10
Gut drei Blocks entfernt von dort, wo Louis Shears in den neuen Postservice von Greenlawn eingeführt wurde, kreuzte die Tessler Avenue die Ash Street und genau da, am Fuß des grasbedeckten Hügels, wo alle Häuser getüncht und die Blumenbeete üppig mit Sonnenhut und rosa Narzissen blühten, gab es ein Geschäft namens Cal’s One-Stop. Es war nach Bobby Calhoun benannt, der es seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod vor sechs Monaten geführt hatte. Cal’s war die Art von Geschäft, um sich ein Sixpack oder eine Packung Milch oder eine Schachtel Zigaretten zu holen, aber nicht viel mehr, weil alles gewaltig überteuert war.
Als Angie Preen sich zu Cal’s auf den Weg machte und den kleinen Danny in den Buggy setzte, tat sie das nicht, weil sie Bier oder Milch oder Zigaretten oder mal eben Pappteller oder eine Flasche Ketchup brauchte. Sie hatte andere Gründe. Keiner davon war uneigennützig.
Sie ging hin, um die Schraube fester anzuziehen, wie sie es gerne nannte.
Und die Schraube steckte zufällig fest im Rücken von Brandi Welch.
Ich werde sie in diese kleine Hexe hineindrehen. Oh ja, ich werde sie quälen!
»Wir gehen zum Laden, Danny«, verkündete sie. »Wir brauchen einige Sachen.«
»Wir brauchen immer Sachen, oder Mami?«, sagte der kleine Danny und für einen bangen Moment war sich Angie fast sicher, dass in seinen Worten eine tiefe, salzige Brise Sarkasmus steckte. Aber das war albern. Er war erst knapp zwei Jahre alt.
Paranoia, das war es.
Außerdem war es gerade die bestimmte Zeit im Monat und ihr Blutfluss war stark. Sie war launisch, jähzornig, bereit aus dem geringsten Anlass heraus Augen auszukratzen. Manche Frauen, das wusste sie, wurden nicht so verrückt wie sie, wenn sie menstruierten. Die Glücklichen.
Sie sah herunter auf Danny und war wie immer betroffen, wie sehr er seinem Vater ähnelte und wie wenig ihr. Er besaß die glatte, makellose, mediterrane Haut und die mürrischen, schokobraunen sizilianischen Augen seines Vaters. Er war wunderschön. Genau wie sein Vater. Angenehm anzuschauen. Man konnte nur hoffen, dass er in jeder anderen Hinsicht nicht wie sein Vater war.
»Ich will einen Schokoriegel«, sagte Danny.
»Okay. Wir besorgen dir ein Mounds oder ein 3 Musketeers oder sonst etwas.«
Danny schien damit zufrieden, dann runzelte er seine Stirn und sagte: »Ich will ein Gewehr.«
»Hör auf damit!«, schimpfte Angie, während eine Schweißperle an ihrer Schläfe herunterkullerte.
»Ich will ein Gewehr, damit ich Leute totschießen kann!«
Angie blieb mit dem Buggy stehen, direkt an der Tessler Avenue, wo die Straße hübsch mit Eichen und Tulpenbäumen angepflanzt war. »Hör auf damit, Danny! Ich will dich nicht noch einmal so reden hören! Nur böse Männer erschießen Leute. Und böse Männer werden für den Rest ihres Lebens in Käfige gesperrt. Das willst du nicht, oder?«
Mit einer Träne in seinem Augenwinkel schüttelte er seinen Kopf.
Oh Gott, sie fragte sich, ob er bereits zu seinem Vater wurde.
Jimmy Torrio. Angie hatte ihn in Terre Haute kennengelernt. Eine Woche später schlief sie mit ihm und der Übergang vom Fremden zum Liebhaber war außergewöhnlich geschmeidig gewesen. Aber Jimmy Torrio war absolut nicht geschmeidig. Er gab ihr Danny, der wunderschön und liebreizend war, aber das war das Einzige, was er ihr gegeben hatte.
Warum hast du dann weiterhin deine Beine für ihn breit gemacht?
Ach, die Frage des Tages, des Jahres, des Jahrhunderts. Warum? Sie hatte einen guten Job, sie stammte aus einer guten Familie, zumindest nach Greenlawn-Maßstäben. Jimmy war ein Arschloch. Er war selbstsüchtig. Er war korrupt. Er hatte ein Vorstrafenregister, was er ihr verschwiegen hatte, bis sie zu tief drinnen steckte, um sich darüber Sorgen zu machen. Er taugte wirklich zu nichts – außer zum Trinken und Spielen und Geldschnorren. Er war nicht einmal wirklich gut im Bett. Trotzdem war Angie geblieben. Zumindest bis sie herausgefunden hatte, dass sie nur eine von vielen war. Dann rannte sie schnurstracks zurück nach Greenlawn, mit einem Braten in der Röhre, ohne Geld und absolut ohne Selbstachtung.
