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Freitag, der Dreizehnte.
Greenlawn, Indiana. Mitten im heißen Spätsommer. Louis Shears holte tief Luft und atmete dieses reine, grüne, berauschende Aroma ein, bis er fast platzte. Er konnte frisch gemähtes Gras riechen, Azaleen, die in voller Pracht blühten, Hotdogs, die auf Gartengrills brutzelten … und dann noch etwas anderes, das ihn stutzig machte, ihn beunruhigte, das durch seinen Kopf hindurchzog wie eine hässliche dunkle Wolke: Blut. Nur ein flüchtiger, übersinnlicher Hauch davon, aber ein so starker, dass er spürte, wie sich seine Eingeweide umdrehten. Blut. Das Blut der Stadt. Ein Blut, das reichhaltig und pulsierend war, beinahe verführerisch.
Dann war es verschwunden.
Er schüttelte seinen Kopf, wie es die Menschen so tun, und ignorierte es.
Er nahm es vor allem nicht ernst, weil er nicht wusste, was passieren würde. Das gute, alte Greenlawn, Indiana – wie der Rest der Welt, der alt, aber bei Weitem nicht so gut war – verharrte am Rand einer Grube der absolut gähnenden Dunkelheit.
Aber zurück zum Sommer.
Zurück zur sauberen Luft und zu grünem Gras und Autos, die in Auffahrten eingeseift wurden, zurück zu den Kindern auf Skateboards und zu den langen, gebräunten Beinen der jungen Frauen, die in kurzen Shorts zur Schau gestellt wurden. Kleine rosa Häuser für dich und mich, lächelnde Kinder und glückliche Gesichter, saubere, frisch geschrubbte Orte. Der amerikanische Traum. Kurz und bündig.
Louis hatte den Nachmittag frei und das Wochenende lag fett und faul ausgestreckt vor ihm wie eine mollige Katze, die sich sonnt. Er hatte zwei neue Abschlüsse für CSS an Land gezogen, den Stahllieferanten, bei dem er als Handelsvertreter arbeitete. Die ganze Welt schien in Ordnung. Er freute sich auf einen gemütlichen Samstagmorgen mit Gartenarbeit, anschließend ein Nachmittagsschläfchen, vielleicht Brunch mit Michelle bei Navarros am Sonntag.
Und heute Abend? Tja, da feierten sie. Auf dem Rücksitz seines kleinen Dodge lagen zwei schöne, gewürzte Porterhousesteaks, ein paar dicke Ofenkartoffeln und eine Flasche Asti Spumante. Nach dem Essen, malte sich Louis aus, würden sie vielleicht nackt in den Whirlpool hüpfen, ein oder zwei Gläser Wein trinken …
Diese Dinge gingen Louis gut gelaunt durch den Kopf, als er den Dodge in die Tessler Avenue lenkte und dabei ein Pärchen sah, dass Händchen haltend unter den ausgebreiteten Eichenästen auf dem Gehweg spazieren ging. Es war ein warmer, schwüler Tag, wie so oft Ende August in dieser Gegend, und er hatte das Seitenfenster ganz geöffnet und ließ einen Arm hinausbaumeln. Er konnte den strengen grünen Geruch geronnener Vegetation vom Flussufer riechen. Am taubenblauen Himmel sah er einige Möwen vorbeifliegen und einen Milan, der den flauschigen weißen Wolken entgegenflog. Es war einfach ein Tag, an dem man lebt und glücklich ist. So ein Tag, an dem man Leuten zuwinken und sie anlächeln will.
Er sah, wie Angie Preen vorbeilief und einen Kinderwagen vor sich herschob. Ihre saphirfarbenen Augen funkelten im Sonnenlicht; ihr langes kastanienbraunes Haar war hoch zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es schaukelte von Schulter zu Schulter im Takt mit dem erstaunlichen Wackeln ihres Busens. Sie winkte. Louis winkte.
Angie. Alleinerziehende Mutter, aber stolz darauf. Unabhängig, stark, zuverlässig. Kam aus gutem Hause, wie sie in Greenlawn bei Baked-Beans-Abendessen und Kirchentreffen zu sagen pflegten, wo das Leben von absolut jedem unter die Lupe genommen und wie seltene alte Töpferware penibel auf Ungereimtheiten und Mängel geprüft wurde.
