf auf.
Der Blick zur obersten Etage, wo damals nur eine einzige Person arbeitete, beflügelte seine Erinnerung. Birnbaum brachte ihn seinerzeit, nachdem sie sich am Kurfürstendamm getroffen hatten, hierher. Er stand an genau derselben Stelle und sah nach oben. Es war dasselbe Bild, welches er auch diesmal sah.
Stefan ließ seinen Bekannten einfach stehen und rannte zur Einfahrt des Parkhauses. Er musste nicht überlegen, wo dieses war. Er wusste es einfach. Alles war wieder vorhanden. Die kleine Tür neben der Treppe und auch der Fahrstuhl.
Doch wie sollte er herausfinden, ob sein Weg auch nach unten in einen Keller führte? Er hatte keine Ahnung.
Frank traf kurz nach ihm im Parkhaus ein und lachte breit. „Na habe ich es dir nicht gesagt?“, rief er Stefan voller Stolz entgegen. „Ich muss jetzt aber zur Arbeit. Mein Dienst beginnt in 45 Minuten. Und danke noch mal für die Einladung zum Essen.“ Dann zog er, fröhlich pfeifend, dem Tageslicht der Einfahrt entgegen.
Nur Stefan blieb zurück.
Dieses Parkhaus würde er beobachten müssen. Er musste feststellen, wer ankäme und auch wer gehen würde. Also lief er zurück zum Haupteingang des Gebäudes und studierte die Namenstafeln im Foyer. Es waren ausschließlich Firmen dort ansässig.
Offensichtlich handelte es sich um ein reines Bürogebäude. Insgesamt zählte Stefan 26 verschiedene Firmennamen. Hausverwaltungen, Versicherungen, Schreibbüros, mehrere Ärzte, insgesamt vier Rechtsanwälte, viele Firmen, die nur einen hochtrabenden Namen ohne Branchenbezeichnung angaben, sowie das Lektorenbüro eines Buchverlages.
Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Da suchte er damals monatelang nach einem Verlagslektor und ausgerechnet an diesem Tag fand er einen.
Jetzt musste er noch herausfinden, ob sich hinter den vielen Namen tatsächlich Firmen verbargen oder es sich nur um einen trügerischen Schein handelte. Also griff er nach seinem Handy, mit dem man inzwischen sogar fotografieren konnte und legte sofort los. Er lichtete jedes Firmenschild ab. Teilweise passten sogar mehrere auf ein Bild.
Nach 12 Fotos hatte Stefan genügend Material zusammen, um damit nach Hause zu fahren. Dort angekommen machte er sich an die Arbeit. Er lud alle Fotos von seinem Handy in den Computer, um sie dort zu vergrößern. Mittels Internet waren die meisten Telefonnummern schnell ermittelt. Jede einzelne rief er an. Mit Ausnahme von drei Firmen wurde überall das Telefon abgenommen. Ein paar andere, über die das World Wide Web nichts hergab, fanden sich im örtlichen Telefonbuch. In der Hoffnung festzustellen, wer dahintersteckte, rief Stefan auch in diesen Firmen an.
Inzwischen kannte die Höflichkeit, die einem in Deutschlands Firmen, zumindest am Telefon begegnete, kaum noch ein Ende. Früher meldeten sich Menschen mit dem Firmennamen, und wenn sie besonders gut gelaunt waren, folgte noch ein freundliches ‚Guten Tag.?
Wenn man heutzutage in einem Betrieb anrief, so erfuhr man nicht nur, mit welchem Betrieb man verbunden war, sondern ganz nebenbei auch noch, was dieser alles verkaufte, wie die Telefonistin mit vollem Vor- und Zunamen hieß und einiges mehr. Allein der Frage, was man für den anderen tun könne, widmete man inzwischen bis zu 25 Sekunden.
Im Normalfall empfand Stefan diese Freundlichkeit meistens als übertrieben. An diesem Nachmittag war er nur allzu dankbar, wenn die Person am anderen Ende besonders lange sprach. Gab es ihm doch genügend Zeit, um die einzelnen Stimmen miteinander zu vergleichen. Es waren tatsächlich unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Büros.