Zwei Jahre danach war sie noch immer von ihm besessen. Vielleicht war es jetzt glühender Hass, aber man sagt ja immer, dass Hass lediglich die Kehrseite von Liebe ist.
»Kann ich zwei Schokoriegel haben?«, fragte Danny.
»Natürlich kannst du«, sagte Angie zu ihm. »Warum nicht?«
Es war ein herrlicher Tag und Angie dachte an Louis Shears, der gerade vorbeigefahren war. Wie nett er sie immer anlächelte, wie seine Augen wie Münzen in einem Flussbett funkelten und wie hinter dem Blick, knapp dahinter, ein Hauch von Feuer und ein Hauch von Interesse steckte. Louis war nett. Louis war witzig. Aber er war auch mit Michelle verheiratet, die eine sehr nette Frau war. Also musste Angie ihn aus der Ferne bewundern. Wie immer.
Auf der gegenüberliegenden Straße sah sie Dick Starling vorbeigehen. Er war ein sehr freundlicher Mann. Alle liebten ihn. Seine Tochter Brittany war Mitglied im Bogensportteam. Angie hatte drei Staatsmeisterschaften im Bogenschießen gewonnen, als sie noch zur High School ging und Dick Starling war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass sie kürzlich die Stelle der Bogenschießtrainerin angenommen hatte. Anfangs hatte Angie nicht gewollt … aber schließlich sagte sie zu. Einen Pfeil auf ein Ziel zu schießen war nicht nur eine gute Ablenkung von den Belastungen des Alltags, sondern es war pure Freude, wenn man sich vorstellte, dass das Ziel in Wirklichkeit Jimmy Torrio war. Jedes Mal ins Schwarze, he, he.
Sie winkte Dick Starling zu … er winkte nicht zurück. Er legte den Kopf in seine Hände und taumelte auf dem Gehsteig entlang, als hätte er einen ziemlichen Kater. Angie beschloss, dass es sie nichts anging.
Der Laden lag jetzt direkt um den Block. Angie grinste: Neben dem Bogenschießen war das Quälen von Brandi ihre einzige echte Freude im Leben.
Vielleicht sollte ich diese Schlampe als Schießscheibe benutzen.
Danny hatte morgen Geburtstag. Vielleicht war Jimmy bereits in der Stadt. Manchmal kam er. Tauchte in Greenlawn auf, besuchte einige seiner alten Kumpel, um ein Kartenspiel zu organisieren, gönnte sich eine kleine Hurerei mit so billigen Flittchen wie Kleine-Miss-Dicke-Titten Brandi Welch. Arschloch. Wahrscheinlich hatte er die kleine Hexe letzte Nacht gefickt. Vielleicht heute Morgen. Man konnte es nie wissen, oh lieber Gott im Himmel, man konnte es einfach nie wissen.
Angie schob ihren Buggy durch die Tür von Cal’s.
Drinnen standen sechs oder sieben Leute, kauften Brot, begutachteten das Bier in der Kühltheke und plauderten, wie Leute in Greenlawn es so tun.
Angie durchforstete den Laden mit giftigen Augen.
Ha, da stand sie! Direkt hinter der Ladentheke: Kleine-Miss-Dicke-Titten. Schaut sie alle an, bewundert sie, schaut, wie drall sie sind! Ihr Frauen, würdet ihr nicht liebend gern ein Paar wie die haben, und Männer, würdet ihr sie nicht liebend gern zusammendrücken oder euer Gesicht in dieses liebliche Tal dazwischen vergraben, lecker-lecker?
Bei Brandis Anblick machte sich ein leichter Kopfschmerz in Angies Hinterkopf breit: Er war so stechend und hartnäckig, dass sie ihre Augen zukneifen musste. Und für einen ganz kurzen Moment warf er einen dunklen Schatten über ihre Gedanken. Einen Schatten, den sie sofort mit einem fundamentalen halb untergetauchten Bewusstsein wahrnahm, das vorzeitlich und verschwommen war. Der Schatten krabbelte in ihr hoch und unterbrach den Schlaf der Vernunft.
Dann war er verschwunden.
Brandi schaute von ihrem Sudoku-Heft auf, setzte den Bleistift ab, sah Angie und verkrampfte sich. Gott, wie sie sich verkrampfte.
