30
Als Macy wieder herauskam und sie zurück zum Haus gingen, sagte sie: »Na ja, Mrs. Brackenbury hat gesagt, dass sie Mom nicht gesehen hat. Es war einen Versuch wert, denke ich.«
»Hat sie irgendetwas Merkwürdiges zu dir gesagt?«
Macy schüttelte den Kopf. »Nein … hm, ich meine, sie ist ja immer ein bisschen exzentrisch, oder? Sie und all die Katzen? Ich habe ihr gesagt, dass sie vorsichtig sein und ihre Türe abschließen soll, aber sie hat nicht zugehört. Ich glaube nicht einmal, dass sie wusste, wovon ich geredet habe. Sie lebt irgendwie in ihrer eigenen kleinen Welt.«
Louis musste lächeln. »Na, sie wird älter, weißt du«, sagte er und versuchte diplomatisch zu klingen.
»Wem sagst du das. Sie nennt mich dauernd ›Nancy‹.«
Louis unterdrückte ein Kichern und führte Macy zu seinem Dodge hinüber. Am Türgriff befand sich noch immer ein Blutfleck, weil er nach der Begegnung mit diesen durchgeknallten Bullen hineingesprungen war. Aber die Tür hinter dem Fahrersitz stand offen. Er hatte sie nicht offen gelassen. Er war sich sicher. Ohne Macy darauf aufmerksam zu machen, machte er sie lässig zu, aber nicht bevor er merkte, dass seine Tasche mit den Steaks verschwunden war. Einfach … weg. Irgendjemand ist gekommen und hat rohe Steaks geklaut, Louis. Was sagst du dazu? Er war nicht sehr überrascht. Er schaute die Straße hinunter. Niemand war zu sehen. Keine Seele. War das gut oder schlecht? Der Geruch von Rauch lag nun stärker in der Luft und er fragte sich, was da wohl brannte. Ein Haus oder vielleicht ein Häuserblock?
»Hey, Louis!«, rief eine Stimme.
Er blieb am Auto stehen, schaute sich um und fragte sich, was jetzt sein könnte. Es war nur Earl Gould von nebenan. Earl war in Ordnung. Als ein pensionierter Anthropologieprofessor von der Indiana U, der heutzutage zu viel Zeit zur Verfügung hatte, redete er einfach gerne. Manchmal konnte Louis kaum in den Garten gehen, ohne ein sehr langes Gespräch über Earls pingelig geschnittenen Hecken hinweg über sich ergehen lassen zu müssen.
»Ich rede besser mit ihm«, sagte Louis. Er überprüfte seine Taschen. »Tust du mir einen Gefallen, Macy, ja? Lauf rein und hole meine Brieftasche. Sie liegt oben in meinem Zimmer auf der Kommode. Ich brauche nicht lange.«
Macy lief davon und Louis ging hinüber zu den Hecken. Earl stand mit einer Heckenschere da. Louis näherte sich ihm sehr behutsam. Es sah nicht so aus, als wäre er verrückt, andererseits hatte der Postbote auch nicht so ausgesehen … nicht am Anfang. Louis kümmerte es nicht wirklich, ohne seine Brieftasche zu fahren, aber er hatte sich gedacht, dass es eine gute Idee sein könnte, Macy aus dem Weg zu schaffen, für den Fall, dass Earl ausrastete.
»Wie geht’s?«, fragte Earl.