Um aber auf Nummer sicher zu gehen, entschied sich Stefan den ganzen nächsten Tag über das Haus zu beobachten. Er wollte sehen, wer wann kam und wer wann ging. Neben einem Bereich für Dauermieter gab es im Parkhaus noch einen weiteren, der für Besucher gegen eine Parkgebühr benutzt werden konnte.
Er zog also ein Parkticket und fuhr in den Besucherbereich. In einer etwas schlechter ausgeleuchteten Parknische bezog er sein teures Quartier. Von dieser Stelle aus hatte er sowohl die Einfahrt wie auch den Fahrstuhl im Blick. Doch auch diesmal gab es keinerlei Hinweise auf Aktivitäten unter der Erde.
In den sechs Stunden, die Stefan an diesem Tag dort verbrachte, stellte er insgesamt 13 neue Rekorde in einem Handyspiel auf.
Dann wurde er unruhig.
Alles konnte trotzdem eine geschickte Art der Tarnung sein. Er wollte es genau wissen. Der Fahrstuhl befand sich gerade auf der Parkebene, und die Tür stand weit offen, als würde sie nur auf ihn warten.
Schnell holte er eine Taschenlampe aus dem Kofferraum, verschloss sein Auto und machte sich auf den Weg zur Tür. Niemand anderes war zu dieser Zeit im Parkhaus. Also handelte er. Wie viele Fahrstuhlkabinen, besaß auch diese einen Notausstieg in der Kabinendecke. Auf den hatte er es abgesehen.
Ein kurzer Blick, um sich zu vergewissern, dass er unbeobachtet war, und dann drückte er zunächst die Taste für das Erdgeschoss. Niemand war auf dieser Ebene zu sehen. Niemand würde stören.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, betätigte er die oberste Taste „20“. Die meisten Fahrten in Geschäftshäusern führen vom Erdgeschoss oder vom Parkhaus bis nach oben zur Zieletage und wieder zurück.
Es war also nicht davon auszugehen, dass auf dem Weg nach oben jemand zusteigen würde.
Bei einer Abwärtsfahrt sah es wahrscheinlich anders aus, weil jemand auf dem Weg nach unten zusteigen konnte. Wer sich also weiter oben befand, wollte im Allgemeinen nach unten und würde wahrscheinlich nur einsteigen, wenn der Fahrstuhl bereits in die gewünschte Richtung unterwegs war.
Stefan konzentrierte sich also auf die Aufwärtsfahrt.
Die ihm zur Verfügung stehende Zeit, bis sich die Tür erneut öffnen würde, sollte also ausreichen, um den Notausstieg zu öffnen, herauszuklettern und sich im Fahrstuhlschacht umzusehen. Also kletterte er entschlossen durch die Luke. Vorsichtig verschloss er den Ausstieg und wartete.
Irgendwann würde jemand nach unten fahren.
Nach ca. 20 Minuten war es endlich so weit. Auf dem Kabinendach sitzend musste sich Stefan an einem fettigen Stahlseil festhalten, als der Fahrstuhl endlich Fahrt aufnahm. Die Innenseite jeder einzelnen Tür war mit schwarzen Zahlen gekennzeichnet, die ihm verrieten, in welcher Etage er sich gerade befand.
Er hatte Glück. Die Fahrt führte bis ins Parkhaus zurück.
Die beiden Männer, deren Gespräch Stefan durch das dünne Blech belauschte, stiegen zügig aus. Kurze Zeit später wurde ein Automotor gestartet, dessen Geräusch sich alsbald entfernte.
Als er ganz sicher war, dass sich niemand mehr im Parkhaus befand, begann Stefan mit der Taschenlampe den Schacht auszuleuchten. Der endete allerdings, anders als erwartet, nur weniger als einen Meter unterhalb der Kabine.
Keinerlei Anzeichen auf einen Keller, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Ergo gab es auch keinen Keller. Zumindest nicht den, den er dort unten vermutet hatte.
