Peter James

SO GUT WIE TOT

Thriller

 

Aus dem Englischen von

Susanne Goga-Klinkenberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Scherz 

 

 

 

 

 

 

 

 

www.fischerverlage.de

Erschienen bei Scherz, einem Verlag der

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

»DEAD MAN'S FOOTSTEPS, bei Macmillan,

an imprint of Pan Macmillan Ltd., London

© Really Scary Books/Peter James 2008

Für die deutsche Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009

Gesamtherstellung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-502-10071-3 

 

Für Dave Gaylor 

 

 

 

Ein Teil dieser Geschichte spielt in der Zeit

um den furchtbaren 11. September 2001.

 Mein aufrichtiger Respekt gilt allen Opfern und jenen,

die ihre Liebsten verloren haben.

 

 

1

 

WENN RONNIE WILSON beim Aufwachen geahnt hätte, dass er in wenigen Stunden tot sein würde, wäre seine Tagesplanung wohl etwas anders ausgefallen.

Beispielsweise hätte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren. Oder so viele kostbare letzte Minuten damit verschwendet, sich Gel ins Haar zu schmieren und daran herumzuzupfen, bis es zu seiner Zufriedenheit lag. Auch hätte er nicht ganz so viel Zeit damit verbracht, seine Schuhe zu polieren oder die teure Seidenkrawatte perfekt zu binden. Ganz sicher hätte er auch nicht die exorbitante Summe von achtzehn Dollar bezahlt, die er sich nun wirklich nicht leisten konnte, um seinen Anzug beim Express-Service bügeln zu lassen.

Zu behaupten, dass er sich in seliger Unwissenheit über sein Schicksal befand, wäre übertrieben gewesen. Freude gehörte schon lange nicht mehr zu seinem Gefühlskanon, von Seligkeit ganz zu schweigen. Die empfand er nicht einmal mehr in den flüchtigen Sekunden eines Orgasmus, wenn er und Lorraine, was selten vorkam, noch einmal miteinander schliefen. Seine Eier waren ebenso taub wie der Rest seines Körpers.

In letzter Zeit war er sogar dazu übergegangen, auf die Frage nach seinem Befinden mit den Schultern zu zucken und »Das Leben ist beschissen« zu antworten, was Lorraine ungemein peinlich war.

Das Hotelzimmer fand er auch beschissen. Es war so klein, dass man stolpern konnte, ohne auf den Boden zu fallen. Es war das billigste Zimmer im W, aber die Adresse trug dazu bei, den Schein zu wahren. Stieg man in Manhattan in einem W ab, war man jemand, selbst wenn man in der Besenkammer schlief.

Ronnie wusste, dass er positiv denken musste. Die Leute reagierten auf die Ausstrahlung eines Menschen, vor allem, wenn man Geld von ihnen haben wollte. Selbst ein alter Freund würde einem Verlierer kein Geld geben – jedenfalls nicht so viel, wie er brauchte. Und schon gar nicht dieser bewusste alte Freund.

Er warf einen Blick nach draußen, um zu sehen, wie das Wetter war. Er verdrehte den Hals und spähte an der steilen grauen Klippe des gegenüberliegenden Gebäudes an der 39th Street hinauf, bis er einen schmalen Streifen Himmel erkennen konnte. Die Tatsache, dass es ein schöner Morgen war, besserte seine Stimmung auch nicht. Es war, als hätten sich alle Wolken aus dem blauen Nichts in sein Herz verzogen.

Die falsche Bulgari zeigte 7.43 Uhr. Er hatte sie für vierzig Pfund im Internet gekauft, aber wer konnte schon erkennen, dass sie nicht echt war? Er hatte bereits vor langer Zeit begriffen, dass teure Uhren ein wichtiger Faktor waren, wenn man Leute beeindrucken wollte: Wenn jemand sich die Mühe machte, eine der besten Uhren der Welt zu kaufen, würde er sich wohl auch Mühe mit dem Geld geben, das man ihm anvertraute. Der äußere Schein war nicht alles, aber ganz schön viel.

Also, 7.43 Uhr. Er musste los.

Er nahm seine – ebenfalls gefälschte – Louis-Vuitton-Aktentasche, legte sie auf den gepackten Trolley und zog diesen aus dem Zimmer. Er fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und schlich an der Rezeption vorbei. Seine Kreditkarten waren derart am Limit, dass es vermutlich nicht mehr für die Hotelrechnung reichte, aber darum wollte er sich später kümmern. Das schicke blaue BMW Cabrio, in dem Lorraine so gern umhergondelte, um ihre Freundinnen zu beeindrucken, sollte beschlagnahmt werden, und die Hypothekenbank plante die Zwangsvollstreckung seines Hauses. Der heutige Termin war seine letzte Chance, dachte er entschlossen. Er wollte ein Versprechen einfordern. Ein Versprechen, das zehn Jahre zurücklag.

Hoffentlich hatte der andere es nicht vergessen.

Ronnie saß in der U-Bahn, das Gepäck zwischen den Knien. In seinem Leben war etwas schief gelaufen, soviel stand fest, doch er konnte es nicht genau benennen. Viele seiner ehemaligen Mitschüler waren erfolgreich und hatten ihn zu seiner Verzweiflung weit hinter sich gelassen. Sie arbeiteten als Finanzberater, Bauunternehmer, Buchhalter und Rechtsanwälte, hatten protzige Häuser, vorzeigbare Ehefrauen und hinreißende Kinder. Und was hatte er?

Eine neurotische Lorraine, die sein nicht vorhandenes Geld für endlose Schönheitsbehandlungen ausgab, die sie im Grunde nicht brauchte, für Designerklamotten, die sie sich im Grunde nicht leisten konnten, und für idiotisch teure Mittagessen aus Salatblättern und Mineralwasser, die sie mit ihren magersüchtigen Freundinnen, die alle viel reicher waren als sie, in den angesagtesten Restaurants konsumierte. Und obwohl sie ein Vermögen für Fruchtbarkeitsbehandlungen ausgegeben hatten, hatte sie ihm noch immer nicht das sehnlich erwünschte Kind geboren. Die einzige wirklich sinnvolle Ausgabe war ihre Brustvergrößerung gewesen.

Natürlich war Ronnie zu stolz, um ihr zu gestehen, in welchem Schlamassel er sich befand. Außerdem war er schon immer ein Optimist gewesen und glaubte, die Lösung seiner Probleme läge in greifbarer Nähe. Er fügte sich wie ein Chamäleon perfekt in seine Umgebung. Als Gebrauchtwagenhändler, dann als Antiquitätenhändler und Immobilienmakler wirkte er immer tiptop. Leider konnte er besser reden als mit Finanzen umgehen. Nachdem er das Immobiliengeschäft gegen die Wand gefahren hatte, war er rasch in die Grundstückserschließung eingestiegen, wo er in Jeans und Blazer aufs Neue überzeugend auftrat. Als die Banken sein aus zwanzig Häusern bestehendes Bauprojekt schon im Planungsstadium platzen ließen, erfand er sich als Finanzberater für reiche Leute neu. Auch dieses Geschäft war eine Seifenblase.

Nun hoffte er, seinen alten Freund Donald Hatcook davon zu überzeugen, dass er die nächste goldene Gans entdeckt hatte – Biodiesel. Man munkelte, Donald habe mit Derivaten – was immer das auch sein mochte – über eine Milliarde gemacht, während er bei Ronnies gescheitertem Immobiliendeal vor zehn Jahren ein paar schlappe Hunderttausend verloren hatte. Damals hatte er so getan, als ob er Ronnies Gründe für die hingelegte Pleite akzeptieren würde, und hatte versprochen, ihn bei nächster Gelegenheit noch einmal zu unterstützen.

Sicher, Bill Gates und alle anderen Unternehmer dieses Planeten warteten nur darauf, in den neuen umweltfreundlichen Biosprit-Markt einzusteigen, und hatten vor allem das nötige Kleingeld dafür, doch Ronnie war sicher, eine Nische für sich entdeckt zu haben. Er musste Donald heute Morgen nur davon überzeugen. Donald war clever. Er würde es kapieren. Es war einfach eine todsichere Sache.

