ZWÖLFTES KAPITEL

Macao verdorrte unter einer unerbittlichen Augustsonne, und die gleißende See lag glatt und regungslos in der Mittagshitze. Die großen Schiffe in der Austernbucht, die wenigen zarten Wolken am Himmel, die träge kreisenden Seevögel - sie alle spiegelten sich getreulich und detailgenau im Wasser unter ihnen. Und nichts davon entging dem verschleierten Blick von Wu Chen Hu, der auf einem niedrigen Schemel vor dem Eingang seines kleinen Geschäfts saß, welches sich oberhalb des Hafens in der Straße zum Weißen Lotos befand.

Wu Chen Hu - ein kleiner, behänder Mann im ehrwürdigen Greisenalter - besaß eine untersetzte Gestalt, die in ein hellgrünes Seidengewand gehüllt war. Er lehnte sich gegen den karmesinroten Türpfosten, rauchte eine lange Tonpfeife und beobachtete, wie die wohlriechende Rauchfahne langsam zum Himmel emporstieg. Ab und an wandten sich seine Augen der Bucht zu, um einen vertrauten sommerlichen Anblick in sich aufzunehmen - wie etwa ein Segelschiff, das von seinem Begleitboot in den Hafen gerudert wurde. Während der flauen Sommersaison, wenn die Götter schliefen und das Wetter sich nicht rührte, gab es oftmals nicht genug Wind, um mit den großen Handelsschiffen in den Hafen hineinzusegeln. Daher mussten sie von ihren Mannschaften zum Ankerplatz gerudert werden, manchmal über eine Strecke von vielen Meilen hinweg.

Bei dem Schiff handelte es sich natürlich um ein portugiesisches: eine große, vollbauchige Galeone mit drei Masten, die in den Himmel hineinzuragen schienen, und einem Bug, der wie ein gewaltiger Krummsäbel aussah. Sie war voll beladen mit Handelsgütern, sodass drei Ausschiffungsboote benötigt wurden, um die Ladung in die Bucht zu befördern. Die Segel an Masten und Spieren hingen reglos und schlaff herab. Bald würden die Hafenanlagen ihren Schlummer abschütteln und ihren Betrieb - den Transport von Waren aus den Laderäumen zur Küste - wieder aufnehmen. Zumindest für die nächsten paar Tage würde es Arbeit und Geld für die Lakaien in der Schiffswerft geben. Und vielleicht auch Arbeit für Chen Hu.

Seemänner waren die Haupteinnahmequelle für Wus himmlisches Tattoo. Und portugiesische Seeleute leisteten den größten Beitrag zu Chen Hus bescheidenem persönlichem Wohlstand.

Von seinem hohen Aussichtspunkt an der Straße zum Weißen Lotos beobachtete er, wie das Schiff langsam vor Anker ging und die Landungsstege ausgelegt wurden. Es gab ein hektisches Treiben auf dem Deck, während man das Frachtschiff vertäute. Nach einer kurzen Weile kam die Begrüßungsdelegation an: eine Gruppe, die aus dem Hafenmeister und seinen Assistenten, mehreren Zollbeamten, den Köpfen verschiedener zuständiger Handelshäuser sowie dem örtlichen Arbeitsvermittler bestand. Man würde nun den obligatorischen Austausch von Geschenken vornehmen, Reden verlesen, offizielle Dokumente vorlegen und unterzeichnen. Und dann - und nur dann - würden die ersten Reisenden die Erlaubnis bekommen, an Land zu gehen.

Die pflichtbewussten Diener des Kaisers waren hochqualifizierte Bürokraten. Solche Zeremonien pflegten und verfeinerten die Künste der offiziellen Vernebelung und Verdunkelung. Diese wiederum dienten den jeweiligen Posteninhabern - vom höchsten, Zepter schwingenden Magistrat bis zum untersten Tintenkleckser -, ihre Position in der Hackordnung des Reiches zu schützen. Die Qing-Dynastie schwelgte in ihrer Bürokratie.

Wu Chen Hu wusste alles über Bürokratie. Als einer der wenigen privaten Geschäftsleute, dem der direkte Handel mit ausländischen Teufeln erlaubt war, hatte er im Laufe der Jahre mehr als das übliche Ausmaß an offiziellem Interesse für seine Angelegenheiten auf sich gezogen. Von den Steuereintreibern bis zu den Gebäudeinspektoren - ein jeder kannte und respektierte das Haus Wu. Er achtete darauf, dass die richtigen Hände im richtigen Maße geschmiert wurden, um sicherzustellen, dass seine Geschäfte reibungslos und mit einem Minimum an Störungen liefen.