Irgendwann, nachdem er sich auch davon überzeugt hatte, dass es keinerlei Türen oder geheime Ausgänge aus dem schmalen Schacht gab, entschloss er sich, durch den Ausstieg in die Kabine und von dort aus wieder ins Parkhaus zurückzukehren.
Nach ungefähr dreißig Minuten hatte er den Fahrstuhlschacht auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, wieder verlassen und befand sich auf dem Weg zurück zu seinem Auto.
Er war auf der falschen Spur.
Was alles hatte sich tatsächlich seit damals verändert?
Auf dem Heimweg dachte Stefan noch über viele verschiedene Möglichkeiten nach, die alle den Keller betrafen.
Wäre es möglich festzustellen, ob sich in der Nähe früher eine Litfaßsäule befunden hatte?
Wenn ja, dann hätte er mit Gewissheit Probleme, den genauen Standort nach all den Jahren zu ermitteln. Es hatte sich seit damals, als Heinz dort unten war, zu viel verändert.
Aber es gab jemanden, dem diese Veränderungen immer noch zu wenig waren, und den musste er finden und stoppen.
Schwarzenbeck hatte mit der Zeit gespielt.
Anscheinend wusste er inzwischen, wie man sie manipulierte, und war bereit, dieses Wissen auch zu nutzen.
Doch ist Zeit wirklich immer gleich Zeit?
Ist die Zeit wirklich eine Konstante, auf der wir uns alle nur in eine Richtung bewegen?
Eine Frage, mit der sich seit Albert Einstein und bis heute noch die Quantenphysik beschäftigte. Es ging dabei um Begriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Um Raumzeit und Raumfluss. Alles Begriffe, mit denen sich inzwischen die besten Wissenschaftler der Welt auseinandersetzten.
Einige dieser Wissenschaftler gehen auch davon aus, dass sich die Zeit für jeden Betrachter unterschiedlich darstellt. Was für den einen ein kurzer Augenblick ist, das kann für einen anderen eine Ewigkeit bedeuten.
Dann wäre Zeit im wahrsten Sinne des Wortes für uns alle relativ.
Denken wir alleine nur mal an das berühmte Zeitparadox, das entstehen würde, wenn wir die Möglichkeit hätten, in die Vergangenheit zu reisen. Bereits die kleinste Veränderung in der Vergangenheit hätte zwangsläufig Auswirkungen auf unsere Gegenwart.
Jeder kannte inzwischen das folgende Beispiel, welches ein solches Zeitparadox beschrieb.
Würde ich in die Vergangenheit reisen, meinem Großvater begegnen und ihn im Streit töten, dann würde ich zwangsläufig nie geboren werden und könnte somit auch nicht in die Vergangenheit reisen.
Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es immer wieder unzählige Diskussionen zum Thema Chaostheorie. Danach würde bereits ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings Einfluss auf seine und somit auch auf unsere Umwelt haben.
Man ging sogar so weit, zu vermuten, dass bereits dieser kleine Flügelschlag Auswirkungen auf unser Wetter und unser Klima hätte. Alles wäre miteinander verknüpft. Alles wäre beeinflussbar. Unser Tun und Handeln ist es, was die Welt um uns herum bestimmt.
Der Schmetterling beeinflusst das Wetter, das Wetter unser Gemüt und das wiederum unsere Handlungen.
Ein kurzes ‚Guten Morgen‘ zu unserem Nachbarn, wenn wir ihm morgens begegnen. Er bleibt nur zwei Sekunden stehen, um diesen Gruß zu erwidern und schon nehmen seine Gedanken sowie sein Tagesablauf eine veränderte Richtung.
Das bringt einen wieder einmal zu der Frage, ob wir als Beobachter unserer Welt in ihr existieren können, ohne sie gleichzeitig mitzugestalten.
Die Antwort lautet ‚nein‘. Wir gestalten unser Leben selbst und jeder trägt seinen Teil dazu bei.
Schwarzenbeck ging sogar noch einen Schritt weiter. Er hatte, anscheinend mithilfe des Wissens aus Libri Cogitati, mit der sensibelsten Dimension gespielt, die wir kennen, und die Zeit beeinflusst.