Louis zuckte mit den Achseln. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Heute passieren ziemlich bizarre Sachen.«
Earl nickte und schielte über die Ränder seiner Brille zu Louis hinüber. »Ich weiß. Das verdammte Land flippt völlig aus.«
»Die ganze Welt, Earl.«
»Weißt du, was ich finde, Louis? Scheiß auf die Welt. Kümmern wir uns um diesen Ort.«
»Ja. Vermutlich.«
»Kleinstädte können sehr lustige Orte sein, Louis. Oberflächlich sind sie langweilig und normal und wirklich ruhig, aber tief drinnen kann man nie wirklich sagen, was da brodeln könnte, verstehst du?«
»Klar.«
»Eines Tages passiert es dann einfach. Nicht nur ein Vorfall, sondern viele. Eine Kette von Umständen, die scheinbar keinen gemeinsamen Ursprung haben. Zumindest keinen, den man erkennen kann. Nimm Greenlawn, zum Beispiel. Nein, tu mir den Gefallen. Was ich so höre, scheinen wir plötzlich einer Welle von eigenmächtiger Gewalt gegenüberzustehen. Es ist verstörend, oder? Sicherlich, aber es wird sich mit der Zeit abschwächen … oder?«
»Das hoffe ich, Earl.«
»Gewalt. Sie ist der Kern der Bestie Mensch. So sind wir und davon stammen wir ab und darin versinken wir bei der kleinsten Provokation. Es ist wahr, Louis. Wir tragen die animalische Aggression unserer affenartigen und urmenschlichen Vorfahren in uns. Jede Schlägerei, jede Vergewaltigung, jede Hexenjagd und jeder Massenmord dienen dafür als Beweis. Sogar ein Kind, das ein anderes mit einem Stock bedroht, oder ein Gangmitglied mit einem Klappmesser in einer Gasse bringen das animalische Erbe in seiner reinsten Form zum Ausdruck. Das bewaffnete Raubtier. Alles, was wir machen – angefangen mit unserem Drang, ein Revier zu finden und es zu behalten, oder Grundbesitz, bis hin zur Hackordnung und Feindschaft gegenüber denen außerhalb unserer sozialen Gruppe, der Wettbewerb um Frauen oder Männer, Rassenhass und die Angst vor Fremden –, das alles basiert auf animalischen Mustern, ob dir das passt oder nicht.«
Louis leckte seine Lippen. Sie waren sehr trocken. »Aber es wird aufhören. Es muss.«
»Und was, wenn nicht?«
Louis schaute gedankenverloren auf seine Uhr. »Ich weiß es nicht.«
»Diese Stadt ist ein perfekter Mikrokosmos für die Welt. Die Leute sehen es natürlich nicht so. Weil sie zu nahe dran sind, zu involviert, darum.« Earl arbeitete mit seiner Heckenschere und schnitt einen abstehenden Ast ab. »Man braucht eine Sicht auf die Stadt aus der Vogelperspektive, um zu verstehen, was sie krank macht. Die Leute, die hier leben, können ihr Leben nicht mehr objektiv beurteilen … Nicht mehr, als du oder ich auf unsere Köpfe schauen können.«
Louis war für so was jetzt nicht in Stimmung.
Earl Gould war ein netter, alter Herr und er war sehr klug, aber manchmal besaß er die nervende Tendenz, Sachen überzuanalysieren und überzuinterpretieren. Louis vermutete, dass es an der Tatsache lag, dass er kein Klassenzimmer mehr zu beschäftigen und keine Studenten mehr zu unterrichten hatte. Also schnappte Earl Gould sich jeden, der vorbeikam – einen Nachbarn, den Stromableser, den Typen von der Gasgesellschaft – und hielt eine ausführliche Rede über jedes Thema, von Politik über die Weltwirtschaft über Kleinstadtkultur bis hin zum Stück Unkraut, das unter der Ulme im Vorgarten wuchs. Louis wollte ihm gerne erzählen, was er alles gesehen und erlebt hatte, aber das würde bedeuten, dass er ein, zwei weitere Stunden opferte, die er einfach nicht hatte. Weil Earl jeden Beweisschnipsel exakt untersuchen und dann eine Zeit lang des Teufels Advokat spielen würde, bevor er schließlich seine These aufstellte.
Er war ein kluger Kerl, sicher, aber dafür war jetzt keine Zeit.