Ah Angie. Louis hatte immer gedacht, wenn er nicht mit Michelle angebandelt hätte, dann könnten Angie und er …
Verdammt. Er erinnerte sich an den Umschlag, der auf dem Sitz neben ihm lag. Der Scheck für die Autoversicherung. Michelle hatte ihn ihm vor zwei Tagen gegeben, damit er ihn zur Post brachte, weil es auf seinem Weg lag und er hatte es einfach vergessen. Vergessen, so wie er manchmal Sachen vergaß.
Er entdeckte einen stahlblauen Briefkasten in der Tessler Avenue und hielt an. Er stieg aus, pfiff leise und schmiss den Brief ein.
Dann blickte er die Straße hinunter.
Eine graue Limousine hielt an und zwei Männer mit Baseballschlägern stiegen aus. Da stand ein Jugendlicher, ein Zeitungsjunge. Sein Beutel baumelte an einem neonorangefarbenen Gurt schlaff über seiner Schulter. Die Männer sprachen mit ihm, lachten und der Junge lachte mit. Scheinbar ein völlig gewöhnliches Gespräch, aber Louis war plötzlich beunruhigt. Auf einmal schien der Himmel nicht mehr blau, sondern eisengrau und eine kühle Brise zog auf. Er konnte noch immer das frisch gemähte Gras und die Flussbänke riechen, aber jetzt rochen sie nicht nach Leben und Wachstum, sondern nach widerlichem, sonnenüberflutetem Tod.
Blut.
Er roch es wieder.
Louis stand da und etwas breitete sich in seiner Brust aus.
Die zwei Männer lachten erneut und schlugen mit ihren Schlägern auf das Kind ein. Der Junge ging mit einem gewürgten Stöhnen zu Boden. Sie hatten ihn am Bauch und an der Hüfte getroffen. Für den Bruchteil einer Sekunde standen sie über den Jungen gebeugt, dann schlugen sie erneut zu. Auf einmal hörte man nur noch matschige Geräusche von Holz, das auf Fleisch eindrosch, und die bebenden Schreie des Kindes. Die Schläger trafen immer wieder und Louis hörte deutlich das Zersplittern von Knochen.
Alles passierte in der Zeitspanne von zehn Sekunden.
Und wie jeder, der willkürlicher, extremer Gewalt begegnet, reagierte Louis zuerst fassungslos und auch skeptisch. Das passierte doch nicht wirklich. Diese zwei Kerle – völlig normal aussehende Typen – prügelten nicht gerade den Zeitungsjungen mit Louisville Slugger-Schlägern zum Krüppel. Es war ein Witz, ein Scherz. Bestimmt lief da irgendwo eine Kamera mit. Irgendein Regisseur würde gleich SCHNITT! rufen und die zwei Typen dem Jungen hochhelfen und alle würden darüber lachen.
Aber das passierte nicht, und die Schreie, die aus dem Mund des Kindes kamen, waren gewiss nicht geschauspielert. Die Männer standen da und schauten das Kind an; an den Enden der Schläger glitzerten rote Flecken. Die Männer lachten.
Sie haben dieses Kind gerade halb totgeschlagen und jetzt lachen sie. Lachen.
Gerade diese absurden Umstände waren es, die etwas in Louis aufrüttelten, weil er merkte, dass das hier real war. Dann rannte er, rannte so schnell er konnte auf den Jungen und die beiden Männer zu. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er machen sollte, sobald er vor den zwei Psychos mit ihren Baseballschlägern stand, aber irgendetwas in ihm veranlasste ihn dazu einzugreifen.
Als er nahe genug heran war und das Kind und die rote Lache sah, die sich ringsherum ausbreitete, waren die zwei Männer bereits in ihr Auto gesprungen. Der Wagen fuhr mit normaler Geschwindigkeit an Louis vorbei – eine graue Limousine mit einer verdrahteten Frontstoßstange, einer eingeschlagenen Heckscheibe und auf dem Kofferraum einem UNION YES!-Aufkleber – und die zwei Männer lächelten ihn an und winkten und fuhren weiter, als wären sie nur auf dem Weg zum Supermarkt, um sich ein Sixpack zu schnappen und als hätten sie nicht gerade einen Zeitungsjungen mit Baseballschlägern brutal zusammengeschlagen.
