ZEHNTES KAPITEL
Kit, der sich gähnend von einer ruhelosen Nacht auf einer klumpigen Pferdehaarmatratze verabschiedete, konnte durch die Wandverkleidung gedämpfte Stimmen vernehmen. Cosimo und Sir Henry waren in einer langen Unterhaltung vertieft, die mit den folgenden Worten begonnen hatte: »Würdest du uns entschuldigen, Kit? Sir Henry und ich haben etwas Privates zu besprechen. Lauf bitte nicht fort. Es dauert bestimmt nicht länger als einen Augenblick. Dann rufen wir dich.« Doch sie stritten sich immer noch, dass die Fetzen flogen, und ein Ende war nicht in Sicht. Es langweilte Kit, im Vorraum herumzusitzen, und er hatte die Nase voll davon, die Äste in den Holzdielen zu zählen. Und so beschloss er, sich die Beine zu vertreten.
Er hatte die Absicht, zurück zu sein, bevor jemand sein Verschwinden bemerken würde, und daher schlich er auf Zehenspitzen den Korridor entlang. Hinten entdeckte er eine Treppe, die zu einer Außentür führte. Es war ein wolkenverhangener Tag, der wohl Regen bringen würde; und so nahm sich Kit einen der dicken Wollmäntel von Sir Henry, die an einem Türhaken hingen. Er schlüpfte nach draußen und ließ Clarimond House - ein stattliches, hohes Steingebäude - hinter sich, nur um ein wenig frische Luft in seine Lungen zu bekommen und sich mit einem weiteren Blick auf das alte London zu belohnen.
Nachdem er sich durch das hintere Gartentor hinausgedrückt hatte, ging er an einer Reihe von Stallungen entlang, bis er die Musgrave Road erreichte. Erneut überfiel ihn mit voller Wucht der unfassbare, rätselhafte Anblick eines Ortes, der zugleich vollkommen fremd und auf unheimliche Weise vertraut war. Es war fast, als würde man jemanden, dessen Leben man zuvor aufgrund von Tagebucheinträgen studiert hatte, zum ersten Mal persönlich treffen. Oder vielleicht so, als würde man einem Freund im frühen Kindesalter begegnen, der einem bisher nur als Erwachsener vertraut war. Es ist wie ein zweiter erster Eindruck, fuhr es Kit durch den Kopf. So vieles war wiedererkennbar und unverändert, so vieles ganz anders als gewohnt.
Er spazierte weiter die Straße hinunter und kam an noch unbeschädigten und im ursprünglichen Zustand befindlichen Fachwerkbauten vorbei, die noch nicht unter dem Zahn der Zeit und unter Umbaumaßnahmen gelitten hatten. Aber sie waren auch weniger begehrenswert, da es sich offenkundig um Wohnungen für das gemeine Volk handelte und nicht um kostbare Immobilienschätze, die den Schutzbestimmungen für historische Bauwerke unterstanden. Nirgendwo gab es hier Blumenampeln, Gedenktafeln für verstorbene Geistesgrößen oder an Bordsteinkanten geparkte BMWs - ja noch nicht einmal Bordsteinkanten. Diese Gebäude wiesen vielmehr schmutzige kleine Fenster, schäbigen Verputz, verschimmelte Strohdächer und rußgeschwärzte Kaminaufsätze auf. Lange Reihen solcher Häuser verliehen der Szenerie ein merkwürdiges einfarbiges Erscheinungsbild: Kit hatte das Gefühl, als wäre er in eine Schwarzweißfotografie hineingetreten. Die Straßen waren entweder grob gepflastert, oder sie stellten, was häufiger der Fall war, nur unbefestigte Wege mit Spurrillen dar. Zudem war jeder Verkehrsweg, soweit Kit es sehen konnte, mit Pferde- und Rinderkot verdreckt. Auf ihren Wegen zu und von den Nutztiermärkten der Stadt trieben Bauern ihre Kühe, Schweine, Schafe, Gänse und Hühner durch die Nebenstraßen. Es gab kaum Bäume oder andere Pflanzen; das wenige sichtbare Grün war auf kleine Flecke abseits der Wege begrenzt, wo weder Füße hintraten noch das Vieh graste.
Einen feineren, aber nicht weniger tief greifenden Unterschied bemerkte Kit erst, als er die Straße weiter entlangspazierte - die veränderte Klanglandschaft. Sein erster Gedanke war, dass etwas mit seinem Gehör nicht stimmte. Doch er litt nicht unter einer plötzlichen Schwerhörigkeit. Das gelegentliche Bellen eines Hundes, das Gewieher eines Pferdes, das rostige Ächzen des Eisentores, als er es öffnete, die Stimme eines etwas weiter entfernten Straßenverkäufers, der lautstark seine Waren anpries - all das und vieles mehr konnte Kit ohne Schwierigkeiten hören. Doch die Stadt schien gedämpft zu sein, als ob sich ein Schleier über die Welt gelegt hätte, der alle Geräusche abschirmte.