In Gedanken ging Ronnie noch einmal das Gespräch mit Donald durch, und je näher die Innenstadt rückte, desto selbstbewusster wurde er. Er verwandelte sich in Gordon Gekko, den Typen, den Michael Douglas in Wall Street gespielt hatte. Äußerlich war er von dem Dutzend schick gekleideter Wall-Street-Player, die mit ihm in dem schaukelnden Waggon saßen, nicht zu unterscheiden. Falls einer von ihnen auch nur halb so viele Probleme hatte wie er, gelang es ihm, sie gut zu verbergen. Alle wirkten ungeheuer selbstbewusst. Hätten sie ihn auch nur eines Blickes gewürdigt, dann hätten sie einen großen schlanken Mann mit attraktivem Gesicht und zurückgegeltem Haar gesehen, der ebenso selbstbewusst wirkte wie sie.

Wer es bis vierzig nicht schafft, schafft es nie mehr, sagten manche. In nur drei Wochen wurde er dreiundvierzig.

Jetzt kam seine Station. Chambers Street. Das letzte Stück wollte er zu Fuß gehen.

Er trat in den schönen Morgen hinaus und warf einen Blick auf den Stadtplan, den ihm der Mann am Empfang am Vorabend gegeben hatte. Dann schaute er auf die Uhr. Zehn nach acht. Nach seinen Erfahrungen mit New Yorker Bürogebäuden würde er etwa fünfzehn Minuten brauchen, bis er sich im Haus zurechtgefunden hatte. Hinzu kamen fünf Minuten Fußweg, vorausgesetzt, er verlief sich nicht.

Ein Straßenschild verriet ihm, dass er sich nun auf der Wall Street befand. Er kam an einem Jamba Juice Shop und einer Änderungsschneiderei vorbei und betrat anschließend ein brechend volles Downtown Deli.

Es roch nach Kaffee und gebratenen Eiern. Er setzte sich auf einen roten Lederhocker an die Theke und bestellte frisch gepressten Orangensaft, einen Caffè Latte, Rührei mit Speck und Weizentoast. Während er auf das Essen wartete, ging er noch einmal den Businessplan durch und schaute auf die Uhr.

In England war es jetzt fünf Stunden später. Lorraine würde gerade in Brighton beim Mittagessen sitzen. Er rief sie rasch an, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, und sie wünschte ihm Glück für den Termin. Es war so einfach, Frauen glücklich zu machen, ein bisschen Geturtel ab und zu, dann und wann ein Gedicht oder ein wertvolles Schmuckstück – aber nicht zu oft.

Als er zwanzig Minuten später die Rechnung bezahlte, ertönte in der Ferne ein ungeheurer Knall. Der Typ auf dem Hocker neben ihm fragte: »Scheiße, was war das denn?«

Ronnie hinterließ ein anständiges Trinkgeld, steckte das Wechselgeld ein und machte sich auf den Weg zu Donald Hatcooks Büro, das sich im siebenundachtzigsten Stock des Südturms des World Trade Center befand.

Es war 8.47 Uhr an einem Dienstag – dem 11. September 2001.

2

 

OKTOBER 2007 Abby Dawson hatte die Wohnung ausgesucht, weil sie sich dort sicher fühlte. Sofern sie sich zurzeit überhaupt irgendwo sicher fühlen konnte.

Es gab nur drei Eingänge: die Feuertreppe hinter dem Haus, die sich nur von innen betreten ließ, den Notausgang im Keller und die Haustür. Diese befand sich acht Stockwerke unter ihr, und die Fenster boten eine gute Sicht auf die Straße.

Von innen hatte sie die Wohnung in eine Festung verwandelt. Verstärkte Scharniere, Stahlbeschläge, drei Riegelschlösser an der Haustür und am Notausgang des winzigen Abstellraumes, dazu eine doppelte Türkette. Der Einbrecher, der sich an dieser Wohnung versuchte, würde mit leeren Händen heimkehren. Man brauchte schon einen Panzer, um in die Wohnung zu gelangen.

Für den alleräußersten Notfall hatte sie zudem eine Dose Pfefferspray, ein Jagdmesser und einen Baseballschläger in Reichweite.

Es war schon paradox, dass sie nun, da sie sich zum ersten Mal im Leben eine Wohnung leisten konnte, die groß und luxuriös genug war, um Gäste zu empfangen, allein und im Verborgenen leben musste.

Allerdings bot die Wohnung viele Annehmlichkeiten. Das Eichenparkett, die riesigen cremefarbenen Sofas mit den weißen und schokobraunen Kissen, die Bilder moderner Künstler an den Wänden, das Heimkino, die Hightech-Küche, die breiten und wahnsinnig bequemen Betten, die Fußbodenheizung im Bad und die schicke Gästedusche, die sie noch nicht benutzt hatte – jedenfalls nicht für den Zweck, für den sie gedacht war.

Hier sah es aus wie in den Designerwohnungen, die sie in den Hochglanzmagazinen bewundert hatte. Bei schönem Wetter strömte die Nachmittagssonne durchs Fenster, und an windigen Tagen wie diesem schmeckte sie das Salz in der Luft und konnte die Schreie der Möwen hören. Es waren nur wenige hundert Meter bis zur Marine Parade, und dahinter lag der Strand, an dem sie kilometerweit in beide Richtungen wandern konnte.

Das Viertel selbst gefiel ihr auch. In der Nähe gab es kleine Geschäfte, die sicherer waren als große Supermärkte, weil sie dort einen guten Überblick über die Kunden hatte. Es reichte schon, wenn einer sie erkannte.

Ein einziger.

Nur der Aufzug war ein Nachteil. Abby litt unter extremer Klaustrophobie und neigte in letzter Zeit verstärkt zu Panikattacken. Sie war nie gerne Aufzug gefahren, und die wacklige Kiste, die an einen aufrecht stehenden Sarg erinnerte und im letzten Monat gleich mehrfach stecken geblieben war – zum Glück nicht, als sie ihn benutzte –, war einer der schlimmsten überhaupt. Seit einigen Wochen musste sie ihn leider benutzen, da die Handwerker, die die Wohnung unter ihr renovierten, das Treppenhaus in einen Hindernisparcours verwandelt hatten.

Normalerweise nahm sie die Treppe. Das hielt fit, und die schweren Einkaufstüten konnte sie allein im Aufzug nach oben schicken. Ihren Nachbarn begegnete sie selten, die meisten waren so alt, dass sie kaum das Haus verließen.

Die wenigen jüngeren Bewohner, darunter Hassan, der lächelnde iranische Banker, der zwei Stockwerke unter ihr wohnte und manchmal die ganze Nacht durchfeierte – sie hatte seine Einladungen höflich abgelehnt –, schienen meist unterwegs zu sein. Wenn Hassan nicht gerade eine Party schmiss, war der Westflügel an den Wochenenden so still, als wohnten nur noch Geister darin.

In gewisser Weise war auch sie ein Geist. Sie verließ ihren sicheren Bau erst nach Einbruch der Dunkelheit. Die langen blonden Haare hatte sie kurz geschnitten und schwarz gefärbt, sie trug eine Sonnenbrille, schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und lief als Fremde durch die Stadt, in der sie einst geboren und aufgewachsen war. Sie hatte hier Wirtschaft studiert und in Bars gekellnert, als Sekretärin bei einer Zeitarbeitsfirma gejobbt, Freunde gehabt und sogar von einer Familie geträumt, bevor das Reisefieber sie ergriff.

Nun war sie zurück. Inkognito. Eine Fremde in ihrem eigenen Leben. Verzweifelt darauf bedacht, nicht erkannt zu werden. Wenn sie, was selten geschah, einem Bekannten begegnete, schaute sie weg. Sah sie in einer Kneipe einen alten Freund, verließ sie sofort das Lokal. Verdammt noch mal, sie war richtig einsam!

Und verängstigt.

Nicht einmal ihre Mutter wusste, dass sie wieder in England war.

Vor drei Tagen war sie siebenundzwanzig geworden. Was für eine Sause! Sie hatte allein in der Wohnung gefeiert – mit einer Flasche Champagner, einem erotischen Film auf Sky Channel und einem Vibrator mit leerer Batterie.

Früher war sie stolz auf ihre natürliche Schönheit gewesen. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein und konnte sich immer und überall die Männer aussuchen. Sie konnte nett plaudern, charmant sein und auch verletzlich wirken, was Männern gefiel, das hatte sie vor langer Zeit begriffen. Nun aber war sie wirklich verletzlich, und das machte überhaupt keinen Spaß.