Angie lächelte sie an, mit einem tödlichen, fleischfressenden Lächeln.
Arme Kleine-Miss-Dicke-Titten. Schaut, wie nervös sie ist. Schaut, wie ihre Brüste, so herausragend und fest, ein bisschen Luft herausgelassen haben. Schaut, wie sich ihre wässrigen, schwarzen Augen nervös umschauen, wie die einer Ratte, die sich vor einer Katze in Acht nimmt. Sie zittert. Ihre so vollen und rosa und saftigen Lippen sind jetzt zu einer blassen, grauen Linie der Verzweiflung gezogen.
Armes kleines Ding, dachte Angie. Es ist nicht wirklich persönlich gemeint, weißt du, aber du hättest meinen Ex nicht ficken sollen. Er kommt vielleicht einmal im Jahr in die Stadt und du fickst ihn und ich weiß es und du weißt es und das werde ich dich niemals vergessen lassen!
Angie hob Danny aus dem Buggy. »Such dir selbst einen Schokoriegel aus«, sagte sie und dann wendete sie ihre ganze hasserfüllte Aufmerksamkeit Brandi Welch zu, die bereits wie eine Blume vor dem ersten Oktoberfrost verwelkte.
»Ich hätte gern einen Lottoschein«, sagte Angie.
Brandi schluckte. »Äh ... welche Sorte?«
»Welche Sorten hast du denn?« Hee, hee. Lass sie die ganze Liste von Mega Millions über staatliche Barauszahlungen zu Sofort-Rubbellosen wie Pot-o-Gold und Million-Gazillion und E-Z Street aufzählen.
Es dauerte ungefähr fünf Minuten alle durchzugehen und Angie zu erklären, wie viel sie kosten und wie viel sie gewinnen könne, die ganzen unnötigen Details. Und als sie fertig war und einen zarten Hauch von Schweiß auf ihrer Stirn hatte, sagte Angie: »Ach nein, ich habe es mir anders überlegt.«
Angie wollte die kleine, hurende Hexe hier unbedingt vor allen fertigmachen. Was das für eine Szene abgeben würde mit dem kleinen Danny neben ihr! Sie wollte Kleine-Miss-Dicke-Titten ganz klar sagen, was sie von ihr hielt. Sie ungeniert als den Teil der weiblichen Anatomie bezeichnen, den man normalerweise für die schlimmsten, bösartigsten, kleinen Biester aufhob, das gute, alte F-Wort. Was ein Wort war, das Angie sich nie traute, laut auszusprechen, weil sie verdammt noch mal aus gutem Hause kam und mehr Niveau hatte … oder?
»Ich möchte Zigaretten.«
»Zigaretten?«
Angie warf ihr das tote Lächeln einer Schaufensterpuppe zu.
»Ja, Zigaretten.«
»Ich nahm an … ich meine, ich wusste nicht, dass du rauchst.«
»Du weißt viele Sachen noch nicht über mich, stimmt’s?«, erwiderte Angie. »Aber vertrau mir, Brandi, mit der Zeit wirst du alles über mich wissen.«
Brandi schluckte. Sie verstand die angedeutete Drohung. Ihre Anspannung war so gewaltig, dass man sie in Stücke hätte schneiden können.
»Welche Marke? Welche Zigaretten-Marke?«
»Welche Marken hast du denn?«
Brandi seufzte. »Hör mal, müssen wir das jetzt jedes Mal durchspielen?«
»Was durchspielen?«
»Du weißt verdammt gut, wovon ich rede.«
»Ich weiß nur, dass du sehr unhöflich zu mir als Kunde bist.«
Verflucht noch mal, Danny kam angerannt, warf zwei Almond Joys auf die Ladentheke und unterbrach den Spaß, der durchaus noch besser hätte werden können.
»Möchtet ihr sonst noch etwas?«, fragte Brandi mit einem dünnen Lächeln auf ihren Lippen.
Angie war stinksauer. Sie zitterte vor kaum verbogener Wut, griff in ihre Handtasche, wühlte regelrecht darin herum, fand ihren Geldbeutel … und es war exakt in diesem Moment, dass der leichte Kopfschmerz in ihrem Schädel aufblühte, als knospe plötzlich eine Orchidee auf und fülle mit ihren Blütenblättern ihren Kopf und vernichte mit ihrem Duft alles, was sie bisher war.