Kits Spaziergang erwies sich bald als extrem anstrengend für seinen Verstand und seine Sinne. Das kontinuierliche Beachten und Einordnen von unzähligen Verschiedenheiten erschöpfte ihn. Da er eine derartige mentale Überlastung nicht gewohnt war, wurde er es bald leid, durch die Stadt zu streifen, und er machte sich auf den Rückweg zum Herrenhaus von Sir Henry.
Als Kit sich dem Haus näherte, sah er, wie Cosimo und Sir Henry aus dem Haupteingang herauskamen. Sie traten auf die Straße und blickten suchend in beide Richtungen. Cosimo sah Kit zuerst und eilte ihm entgegen.
»Wo bist du gewesen?«
»Nirgendwo«, antwortete Kit. »Ich hab nur einen kleinen Spaziergang gemacht.«
»Hast du mit irgendjemandem gesprochen?«, verlangte Cosimo zu wissen.
»Nein, mit niemandem«, erwiderte Kit ein wenig abwehrend. »Ich glaube nicht, dass mich überhaupt irgendwer bemerkt hat.«
»Nun gut, komm herein.«
»Warum? Was habe ich falsch gemacht?«
»Ich erkläre es dir drinnen. Vorwärts.«
Kit, der sich wie ein unartiger Schuljunge fühlte, folgte den beiden Männern ins Haus zurück. Ein Diener nahm ihm den Mantel ab; anschließend wurde Kit in Sir Henrys Arbeitszimmer geschoben, das voller Bücher war.
»Ich nehme an, dass du keine Ahnung von dem Unheil hast, das du hättest anrichten können?«
»Nein, aber ...«, begann Kit und änderte dann seine Taktik. »Schau, warum bin ich überhaupt hier? Ihr beide haltet euren großen Rat und schließt mich dabei aus. Fein. Meinetwegen. Ich will nur Mina finden und nach Hause gehen.«
»Du bist hier, weil wir dich brauchen. Ich brauche dich.«
»Ja? Ich sehe nicht, warum. Bislang hättest du alles, was du getan hast, auch ohne mich erledigen können.« Kit steckte seine Hände in die Taschen und fügte hinzu: »Niemand erzählt mir was.«
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Cosimo, dessen Stimme milder wurde. »Ja, natürlich hast du recht.«
»Wir hätten Euch nicht im Dunkeln lassen sollen«, merkte Sir Henry an. »Seht her, junger Christopher. Ihr habt eine Gabe - eine seltene und ganz besondere Fähigkeit. Doch wie bei allen solchen Begabungen ist damit eine große Verantwortung verbunden. Es gibt Gefahren ebenso wie Vorteile, und man muss Euch diese Dinge zur Kenntnis bringen, bevor die Gabe Euch zu Eurem Besten dienen kann. Ihr müsst geschult werden.«
»Klingt nicht schlecht für mich«, sagte Kit. »Ich bin ganz dafür.«
»Wir beginnen hier und jetzt«, erklärte sein Urgroßvater und wandte sich nach hinten zu dem Tisch, der voller Bücherstapel und Pergamentrollen war. »Wirf einen Blick hierauf.«
Kit trat an den Tisch, während sein Urgroßvater ein sehr ausführliches Schaubild ausbreitete. Es sah aus wie ein Baum, der auf der Seite lag - wenn auch wie ein sehr stummelartiges Exemplar mit kurzem Stamm und einer unbändigen Fülle von spindeldürren, sich kringelnden Zweigen, die Ranken glichen. Einige der wichtigsten Äste dieses ungewöhnlichen Baumes waren mit akkurater Handschrift bezeichnet worden. In der Nähe des Schaubilds befanden sich ein Federkiel sowie ein Tintenfässchen, und an Sir Henrys Fingern waren etliche Flecken zu sehen.
»Was stellt das dar?«, fragte Kit. »Ist das die berühmte Karte?«
»Oh, nein«, erwiderte Cosimo. »Das ist bloß ein Versuch, die möglichen Routen aufzuzeichnen, die deine Wilhelmina genommen haben könnte. Wie du sehen kannst« - er fuchtelte mit der Hand über das Diagramm -, »waren wir in der Lage, den Bereich unserer Suche erheblich einzuengen.«
Kit betrachtete das chaotische Gewirr von Zweigen und sich kreuzenden Linien. »Wie sah es denn vorher aus?«
»Es hat erhebliche Anstrengungen gekostet, um so weit zu kommen. Ich bezweifle, dass wir die Suche weiter einschränken können. Die Sache ist die, dass wir jeden dieser Pfade werden absuchen müssen, um deine Freundin zu finden.«
»Wirklich alle?«, entfuhr es Kit.