Es machte auch keinen Spaß, auf der Flucht zu sein.

Selbst wenn es nicht für immer war.

Auf Regalen, Tischen und auf dem Boden stapelten sich Bücher, CDs und DVDs, die sie im Internet bestellt hatte. In den zwei Monaten, die sie nun auf der Flucht war, hatte sie mehr Bücher gelesen und ferngesehen als in ihrem ganzen Leben. Die übrige Zeit verbrachte sie damit, online Spanisch zu lernen.

Sie war hierher zurückgekommen, weil sie und Dave es für sicher hielten. Falls es einen Ort gab, an dem er nicht auftauchen würde, dann an diesem. Der einzige Ort auf dem Planeten. Ganz sicher war sie dennoch nicht.

Sie war noch aus einem anderen Grund nach Brighton gekommen, der höchste Priorität genoss. Der Gesundheitszustand ihrer Mutter verschlechterte sich zusehends, und sie musste ein gutes privates Pflegeheim finden, in dem sie ihre letzten Jahre würdevoll verbringen konnte. Abby hätte es nicht ertragen, sie auf der geriatrischen Station in einem der furchtbaren staatlichen Altenheime zu wissen. Sie hatte schon ein wunderschönes Heim auf dem Land ausgeguckt. Es war teuer, doch nun konnte sie es sich leisten, ihre Mutter auf Jahre dort unterzubringen. Sie musste nur noch ein bisschen in Deckung bleiben.

Plötzlich meldete ihr Handy eine SMS. Sie lächelte, als sie den Absender las. Die kurzen Nachrichten, die sie alle paar Tage erhielt, waren eine enorme Hilfe.

 

Abwesenheit verringert eine kleine Liebe und vergrößert eine große Liebe, so wie der Wind die Kerze ausbläst und das große Feuer auflodern lässt.

 

Sie überlegte kurz. Ein Vorteil ihres augenblicklichen Daseins bestand darin, dass sie ohne schlechtes Gewissen stundenlang im Internet surfen konnte. Sie liebte es, Zitate zu sammeln, und schickte eins als Antwort zurück.

 

Liebe heißt nicht, einander anzuschauen. Liebe heißt gemeinsam in dieselbe Richtung zu blicken.

 

Zum ersten Mal war sie einem Mann begegnet, der in dieselbe Richtung blickte wie sie. Noch war es nur ein Name auf einer Landkarte. Bilder, die sie aus dem Netz heruntergeladen hatte. Ein Ort, an den sie in ihren Träumen reiste. Bald aber würden sie gemeinsam dorthin fahren. Sie mussten sich nur noch ein wenig gedulden. Sie beide.

Sie klappte die Zeitschrift The Latest zu, in der sie sich Traumhäuser angeschaut hatte, drückte die Zigarette aus, trank ihren Sauvignon und begann ihren üblichen Rundgang vor dem Verlassen der Wohnung.

Zuerst trat sie ans Fenster und spähte durch die Jalousien auf die Reihenhäuser im Regency-Stil. Das orange-gelbe Licht der Straßenlaternen drang in jeden Winkel. Ein Herbststurm peitschte heulend den Regen wie Schrotkörner gegen die Fensterscheiben. Als Kind hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet. Verrückt, heute fühlte sie sich im Dunkeln sicher.

Sie kannte alle Autos, die regelmäßig auf der Straße parkten, und überprüfte sie rasch. Den schmutzigen, mit Vogelkacke bekleckerten Golf GTI, den Ford Galaxy, der dem Paar von gegenüber mit den quengelnden Zwillingen gehörte, das nur damit beschäftigt schien, Einkäufe und Kinderwagen treppauf und treppab zu schleppen. Da war der seltsam aussehende kleine Toyota Yaris und der betagte Porsche Boxster, der einem jungen Mann gehörte, den sie für einen Arzt hielt. Vermutlich arbeitete er im nahe gelegenen Royal Sussex County Hospital. Der verrostete weiße Renault-Lieferwagen mit den platten Reifen und dem Schild im Fenster, auf dem mit roter Schrift ZU VERKAUFEN stand. Dazu ein weiteres Dutzend Autos, deren Besitzer sie vom Sehen kannte. Nichts Neues, kein Grund zur Sorge. Niemand lauerte im Schatten.

Ein Paar eilte Arm in Arm vorbei, der aufgeblähte Regenschirm drohte umzuschlagen.

Fenster im Schlafzimmer, Gästezimmer, Bad, Wohn-/Esszimmer abschließen. Timer für Licht, Fernsehen und Radio in jedem Zimmer aktivieren. Faden in Kniehöhe vor Wohnungstür quer durch Diele spannen.

Paranoid? Und wie!

Sie nahm den langen Regenmantel und den Schirm vom Haken in der schmalen Diele, stieg über den Faden und schaute durch den Spion. Der leere Treppenabsatz war in gelbes Licht getaucht.

Sie hakte die Sicherheitsketten aus, öffnete vorsichtig die Tür und trat in den Flur. Sofort drang ihr der Geruch von Sägemehl in die Nase. Sie zog die Tür zu und verriegelte alle drei Schlösser.

Dann horchte sie. In einer Wohnung unter ihr klingelte das Telefon. Niemand hob ab. Zitternd zog sie den Regenmantel mit dem Fleecefutter enger um sich. Nach so vielen Jahren in der Sonne hatte sie sich noch nicht an die Feuchtigkeit und Kälte gewöhnt. Oder daran, den Freitagabend allein zu verbringen.

An diesem Abend wollte sie sich im Kino am Yachthafen den Film Abbitte anschauen und danach einen Happen essen, vielleicht Pasta. Wenn sie in der Stimmung war, würde sie irgendwo noch ein paar Gläser Wein trinken. So hätte sie immerhin das Gefühl, unter Menschen zu sein.

Sie war unauffällig gekleidet, trug Designerjeans, Stiefeletten und einen schwarzen Rollkragenpulli. Sie wollte nett aussehen, aber kein Aufsehen erregen, wenn sie in eine Kneipe ging. Sie öffnete die Sicherheitstür zum Treppenhaus und entdeckte bestürzt, dass es blockiert war. Die Arbeiter hatten dort übers Wochenende lange Gipskartonplatten und einen Stapel Holz deponiert.

Fluchend überlegte sie, ob sie darüber klettern oder den Aufzug nehmen sollte. Schließlich drückte sie den Knopf und starrte auf die zerkratzte Metalltür. Sekunden später hörte sie, wie die Kabine scheppernd nach oben fuhr und mit einem ohrenbetäubenden Laut zum Stehen kam. Dann glitt die Außentür knirschend auf.

Sie trat ein, und die Tür schloss sich hörbar. Die Innentür ging ebenfalls zu. Es roch nach fremdem Parfüm und Zitronenreiniger. Der Lift ruckte so heftig, dass sie beinahe umfiel.

Nun, da es zu spät war, um auszusteigen, da die metallenen Wände sie einschlossen und ein kleiner, fast blinder Spiegel die aufsteigende Panik in ihrem Gesicht zeigte, schoss der Aufzug ruckartig nach unten.

Abby begriff, dass sie gerade einen schweren Fehler begangen hatte.

3

OKTOBER 2007 Detective Superintendent Roy Grace saß in seinem Büro am Schreibtisch. Er legte den Hörer auf und lehnte sich mit verschränkten Armen nach hinten, bis der Stuhl gegen die Wand kippte. Scheiße. Es war Viertel vor fünf am Freitagnachmittag, und soeben hatte jemand sein Wochenende die Toilette hinuntergespült. Besser gesagt, einen Gully hinunter.

Und das nach einer Pechsträhne beim wöchentlichen Pokerabend, bei dem er gestern fast dreihundert Mäuse verloren hatte. Was konnte es an einem verregneten Freitagnachmittag Schöneres geben als eine Expedition in einen Abwasserkanal? Das machte richtig Laune. Der eisige Wind drang durch die undichten Fenster seines kleinen Büros, begleitet vom Prasseln des Regens. Der ideale Tag für einen Ausflug.