Welche Auswirkungen hatte dies aber?
Stefan brachte es zurück an den Tag, an dem die Geschichte, die er damals schrieb, für ihn überhaupt erst begann. Doch wo waren die anderen gelandet, die er damals durch das Projekt, mit dem man sich im Keller befasste, kennenlernte?
An welchen Punkt ihres eigenen Zeitempfindens hatte es Schwarzenbeck, Birnbaum, Henry, Maria und all die anderen verschlagen?
Nachdem Stefan feststellte, dass es den ihm bekannten Zugang zum Keller nicht gab, wusste er, dass die anderen an einen Punkt gelangt sein mussten, der viel weiter in der Vergangenheit zurücklag als sein eigener. Es gab mit Gewissheit immer noch die Räume unter dem Potsdamer Platz, die jedoch weder freigelegt noch genutzt wurden.
Aber wo sollte er mit seiner Suche beginnen?
Stefan musste auf jeden Fall so schnell wie möglich handeln. Feststellen, ob er nicht bereits zu spät käme.
Bernd Heider war alles andere als erfreut, als Stefan wieder einmal vor ihm stand. Er hatte den Mann am Eingang der Residenz angewiesen, Stefan nicht auf das Grundstück zu lassen, sondern ihn umgehend zu informieren, wenn er einträfe. Bereits als er sich dem schmiedeeisernen Tor näherte, sah Stefan ihm seine Verärgerung an.
Nach einem flüchtigen und diesmal weniger herzlichen „Hallo“ erklärte Heider sofort, dass es Heinz inzwischen wieder sehr schlecht ginge.
Auch wenn er es nicht ausdrücklich sagte, so konnte man doch erkennen, dass er Stefan die Schuld daran gab.
Seit dem Besuch von Paolo und seinem Sohn stand für Heider fest, dass er Heinz schützen müsse.
Deshalb beschloss er, Stefan möglichst nicht mehr zu ihm zu lassen.
Die Gespräche mit Stefan hatten Heinz anscheinend stark mitgenommen, sodass er einen Rückfall erlitten hatte. Ein weiteres Gespräch mit ihm sei aus diesem Grund völlig undenkbar, gab er unmissverständlich zu verstehen.
Allerdings sei nun wohl der Zeitpunkt gekommen, Stefan etwas auszuhändigen, das schon seit langer Zeit für ihn bestimmt war. Heider drehte sich um und ging in die Wohnung. Bereits nach ein paar Minuten kam er mit einem großen braunen Umschlag wieder heraus, der Stefans Namen trug. Er reichte ihn durch das verschlossene Tor heraus.
Heinz, so erklärte Heider, habe ihn bereits vor mehr als einem Jahr selbst beschriftet und sorgfältig verklebt.
„Ich glaube, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, Ihnen dies zu übergeben. Heinz sagte mir, Sie wüssten, was damit zu tun wäre.“ Er überreichte den Umschlag mit ernster Miene und forderte Stefan zum Gehen auf. Dann drehte er sich wortlos um und machte sich wieder auf den Weg zu seinem alten Schützling.
Sofort fuhr Stefan mit dem Umschlag nach Hause. Die gesamte Fahrt über landeten seine Blicke immer wieder auf dem Beifahrersitz, wo das dicke Päckchen von Heinz lag.
Sein väterlicher Gesprächspartner hatte es bereits ein Jahr zuvor für ihn bei Bernd Heider deponiert. Dieser alte Mann wusste also schon damals, wer Stefan war und mit welcher Aufgabe er ihn eines Tages betrauen würde.
Zu Hause würde er es öffnen und feststellen, was Heinz bis zu diesem Zeitpunkt selbst in Erfahrung gebracht hatte. Aber bis dahin musste er noch durch die halbe Stadt fahren.
Stefan versuchte sich abzulenken und schaltete das Autoradio ein. Die Weltklimakonferenz war am Abend zuvor zu Ende gegangen und alle Beteiligten waren sich einig gewesen, dass dringend etwas unternommen werden musste, damit unsere Welt nicht in Naturkatastrophen unterging.
