8
Louis Shears schaffte es nach Hause und als er durch die Tür ging, schwor er zu Gott, dass er es niemals wieder verlassen würde.
Die Welt war verrückt geworden und er war zufrieden damit, sie sich selbst zu überlassen. Er schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie. Und dann, nach kurzer Überlegung, entriegelte er sie wieder. Er ging ins Wohnzimmer, dann in die Küche, fühlte sich wie ein Aufzieh-Spielzeugsoldat, der erst in die eine und dann in die andere Richtung marschiert. Er setzte sich in seinen Fernsehsessel, stand auf, setzte sich auf die Couch und stand dann wieder auf. Ging zum Schrank über dem Kühlschrank und holte eine Flasche Chivas Regal heraus. Er schenkte sich zwei Finger breit in ein Wasserglas ein, schluckte es hinunter und schenkte sich noch mal ein.
Du reißt dich jetzt besser zusammen, sagte er zu sich selbst. Das klang in der Theorie gut, aber in der Praxis … hm, das war wieder etwas anderes.
Er setzte sich wieder in den Fernsehsessel.
Als er einen Schluck von seinem Drink nahm und aus dem Panoramafenster guckte, schien die Welt in Ordnung. Auf der Straße fuhren Autos vorbei und das Laub flatterte sanft in den Bäumen. Er konnte das Geräusch eines Rasenmähers hören und wie ein Kind auf dem Gehsteig Skateboard fuhr.
Das waren die normalen Anblicke und Geräusche eines Nachmittags im August.
Aber was war das, was in der Tessler Avenue passiert war? Wohin passte das? Wie sollte er das einordnen, was er an diesem Tag gesehen hatte? Zwei Typen schlugen mit Baseballschlägern ein Kind fast tot – und anschließend griff das Kind ihn an und dann tauchten diese durchgeknallten Bullen auf? Wohin passte das in der Chronik eines Spätsommertags? Wo fand man die passende Aktenbox, in der solche Sachen aufbewahrt wurden? Was schrieb man bloß auf das Etikett?
»Du jedenfalls nichts«, sagte Louis. »Du versuchst es nicht einmal. Du sitzt nur hier und besäufst dich. Knall dich zu und vergiss es.«
Sehr schön, wirklich sehr schön.
Aber kaum praktisch.
Er dachte an die Steaks und den Wein draußen auf der Rückbank des Dodge. Das Fleisch musste in den Kühlschrank gebracht werden, bevor es schlecht wurde. Diese Porterhousesteaks waren fast fünf Zentimeter dick, zugeschnitten und sie hatten ihn fast 15 Dollar pro Stück gekostet.
Er konnte sie nicht da draußen lassen.
Aber genau das hatte er vor.
Das Handy in seiner Hemdtasche klingelte. Er sprang auf, verschüttete beinahe seinen Drink. Er hielt es an sein Ohr und erwartete geradezu einen der verrückten Bullen am anderen Ende. Aber sie waren es nicht. Es war Michelle.
»Das Wochenende liegt vor dir«, sagte sie. »Ich hoffe, ich habe dein Nickerchen nicht gestört.«
Louis fing an zu lachen. Nein, Schatz, ich habe kein Nickerchen gemacht. Ich habe in meinem Fernsehsessel gesessen und Whiskey geschlürft. Du solltest mich sehen. Die Knöpfe von meinem Hemd abgerissen, überall Blutspuren, meine Kehle zerkratzt, weil ein tödlich verletztes Kind beschlossen hat, ein letztes Hurra-Erlebnis zu haben und mich zu würgen.
»Was ist denn los, Louis?«, fragte Michelle. Sogar durch die halbe Stadt hindurch bis zur Farm Bureau Versicherung konnte sie spüren, dass irgendetwas definitiv nicht stimmte.