Er verfluchte den Leiter der Einsatzzentrale, der ihn soeben angerufen hatte. Natürlich war es ungerecht, seinen Unwillen an dem auszulassen, der die schlechte Nachricht übermittelte, aber er hatte einen schönen Samstagabend in London geplant, mit dem er Cleo überraschen wollte. Den konnte er jetzt für einen neuen Fall abblasen, der ihm, wie er instinktiv wusste, wenig Freude bereiten würde. Und das nur, weil er den Dienst eines erkrankten Kollegen übernommen hatte.

Er ermittelte vor allem in Mordfällen. In Sussex gab es jedes Jahr zwischen fünfzehn und zwanzig Fälle, die meisten davon in Brighton and Hove und der näheren Umgebung. Auf diese Weise bekamen alle Ermittler die Gelegenheit, ihr Können zu zeigen. So berechnend es auch klingen mochte, brachte ein brutaler, aufsehenerregender Mordfall meist einen Karriereschub. Medien, Öffentlichkeit und Kollegen wurden auf einen aufmerksam, vor allem aber die Vorgesetzten. Es war ungemein befriedigend, wenn man auf eine erfolgreiche Verhaftung und Verurteilung zurückblicken konnte. Es war mehr als nur ein beruflicher Erfolg – die Familie des Opfers konnte einen Schlussstrich ziehen und nach vorn blicken. Für Grace war dies der wichtigste Faktor überhaupt.

Er arbeitete gerne an Mordfällen, bei denen es noch eine heiße Spur gab, sodass er mit hohem Adrenalinspiegel Gas geben, spontane Entscheidungen treffen und sein Team motivieren konnte, rund um die Uhr zu arbeiten, getrieben von der Aussicht, den Täter schnell zu fassen.

Der Fund in dem Abwasserkanal ließ jedoch nicht auf einen frischen Mordfall schließen. Skelettreste. Vielleicht gar kein Mord, sondern ein Selbstmord oder ein natürlicher Tod. Es bestand sogar die entfernte Möglichkeit, dass es sich um eine Schaufensterpuppe handelte, alles schon da gewesen. Die Überreste konnten seit Jahrzehnten dort liegen, da hätten ein paar Tage wirklich keinen Unterschied gemacht.

Grace verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er so zornig war, und warf einen Blick auf die diversen blauen Kartons, die sich in seinem Büro stapelten. Daneben blieb nur noch Platz für den kleinen runden Besprechungstisch und die vier Stühle.

In jedem Karton lagen die wichtigsten Akten eines ungelösten Mordfalls. Die übrigen Unterlagen drängten sich in den überquellenden Schränken der Kripozentrale, schimmelten in einer feuchten Polizeigarage des Bezirks vor sich hin, in dem der Mord geschehen war, oder lagen zusammen mit den sorgfältig eingetüteten und beschrifteten Beweisstücken vergessen in einem Asservatenkeller.

Zwanzig Jahre Erfahrung bei Mordfällen sagten ihm, dass dieser Skelettfund vermutlich ebenfalls in einem blauen Karton enden würde.

Er hatte im Augenblick so viel Papierkram zu erledigen, dass sein Schreibtisch darunter zusammenzubrechen drohte. Außerdem musste er im Auftrag der Staatsanwaltschaft sämtliche Unterlagen für zwei bevorstehende Mordprozesse überprüfen, einer gegen einen schmierigen Internet-Pornohändler namens Carl Venner, der andere gegen einen Psychopathen namens Norman Jecks.

Er überflog ein Dokument, das Emily Gaylor, eine junge Mitarbeiterin der Justizabteilung von Brighton, erstellt hatte. Dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer, obwohl er nur wenig Befriedigung darin fand, jemand anderem ebenfalls das Wochenende zu verderben.

Der Angerufene meldete sich sofort. »DS Branson.«

»Was machst du gerade?«

»Danke der Nachfrage, Oldtimer, ich wollte nach Hause gehen«, erwiderte Glenn Branson.

»Falsche Antwort.«

»Nein, richtige Antwort«, entgegnete sein Detective Sergeant. »Ari hat eine Dressurstunde, da muss ich mich um die Kinder kümmern.«

»Was ist denn eine Dressurstunde?«

»Es hat mit ihrem Pferd zu tun und kostet dreißig Mäuse.«

»Dann muss sie die Kinder eben mitnehmen. Wir treffen uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz. Wir müssen uns eine Leiche ansehen.«

»Ich würde wirklich lieber nach Hause fahren.« »Frag mich mal. Die Leiche wäre vermutlich auch lieber zu Hause«, erklärte Grace. »Sie säße lieber mit einer schönen Tasse Tee vor dem Fernseher, als in einem Abwasserkanal vor sich hin zu verwesen.«

4

OKTOBER 2007 Sekunden später hielt der Aufzug ruckartig an, schwankte hin und her und prallte gegen die Wände des Schachts. Es hörte sich an, als würden zwei Ölfässer aneinander stoßen. Dann kippte er leicht, sodass Abby gegen die Tür stolperte.

Ein erneuter Ruck, freier Fall. Sie wimmerte leise. Einen Sekundenbruchteil lang verlor sie den Boden unter den Füßen, als wäre sie schwerelos. Ein unheimliches Knirschen, und der Boden schien sich wieder zu heben, prallte so hart gegen ihre Füße, dass es ihr den Atem nahm. Es fühlte sich an, als würde man ihr die Beine in den Hals rammen.

Der Aufzug wackelte und warf sie wie eine leblose Puppe gegen die verspiegelte Rückwand. Noch ein Schlingern, dann war es still. Die Kabine schwankte ganz leicht, der Boden hing schief wie ein Betrunkener.

»Oh, Gott«, flüsterte Abby.

Die Deckenbeleuchtung flackerte, ging aus, ging wieder an. Es roch beißend nach verschmorten Kabeln. Eine dünne Rauchfahne kringelte sich langsam an ihr vorbei.

Sie hielt die Luft an, um einen Schrei zu unterdrücken. Es war, als hinge die ganze verdammte Kiste an einem einzigen zerfaserten Seil.

Dann plötzlich ein reißendes Geräusch von oben. Metall barst. In namenlosem Entsetzen schaute sie zur Decke. Mit Aufzügen kannte sie sich nicht aus, aber es hörte sich an, als gäbe etwas nach. Ihre Fantasie lief Amok, sie stellte sich vor, wie die Befestigung des Kabels sich allmählich löste.

Der Aufzug rutschte einige Zentimeter ab.

Sie kreischte.

Noch ein Stück, der Boden neigte sich weiter.

Mit einem lauten Scheppern kippte die Kabine nach links, sackte weiter ab. Ein scharfes Knacken erklang, als würde etwas reißen.

Noch tiefer.

Abby versuchte, das Gleichgewicht zu halten, kippte um, prallte mit der Schulter gegen die Wand und dann mit dem Kopf gegen die Tür. Sie blieb einen Augenblick still liegen, atmete den staubigen Geruch des Teppichs ein, wagte nicht, sich zu rühren, schaute nur zur Decke hinauf. Dort befand sich eine undurchsichtige Glasscheibe, die von Leuchtstreifen eingerahmt wurde. Sie musste raus hier, und zwar schnell. In Filmen hatten Aufzüge immer eine Dachluke. Warum dieser nicht?

Sie reichte nicht an die Bedienungsknöpfe heran. Sie versuchte, sich hinzuknien, doch der Aufzug schwankte wild hin und her und prallte gegen die Wände des Schachts, als hinge er wirklich nur noch an einem dünnen Faden. Sie hielt inne. Fürchtete, das Kabel könnte ganz reißen.

Sie lag ganz still, hyperventilierte, horchte auf Hilfe. Nichts. Falls Hassan nicht da war und die übrigen Bewohner ebenfalls unterwegs waren oder fernsahen, würde niemand sie hören.

Alarm. Ich muss an den Alarmknopf.

Sie atmete tief durch. Spürte einen Druck im Schädel, als wäre die Kopfhaut auf einmal zu eng. Die Wände rückten heran, rückten zurück und rückten heran, als befände sie sich im Inneren einer Lunge. Einer Lunge, die pulsierend atmete. Panik.