Er rieb sich den Nacken, setzte zum Schutz für die Augen seinen Strohhut auf und beobachtete weiterhin das Schiff. Bald - wenn nicht heute Abend, dann sicherlich morgen oder am darauffolgenden Tag - würden die Seeleute nach und nach den Weg zu seiner Tür finden. Er dachte daran, ein oder zwei Jungen nach unten zu den Hafenanlagen zu schicken, um für seine Dienste zu werben. Doch besser wäre ein Mädchen. Matrosen mochten junge Mädchen und folgten ihnen bedenkenlos.

Aber noch war es zu früh. Am besten war es, abzuwarten und zu schauen, was passieren würde. Wenn das erwartete Geschäft nicht eintrat oder es sich für seinen Geschmack als ein wenig zu stockend erwies, könnte er immer noch jemanden losschicken.

Chen Hu hörte zu rauchen auf und schlug vorsichtig den Pfeifenkopf gegen ein Schemelbein, um die Asche herauszuklopfen. Anschließend erhob er sich und ging in seinen Laden. Er setzte den Hut ab, kniete sich neben der Kochstelle hin und ergriff den kleinen Eisenkessel. Chen Hu füllte ihn mit Wasser aus dem Eimer und setzte den Kessel auf das Kohlenbecken. Mit überkreuzten Beinen ließ sich der alte Mann nieder, schloss die Augen und wartete. Als er das Blubbern des langsam heiß werdenden Wassers hörte, öffnete er einen Beutel, der an seinem Gürtel hing. Daraus nahm er neun grüne Blätter - er zählte sie genau ab - und ließ sie ins dampfende Wasser fallen. Wenige Augenblicke später stieg ihm der Duft in die Nase, woraufhin er den Kessel von den Kohlen wegnahm. Er goss sich gerade etwas von dem frisch aufgebrühten Getränk in eine winzige Porzellantasse, als sich der Raum verdunkelte.

Chen Hu drehte sich um und erblickte eine hochgewachsene Gestalt, die sich als Schattenriss im Eingang abzeichnete.

Allein schon die ungelenke Körperhaltung des Mannes ließ für Chen Hu keinen Zweifel daran, dass der Besucher ein Ausländer war. Er seufzte, goss den Tee in den Kessel zurück und stand auf. Seine Hände schob er in die weiten Ärmel seines Gewandes und ging langsam schlurfend zur Tür - eine Fortbewegungsweise, mit der man Demut zum Ausdruck brachte.

»Das Glück möge Euch hold sein«, sagte er in seinem besten Portugiesisch. »Bitte kommt herein.« Er verbeugte sich tief vor seinem Besucher.

»Möge das Glück Euch alle Tage folgen«, erwiderte der Fremde mit einer unverwechselbaren und zugleich vertrauten Stimme. Er trat zurück, sodass das Sonnenlicht auf ihn fiel, und begann, seine Schuhe loszuschnallen.

»Masta Attu!«, rief der chinesische Kunsthandwerker. »Ihr seid es!«

»Ich bin zurückgekehrt, Chen Hu«, erklärte der dunkelhaarige Gentleman mit einer ehrerbietigen Verbeugung. Dann fragte er auf Englisch, das er problemlos beherrschte: »Erzählt mir, alter Freund, wie es dem Hause Wu ergeht?«

»Alles ist in bester Ordnung, Masta Attu«, antwortete Chen Hu mit einem breiten Grinsen, das die vom Betelkauen verfärbten Zähne enthüllte. Er konnte sich auf Englisch nur wenig schlechter als auf Portugiesisch unterhalten; die Kenntnis beider Sprachen hatte er durch die häufige Gesellschaft mit Seeleuten erworben. »Wie könnte es anders sein - jetzt, da Ihr hier seid?«

»Auch ich kann nur sagen: Es ist gut, Euch zu sehen, Chen Hu«, erwiderte Arthur Flinders-Petrie, der ebenfalls breit und überschwänglich grinste. »Ihr seid ein wahres Abbild der Gesundheit. Eure Tochter, Xian Li - wie geht es ihr? Gut, hoffe ich?«

»Ihr ging es niemals besser, Masta Attu. Es wird ihr große Freude bereiten, zu erfahren, dass Ihr zurückgekehrt seid. Ich werde augenblicklich nach ihr schicken lassen.«

»Es wäre natürlich wunderbar, sie zu sehen«, erklärte der Engländer. »Doch später vielleicht - nachdem wir die geschäftlichen Angelegenheiten getätigt haben.«

»Es soll so sein, wie Ihr es wünscht.« Der chinesische Händler verbeugte sich.