»Wo soll ich anfangen?«
»Oh nein, du hast die Abschlüsse nicht bekommen, oder?«
»Oh nein, ich habe sie. Dieser Teil meines Tages war in Ordnung. Es ist nur, dass die Stadt verrückt wird. Ich frage mich gerade, ob man Zwangsjacken en gros kaufen kann. Ich glaube, wir werden viele davon brauchen.«
Michelle sagte, »Oh, du hast also davon gehört?«
»Wovon gehört?«
»Von der Bank.«
Louis fühlte eine Last in seiner Brust. »Was denn? Erzähl.«
»Ich weiß nur, was die Leute erzählen. Ich glaube, vor einer Stunde ist eine alte Dame in die Bank gegenüber gekommen … du weißt schon, die First Federal. Sie wollte ihr Konto auflösen. Die Kassiererin hat zu ihr gesagt, dass sie einen Beleg dafür bräuchte, und da ist die alte Dame ausgerastet. Stell dir vor, sie hat ein Messer, ein großes Messer aus ihrer Handtasche gezogen und die Kassiererin niedergestochen. Ungefähr fünf- oder sechsmal hat sie zugestochen. Zumindest erzählen es die Leute so. Wir haben Sirenen gehört. Es war schrecklich.«
»Scheiße.«
»Es wird noch schlimmer. Die alte Dame ist angeblich mit dem blutigen Messer aus der Bank gelaufen, hat sich draußen auf eine Parkbank gesetzt und dann … na ja, hat sie sich einfach die Handgelenke aufgeschlitzt. Aufgeschlitzt, Louis. Und dann hat sie die Hände in ihren Schoß gefaltet und ist in aller Ruhe verblutet.«
»Wer war sie?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie sagen, dass sie gelächelt hat. Hat nur dagesessen, ist verblutet … und hat gelächelt.«
Louis schluckte. »Hat die Kassiererin überlebt?«
Michelle antworte, dass sie es nicht wüsste. »Sie hat viel Blut verloren, schätze ich. Louis, es war Kathy Ramsland.«
»Kathy?«, fragte Louis. »Oh Gott, Vics kleine Schwester?«
»Ja, ich glaube schon.«
Kathy als kleine Schwester zu bezeichnen war vielleicht übertrieben, weil sie fast 30 war. Aber verdammt, Louis war mit ihr aufgewachsen, war eng während der Zeit in der High School mit ihrem Bruder Vic befreundet gewesen.
Während er dasaß, der Alkohol säurehaltig in seinem Bauch blubberte, stellte er sich Kathy als Kind vor. Er hatte sie auf ihrem Fahrrad herumgeschoben, als sie lernte, ohne Stützräder zu fahren. Hatte sie an Halloween als Frankensteins Braut verkleidet. Die schrecklichen Geschichten, die Vic und er ihr früher erzählt hatten, um sie zu Tode zu erschrecken. Als ihr Hamster gestorben war und sie ihn in einer Verbandskiste aus Metall im Garten vergruben, hatte er ihn mit Vic eine Woche später ausbuddelt, um zu schauen, ob er stank.
Nicht Kathy. Oh Gott, nicht Kathy.
»Louis?«, fragte Michelle. »Ich weiß nicht, was los ist, aber irgendwas ist drüben in der High School passiert.«
Louis schluckte. »Was denn? Eine Schießerei?« Er stellte diese vorschnelle Vermutung an, wie es nach Columbine wohl die meisten Leute taten.
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass da ungefähr zehn Polizeiwagen stehen … Stadtpolizei, Sheriff, State Police. Was auch immer dort passiert ist, es muss ziemlich schlimm sein. Carol hat das gesagt. Sie ist gerade dort vorbeigefahren.«
Die Last war inzwischen nicht nur in seinem Bauch zu spüren, sondern sie lag jetzt auf ihm, drückte ihn in den Fernsehsessel hinein. Er fing an zu grübeln. Man konnte vielleicht eine oder zwei seltsame Ereignisse hinnehmen, aber wenn sie geballt auftraten, fing man doch an, sich zu wundern. Man fing an, die Art von Verbindungen zu sehen, die Zufall ausschloss. Die Art von Verbindungen, die in einem Paranoia aufsteigen ließ.