»Hi«, flüsterte sie. Das hatte ihr die Therapeutin beigebracht, um einer aufkommenden Panikattacke zu begegnen. »Ich bin Abby Dawson. Mir geht es gut. Das ist nur eine verrückte chemische Reaktion. Mir geht es gut, ich befinde mich in meinem Körper, ich bin nicht tot, und es geht vorbei.«

Sie rückte zentimeterweise zum Knopf. Der Boden wackelte und kreiste, als läge sie auf einem Teller, den ein Jongleur auf einem Stock balancierte. Sie konnte jeden Augenblick herunterfallen. Als Ruhe eingekehrt war, kroch sie weiter. Und weiter. Wieder zog eine blaue beißende Rauchwolke an ihr vorbei, lautlos wie ein Flaschengeist. Sie streckte den Arm aus, reckte ihn so weit es ging und drückte mit zitterndem Finger den grauen Metallknopf, auf dem in roten Buchstaben ALARM stand.

Nichts passierte.

5

OKTOBER 2007 Als Roy Grace gedankenversunken mit dem grauen Hyundai in die Trafalgar Street einbog, war es fast dunkel. Die Straße mochte zwar voller Stolz nach einer siegreichen Seeschlacht benannt sein, war aber von vernachlässigten, schmutzigen Häusern und Geschäften gesäumt und wurde Tag und Nacht von Drogendealern frequentiert. Zum Glück hielt das schlechte Wetter die meisten im Haus. Glenn Branson saß, wie immer schick in braunem Nadelstreifenanzug und makelloser Seidenkrawatte, mürrisch schweigend neben ihm.

Anders als die meisten Dienstwagen stank der neue Hyundai noch nicht nach McDonald’s und altem Haargel, sondern roch, wie ein neues Auto riechen sollte. Grace bog nach rechts ab und fuhr am Bretterzaun eines Bauunternehmens vorbei. Dahinter wurde ein großes, heruntergekommenes Gelände mitten in der Stadt saniert. Zwei alte Güterbahnhöfe sollten einem schicken Neubaukomplex weichen.

Der Bretterzaun präsentierte ein Hochglanzbild der architektonischen Visionen. NEW ENGLAND QUARTER. HÄUSER UND BÜROS MIT ANSPRUCH. Es sah aus wie alle modernen Neu bauten, die überall im Land aus dem Boden schossen, dachte Grace. Glas, freiliegende Stahlträger, Höfe mit netten Büschen und Bäumen und kein einziger Ganove in Sicht. Irgendwann würde ganz England gleich aussehen, sodass man nicht mehr wusste, in welcher Stadt man sich befand.

Was wäre so schlimm daran?, fragte er sich. Bin ich mit neununddreißig schon ein alter Knacker? Will ich denn wirklich, dass die Stadt, an der ich so hänge, mit ihrem alten Dreck in einer Zeitschleife stecken bleibt?

Allerdings hatte er im Augenblick Wichtigeres zu bedenken als die Stadtplanung von Brighton and Hove. Es war auch wichtiger als die menschlichen Überreste, die sie sich gleich anschauen würden. Etwas lag ihm auf der Seele.

Cassian Pewe.

Am Montag würde Cassian Pewe, der lange an den Folgen eines Autounfalls laboriert hatte, seinen Dienst in der Kripozentrale antreten und denselben Rang bekleiden wie Grace. Nur besaß er einen Riesenvorteil: Detective Superintendent Cassian Pewe war der Goldjunge von Assistant Chief Constable Alison Vosper, während Grace eher ihr Sündenbock war.

Trotz großer Erfolge in den vergangenen Monaten konnte Grace jeder falsche Schritt die Karriere kosten und ihn in eine Wache irgendwo im Hinterland katapultieren. Dabei wollte er gar nicht weg aus Brighton and Hove und schon gar nicht weg von seiner geliebten Cleo.

In seinen Augen war Cassian Pewe einer jener arroganten Kerle, die unglaublich gut aussahen und das leider auch wussten. Goldblondes Haar, himmelblaue Augen, immer sonnengebräunt und mit einer Stimme, die aufdringlich war wie ein Zahnarztbohrer. Der Mann stolzierte herum, verströmte ungeheures Selbstbewusstsein und führte sich auf wie der Chef persönlich.

Deswegen waren sie auch aneinandergerasselt. Vor einigen Jahren hatte die Londoner Polizei Verstärkung für den Labour-Parteitag geschickt. Dank seiner unglaublichen Ignoranz war es Pewe, damals noch Detective Inspector, tatsächlich gelungen, zwei Informanten zu verhaften, die Roy seit Jahren sorgsam pflegte. Danach hatte er sich überdies geweigert, die Vorwürfe gegen die Leute fallen zu lassen. Am meisten hatte es Roy jedoch auf die Palme gebracht, dass Alison Vosper sich auch noch auf Pewes Seite stellte.

Was sie an diesem Mann fand, war ihm nicht klar, außer die beiden hatten eine Affäre, eine Vorstellung, die manchmal gar nicht so abwegig erschien. Vosper hatte es sehr eilig gehabt, Pewe nach Brighton zu holen und zu befördern, wodurch sie Graces Befugnisse halbierte. Dabei war er durchaus in der Lage, seinen Job allein zu erledigen. Die ganze Sache war äußerst verdächtig.

Glenn Branson, gewöhnlich sehr redselig, hatte kein Wort gesprochen, seit sie die Kripozentrale verlassen hatten. Vielleicht war er wirklich sauer, dass Grace seinen Freitagabend mit der Familie durchkreuzt hatte. Oder es lag daran, dass Roy ihn nicht fahren ließ. Plötzlich fragte der Detective Sergeant:

»Hast du mal den Film In der Hitze der Nacht gesehen?«

»Ich glaube nicht. Wieso?«

»Darin geht es um einen rassistischen Polizisten in den Südstaaten.« »Und?«

Branson zuckte die Achseln.

»Bin ich etwa ein Rassist?«

»Du hättest auch jemand anderem das Wochenende versauen können. Warum gerade mir?«

»Weil ich schwarze Männer auf dem Kieker habe.«

»Das glaubt Ari auch.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

Vor einigen Monaten hatte Glenn ein paar Tage bei ihm gewohnt, weil seine Frau ihn auf die Straße gesetzt hatte. Es wäre fast das Ende ihrer Freundschaft gewesen. Inzwischen wohnte Glenn wieder bei seiner Frau.

»Ich meine es ernst.«

»Dann hat Ari ein Problem.«

»Die erste Szene auf der Brücke ist ganz berühmt. Eine der längsten Kamerafahrten der Filmgeschichte«, sagte Glenn.

»Toll. Ich sehe ihn mir demnächst an. Hör zu, Kumpel, Ari muss allmählich wieder auf den Boden kommen.«

Glenn bot ihm ein Kaugummi an. Das Pfefferminzaroma war angenehm erfrischend.

»Musstest du mich wirklich heute Abend hierhin schleppen? Du hättest genauso gut jemand anderen fragen können«, sagte Glenn.

An einer Straßenecke stand ein heruntergekommener Typ im Anzug und sprach mit einem Jugendlichen im Kapuzenpulli. Graces erfahrener Blick verriet ihm, dass die beiden etwas zu verbergen hatten. Vermutlich ein Dealer beim Geschäftemachen.

»Ich dachte, zwischen dir und Ari wäre es besser geworden.«

»Dachte ich auch. Hab ihr sogar das verdammte Pferd gekauft. Nun sieht es so aus, als wäre es das falsche Pferd.«

Durch die Bewegungen der Scheibenwischer erkannte Grace mehrere Baumaschinen, einen Streifenwagen und eine Baustelle, die mit Absperrband versehen war. Ein durchnässter, unglücklich dreinblickender Officer in gelber Leuchtweste stand da, in der Hand ein Klemmbrett in Plastikhülle. Sein Anblick erfreute Grace: Immerhin wussten die Uniformierten heutzutage, wie man einen Tatort sicherte.

Er parkte vor dem Streifenwagen und sagte zu Glenn: »Bei dir steht bald die Anhörung zur Beförderung an, oder?«

»Klar.«

»Das hier könnte genau die Art von Ermittlung sein, über die du bei der Anhörung berichten kannst. Eine interessante Geschichte.«

»Erzähl das mal Ari.«

Grace legte seinem Freund den Arm um die Schulter. Er liebte diesen Mann, einen der brillantesten Ermittler, denen er je begegnet war. Glenn besaß die besten Voraussetzungen für eine Karriere bei der Polizei, aber die gab es nicht umsonst. Sie hatte einen Preis, den viele nicht bezahlen wollten. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten zerstörten viele Partnerschaften. Am besten lief es, wenn beide Partner bei der Polizei oder in ähnlich familienfeindlichen Berufen arbeiteten.