»Dann lasst uns damit beginnen!« Arthur sprach viel zu laut für den kleinen Laden. »Ich brenne darauf, dass dieser neue Entwurf sicher verborgen wird.«

»Bitte hierherkommen.« Chen Hu führte seinen Besucher zu einem niedrigen Sofa neben einem großen Fenster, das von einem Schutzschirm aus Bambus verdeckt wurde. »Bitte nehmt Platz, Sir, und erlaubt mir, Euch eine Tasse chá zu bringen.«

»Ich danke Euch, mein Freund.« Arthur setzte sich auf das mit Seide überzogene Sofa und begann, sein Hemd aufzuschnüren. »Dort draußen ist der reinste Backofen. Vierzehn Tage lang sind wir in unseren eigenen Säften geschmort worden. Kaum ein Lüftchen, das die Segel bewegt hätte. Diese letzten beiden Tage war das Wasser wie tot.«

»Ach, ja«, seufzte Chen Hu und schenkte den hellgelben Aufguss ein. »Es sind die Hundstage. Sehr heiß überall. Sehr schlecht fürs Geschäft. Niemand verkauft, weil niemand kauft. Sehr schlecht.« Mit einer Verbeugung überreichte er die kleine Porzellantasse und wandte sich danach ab, um sich selbst Tee einzugießen.

Arthur hob seine Tasse. »Auf Eure Gesundheit, Chen Hu!« Behutsam kostete er von der heißen Flüssigkeit. »Ah! Wie ich den chá vermisst habe.« Er schmatzte mit den Lippen - das allgemein anerkannte Zeichen für Zufriedenheit. »Ich danke Euch, mein Freund.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte der Händler, während er leicht den Kopf neigte.

Eine Weile lang tranken sie schweigend; es galt als unhöflich, sich gegenseitig beim Genuss des chá zu stören. Als die Förmlichkeiten abgeschlossen und die Tassen beiseitegestellt waren, dankte Arthur seinem Gastgeber und sagte: »Wenn Ihr keine dringenden Angelegenheiten habt, würde ich gerne sogleich beginnen.«

»Euer Diener wartet auf Euren Befehl, Sir.«

Arthur, der ein ziemlich großer Mann mit athletischem Körperbau war, stand auf und befreite sich von seinem Hemd. Als er das weite Kleidungsstück über den Kopf zog, enthüllte er einen muskelbepackten Oberkörper, der mit Hunderten von geschickt eingestochenen Zeichnungen bedeckt war. Einige von ihnen waren nicht größer als eine Walnuss, andere so groß wie eine Faust. Die meisten besaßen jedoch die Größe einer Venusmuschel; und alle waren sorgfältig in einem tiefen Indigoblau eintätowiert worden.

»Das Werk eines wahren Künstlers«, merkte Arthur mit einem Lächeln an. Er fuhr mit der Hand über einen breiten Streifen von Tattoos. »Jedes einzelne ein Miniatur-Meisterwerk.«

»Ich bin geehrt, Sir.«

»Nun denn!« Arthur schlug leicht auf seinen Bauch. »Ich habe etwas Neues, das Eure ganze Geschicklichkeit erfordern wird, Chen Hu. Ich glaube, es ist das Wichtigste von allen.«

»Sie sind alle wichtig für mich, Sir.«

»Natürlich.« Arthur sah an seinem langen, nackten Oberkörper herab. »Ich habe hier genau den richtigen Platz dafür.« Er berührte die Stelle direkt unterhalb seines Brustbeins. »Im Zentrum. Umgeben von all den anderen.«

Chen Hu beugte sich nah heran, um die vorgeschlagene Stelle eingehend zu prüfen. »Wie groß soll die Zeichnung werden, Sir?«