»Was passiert hier, verdammt noch mal?«, fragte er laut, obwohl er es ehrlich gesagt nur denken wollte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Michelle. »Aber es ist unheimlich, oder?«
»Es wird noch unheimlicher«, sagte er und begann ihr sein eigenes Erlebnis zu berichten. Der Angriff. Der sterbende Junge. Die verrückten Cops. Und während er erzählte und einmal mehr realisierte, wie vollkommen absurd das doch klang, grübelte er weiter über all diese Geschehnisse nach. Was er gesehen hatte … die Messerstecherei in der Bank … und was auch immer drüben in der High School passiert war. Sicher, es konnte eine Reihe makabrer Zufälle sein, aber das wollte er einfach nicht glauben. Tief drinnen verspürte er Angst. Angst, dass etwas mit Greenlawn passierte.
Etwas in großem Ausmaß.
In der Ferne hörte er Sirenen heulen. Viele. Und er fragte sich, was sonst noch da draußen vor sich ging, welche weiteren schrecklichen Taten sich in den ganzen aneinandergereihten Stadtvierteln hinter verschlossenen Türen ereigneten.
Aber jetzt unterbrach er seine Grübelei.
Das war ungesundes Denken. Nur weil einige sehr seltsame Dinge passierten, bedeutete das doch nicht, dass die gesamte Stadt wahnsinnig wurde. Das war nur seine Paranoia. Darauf wollte er sich nicht einlassen. Erst fängt man an, so einen verrückten Mist zu denken, und als Nächstes wird man zu ängstlich, um das Haus zu verlassen. Louis hatte so eine Tante gehabt. Sie war eine Gefangene geworden, hatte vor allem außerhalb ihres eigenen Hauses Angst. So weit würde es mit ihm nicht kommen.
Dennoch blieb das Gefühl, dass etwas absolut nicht stimmte – wie ein schlechter Geschmack, den er einfach nicht aus seinem Mund spülen konnte.
»Louis? Louis? Hörst du?«
»Ich bin da.«
»Willst du mir sagen, dass dieser Polizist wirklich die Leiche des Jungen getreten hat … und darauf herumgetrampelt ist?«
»Ja, genau das sagte ich.«
»Das ist gruselig. Das ist echt gruselig.«
»Klar. Und ausgerechnet im verdammten Greenlawn.«
»Du meldest das lieber«, sagte Michelle. »Ruf jetzt in der Polizeistation an oder geh hin und sag denen, was diese Penner gemacht haben. Großer Gott! Das ist furchtbar.« Sie atmete sehr schnell am anderen Ende. »Louis? Geht es dir gut?«
»Ja, ich bin okay.«
»Nein, bist du nicht.«
»Hey, mir geht’s wirklich gut.« Er hielt inne und betrachtete den Whiskey in dem Glas. »Ich wünschte, du könntest heimkommen. Ich weiß, es klingt blöd, aber ich würde mich einfach besser fühlen, wenn das möglich wäre.«
»Ich komme, sobald ich kann. Ich muss hier erst noch einige Dinge erledigen. Gib mir eine Stunde, vielleicht eineinhalb.«
Das war nicht wirklich gut, aber das sagte er ihr nicht. Jede Minute, in der sie nicht bei ihm war, vergrößerte sich das Loch in seinen Eingeweiden. Aber wie konnte er ihr irgendwas davon ehrlich erklären? Wie konnte er ihr zu verstehen geben, sie fühlen lassen, was er fühlte?
»Okay«, sagte er. »Komm heim, sobald du kannst.«
»Louis … bist du sicher, dass du okay bist? Du klingst nicht gut.«
»Ich bin okay.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»In Ordnung. Ich komm nach Hause, sobald ich kann.«
»Okay. Ich bin …« Er verstummte.
»Was? Was ist denn?«
Louis war sich selbst nicht sicher. Er hörte das Knarzen der Stufen auf der Veranda. Es musste nicht wirklich etwas bedeuten. Konnte eines der Kinder sein, das die Zeitung austrug, oder der Postbote. Doch bei allem, was er erlebt hatte und was Michelle ihm erzählt hatte, erwartete er etwas Schlimmes.
»Da … da ist jemand auf der Veranda.« Er flüsterte es beinahe.
»Louis … du machst mir Angst. Okay? Hör jetzt damit auf.«
»Beeil dich, Schatz! Bitte beeil dich und komm nach Hause …«
Beeil dich …