»Ich habe mich heute für dich entschieden, weil du der beste Mann bist. Aber ich zwinge dich nicht. Du kannst mitkommen oder nach Hause fahren. Entscheide selbst.«

»Klar, Oldtimer, ich fahre nach Hause, und was dann? Dann kann ich morgen wieder in Uniform Streife laufen und am Duke’s Mound Schwule wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses hoch nehmen. Stimmt’s?«

»So in etwa.«

Grace stieg aus. Branson folgte ihm.

In Regen und heulendem Wind zogen sie weiße Overalls und Gummistiefel an, in denen sie aussahen wie zwei Spermien, und meldeten sich bei einem Officer, der sie auf seinem Klemmbrett unterschreiben ließ.

»Sie brauchen Taschenlampen«, erklärte er.

Grace schaltete seine Taschenlampe probeweise ein und wieder aus. Branson tat es ihm nach. Ein zweiter Polizist, der ebenfalls eine gelbe Leuchtweste trug, ging im schwindenden Licht vor ihnen her. Der Schlamm unter ihren Füßen, der von tiefen Reifenspuren durchzogen war, machte saugende Geräusche. So stapften sie über die riesige Baustelle.

Sie kamen an einem hohen Kran, einem Schaufelbagger und Stapeln von Baumaterial unter flatternden Plastikplanen vorbei. Vor ihnen ragte die bröckelnde Ziegelmauer des Bahnhofsparkplatzes empor. Dahinter sah man den orangefarbenen Schein der abendlich erleuchteten Stadt. Ein loses Brett klapperte im Wind, Metall schepperte aneinander.

Grace sah sich um. Hier wurden gerade Fundamente gegossen. Seit Monaten war auf dem Gelände schweres Gerät kreuz und quer umhergefahren, sodass man nur im Abwasserkanal selbst auf Spuren hoffen konnte.

Der Officer blieb stehen und deutete in einen freigelegten Kanal, der sich etwa sechs Meter unter ihnen befand. Er erinnerte Grace an eine prähistorische Schlange mit einem gezackten Loch im Rücken. Das Mosaik aus alten, ausgeblichenen Ziegelsteinen gehörte zu einem Tunnel, der sich nur stellenweise aus dem Schlamm erhob.

Es war der Abflusskanal der alten Bahnlinie von Brighton nach Kemp Town.

»Keiner wusste, dass es ihn noch gibt«, erklärte der Officer. »Der Bagger hat ihn vorhin beschädigt.«

Roy Grace versuchte, gegen seine Höhenangst anzugehen, holte tief Luft und kletterte den steilen, glitschigen Hang hinunter. Er atmete erleichtert auf, als er heil unten angekommen war. Auf einmal sah der Schlangenkörper viel größer aus. Er schätzte ihn auf über zwei Meter Höhe. Das Loch in der Mitte gähnte wie eine dunkle Höhle.

Um seiner Rolle als Vorgesetzter gerecht zu werden, schritt er darauf zu, gefolgt von Branson und dem Officer, und schaltete die Taschenlampe ein.

Er stieg in die Röhre und rümpfte die Nase. Es roch feucht und faulig, Schatten zuckten wild über die Wände. Der Kanal war höher, als er von draußen aussah, und erinnerte an einen uralten U-Bahn-Tunnel.

»Der dritte Mann«, sagte Glenn Branson unvermittelt. »Du kennst den Film. Den hast du sogar zu Hause.«

»Mit Orson Welles und Joseph Cotten?«

»Tolles Gedächtnis! Abwasserkanäle erinnern mich immer daran.«

Grace richtete den starken Strahl nach rechts. Dunkelheit. Schimmernde Pfützen. Uraltes Mauerwerk. Dann leuchtete er nach links. Zuckte zurück.

»Scheiße!« Glenn Bransons Stimme hallte von den Wänden wider.

Obwohl Grace damit gerechnet hatte, erschreckte ihn der Anblick. Ein Skelett, halb im Schlick vergraben, lehnte einige Meter weiter an der Wand. Es sah aus, als hätte es nur auf ihn gewartet. Am Kopf hafteten noch lange Haarsträhnen, doch ansonsten waren nur Knochen und winzige Hautfetzen übrig, der Rest war aufgefressen oder verwest.

Er näherte sich, darauf bedacht, nicht auszurutschen. Zwei winzige rote Punkte tauchten auf und verschwanden wieder. Eine Ratte. Er richtete den Lichtstrahl auf den Schädel. Das starre Grinsen ließ ihn schaudern.

Und noch etwas.

Die Haare. Obwohl ihr Glanz längst verblichen war, waren sie ebenso lang und vom gleichen Weizenblond wie die von Sandy, seiner verschwundenen Frau.

Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, und wandte sich an den Officer: »Haben Sie den ganzen Tunnel abgesucht?«

»Nein, Sir, wir wollten auf die Spurensicherung warten.«

»Gut.«

Er war erleichtert, dass der junge Mann so vernünftig gehandelt und keine noch vorhandenen Spuren zerstört hatte. Dann merkte er, dass seine Hand zitterte, und richtete die Taschenlampe wieder auf den Schädel.

Auf die Haare.

Vor neun Jahren war seine geliebte Frau Sandy spurlos verschwunden. Er hatte nie aufgehört, nach ihr zu suchen. Fragte sich Tag und Nacht, was aus ihr geworden sein mochte. War sie entführt und irgendwo eingesperrt worden? War sie mit einem Liebhaber durchgebrannt? Ermordet worden? Hatte sie Selbstmord begangen? War sie überhaupt noch am Leben? Er hatte Medien, Hellseher und so ziemlich alle anderen Esoterikfreaks konsultiert, die er finden konnte.

Kürzlich war er sogar nach München geflogen, wo sie angeblich gesehen worden war. Es hätte durchaus sein können, da Verwandte ihrer Mutter aus der Gegend stammten. Doch niemand dort hatte von ihr gehört, und wie üblich waren alle Spuren im Sand verlaufen. Wann immer er mit einer unbekannten Toten zu tun hatte, die ungefähr in Sandys Alter war, fragte er sich, ob er sie nun endlich gefunden hatte.

Das Skelett, begraben in einem Abflusskanal in der Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war und in der er sich damals verliebt hatte, schien ihn herauszufordern: Du hast dir ganz schön Zeit gelassen!

6

OKTOBER 2007 Abby saß auf dem harten, mit Teppich ausgelegten Boden und starrte auf das kleine Schild neben den Knöpfen an der grauen Wand. Dort stand in großen roten Buchstaben auf weißem Hintergrund:

 

WENN NOTFALL BITTE 013 228 7828 ODER 999 WÄHLEN

 

Die Grammatik war nicht gerade vertrauenerweckend. Unter den Knöpfen befand sich eine kleine, gesprungene Glastür. Unendlich langsam kroch sie über den Boden. Die Tür war ganz nah, hätte aber ebenso gut am anderen Ende der Welt sein können, da der Aufzug bei jeder Bewegung wild hin und her ruckte.

Endlich war sie da. Öffnete die Tür und nahm den Hörer ab, der an einem Spiralkabel befestigt war.

Kein Rufzeichen.

Sie hämmerte auf die Gabel, worauf der Aufzug in Bewegung geriet, doch der Hörer blieb stumm. Sie wählte die Nummern, einfach nur so. Nichts.

Na super, dachte sie. Ganz toll. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte 999.

Das Telefon piepste durchdringend. Im Display erschien die Meldung:

 

Kein Empfang.

 

»Herrgott, tu mir das nicht an.«

Schwer atmend schaltete sie das Handy aus, wartete und schaltete es wieder ein. Noch immer kein Empfang.

Abby wählte noch einmal den Notruf, erneut piepte es, erneut erschien die Meldung im Display. Sie versuchte es wieder und wieder und drückte die Tasten jedes Mal fester.

»Na komm schon, komm schon. Bitte, bitte.«

Sie starrte auf das Display. Manchmal veränderte sich die Signalstärke. Wenn sie lange genug wartete …

Dann rief sie, zuerst vorsichtig: »Hallo? Hilfe!«

Ihre Stimme klang leise und erstickt.