Es klang wie jene Weisheiten, die auch unsere Politiker immer wieder von sich gaben. Parallelen zur weltweiten Wirtschaftskrise und insbesondere zur Arbeitslosigkeit in Deutschland wurden deutlich.
›Es muss etwas unternommen werden‹ waren jedes Mal auch die hochtrabenden Erkenntnisse unserer Politiker, wenn sie sich im Bundestag anschrien. Doch niemand wusste, was zu tun sein würde. Was unternommen werden müsste. Genauso wie in dieser Weltklimakonferenz.
Seit einigen Jahren war bekannt, dass bestimmte Stoffe das gefürchtete FCKW enthielten und somit für das immer größer werdende Ozonloch verantwortlich waren. Einen Stoff dieser Art fand man früher in fast allen Klimaanlagen als Kältemittel.
Es trug die Bezeichnung „R12“ und wurde nach Bekanntwerden seiner schädlichen Wirkung in Deutschland verboten. Keine Klimaanlage durfte mehr damit befüllt werden. Das Kältemittel vorhandener Anlagen musste von Fachleuten aus diesen entfernt und ordnungsgemäß entsorgt werden. Verstöße dagegen wurden ab sofort von den Umweltbehörden in Deutschland geahndet und empfindliche Strafen ausgesprochen.
Doch dieses „R12“ hatte noch eine weitere Eigenschaft. Es zeichnete sich durch seine hervorragende Reinigungswirkung aus, was die amerikanischen Militärs veranlasste, ihre schwere Kriegsmaschinerie aus drei Meter langen Lanzen damit zu besprühen, während es bei uns bereits verboten war.
Unsere Wissenschaftler gingen inzwischen davon aus, dass selbst bei einem sofortigen Stopp sämtlicher Schadstoffausstöße der Meeresspiegel noch ca. 1000 Jahre weiter ansteigen würde, bis sich die Lage eines Tages wieder normalisierte. Es gab noch unzählige weitere Schreckensvisionen, die allein auf unser Fehlverhalten zurückzuführen waren.
Verbrechen an unserer Natur wurden jeden Tag an jedem Ort der Welt begangen. Ausgerechnet auf einer Urlaubsinsel im Indischen Ozean entdeckte Stefan während einer Reise am Wegesrand ein kleines Hinweisschild, auf dem die Besucher aufgefordert wurden, die Natur zu erhalten und zu schützen.
Ein einziger Zigarettenfilter würde diesem Schild zufolge 200 Jahre benötigen, bis er von der Natur abgebaut werden konnte. Doch unsere Natur ist geduldig. Sie lässt sich fast alles gefallen.
Erst wenn sie sich gar nicht mehr zu wehren wüsste, dann würde sie sämtliche unverdaulichen Fremdstoffe zum Beispiel in Gestalt eines Tsunami wieder ausspucken.
Aber selbst Katastrophenmeldungen wie diese blieben im Normalfall nur so lange in unserem Bewusstsein, wie sie für Schlagzeilen in den Medien tauglich waren. Danach ging alles wieder seinen gewohnten Gang, bis die Natur den nächsten Schluckauf hatte und sich an uns rächte.
Wie gesagt, ‚Es muss etwas unternommen werden. Mal abwarten und sehen, wer damit anfängt‘.
Zu Hause angekommen hastete Stefan die zwei Etagen zu seiner Wohnung hinauf. Fest entschlossen, den Umschlag sofort zu öffnen.
Doch es kam wie immer ganz anders.
Irgendetwas in ihm hinderte ihn daran. Erst einmal legte er ihn auf den kleinen Tisch vor seinem Sofa und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Er hatte es nicht besonders eilig, ins Wohnzimmer zurückzukehren.
Anscheinend ängstigte es ihn, noch mehr Hintergründe von dem zu erfahren, was ihm bevorstand. Gleichzeitig wusste Stefan, dass er es Heinz schuldig war. Er trug sein Geheimnis schon viel zu lange mit sich allein herum.
Stefan wusste, dass es an der Zeit war, sich der Aufgabe zu stellen. Und so öffnete er mit zittriger Hand, 20 Minuten und drei Zigaretten später, den Briefumschlag. Das Erste, was er ihm entnahm, war ein persönliches Anschreiben.