Louis dachte daran, das Auto zu verfolgen, aber stattdessen merkte er sich das Nummernschild und lief zu dem Jungen.
»Um Himmels willen«, sagte er, als er ihn genau anschaute.
Das Kind lag zusammengekrümmt wie eine sterbende Schlange da. Der Oberschenkelknochen seines rechten Beines ragte aus der Hose heraus. Sein linkes Knie war zertrümmert, das Bein in einem absurden Winkel verdreht. Der rechte Arm sah wie eine klumpige lila Quetschung aus und das Gesicht schwoll so stark an, dass es fast unmöglich war, die Gesichtszüge des Jungen zu erkennen. Der Kopf ähnelte einem grellen, knubbeligen Halloweenkürbis, der mit büschelweise blonden Haarspitzen bedeckt war.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, hörte Louis sich selbst sagen.
Überall war Blut … Es durchtränkte die Klamotten des Jungen, breitete sich auf dem Gehsteig aus und lief aus dessen Mund, Augen und Ohren. Louis sah einen Haufen weißer kleiner Gebilde auf dem Gehsteig liegen und realisierte, dass es die Zähne des Kindes waren.
»Nicht bewegen«, sagte Louis, hin- und hergerissen zwischen Weinen und dem Drang zu kotzen. »Ich hole … ich hole einen Krankenwagen.«
Aber als er sich umdrehen wollte, um sein Mobiltelefon aus dem Dodge zu holen, packte der Junge seinen Knöchel – mit einer blutigen Hand, dessen kleiner Finger gebrochen und fast aus der Gelenkpfanne gerissen war. Er hob den Kopf und erbrach einen Schwall Blut und Galle, sein ganzer Körper zuckte. Es verursachte ein saugendes, klebriges Geräusch, als er sich in seiner eigenen Blutlache krümmte.
Louis schaute zu ihm hinunter, angewidert und ängstlich und vieles mehr, was ihm nicht einmal bewusst war. Die Schädeldecke des Kindes war zerschmettert, Knochensplitter ragten wie Glasscherben heraus. Man konnte das Gehirn da drinnen sehen und viel Blut. Eine klare Flüssigkeit tröpfelte an seinem Gesicht hinunter.
Intrakranielle Flüssigkeit. Oh Gott, das ist intrakranielle Flüssigkeit.
»Bitte … beweg dich nicht«, sagte er.
Aber der Junge bewegte sich.
Er klammerte sich fest an Louis’ Knöchel, sehr fest, während er sich verkrampfte und hin und her zuckte. Louis bückte sich, musste den Jungen anfassen und die warme, fleischige Feuchtigkeit löste wie eine Woge einen Brechreiz in ihm aus.
»Alles wird gut.« Louis schluchzte jetzt, als er wie wild umherschaute und sich fragte, warum das sonst niemand sah.
Und genau das verwandelte den Wahnsinn in echtes Grauen.
Der Junge ließ den Knöchel los und zog sich an Louis hoch.
Er war so schwer verletzt, dass er eigentlich zu kaum mehr als einem Stöhnen in der Lage hätte sein müssen, aber auf einmal war er voller Leben, ein wahnsinniges und teuflisches Leben. Seine verkrümmten Hände hoben sich und packten Louis’ Kehle mit einem wilden, kräftigen Griff. Der Junge würgte und spuckte Blut, aber er machte weiter, während Knochen und Gelenke in seinem Körper einrasteten und knackten. Seine Augen starrten schwarz und durchdringend, sein Mund war zu einem zerfetzten Grinsen verzogen; zahnlos und mit heraushängenden Fäden aus Blut.
Louis schrie.