Sie holte tief Luft und brüllte, so laut sie konnte: »HALLO? BITTE HELFEN SIE MIR! HILFE! ICH STECKE IM AUFZUG FEST!«

Sie wartete. Stille.

Die Stille war beinahe hörbar. Eine Lampe summte. Ihr Herz hämmerte. Das Blut schoss durch ihre Adern. Ihr Atem ging stockend.

Wieder rückten die Wände näher.

Sie atmete langsam ein und aus. Schaute wieder aufs Display des Handys. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie kaum lesen konnte, was dort stand. Die Zahlen verschwammen ihr vor den Augen. Ruhig einatmen, ausatmen. Sie wählte noch einmal die 999. Nichts. Sie legte das Handy weg und hämmerte gegen die Wand.

Ein lautes Geräusch ertönte, und der Aufzug geriet in Bewegung. Prallte gegen eine Wand und sackte ein Stück ab.

»HILFE!«

Selbst ihr Schrei ließ den Aufzug schwanken. Sie saß wieder ganz still da. Die Kabine kam zum Stehen.

Trotz ihres Entsetzens überfiel sie ein geradezu rasender Ärger angesichts ihrer misslichen Lage. Sie rutschte ein Stück nach vorn, hämmerte gegen die Metalltüren und brüllte aus voller Kehle, brüllte, bis ihre Ohren weh taten und ihr Hals schmerzte. Sie musste husten, als hätte sie Staub geschluckt.

»LASST MICH RAUS!«

Dann spürte sie, wie sich der Aufzug abrupt bewegte, als drückte jemand von oben gegen die Decke. Sie schaute hoch. Hielt die Luft an und horchte.

Doch sie hörte nur die Stille.

7

11. SEPTEMBER 2001 Lorraine Wilson lag oben ohne im Liegestuhl im Garten, um mit den letzten sommerlichen Sonnenstrahlen ihre Bräune zu verlängern. Sie schaute durch die Sonnenbrille mit den großen ovalen Gläsern auf die Uhr. Ronnie hatte ihr die goldene Rolex im Juni zum Geburtstag geschenkt und beteuert, sie sei echt. Das hatte sie allerdings nicht geglaubt. Dazu kannte sie ihn zu gut. Er würde keine zehntausend Pfund ausgeben, wenn er für fünfzig etwas bekam, das genauso aussah. Schon gar nicht jetzt, wo er in finanziellen Schwierigkeiten steckte.

Er sprach nicht mit ihr über seine Probleme, war aber in letzter Zeit knickerig geworden, hatte die Lebensmittelrechnungen überprüft und gemeckert, sie gebe zu viel Geld für Kleider, Friseur und Restaurantbesuche mit ihren Freundinnen aus. Das Haus war stellenweise so heruntergekommen, dass es ihr peinlich war, aber Ronnie weigerte sich, Handwerker zu bestellen. Sie mussten angeblich sparen.

Sie liebte ihn sehr, aber es gab eine Seite an ihm, die sie nie erreichen konnte, eine geheime Nische in seinem Inneren, in der er allein mit seinem Dämon kämpfte. Sie ahnte, was für ein Dämon das war: der unbedingte Drang, erfolgreich zu sein und es allen anderen zu zeigen.

Deshalb hatte er auch das Haus am Shirley Drive gekauft, das sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Es war nicht groß, lag aber in einer der teuersten Wohngegenden von Brighton and Hove, einem ruhigen, hügeligen Viertel mit frei stehenden Häusern und ansehnlichen Gärten an baumbestandenen Straßen. Es war modern und wirkte mit den versetzten Ebenen größer, als es eigentlich war. Vor allem unterschied es sich deutlich von den Häusern im Pseudo-Tu- Tudorstil, der in dieser Gegend vorherrschte. Die Terrasse aus Teakholz und der kleine Pool verliehen ihm einen Hauch von Beverly Hills.

Es war zehn vor zwei. Nett, dass er angerufen hatte. Die Zeitverschiebung brachte sie immer ganz durcheinander; verrückt, dass Ronnie gerade frühstückte, während sie ihr Mittagessen aus Hüttenkäse und Beeren zu sich nahm. Sie war glücklich, dass er heute Abend nach Hause fliegen würde. Sie vermisste ihn sehr, wenn er unterwegs war, und fragte sich immer, was er alleine so trieb, denn Ronnie war ein echter Frauenheld. Die Kurzreise, die nur drei Tage dauern sollte, war aber nicht so schlimm.

Der Teil des Gartens, in dem sie lag, war völlig durch ein hohes Spalier abgeschirmt, an dem Efeu empor wuchs. Daneben stand ein riesiger, wild wuchernder Rhododendron, der wohl gern ein Baum sein wollte. Lorraine sah zu, wie der elektronische Poolreiniger durchs Wasser kreuzte und dabei sanfte Wellen erzeugte. Alfie, der gestreifte Kater, schien etwas Interessantes hinter dem Rhododendron gefunden zu haben und schlich langsam und lauernd daran vorbei.

Man wusste nie, was Katzen dachten. Im Grunde hatte Ronnie ein bisschen Ähnlichkeit mit Alfie.

Sie stellte den Teller auf den Boden und griff nach der Daily Mail. Noch anderthalb Stunden, bevor sie zum Friseur musste. Sie würde sich Strähnchen machen lassen und danach noch ins Nagelstudio gehen. Für ihn wollte sie immer hübsch aussehen.

Lorraine genoss die warmen Sonnenstrahlen und blätterte in der Zeitung. Noch ein paar Minuten, dann würde sie seine Hemden bügeln. Ronnie mochte zwar gefälschte Uhren kaufen, doch bei Hemden kam nur das Original in Frage, Maßhemden aus der Londoner Jermyn Street. Er war geradezu besessen, wenn es um korrektes Bügeln ging. Da sie im Zuge ihrer Sparmaßnahmen auf die Haushaltshilfe verzichtet hatten, musste sie die Arbeit allein erledigen.

Lächelnd erinnerte sie sich an die erste Zeit mit Ronnie, als sie tatsächlich Freude am Waschen und Bügeln gehabt hatte. Als sie sich vor zehn Jahren kennen lernten, hatte sie als Verkäuferin im Duty-Free-Shop auf dem Flughafen Gatwick gearbeitet. Ronnie war dabei gewesen, die Scherben seines Lebens aufzusammeln, nachdem seine schöne, hirnlose Frau mit einem Filmregisseur, der sie zum Star machen wollte, nach Los Angeles durchgebrannt war.

Sie dachte an den ersten gemeinsamen Urlaub, den sie in einer kleinen Ferienwohnung bei Marbella verbracht hatten. Vom Balkon blickte man auf den Yachthafen von Puerto Banus. Ronnie hatte dort gesessen, Bier getrunken und neidisch auf die Yachten hinuntergeschaut. Damals hatte er ihr versprochen, dass ihnen eines Tages die größte Jacht im Hafen gehören würde. Er verstand sich darauf, eine Frau in romantische Stimmung zu versetzen, darin war er ein wahrer Meister.

Nichts hatte sie mehr geliebt, als seine Kleider zu waschen. An T-Shirts, Badehosen, Unterwäsche, Socken und Taschentüchern zu fühlen. Seinen männlichen Geruch einzuatmen. Es war ungemein befriedigend, seine wunderschönen Hemden zu bügeln und ihn darin zu erleben. Dann kam es ihr vor, als trüge er einen Teil ihrer selbst.

Inzwischen war es eine lästige Pflicht geworden, und sie nahm Ronnie seine Gemeinheiten übel.

Sie kehrte zu dem Artikel über Hormonersatztherapie zurück, den sie gerade las. Es ging um die Debatte, ob die Minderung von Wechseljahresbeschwerden – und der Erhalt des jugendlichen Aussehens – das Risiko, an Brustkrebs und anderen scheußlichen Dingen zu erkranken, überwog. Eine Wespe summte um ihren Kopf, und sie verjagte sie mit einer Handbewegung. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Brust. In zwei Jahren würde sie vierzig, ihr Körper zollte allmählich der Schwerkraft Tribut. Bis auf die teuren Brüste.