»Oh! Nun ja, ich habe eine Darstellung davon angefertigt.« Er griff in die Tasche seiner Kniehose und brachte ein kleines, zerknittertes Pergamentstück zum Vorschein. Dann setzte er sich hin und glättete den Fetzen auf seinem Knie. »Hier ist sie«, sagte er mit leiser werdender Stimme - ob aus gewohnter Furcht, belauscht zu werden, oder aus Ehrfurcht vor dem Symbol, war nicht auszumachen. »Ich habe es endlich gefunden, mein Freund: Es ist etwas ganz Besonderes; ich halte es für den größten Schatz, den Menschen jemals entdeckt haben.«

Der chinesische Kunsthandwerker starrte gebannt auf die wirbelförmig angeordneten Linien, Halbkreise, Punkte, Dreiecke und merkwürdigen geometrischen Symbole. Er musterte sie sorgfältig und zog dabei fortwährend an seinem langen Schnurrbart. »Ein Schatz, Sir? Hat dieser einen Namen?«

»Der Quell der Seelen«, erklärte Arthur Flinders-Petrie ehrfurchtsvoll.

»Ach, so ...«, sinnierte der Chinese. »Quell der Seelen.«

Für Chen Hu, der die Bedeutung von keiner der seltsamen Zeichnungen verstand, die er im Verlaufe der Jahre für seinen Freund angefertigt hatte, sah die neue Darstellung genauso aus wie all die anderen: streng kontrollierte Anordnungen von abstrakten Chiffren. Sie sind, überlegte er, auf ihre eigene Weise so elegant wie die Pinyin-Schrift, doch bar jeglicher verständlicher Bedeutung.

Andererseits waren alle ausländischen Teufel verrückt. Das wusste jeder. Und auf jeden Fall geziemte es sich nicht für das Haus Wu, die Wünsche seiner Kunden infrage zu stellen.

»Sehr schön, Sir«, versicherte Chen Hu und untersuchte die nackte Hautstelle auf Arthurs Brust. »Darf ich?«

Nach einem Kopfnicken des Kunden nahm der Künstler den Pergamentfetzen und hielt ihn vor die angegebene Stelle, um zu sehen, wie die Darstellung dort Platz finden würde. Wenn er sie ein wenig drehte, würde die Zeichnung perfekt dorthin passen, befand er. Wie stets hatte Arthur hart an seiner Skizze gearbeitet und sie präzise entworfen - anders als die Masse grölender, verdummter Seemänner, die in den nächtlichen Morgenstunden betrunken zu ihm kamen und forderten, dass man ihnen die mit Ankern oder Engeln verflochtenen Namen von Geliebten, Schiffen oder Müttern eintätowierte.

Nachdem der alte chinesische Tätowierer seine Untersuchung beendet hatte, nickte er zufrieden.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Arthur.

Chen Hu neigte den Kopf. »Ich brauche nur einen Augenblick, um meine Instrumente zusammenzustellen.«

»Dann erledigt das. Ich möchte so schnell wie möglich anfangen. Ihr wisst ja nicht, wie sehr ich wegen dieses Tattoos in Sorge war! Ich hatte Angst, mir würde etwas zustoßen, bevor ich Euch erreichen könnte.«

»Jetzt seid Ihr ja hier. Es gibt nichts, was Ihr fürchten müsstet.« Der Händler richtete langsam seinen Oberkörper gerade. »Bitte, entspannt Euch. Wenn alles bereit ist, werde ich mich wieder zu Euch gesellen. Möchtet Ihr noch etwas mehr chá?«