»Betrachte es einmal so, Louis. Es gibt Gründe und Ursachen, die wir nur erkennen, wenn wir unsere Sinne öffnen. Und die Menschen in Greenlawn können nicht über ihre Nasenspitze hinaus schauen. Gott beschütze jeden einzelnen von ihnen.« Earl lehnte sich näher über die Hecken. »Ich denke aber, dass sie Angst vor dem haben, was sie entdeckten, wenn sie es könnten. Denn kleine Gemeinden wie diese wirken auf einen Außenstehenden oft ziemlich unheimlich, was? Isoliert, voller Inzucht, inselartig, sogar paranoid. Stammeszugehörig. Oh ja, sehr stammeszugehörig. Orte wie dieser offenbaren in ihrer Vergangenheit immer eine oder zwei Perioden explosiver Gewalt. Meistens hört man nichts davon, weil Kleinstädte wissen, wie sie ihre Geheimnisse für sich behalten und wie sie ihre Keller verschließen, damit die Leichen nicht herauskommen und von entsetzten Augen angeschaut werden können.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht, Earl.«
»Oh, das hab ich. Darauf kannst du dich verlassen. Ich bin kein Einheimischer. Wir haben uns hier nur zur Ruhe gesetzt, weil meine Frau genau in dieser Stadt ihre Kindheit verbracht hat. Aber das ist für mich von Vorteil, oder? Keine rosa Brille oder lästige Scheuklappen an den Augen dieses alten Mannes, was? Ich kann die Funktionsweise dieser Stadt sehen, wo etwas in Verfall geraten ist und wo neues Wachstum noch entsteht. Es ist meine Aufgabe, die genaue Anatomie von Greenlawn zu inspizieren.« Er kicherte bei der Vorstellung, aber in seinem Lachen war eine Gerissenheit zu spüren, eine Dunkelheit, die gerade hinter seinen Augen aufquoll.
»Ich schätze, tief drinnen, Louis, sind die guten Bürger unserer unbescholtenen Stadt Greenlawn über nichts davon erstaunt. Ich denke, sie haben es erwartet. In der Ur-Schwärze ihrer Seelen, glaube ich, haben sie lange darauf gewartet, dass so etwas Schreckliches passiert. Und jetzt ist der Korken aus der Flasche gezogen und der ganze gegorene Saft läuft aus, verdirbt alles und jeden, der ihn berührt. Ich denke, Louis, dass manche es begrüßen, was der Tag gebracht hat und die Nacht noch bringen wird. Sie werden es als eine Unvermeidbarkeit ansehen, oder? Diese ganzen Spannungen und Frustrationen, die sich all die Jahre angesammelt haben. Sie müssen Dampf ablassen. Oh ja, Louis, sie sind jetzt zu lange mit bösem Blut heiß und ranzig herumgerannt. Etwas, das gereinigt werden muss, eine Wunde, die aufgestochen werden muss. Ja, mein Freund, seit einiger Zeit nähern sich die Ereignisse einer kritischen Masse und ich beobachte, wie es passiert. Die kritische Masse ist erreicht und jetzt folgt die wilde Verwirklichung. Es fehlte nur ein Katalysator und weißt du, was der Katalysator war?«
»Es ist nicht nur diese Stadt, Earl. Es ist die ganze verdammte Welt.«
Earl lächelte darüber, als würde ihn das amüsieren. »Natürlich ist es das, Louis. Die ganze Welt. Eine gewisse Rasse wurde in diesem beunruhigenden Moment gefangen, als die Schatten der Antike sie einpferchten.« Earl nickte. »Willst du wissen, warum das passiert, mein Sohn? Warum die Menschheit in Grausamkeit versinkt? Warum unsere psychologische Evolution in die altsteinzeitliche zurückgeworfen wird? Nun, ich erzähle es dir. Aber zuerst frage dich selbst: Warum schwärmen Heuschrecken aus? Warum eliminieren sich Lemminge selbst? Warum nur? Sobald ihre Populationen die kritische Masse erreichen, schaltet sich irgendeine biologische Notwendigkeit frei, um die besagten Populationen auszumerzen. Also schwärmen Heuschrecken aus und Lemminge eliminieren sich. Heuschrecken heben ab, landen auf Feldern und fressen sie in einem Fressanfall weg. Und sie machen das, um ihre Populationen auszumerzen, denn zwangsläufig wird nur ein Bruchteil der Population das Ausschwärmen überleben. Und die Lemminge? Sie eliminieren sich nicht bewusst, wie manche denken. Sie überbevölkern, die unbekannte Notwendigkeit schaltet sich dann ein und sie wandern in Massen ab. Wieder überlebt nur ein Bruchteil die Abwanderung. Die meisten verhungern. Population erneut ausgemerzt.«