»Jeden einzelnen von ihnen - das heißt, bis wir sie finden.« Cosimo bemerkte den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck seines Urenkels und fügte hinzu: »Kopf hoch, mein Sohn! Man kann nie wissen; vielleicht finden wir sie ja gleich beim ersten Versuch. Allerdings sollte man sich eines stets vor Augen halten: So komplex das Ganze auch sein mag, jeder einzelne Pfad führt nur zu einem ganz bestimmten Ort.«
Kit schaute voller Zweifel auf das beeindruckend komplizierte Schaubild.
»Keine Sorge«, schaltete sich Sir Henry ins Gespräch ein. »Dies ist genau der Grund, den wir brauchen, um die Erforschung etlicher Pfade voranzutreiben, welchen wir eh nachspüren wollten - ganz zu schweigen von den ein oder zwei Theorien, die sich bei dieser Gelegenheit überprüfen lassen.«
»Wie schön, helfen zu können«, entgegnete Kit und starrte auf das Diagramm. Verzweifelt bemühte er sich, daraus schlau zu werden. »Also ... wo fangen wir an?«
»Richtig ...« Cosimos Zeigefinger schwebte über dem Pergament und zuckte plötzlich nach unten. »Hier!« Der Finger fuhr an einem der Hauptäste entlang, die aus der Mitte des Stammes entsprangen. Aus diesem Ast entwickelten sich drei kleinere Zweige, die sich jeweils weiter aufteilten; und dies geschah noch einmal.
»Das hier ist der sogenannte Oxford-Ley«, erklärte Sir Henry.
»Er verläuft direkt entlang der Mitte der High Street«, fügte Cosimo hinzu. »Es handelt sich um einen ziemlich statischen Ley, doch er reagiert, wenn man es richtig handhabt.«
Kit dachte darüber einen Moment lang nach. »Okay, aber warum gehen wir nicht zum Stane Way zurück? Dort sind Mina und ich voneinander getrennt worden, wie du bereits dargelegt hast. Warum starten wir nicht von dort aus?«
»Ich habe den Stane Way untersucht, wie du dich erinnern wirst, und sie nicht dort gefunden.«
»Und da die junge Frau nicht mit Euch an Eurem Bestimmungsort angekommen ist«, erläuterte Sir Henry, »müssen wir annehmen, dass sie irgendwo anders gelandet ist. Wir tun unser Möglichstes, um dieses irgendwo anders ausfindig zu machen.«
»Und Oxford ist der Ort, wo ich die bekannte Karte aufbewahre«, erklärte Cosimo. »Wir müssen sie an uns nehmen und bei unserer Suche mitführen. Und wie es der Zufall will, können wir auch von dort aufbrechen.« Er hielt inne, studierte einen Moment lang das Diagramm und blickte wieder auf. »Bist du jemals in Oxford gewesen?«
»Nicht in der letzten Zeit«, antwortete Kit.
»Ein grandioser Ort«, verkündete Sir Henry. »Er wird Euch ungemein gefallen.«
Kit wandte sich wieder dem Schaubild zu und sagte: »Es geht hier um die Karte, die die Burley-Männer haben wollen, nicht wahr? Was ist so wichtig daran? Ist es so was wie eine Schatzkarte?«
»Gewissermaßen«, erwiderte Cosimo. »Die Meisterkarte wurde von einem Mann namens Arthur Flinders-Petrie angefertigt. Sie existiert in Form von zahlreichen tätowierten Symbolen -«
»Hoppla!«, fiel ihm Kit ins Wort. »Du meinst eintätowiert ...?«
»Ganz genau. Flinders-Petrie ritzte die Karte unauslöschlich in seinen Oberkörper ein, sodass sie niemals verloren gehen oder von ihm getrennt werden konnte. Nach seinem Tod wurde seine Haut zu Pergament verarbeitet, um die Karte zu erhalten.«
»Eine Karte aus menschlicher Haut«, flüsterte Kit. »Das ist was Einzigartiges. Und unbezahlbar, vermute ich.«
»In der Tat, Sir«, pflichtete ihm Lord Castlemain bei. »Wir vermuten, dass die Karte noch sehr viel wertvoller ist, als jeder nur denkbare finanzielle Betrag es zum Ausdruck bringen könnte. Unter den Quästoren gibt es natürlich verschiedene Theorien: Die einen halten dieses für wahr, die anderen glauben jenes.«
»Wartet, nicht so schnell!«, rief Kit. »Diese Quästoren, von denen ihr beide sprecht - was sind das eigentlich für Leute?«
»Ah! Ja, die Quästoren. Ich nehme an, sie lassen sich am besten als einen lockeren Bund von Kollegen beschreiben, die alle der Zetetic Society, der Suchenden Gesellschaft, angehören.«
»Ihr habt eine eigene Gesellschaft?«
»Aus offensichtlichen Gründen ist es eine extrem geheime Organisation«, berichtete Cosimo. »Ein sehr kleiner und informeller Kreis.«
»Wie klein?«, wollte Kit wissen.