»Ja, ich glaube schon.«

Chen Hu schenkte aus dem dampfenden Kessel eine weitere Tasse chá ein und ging fort. Seinen Kunden, der sich auf dem Sofa zurücklehnte, ließ er allein zurück. Lautlos huschte der alte Tätowierer in ein winziges Hinterzimmer, um sein Handwerkszeug bereitzustellen: eine Phalanx aus langen Bambusstäben, die mit sehr scharfen Stahlspitzen bestückt waren. Er suchte eine Handvoll Stäbe zusammen und steckte ihre Nadeln zwischen den brennenden Kohlen. Chen Hu drehte jeden einzelnen Bambusstab, bevor er ihn aus dem Kohlenbecken zog und zur Seite legte, damit die Spitze abkühlen konnte. Als diese Arbeit erledigt war, bereitete er etwas von seiner kostbaren Tinte zu, die er stets frisch und in kleinen Mengen mischte. Hierfür nutzte er eine geheime Rezeptur, die er im Verlaufe einer mehr als zwanzigjährigen Tätigkeit in diesem Gewerbe entwickelt hatte. Die Farbkreation von Wu Chen Hu war ein lebendiges Blau, das niemals trübe wurde oder, noch schlimmer, sich auswusch, wie das bei den Werken der billigeren Anbieter im Hafenviertel geschah. Die Qualität der Tinte und gleichermaßen die fachlichen Fertigkeiten beim Tätowieren waren der Grund dafür, dass Wus himmlisches Tattoo weit über allen anderen Läden dieser Art rangierte.

Ein Meisterwerk von Wu Chen Hu hatte zudem Bestand. Er hatte keinerlei Zweifel, dass seine Arbeit so lange existieren würde, wie sein Besitzer lebte - und noch darüber hinaus.

Mit langsamen, wohlüberlegten Bewegungen ließ er einige wenige Tropfen von der satt blauen Tinte in ein kleines Steingefäß rieseln. Dann ergriff er die Stäbe mit den stählernen Spitzen und ordnete sie auf einem Tablett aus Teakholz an, auf dem ein Stapel sauberer, akkurat gefalteter Lappen lag. Als alles fertig war, trug er das Tablett in den vorderen Ladenraum und setzte es auf einem niedrigen Tisch neben dem Sofa ab.

Dann schritt er hinüber zur Kochstelle, kniete sich nieder, nahm ein Bündel Räucherstäbchen und zündete sie an. Als der wohlriechende Rauch aufstieg, sprach er Gebete für alle maßgeblichen Götter, damit seine Hände unter ihrer Glück verheißenden Führung stehen würden.

»Sollen wir anfangen?«, fragte er, während er einen Schemel vor das Sofa setzte.

»Unbedingt«, erwiderte Arthur und vollführte eine edelmütig wirkende Handbewegung. »Ich begebe mich in Eure tüchtigen Hände, mein Freund. Verfahrt mit mir, wie Ihr möchtet.«

Der kleine Mann im Seidengewand ließ sich auf seinem Schemel nieder, neigte sich vor und platzierte das Stückchen Pergament auf die nackte Brust seines liegenden Kunden. Er musterte es einen Augenblick und begann anschließend, die Darstellung in blauer Tinte zu zeichnen. Als er überzeugt war, die geplante Zeichnung perfekt wiedergegeben zu haben, stand er auf und holte eine kleine Messingscheibe. Er hielt sie gegen die immer noch feuchte Zeichnung.

»Großartig!«, rief Arthur glücklich aus. »Ihr könnt fortfahren.«

Chen Hu legte die Messingscheibe fort, nahm einen der dünnen Stäbe auf und tauchte die Stahlspitze in das Tintenfässchen hinein. Dann dehnte er mit Daumen und Zeigefinger die bleiche Haut seines Kunden und stach tief und sauber in sie hinein, und zwar mehrfach. Die Schläge erfolgten allerdings so schnell, dass sie zu einem einzigen zu verschmelzen schienen. Der Vorgang wurde rasch und geschickt wiederholt. Ein geschmeidiger Rhythmus bildete sich heraus, der nur von kurzen Pausen unterbrochen wurde, um die überschüssigen Tintentröpfchen abzutupfen oder um das Pergament zurate zu ziehen, bevor das unablässige Stechen fortgesetzt wurde.

Als der erste Arbeitsgang beendet war, wischte Chen Hu vorsichtig die überschüssige Tinte und das durch die Stiche herausgetretene Blut weg. Anschließend suchte er vier weitere Exemplare seiner scharfen Werkzeuge zusammen. Er presste sie aneinander und tauchte sie gemeinsam ins Tintenfass. Als an jeder der Spitzen mehr als genügend Flüssigkeit haften geblieben war, nahm er seine Arbeit wieder auf. Diesmal gebrauchte er ein Holzinstrument, das wie ein kleines Paddel aussah, um die dicht zusammengehaltenen Stahlspitzen in die Haut zu treiben. Bald schon war die heiße Sommerluft erfüllt von den schnellen Klickgeräuschen des Holzpaddels in den Händen des Künstlers.