Louis starrte ihn nur an und war sich ziemlich sicher, dass Earl auch verrückt war. Sie waren alle verrückt geworden, jeder auf seine Art. Und das war sicherlich Earls Art. »Das ist sehr interessant, Earl.«
»Nicht wahr?« Earl zeigte mit einem Finger auf ihn. »Aber was hat es mit der menschlichen Bevölkerung zu tun? Ich denke, du hast die Verbindung bereits erkannt. Unsere Bevölkerung hat gefährliche, kritische Größenverhältnisse erreicht. Wir zerstören die Umwelt, um diese massive Bevölkerungsexplosion unterzubringen. Die Natur hat uns jedes denkbare Hindernis in den Weg gestellt … Krankheit, Hungersnot, Naturkatastrophe. Aber wir haben eins nach dem anderen abgewehrt. Und jetzt? Ja, das Ass im Ärmel. Die gleiche biologische Notwendigkeit, die bei Heuschrecken, Lemmingen und sogar bei Ratten existiert. Wir schwärmen im Grunde genommen aus. Wir eliminieren uns selbst. Wir säubern sozusagen den Bestand. Es gab einen sehr intelligenten Mann namens Hutson. Roger Hutson. Hutson war ein Ethnologe aus Oxford, drüben im alten England. Er hat vor vielen Jahren ein sagenhaftes Buch mit dem Titel Swarm Mechanics geschrieben, in dem er genau vor so einem speziesbedrohenden Ereignis gewarnt hat. Er hat behauptet, dass in jedem von uns, wie in den besagten Tieren, ein bösartiges, rezessives Gen steckt, das aktiviert würde, wenn unsere Bevölkerung gefährliche Pegel erreicht hat. Dass es beispiellose Grausamkeit mit sich bringen würde, dass wir uns buchstäblich selbst ausrotten würden, bis sich unsere Bevölkerung stabilisiert hat. Und es ist geschehen, oder? Dieses Gen ist aktiviert, Louis. Möge Gott uns beistehen, aber es ist so. Alle da draußen … Tiere … sie entwickeln sich zu Tieren zurück, werfen ihr Joch der Intelligenz und Zivilisation ab, kehren in den Dschungel zurück und alleine der Stärkere überlebt …«
Earl redete wie ein Wasserfall, er konnte sich nicht bremsen. Er zitierte Studien mit Ratten. Wenn sie sich zu stark vermehrten, wie die Menschen jetzt in ihren Städten und Metropolen, fingen sie an zu verwildern und selbstzerstörerisches Verhalten anzunehmen, genau wie die Menschen. Mord, Inzest, Kannibalismus. Alles, um die überlastete Bevölkerung zu schwächen, sie bis auf die Wurzeln ausrotten. Um sie zu vergiften, die Schwachen auszumerzen, die Identität und genetische Reinheit des Genpools zu bewahren.
»Der menschliche Garten wird jetzt gejätet.«
»Aber, Earl –«
»Oh, wie arrogant wir waren!«, wütete Earl. »Zu glauben, dass wir die Herrscher dieses Planeten seien! Zu glauben, wir könnten die Umwelt vergewaltigen und das Gesetz der Natur untergraben! Und die ganze Zeit war es kein nuklearer Krieg oder irgendein tödlicher Krankheitserreger, der darauf gewartet hat, uns zu zerstören, sondern wir selbst! Wir sind die Instrumente unserer eigenen Vernichtung! Jeder von uns hat eine geladene Pistole in sich und die radikale Bevölkerungsexplosion hat den Abzug gedrückt. Möge Gott uns beistehen, Louis, aber wir werden uns selbst ausrotten! Bestien des Urwalds! Töten, schlachten, vergewaltigen, plündern! Ein unbewusster, genetischer Drang wird alles beseitigen, was wir erschaffen haben, die Zivilisation ausweiden, die Menschheit wie Vieh abschlachten, weil wir von dem primitiven Drängen überwältigt sind und die menschliche Erinnerung Amok läuft!«
»Hör mal, Earl«, sagte Louis. »Ich muss gehen, ich muss – «
»MIT WEM REDEST DU DA DRAUSSEN, EARL?«
Es war Maureen, Earls Frau. Sie war schwerhörig und schrie alles. Sogar, wenn man sich im selben Raum mit ihr aufhielt. Aber Louis war froh über die Unterbrechung.