Nach einer kurzen persönlichen Anrede kam Heinz auch schon sofort auf das Thema zu sprechen.
„Du weißt jetzt ungefähr, um was es geht. Wir müssen Schwarzenbeck daran hindern die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern.
Ich habe leider nie herausgefunden, für wen er tatsächlich arbeitete. Es können sowohl die Großkonzerne dieser Welt sein, denen er zu noch mehr Kontrolle über uns verhelfen will, wie auch die Kirche, die seit jeher nach Macht strebt.
Vielleicht aber hat er auch beide Organisationen nur benutzt, um seinen eigenen Machthunger zu stillen. Schließlich brauchte er jemanden, der das Ganze finanziert. Für uns kann es jedoch völlig egal sein, wer letztlich dahinter steckt.
Wenn Schwarzenbeck seine Bemühungen weiter betreibt, dann erlangt er zwangsläufig eine Macht, die kein Mensch und keine Organisation der Welt jemals haben dürfen. Bitte tu dein Bestes, um dies zu verhindern.
Ich habe alles, was ich im Laufe der vielen Jahre herausgefunden habe, zusammengestellt, um dich so gut wie möglich zu unterstützen.
Bitte lies die Unterlagen sehr aufmerksam. Sie sind das Einzige, das ich dir mit auf den Weg geben kann.
Wenn du diesen Brief bis hierhin gelesen hast, dann befinde ich mich wahrscheinlich wieder in einem Zustand, der es mir nicht gestattet, dir die Unterlagen persönlich auszuhändigen.
Aber mein langjähriger Freund Bernd wurde von mir informiert, dass der Umschlag für dich bestimmt ist und hat ihn dir inzwischen überreicht. Weiterhin gehe ich davon aus, dass du und ich immer noch die einzigen Personen sind, die von der ganzen Geschichte wissen.
Selbst Bernd, der all die Jahre wie ein Sohn für mich war, hat nie etwas davon erfahren. Er ist ein guter Mensch, aber seine Weltanschauung ist nun mal nicht die unsere. Dazu sind seine Gedanken viel zu gutmütig.
Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wiedersehen werden.
Bringe du bitte zu Ende, wozu ich trotz all meines Wissens und meiner mentalen Fähigkeiten nicht in der Lage war. Ich weigerte mich stets, Methoden einzusetzen, für die es noch nicht an der Zeit ist.
In tiefer Verbundenheit
Heinz“
Während Stefan diese Zeilen las, merkte er, wie nahe ihm Heinz inzwischen stand. Sein Hals schien sich zusammenzuziehen, während seine Augen spürbar feucht wurden.
Er nahm eine weitere Zigarette aus der Schachtel und rauchte sie, um sich abzulenken.
Anschließend machte er sich an die Arbeit, die restlichen Unterlagen zu studieren. Heinz hatte das meiste selbst von Hand niedergeschrieben. Stefan starrte auf die geschwungene Handschrift eines alten Mannes.
Er hatte seine Recherchen auf der Suche nach „Libri Cogitati“ nach dem Überfall wieder aufgenommen. Schwarzenbeck hatte ihn dazu getrieben. Seine Hartnäckigkeit war es, die Heinz dazu veranlasste, von der Residenz aus, alles darüber in Erfahrung zu bringen, was ihm möglich war.
Es müssen unzählige Bücher gewesen sein, die er im Laufe der vielen Jahre gelesen hatte. Viele davon beschafften ihm neben Heider seine italienischen Freunde, die anscheinend über umfangreiche Kontakte in der ganzen Welt verfügten. Und das waren, wie Heinz schrieb, nicht immer Kontakte, deren man sich rühmen dürfte.
Eine der wichtigsten Fragen, mit der er sich befasste, war die, warum Schwarzenbeck, der damals noch einen unverkennbar bayrischen Dialekt sprach, in Berlin nach „Libri Cogitati“ suchte.
Heinz’ Recherchen führten ihn weit in die Vergangenheit zurück.