Unterdessen lag Arthur Flinders-Petrie mit geschlossenen Augen da. Er nahm die Marter hin wie das willige Opfer, das er darstellte.

Die zweite Phase der Arbeit war um vieles schmerzhafter und dauerte länger. Schließlich erhob sich Chen Hu, verbeugte sich und ging fort, um genüsslich eine Tasse chá zu trinken und Arthur die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Viele der Kunden des Hauses Wu benötigten einen Moment, um innere Kraft für den letzten Arbeitsgang zu sammeln - wenn sie zuvor nicht genügend getrunken hatten, sodass sie unempfindlich gegenüber Schmerzen waren. Arthur hingegen brauchte weder Alkohol noch Erholung, wenn er tätowiert wurde. Nach über sechzig Sitzungen war er auf diesem Gebiet ein echter Veteran, der sich bereits vor langer Zeit an diese Art körperlicher Pein gewöhnt hatte. Jedenfalls war der Schmerz ein geringer Preis für den Seelenfrieden, den diese Prozedur ihm letztendlich brachte.

Gleichwohl begrüßte er die Ruhepause von den Nadeln und entspannte sich mit geschlossenen Augen. Fast wäre er eingeschlafen - doch plötzlich spürte er, dass ein Schatten über sein Gesicht strich. Er glaubte, Chen Hu sei zurückgekehrt, öffnete die Augen und hob seinen Kopf. Doch er erblickte nicht das sanfte, runde Antlitz seines chinesischen Tätowierers, sondern die langen, kantigen Gesichtszüge eines dunkelhaarigen Mannes europäischer Abstammung. Überrascht richtete sich Arthur auf. »Oh!«, entfuhr es ihm.

»Entschuldigt!«, sagte der Mann. »Hatte nicht die Absicht, Euch zu erschrecken. Bitte vergebt mir mein Eindringen. Ich dachte, Ihr wäret eingeschlafen.«

»Das wäre ich auch beinahe«, erwiderte Arthur.

Mit einem Blick musterte er die stattliche Figur des Mannes. Der Fremde war groß und langgliedrig. Er hatte dunkle Augen und einen langen, ziemlich schmalen Kopf, jedoch breit angelegte Gesichtszüge: All das zusammen gab ihm irgendwie ein pferdeähnliches Aussehen. Dieser Eindruck wurde durch die buschigen Koteletten und den extravaganten Schnurrbart nur noch verstärkt.

»Verzeiht«, sagte Arthur, der bemerkte, dass nicht nur der Eindringling, sondern auch er selbst Gegenstand einer eingehenden Musterung war, »aber kenne ich Euch, Sir?«

»Ich glaube nicht«, antwortete der Mann. »Aber ich kenne Euch.«

»Wie meinen?«

»Erlaubt mir, mich vorzustellen«, erklärte der dunkle Mann freundlich. »Ich bin Lord Archelaeus Burleigh, Earl of Sutherland. Zu Euren Diensten.« Er verbeugte sich leicht und schlug elegant die Hacken zusammen. »Ich begrüße dieses Treffen, das ein großer Zufall ist. Schon seit mehreren Jahren komme ich geschäftlich nach Macao, doch ich habe erst kürzlich von Euren Heldentaten gehört.«

»Tatsächlich?«, wunderte sich Arthur. »Mir war nicht bewusst, dass irgendwelche meiner unbedeutenden Aktivitäten der Öffentlichkeit bekannt sind. Offen gesagt, Sir, habe ich sogar große Anstrengungen unternommen, um genau das Gegenteil davon zu erzielen.«

»Oh, zweifellos«, erklärte Burleigh. »Ansonsten hätten sich unsere Wege viel früher gekreuzt.«

»Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?«, fragte Arthur höflich, der die ganze Zeit darüber nachdachte, wie er den unerwünschten fremden Eindringling loswerden könnte.