Earl schüttelte den Kopf. »Ich rede mit Louis. Louis Shears von nebenan!«
»WER?«, rief Maureen durch das Küchenfenster.
»Louis! Louis von nebenan!
»LOUIS? IST MICHELLE DA DRAUSSEN?«, rief sie. »ICH HABE GEFRAGT, OB MICHELLE DA DRAUSSEN IST?«
»Nein, ist sie nicht!« Earl schaute Louis entschuldigend an und hob die Schultern.
»WAS?«
»Ich habe gesagt, sie ist nicht da!«
»NA JA, WAS MACHT IHR ZWEI DENN?«
»Wir machen gar nichts! Wir reden nur!«
»ALSO, WENN DU NICHT ANTWORTEN WILLST, KOMME ICH LIEBER UND SCHAUE SELBST NACH!«
Earl seufzte. »Herrgott, sie wird immer schlimmer, Louis. Wirklich schlimmer. Den ganzen Tag fragt sie nach, was ich mache. Ich bringe den Müll raus und sie will wissen, was ich mache. Ich mähe das Gras und sie will wissen, was ich mache. Was zur Hölle denkt sie, was ich mache? Du bringst den Müll raus, weil er voll ist, und du mähst das Gras, weil es wächst, genauso wie du den Weihnachtsbaum wegbringst oder die Halloween-Kürbisse in die Mülltonne wirfst, weil es an der Zeit ist! Weil es an der Zeit ist!«
Die Tür mit dem Fliegengitter öffnete sich mit einem Quietschen und Maureen kam mit ihrer Krücke heraus, schaute wie immer verdächtig, ob etwas passiert war und man sie nicht darüber informiert hatte.
Louis schaute zu seinem Haus hinüber und wunderte sich, warum Macy so verdammt lange brauchte.
»WAS GEHT HIER DRAUSSEN VOR? DAS WÜRDE ICH GERNE WISSEN!«
»Siehst du?«, fragte Earl. »So geht es den ganzen Tag. Wie würdest du damit umgehen, womit ich umgehen muss?«
Louis seufzte. Sie waren ein nettes, altes Paar, aber jetzt war keine Zeit für diesen Mist. Aber ihm war klar, dass er nicht einfach so fortgehen konnte. Noch nicht. Nicht bis Maureen herübergekommen war und ihren Senf dazugegeben hatte. Sie musste immer wissen, was los war, auch wenn nichts los war.
»LOUIS! HAST DU DIE GANZEN VERDAMMTEN SIRENEN GEHÖRT?«, brüllte Maureen. Sie war eine kleine Frau mit einem krummen Rücken, schlechten Knien und mit einer Brille, hinter der ihre Augen die Größe von Golfbällen hatten. Sie sah gebrechlich aus und war es wahrscheinlich, aber ihre Lungen waren in Ordnung, trotz der zwei Schachteln Zigaretten, die sie jeden Tag rauchte. »ICH HABE GESAGT … HAST DU DIESE VERDAMMTEN SIRENEN GEHÖRT?«
Louis merkte, dass sich an seinen Schläfen Kopfschmerzen bemerkbar machten. »Ja, ich habe sie gehört.«
»WAS?«
»Er hat gesagt, dass er sie gehört hat, Herrgott noch mal!«, dolmetschte Earl.