Mit starrem Blick schaute sie von der Handtasche auf zu Brandi und vermochte keines von beiden mehr richtig ins Gesamtbild um sie herum einzuordnen. Sie erzeugte ein gutturales grunzendes Geräusch tief in ihrer Kehle. Ihre Finger wühlten weiter in der Handtasche, fanden den Geldbeutel, ein Kosmetiktäschchen, ein Handy, eine Schachtel Buntstifte von Danny … Gegenstände, die sie nicht mehr erkannte oder verstand.
Dann fanden sie etwas anderes.
Ein Teppichmesser mit einer gekrümmten Stahlklinge wie die eines Krummsäbels.
Angie konnte sich nicht erinnern, dass sie es nach dem Kleinschneiden der Kartons zum Recycling eingepackt hatte. Sie wusste nur, dass es sich gut in ihrer Hand anfühlte. Es passte sich ihrer Handfläche an und bettelte darum, benutzt zu werden.
»Ähm … geht es dir gut?«, fragte Brandi, irgendwo zwischen Verwirrung und Angst gefangen.
Angie schaute sie an. Sabber lief aus ihrem Mund. Ihre Augen erstarrten, stierten beinahe wie die eines Reptils. Sie holte das Teppichmesser heraus und schlitzte Brandi die Kehle auf.
Brandi strauchelte zurück – geschockt, benommen, überwältigt. Blut sprudelte aus ihrem durchgeschnittenen Kehlkopf. Sie versuchte verzweifelt, es mit ihren Fingern aufzuhalten. Es spritzte zwischen ihnen heraus wie eine Fontäne köstlichen Rotweins und traf Angie im Gesicht.
Der warme Sprühregen aus Blut war nicht unangenehm.
Er war angenehm.
Angie sprang direkt über die Ladentheke. Sie zerfetzte Brandis ausgetreckte Finger zu Fäden, schnitt ihr die Nasenspitze ab, öffnete eine Brust und riss das Teppichmesser über Brandis entzückende, dunkle, wässrige Augen. Die hakenförmige Klinge verfing sich in der linken Pupille und riss den blutigen, funkelnden Augapfel mit einem Ruck am Strang der Sehnerven heraus.
Leute flüchteten aus dem Geschäft.
Aber überraschender war, dass andere dies nicht taten.
Als Angie von dem zerstückelten, blutenden Wesen am Boden hinter der Ladentheke abließ und zurücktrat, standen da zwei Männer und eine Frau. Sie lächelten und starrten sie mit dunklen, höhlenmenschähnlichen Augen an. Augen, die verstanden. Einer der Männer, er war mittleren Alters und bekam eine Glatze, stellte sich hinter Angie und schob die Hände unter ihr Oberteil, fasste grob nach ihren Brüsten.
Angie gefiel es.
Ihre blauen Augen sahen wie kristallklare Bassins aus. Sie fletschte die Zähne. Die Vorderseite ihres rosa Oberteiles war blutdurchtränkt, wirre Blutkringel hatten ihr Gesicht bespritzt. Sie mochte den Geruch. Er stimulierte sie, rüttelte früheste Erinnerungen an die Jagd wach. Sie leckte es von ihren Lippen.
Während die anderen ihr folgten, ging sie zurück hinter die Ladentheke. Sie tunkte ihre Finger in Brandis aufgeschlitzte Kehle, wühlte in der Wunde herum und ging dann mit ihren triefenden blutigen Fingern zur Wand hinüber. Sie kickte eine Auslage mit Hostess-Kuchen aus dem Weg, trat eine Pappfigur des Rennfahrers Dale Earnhardt beiseite, der Budweiser anpries … und fing an, die Wand mit Blut zu bemalen. Kunstvoll schlingende Symbole, kompliziert sich kreuzende, geradlinige Markierungen, blutige Handabdrücke und Strichmännchen. Sie wiederholte das immer wieder.
Indem sie Brandi Welchs Leiche als Farbpalette benutzten, schlossen sich die anderen ihr an und bedeckten die Wände mit rituellen Hieroglyphen, die sonderbarerweise wie die Höhlenmalereien von Altsteinzeitmenschen aussahen.
Sie wussten instinktiv, was sie malten, und machten es ihr nach, bis die Wand mit der primitiven Kunst übersät war.
Als Angie aus dem Geschäft trat, schlossen sich die übrigen ihrem absurden, wilden Blut-Leichenzug an. Es war jetzt ihr Geruch und er lockte die anderen an.
Und hinten im Laden griff der vergessene, aber völlig unbesorgte Danny in die Fleischtheke und fand eine feuchte, gut durchmaserte Filetscheibe. Blut tropfte von ihr hinunter. Er hielt das Fleisch an seinen Mund und begann summend den Saft davon zu lutschen …