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte der Earl. »Ich bin hier, um Euch bei Euren höchst interessanten Unternehmungen meine Dienste anzubieten.«

Arthur wurde auf einmal bewusst, dass der Mann während ihrer Unterhaltung aufmerksam die in die Haut gestochenen Symbole studiert hatte. Rasch zog Arthur sich das Hemd über die Brust. »Vergebt mir«, sagte er, »doch ich fürchte, dass Euer Angebot - so edelmütig es unzweifelhaft ist - für beide Seiten nur geringen Nutzen bringen würde. Im Moment benötige ich keine Unterstützung. Gleichwohl habt Dank!«

»Lasst uns nicht zu voreilig sein«, entgegnete der Earl. »Speist mit mir zu Abend und erlaubt mir, Euch von der Aufrichtigkeit meiner Absichten zu überzeugen.« Er hielt inne; in seinen stechenden Augen funkelte das Licht. »Ich versichere Euch, es wird der Mühe wert sein.«

In diesem Augenblick betrat Chen Hu den Raum. Als Burleigh sich ihm zuwandte, um ihn zu grüßen, erstarrte der Chinese mitten im Schritt.

Ein stummes Zeichen des Wiedererkennens schien über das Gesicht des Asiaten zu huschen - es war da und verschwand wieder, bevor jemand es sah. »Bitte, würdet Ihr so freundlich sein und draußen warten«, sagte Chen Hu. Er streckte eine Hand aus, um auf den Eingang hinzudeuten. »Wir sind gleich fertig.«

»Aber natürlich; verzeiht mir«, erwiderte der Earl und bewegte sich auf die Tür zu. »Ihr findet mich in der Hafenschenke, Sir«, sagte er, an Arthur gewandt, und verbeugte sich wieder leicht. »Dann bis heute Abend.«

Arthur beobachtete durch das offene Fenster, wie der Fremde die Straße hinunter verschwand. »Ein ungewöhnlicher Kerl«, meinte er. »Habt Ihr ihn jemals zuvor gesehen?«

Chen Hu hob ein wenig die Schultern - die Andeutung eines Achselzuckens. »Vielleicht ein- oder zweimal.«

»Etwas ist an ihm, das mir Unbehagen bereitet.« Arthur sah den Chinesen an, der ausdruckslos zurückstarrte. »Ich frage mich, was er will, hmm?«

»Das werdet Ihr heute Abend herausfinden, nicht wahr?«

Die Zeitwanderer
titlepage.xhtml
Die_Zeitwanderer_split_000.html
Die_Zeitwanderer_split_001.html
Die_Zeitwanderer_split_002.html
Die_Zeitwanderer_split_003.html
Die_Zeitwanderer_split_004.html
Die_Zeitwanderer_split_005.html
Die_Zeitwanderer_split_006.html
Die_Zeitwanderer_split_007.html
Die_Zeitwanderer_split_008.html
Die_Zeitwanderer_split_009.html
Die_Zeitwanderer_split_010.html
Die_Zeitwanderer_split_011.html
Die_Zeitwanderer_split_012.html
Die_Zeitwanderer_split_013.html
Die_Zeitwanderer_split_014.html
Die_Zeitwanderer_split_015.html
Die_Zeitwanderer_split_016.html
Die_Zeitwanderer_split_017.html
Die_Zeitwanderer_split_018.html
Die_Zeitwanderer_split_019.html
Die_Zeitwanderer_split_020.html
Die_Zeitwanderer_split_021.html
Die_Zeitwanderer_split_022.html
Die_Zeitwanderer_split_023.html
Die_Zeitwanderer_split_024.html
Die_Zeitwanderer_split_025.html
Die_Zeitwanderer_split_026.html
Die_Zeitwanderer_split_027.html
Die_Zeitwanderer_split_028.html
Die_Zeitwanderer_split_029.html
Die_Zeitwanderer_split_030.html
Die_Zeitwanderer_split_031.html
Die_Zeitwanderer_split_032.html
Die_Zeitwanderer_split_033.html
Die_Zeitwanderer_split_034.html
Die_Zeitwanderer_split_035.html
Die_Zeitwanderer_split_036.html
Die_Zeitwanderer_split_037.html
Die_Zeitwanderer_split_038.html
Die_Zeitwanderer_split_039.html
Die_Zeitwanderer_split_040.html
Die_Zeitwanderer_split_041.html
Die_Zeitwanderer_split_042.html
Die_Zeitwanderer_split_043.html
Die_Zeitwanderer_split_044.html
Die_Zeitwanderer_split_045.html
Die_Zeitwanderer_split_046.html
Die_Zeitwanderer_split_047.html
Die_Zeitwanderer_split_048.html
Die_Zeitwanderer_split_049.html