»Sieben oder acht ... vielleicht. Eventuell auch neun.«
»Du weißt das nicht?«
»Es passiert immer etwas«, antwortete Cosimo. »So kommt es vor, dass Leute verschwinden.«
»Das passiert anscheinend öfter.«
»Entscheidend ist jedenfalls die Suche, die uns alle eint.«
»Der Suche nach der Meisterkarte?«
»Das ist das Hauptziel unseres glorreichen Unterfangens, junger Freund«, bestätigte Sir Henry; und seine Stimme klang voller Stolz. »Die Karte von Flinders-Petrie zu rekonstruieren, sodass wir seine Entdeckungen nachvollziehen und auswerten können. Zu diesem Zweck haben wir geschworen, uns gegenseitig zu helfen und unser ganzes Wissen sowie unsere Mittel zur Förderung der Suche miteinander zu teilen.«
»Du wirst zu gegebener Zeit in die Gesellschaft eingeführt«, versicherte Cosimo. »Und dann werden wir dich den anderen Mitgliedern vorstellen.«
»In Ordnung«, sagte Kit und kehrte dann zu dem vorher erwähnten Thema zurück. »Nun zu diesen Theorien - was hat der alte Flinders entdeckt?«
»Euer verehrter Urgroßvater und ich glauben, dass er möglicherweise das Geheimnis des Universums entdeckt hat - oder sogar etwas noch Wichtigeres und Bedeutsameres.«
Was, dachte Kit, kann bedeutender sein als das Geheimnis des Universums? Bevor er diese Frage laut äußern konnte, erklärte Cosimo: »Wir wissen es nicht wirklich, bevor wir nicht alle Teile der Karte gefunden haben ...«
»Sie existiert in Teilen?« Kit schüttelte den Kopf. »Das wird ja immer besser.«
»Unglücklicherweise besitzen wir nur ein Fragment«, teilte Sir Henry mit.
»Und genau hier kommst du ins Spiel«, sagte Cosimo. »Das Auffinden der Teile ist ein mühsames Unterfangen - um nicht zu sagen ein gefährliches Unternehmen. Diese Jagd ist etwas für junge Männer. Und ich bin nicht mehr jung. Ich möchte nicht zu detailliert darauf eingehen; aber ich werde alt, und möglicherweise werde ich das Ende dieser Suche nicht mehr erleben. Das geringe Wissen und das wenige Geschick, die ich mir im Verlaufe der langjährigen Jagd habe aneignen können, würde ich gerne einem anderen weitergeben, der in der Lage ist, die Arbeit fortzuführen.«
»Du überspringst ein paar Generationen, Urgroßvater«, hob Kit hervor. »Warum hast du die Zügel nicht deinem Sohn in die Hände gedrückt?«
»Das hätte ich wirklich gerne getan«, flüsterte Cosimo, dessen Augen sich zu Kits Überraschung verschleierten. »Nichts wäre mir lieber gewesen, das kannst du mir glauben. Aber du musst eines verstehen: Als ich meinen ersten Sprung in eine andere Welt durchführte, war das reiner Zufall. Ich brauchte Jahre, um zu begreifen, was mir widerfahren war, und um herauszufinden, wie ich wieder heimkehren konnte. Als ich schließlich in der Lage war zurückzukommen, erfuhr ich, dass mein Sohn bereits ein erfülltes Leben geführt hatte und als alter Mann gestorben war. Seinerzeit bin ich auf deinen Vater zugegangen -«
»Dad? Das kann nicht dein Ernst sein!«
»Doch John hatte weder das Talent noch die Neigung geerbt. Nach unserer ersten Begegnung weigerte er sich, mich wiederzusehen. Ich vermute, dass ich der Grund bin, weshalb deine Familie aus Manchester fortgezogen ist.«
Kit nickte und versuchte alles zu verstehen, was ihm erzählt worden war. »Nun, dann sag mir, wie diese Karte aussieht?«
Bevor sein Urgroßvater darauf antworten konnte, klopfte es an der Tür. Ein livrierter Diener trat ein und sagte, dass die Kutsche für sie bereitstünde.
»Behalte den Gedanken im Kopf«, erklärte Cosimo und rollte das Schaubild auf. »Wir können unterwegs weiterreden.«