Maureen nickte und holte eine Benson & Hedges 120 aus einer Schachtel und zündete sie an. Doch ihre Augen waren schlecht und so dauerte es etwas. Sie hielt das Feuerzeug mit beiden Händen fest und als sie eine Flamme hatte, schreckte sie davor zurück, als hätte sie Angst, ihre Nase in Brand zu setzen. Es dauerte eine Weile, aber bald war der alte Schornstein angeschürt und Rauchwolken bliesen heraus.
»DIE GANZE STADT GEHT VOR DIE HUNDE, LOUIS! VON DER WURZEL BIS ZUR ROSENKNOSPE, DIE REINSTE IRRENANSTALT! EINE IRRENANSTALT, HABE ICH GESAGT!«
»Sie sagte, es ist eine Irrenanstalt, Louis.«
Natürlich hatte Louis es sehr gut gehört und wunderte sich wie immer, warum Earl das Bedürfnis verspürte, seine Frau zu wiederholen, die die gleiche Phonzahl wie ein Metallica-Konzert hatte. Seine Ohren pfiffen schon.
»WO IST MICHELLE?«
Louis schluckte, denn er fragte sich das Gleiche. »Sie ist auf der Arbeit«, antwortete er und weigerte sich zu schreien. Er war einfach nicht in der Lage dazu. »Ich muss sie abholen.«
»WAS?«
Earl warf seine Heckenschere zur Seite. »Er sagte, dass sie auf der Arbeit ist! Er muss sie abholen!«
»WARUM ZUR HÖLLE FLÜSTERST DU, EARL?«, wollte sie wissen. »WENN ICH DIR EINE FRAGE STELLE, DANN ANTWORTE MIR GEFÄLLIGST!«
»Ich habe dir geantwortet!«
»NICHT SO, DASS ICH ES HÖREN KONNTE!«
»Nun ja, du kannst sowieso gar nichts hören, verdammt!«
Louis trat einen Schritt von den Hecken zurück und versuchte einen direkten Blick auf sein Haus zu bekommen. Macy war zu lange weg. Er verspürte ein seltsames Gefühl. Was, wenn sie beschlossen hatte, zu ihrem Haus hinüberzulaufen, um Jillian eine Nachricht zu schreiben … und dann in den Keller gegangen war?
»WOHIN IST LOUIS DENN GELAUFEN?«, fragte Maureen.
»ER STEHT GENAU HIER!«
»ER HAT NICHT EINMAL AUF WIEDERSEHEN GESAGT! WAS SAGST DU DENN DAZU?« Maureen schüttelte ihren Kopf und starrte Louis direkt an, aber sie sah ihn nicht. Ein paar Meter außerhalb des Blickfeldes sah sie nichts. Sie zog an ihrer Zigarette. »NA JA, ES IST EIN WUNDER, DASS MICHELLE ES MIT IHM AUSHÄLT! WIE LANGE SIND SIE VERHEIRATET UND IMMER NOCH KEINE KINDER! SAG MIR NICHT, DASS DAS NICHT KOMISCH IST, EARL!«
Louis wurde rot, aber er war nicht überrascht. Man konnte Maureen so ziemlich durch den ganzen Block hören, wenn sie die Fenster im Sommer geöffnet hatte und regelmäßig über die Nachbarn tratschte.
»Herrgott noch mal!«, fauchte Earl. »Louis steht direkt hier! Bist du blind?«
»WAS?«
»Ich habe gesagt, dass Louis direkt hier steht!«
Maureen zog an ihrer Zigarette und schielte. »OH! NA, ER KANN MICH DA DRÜBEN JA NICHT HÖREN!«
»Ich muss los, Earl. Ich muss noch einige Sachen erledigen.«
»Okay, Louis. Tut mir leid wegen Maureen.« Er tippte mit einem Finger an seinen Kopf. »Sie meint es gut, aber ihre Augen sind schlecht, sie hört nicht gut und wird ein bisschen weich in der Birne.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen.«
»Denk drüber nach, was ich dir gesagt habe, Louis.«
»GEHT LOUIS?«
»Ja!«
»WOHIN GEHT ER?«
»Er muss Besorgungen machen, verdammt!«
»EARL GOULD, HÖR MIT DIESEM GEFLÜSTER AUF UND SPRICH WIE EIN MANN! DU WEISST, DASS ICH NICHT SO GUT HÖREN KANN!«
»Halt die Klappe!«
»WAS?«
Louis sah es genauso kommen, wie er es hatte kommen sehen, als Earl anfing darüber zu reden, wie unvermeidbar es sei, dass die Stadt verrückt wird und über die Expression des bösartigen Gens ... Die Dunkelheit war da. Sie versteckte sich in den Ritzen und Spalten seines Verstandes und blutete jetzt wie Schatten aus, sobald die Sonne unterging.