Nichts davon konnte eigentlich geschehen und ganz bestimmt nicht so was. Tödlich verletzte Kinder reagierten nicht so wie der Junge hier … voller Wut und Bösartigkeit. Aber genau das passierte gerade. Das Kind hielt ihn am Hals und das war definitiv keine schwache, halbherzige, durch Schädel-Hirn-Trauma verursachte Geste. Das war etwas anderes. Die Hände waren stark, hart und quetschten Louis’ Luftröhre mit einer Kraft, die beängstigend war.
Louis packte diese feuchten Hände und versuchte sie wegzureißen … zuerst behutsam, weil er den Jungen nicht weiter verletzen wollte … dann mit einer manischen Verzweiflung, die aus völliger Panik entstand.
Denn das Gesicht des Kindes … damit stimmte einfach etwas nicht.
Das Kind war geistesgestört, besessen, irgendetwas. Diese schwarzen Augen waren leer und erbarmungslos, das geschwollene Gesicht voller Anspannung, der Mund zu einem blutigen Atemloch verzerrt, gezackte Zahnstummel ragten aus dem Zahnfleisch heraus.
Louis begann schwarze Punkte vor seinen Augen zu sehen, als der Druck anstieg und ihm die Luft ausging. Was er als Nächstes tat, tat er ohne nachzudenken, aus purem Instinkt heraus. Er schlug blind um sich und traf den Jungen mit zwei oder drei harten Schlägen ins Gesicht, die dessen Kopf nach hinten schleuderten. Es fühlte sich an, als schlage man in eine Tasche voller feuchtem Brotteig. Aber es funktionierte. Der Junge ließ los, fiel hin und wälzte sich auf den Rücken. Er zitterte einen kurzen Moment und wurde dann ruhig. Er blutete immer noch und diese Gehirnflüssigkeit sickerte weiterhin aus seinem zertrümmerten Schädel, doch das waren die einzigen Bewegungen.
Er war tot.
Zwei Schmeißfliegen wussten das scheinbar, denn sie landeten auf seinem Gesicht. Eine dritte ließ sich auf dem linken Augapfel nieder und rieb ihre Vorderbeine aneinander.
Keuchend, schwindelig und kurz davor durchzudrehen, kroch Louis von dem verstümmelten Kind weg. Sein weißes, kurzärmeliges Smokinghemd hing heraus, mehrere Knöpfe fehlten, die Vorderseite war mit glänzenden, roten Spritzern übersät. Er fasste sich mit einer zitternden Hand an die Kehle und spürte dort das glitschige, schmierige Blut von den Fingern des Kindes. Die Welt kippte zur einen, dann zur anderen Seite. Er dachte, er würde bewusstlos werden.
Aber das wurde er nicht.
Schweiß lief an seinem Gesicht herunter, ein kalter, sauer riechender Schweiß, und endlich nahm er den Gehsteig unter sich wahr und die Vögel, die in den Bäumen zwitscherten, und die Sonne am Himmel.
Das ist nicht wirklich passiert, sagte eine Stimme immer wieder in seinem Kopf. Lieber Gott, sag mir, dass nichts davon tatsächlich passiert ist. Sag mir, dass mich kein sterbender Junge angegriffen hat und dass ich ihn nicht k.o. schlagen musste, um ihn von mir herunterzubekommen.
Aber es war passiert und die Erkenntnis ließ sich mit einem Gewicht in ihm nieder, das ihn beinahe auf den Beton drückte. Er atmete ein und aus, blinzelte und schaute sich um. Der gleiche Spätsommertag. Schmetterlinge flogen durch das Gras und die Blumenbeete. Bienen summten. Die Sonne heiß und gelb an diesem endlos blauen Himmel. Der gleiche Duft nach gemähtem Gras und gerösteten Hotdogs; Kinder lachten und riefen in der Ferne.
Es war das Gleiche. Es war alles absolut das Gleiche.
Jedoch tief drinnen, wo die schlimmsten Ahnungen vor sich hin brüteten, wusste er, dass es nicht so war. Etwas stimmte nicht. Etwas hatte sich geändert. Ein Schatten hatte sich über die Straßen gelegt.
Ein Schrei klebte in seinem Hals fest, und Louis rannte zum Dodge und zu seinem Handy …