51
Louis drehte sich um, sein Herz klopfte erbarmungslos.
Er drehte sich um und blickte direkt in den Lauf einer doppelläufigen Schrotflinte. Die Frau, die sie hielt, hatte verrückte Augen und zerzauste blonde Haare. Sie war schmutzig, verletzt. Ihre Bluse war vorne zerrissen und er konnte das meiste ihrer linken Brust ziemlich deutlich sehen. Aber es waren diese Augen, die ihn fesselten: Sie waren ausdruckslos, beinahe unkoordiniert, wie die Augen einer schlafenden Person.
Mit einer Stimme, die zu ruhig war, zu gelassen, sagte sie: »Du legst diese Pistole auf die Arbeitsplatte, Mister, und dann werde ich dir deinen verdammten Schädel nicht wegpusten!«
Sie sprach deutlich. Nicht durcheinander oder voller knurrender Laute wie die der Rückgebildeten. Offenbar war sie immer noch menschlich. Obwohl … ihre Augen verrückt waren. Sie bewirkten, dass er sich schwach fühlte, verletzlich und alles ihn ihm wie lauwarmes Wasser ablief.
»Ganz ruhig«, sagte er und legte vorsichtig die Waffe hin. »Ich bin nicht wie die. Ich bin kein Tier. Ich bin noch menschlich.«
»Kein Scheiß? Na ja entschuldige, Arschgesicht, wenn ich dir das nicht unbedingt abnehme.«
Da realisierte Louis, dass sie nicht verrückt war, sondern ängstlich, verwirrt und mehr als nur ein bisschen verzweifelt. Sie würde töten, falls sie müsste. Aber er sah, dass sie es nicht wirklich wollte.
Er hielt weiterhin seine Hände hoch. »Ich bin ein Mensch und du weißt es. Wenn du daran zweifeln würdest, hättest du mich erschossen. Hast du jemals einen von ihnen mit einer Pistole gesehen?«
Sie seufzte. »Ich denke nicht.«
»Es ist die Regression«, erklärte er. »Eine Rückkehr in den Dschungel, zum Ursprung des Mannes, zum Ursprung der Frau. Sie sind wie unsere Vorfahren. Sie jagen. Sie töten in Rudeln. Sie lehnen alles aus unserer heutigen Welt ab. Ich schätze, dass es bei ihnen beinahe eine Phobie ist ...«
»Hör mal.« Sie senkte ihre Schrotflinte. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber ich bin froh, dass ich dich gefunden habe. Wir könnten die Einzigen sein, die übrig sind. Ich bin Doris Bleer. Du?«
»Louis Shears.« Er ging zum Fenster hinüber.
Es war inzwischen so gut wie dunkel. »Wir haben keine Zeit. Da war ein Mädchen bei mir. In diesem Auto da draußen. Ich glaube, sie ist weggegangen. Ich muss sie finden. Sie hat einen Schock.«
Doris schüttelte ihren Kopf. »Sie ist nicht weggegangen, Louis. Sie haben sie mitgenommen. Die Verrückten. Ich habe sie vom Fenster im Hinterzimmer gesehen, in dem ich mich versteckt habe.«
»Dann muss ich hinterher«, sagte er und schnappte sich die 9-Millimeter-Waffe.
»Louis.« Die Frau sah zum ersten Mal sehr mitfühlend aus. »Es tut mir leid für das Mädchen. Aber du wirst sie nie mehr wieder sehen. Wenn du sie das nächste Mal siehst, ist sie entweder tot oder eine von ihnen.«
»Du bist vollkommen verrückt«, erwiderte er, während er so emotional aufgewühlt war, dass sich alles in ihm wie eine Schraube herumdrehte.
»Schön wär’s. Aber ich bin es nicht. Du auch nicht.« Sie schaute ihn mit diesen verlorenen Augen an. »Sie sind in unser Haus gestürmt. Sie haben meinen Ehemann umgebracht. Sie … sie haben ihn zerrissen. Sie haben meine Tochter mitgenommen. Ich bin entkommen.«
»Es tut mit leid.«
Sie hob kurz ihre Schultern, beinahe wuchtig mit ihrer Waffe. Nichts konnte sie berühren. Nicht jetzt. Nicht aufgrund dessen, was sie gesehen hatte. »Vor einer Stunde … bevor ich mich hier versteckt habe … hat mich ein Rudel von ihnen verfolgt. Meine Tochter ist mit ihnen gerannt. Meine eigene verfluchte Tochter, Louis. Sie hatte in jeder Hand ein Messer. Sie hat mich gejagt. Verstehst du? Sie hat ihre eigene Mutter gejagt!«
Louis fühlte mit ihr, aber es war nicht viel Mitgefühl in ihm. Im Moment war sein Mitgefühl für Macy und Michelle reserviert. »Ich gehe raus. Ich werde sie zurückholen.«
Louis stieg über die Toten zur Tür hinüber und ein grelles, schrilles Geräusch ertönte. Sein Handy. Er fummelte es aus seiner Tasche.
»Hallo?«, sagte er mit einer blechernen und schwachen Stimme. »H-hallo?«
Er hörte, wie jemand am anderen Ende atmete, schwer und schleppend.
»Wer ist da?«, fragte er. »Wer verflucht noch mal ist da?«
Er hörte ein leises Kichern am anderen Ende und dann sagte eine Stimme: »Hallo, hallo, hallo.«
Ein Echo.
Michelle.
Aber nicht Michelle.
Es war eine Imitation von Michelles Stimme.
Kraftlos, wo sie klar hätte sein sollen; hohl, wo sie voll hätte sein sollen; kratzend, wo sie geschmeidig und lieblich hätte sein sollen. Wie eine Aufnahme, die verlangsamt oder schneller abgespielt wurde. Eine künstliche Stimme, eine geistesgestörte Stimme. Eine verrückte Frau, die sich Michelles Stimme ausgeliehen hatte und das war die Blasphemie, die sie damit ausdrückte.
»Michelle?«, sagte er. »Baby? Baby? Bist du das?«
Stärkeres Atmen. Das Geräusch, wie eine Zunge, die Lippen ableckt. »Hallo.«
»Michelle, bitte –«
Die Leitung war tot.
Und Louis starb mit ihr.