Earl drehte sich zu seiner Frau um. »Ich habe gesagt, dass du deine scheiß Fresse halten sollst!«
»WAS SAGST DU? HÖR AUF WIE EIN KLEINES MÄDCHEN ZU FLÜSTERN, UM HIMMELS WILLEN!«
Und das war’s.
Earl hatte über die kritische Masse geredet, über Katalysatoren und den ganzen Rest … und na ja, das war es jetzt für ihn. Die kritische Masse war erreicht und explodierte nun unkontrolliert. Die menschliche Erinnerung verlor sich. Earl war ein netter, gemächlicher, alter Mann, aber das änderte sich im Nu. Er machte zwei Schritte auf Maureen zu und schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht. Sie fiel direkt zu Boden. Aus ihrem Mund spritzte Blut mitten auf ihren Nasenrücken. Ihr künstliches Gebiss hing wie ein paar Klapperzähne zum Aufziehen heraus.
Es ging so schnell.
Louis schaute über die Straße zu den Häusern der Maubs und der Sonderbergs hinüber, um zu sehen, ob noch jemand gesehen hatte, was er gerade gesehen hatte.
Aber es war niemand in der Nähe.
»Earl!«, sagte er. »Herrgott, was machst du denn?«
Aber Earl hörte nicht, was Louis sagte, oder er beachtete es nicht.
Er ging zu seiner Frau hinüber und gab ihr einen kräftigen Tritt in die Seite. Sie jaulte vor Schmerz auf, würgte und keuchte und spuckte Sabber und Blut auf den Rasen.
Louis wollte gerade einschreiten, als er hörte, dass Macy nach ihm rief. »Louis! Louis! Mr. Shears!«
Louis vergaß sofort, was er gerade miterlebt hatte. Er drehte sich auf der Stelle um und rannte zum Haus. Er konnte Macy weinen hören – was auch immer vor sich ging, es musste richtig schlimm sein. Er sprang die Stufen hoch und lief direkt zur Vordertür; es war nicht schwer, ihrer Stimme zu folgen.
Er fand sie in der Küche, aber sie war nicht allein.
Sie stand hinter dem Küchentisch und Dick Starling, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte, stand ihr gegenüber. Aber es war nicht der Dick Starling, den Louis kannte. Nicht derselbe Dick Starling, der ein Foto von ihm mit Jillian Merchant über der Schulter gemacht hatte, nicht derselbe lustige und besserwisserische Mann, der Louis geholfen hatte die Betonplatte für seine Garage auszugießen oder der sonntagnachmittags während der Football-Saison Grillpartys im Garten schmiss.
Nein, dieser Dick Starling war das nicht.
Dieser Dick Starling war mit Schlamm und Dreck bedeckt. Seine Haare waren zerzaust und verfilzt. Er war komplett nackt und sein Penis stand erregt in die Höhe. Und die Augen … Oh Gott, kalt und dunkel wie eine Unterwasserhöhle. Er sonderte einen widerlichen Geruch nach Blut, Tod und feuchter schwarzer Erde ab. Und er hielt eine blutige Axt in seinen Händen.
»Hey, Louis«, sagte er mit einer plumpen, versauten Stimme. »Ich werde die kleine Fotze mitnehmen und wenn ich fertig bin, kannst du haben, was übrig bleibt. Es ist nur fair, dass ich was abbekomme, findest du nicht?«
Dick Starling war ein Monster.