Lorraine war keine makellose, hinreißende Schönheit, war aber, um es mit Ronnie zu sagen, immer ein Hingucker gewesen. Die blonden Haare hatte sie von ihrer norwegischen Großmutter geerbt. Vor Jahren hatte sie, wie Millionen anderer Blondinen in aller Welt, die Frisur von Lady Diana kopiert und war mehr als einmal mit der Princess of Wales verwechselt worden.

Nun muss ich mich aber bald um den Rest meines Körpers kümmern, dachte sie düster.

Wenn sie im Liegestuhl lag, erinnerte ihr Bauch an den Beutel eines Kängurus. Er sah aus wie der Bauch einer Frau, die mehrere Kinder geboren hat, deren Haut und Muskeln ständig überdehnt worden waren. Hinzu kamen die Cellulitis-Dellen an den Oberschenkeln.

Diese ganzen Katastrophen suchten ihren Körper heim, obwohl sie (zu Ronnies Leidwesen) dreimal wöchentlich ihren persönlichen Fitnesstrainer aufsuchte.

Die Wespe kehrte zurück und summte wieder um ihren Kopf. »Verpiss dich.« Lorraine schlug mit der Hand nach dem Tier. »Hau ab.«

Da klingelte das schnurlose Telefon. Sie hörte die ungewöhnlich aufgeregte Stimme ihrer Schwester Mo, die sonst meist ruhig und fröhlich klang. »Hast du den Fernseher an?«

»Nein, ich bin im Garten.«

»Ronnie ist doch in New York, oder?«

»Klar, ich habe gerade mit ihm gesprochen. Wieso?«

»Es ist etwas Furchtbares passiert. Es kommt in allen Nachrichten. Ein Flugzeug ist ins World Trade Center geflogen.«

8

OKTOBER 2007 Der Regen wurde stärker. Es klang, als prasselten Hagelkörner auf das stählerne Dach des Fahrzeugs der Spurensicherung. Die Fensterscheiben waren getönt, um neugierige Blicke zu verhindern. Draußen war es fast dunkel, nur der rötliche Schimmer von zehntausend Straßenlaternen erhellte die nasse Düsternis.

Obwohl der Ford Transit eine Sonderanfertigung mit langem Radstand war, saß man drinnen dicht gedrängt. Roy Grace, der die Besprechung leitete, beendete ein Telefonat und holte das Protokollheft aus der Einsatztasche.

Neben ihm und Glenn Branson saßen der Leiter der Spurensicherung, einer vom Erkennungsdienst der Polizei und einer der beiden Officer, die den Fundort abgesichert hatten. Dabei war noch Joan Major, eine forensische Archäologin, die von der Sussex Police häufig hinzugezogen wurde, um Skelette zu identifizieren oder herauszufinden, ob einzelne Knochen, die gelegentlich auf Baustellen, in Wäldern oder Gärten gefunden wurden, von Menschen oder Tieren stammten.

Im Wagen war es kalt und feucht, und es roch stark nach chemischen Dämpfen. In den Metallregalen lagerten Rollen mit Absperrband, Leichensäcke, Zeltplanen und Bodenabdeckungen, Seile, Kabel, Hämmer, Sägen, Äxte und Plastikflaschen mit Chemikalien. Für Grace hatten diese Fahrzeuge immer etwas Grausames. Sie sahen aus wie Wohnwagen, fuhren aber nie auf Zeltplätze, sondern nur an Orte, an denen jemand zu Tode gekommen war.

Es war halb sieben.

»Nadiuska steht nicht zur Verfügung«, teilte er dem Team mit.

»Heißt das, wir bekommen Frazer?«, fragte Glenn verdrossen.

»Ja.«

Alle machten lange Gesichter. Nadiuska De Sancha war die Rechtsmedizinerin des Innenministeriums, mit der die Kripo Sussex am liebsten zusammenarbeitete. Sie war schnell, interessant und witzig und sah überdies gut aus. Frazer Theobald hingegen war langsam und mürrisch, arbeitete aber absolut präzise.

»Das eigentliche Problem besteht allerdings darin, dass Frazer noch bei einer Autopsie in Esher ist. Vor neun kann er nicht hier sein.«

Sein Blick kreuzte den von Glenn. Beide wussten, was das bedeutete – sie mussten eine Nachtschicht einlegen.

Grace schrieb auf die erste Seite des Protokolls: VORBESPRECHUNG TATORT. Freitag, 19. Oktober. 18.30 Uhr. Vor Ort, Baustelle New England Quarter.

»Dürfte ich einen Vorschlag machen?«, erkundigte sich Joan Major.

Die forensische Archäologin war eine sympathische Frau Anfang vierzig mit langem braunem Haar und einer modernen eckigen Brille. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, eine braune Hose und derbe Stiefel.

Grace machte eine Handbewegung.

»Ich schlage vor, wir führen eine kurze Begehung durch. Es dürfte nicht unbedingt erforderlich sein, noch heute Abend mit der Arbeit zu beginnen. Bei Tageslicht gestaltet sich alles viel leichter. Wie es sich anhört, liegt das Skelett schon länger dort drin. Da wird ein weiterer Tag keinen Unterschied machen.«

»Gute Idee«, meinte Grace. »Wir müssen allerdings bedenken, dass die Bauarbeiten weiterlaufen.« Er schaute Ned Morgan an, einen großen bärtigen Mann mit wettergegerbtem Gesicht. »Ned, Sie müssen mit dem Vorarbeiter sprechen. Die Arbeiten in unmittelbarer Nähe des Abflussrohrs müssen ausgesetzt werden.«

»Ich habe vorhin mit ihm gesprochen. Er macht sich Sorgen, weil sie bereits in Verzug gesetzt wurden«, erklärte Morgan. »Er bekam fast einen Anfall, als er hörte, dass wir womöglich eine ganze Woche bleiben.«

»Die Baustelle ist groß«, sagte Grace. »Wir müssen sie nicht komplett schließen. Entscheiden Sie selbst, wo die Arbeiten im Rahmen der Suche ausgesetzt werden sollen.« Dann wandte er sich wieder an die Archäologin. »Aber Sie haben recht, Joan, morgen bei Tageslicht zu arbeiten, wäre günstiger.«

Er rief Steve Curry, den Leiter der örtlichen Schutzpolizei, an und bat ihn, bis auf weiteres einen Wachposten abzustellen. Curry war wenig begeistert, da seine Personaldecke dünn war.

Grace wandte sich an Joe Tindall, den Leiter der Spurensicherung, der zufrieden lächelte. »Mir ist es gleich, Roy«, sagte er mit seinem Midlands-Akzent. »Jetzt, wo ich die Abteilung leite, kann ich zu vernünftigen Zeiten Schluss machen. Du und deine Kollegen könnt mir nicht mehr das Wochenende versauen. Heute versaue ich anderen Leuten das Wochenende.«

Grace beneidete ihn insgeheim. In Wirklichkeit hätte das Skelett sogar bis Montag warten können, doch nun, da alles offiziell war, durfte es keinen Aufschub geben.

 

*

 

Zehn Minuten später betraten sie in Schutzkleidung den Tunnel. Grace ging vor, gefolgt von Joan Major und Ned Morgan. Der Experte vom Erkennungsdienst hatte die übrigen Mitglieder des Teams angewiesen, im Wagen zu warten, um die Kontaminierung des Tatorts auf ein Minimum zu beschränken.

Die drei blieben in der Nähe stehen und richteten die Taschenlampen auf das Skelett. Joan Major trat vor, bis sie es berühren konnte.

Mit einem Kloß im Hals starrte Roy Grace auf das Gesicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Sandy handelte, war sehr gering. Dennoch, die Zähne waren intakt. Sandy hatte gute Zähne gehabt, eins der vielen Dinge, die ihm so an ihr gefallen hatten. Schöne weiße, absolut ebenmäßige Zähne und ein hinreißendes Lächeln.

Als er sprach, kam ihm seine eigene Stimme fremd vor. »Mann oder Frau, Joan?«

Sie betrachtete den Schädel. »Die Stirn fällt ziemlich senkrecht ab. Männer haben in der Regel eine schrägere Stirn.« Ihre Stimme hallte unheimlich durch den Tunnel. Dann nahm sie die Taschenlampe in die linke Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die hintere Seite des Schädels. »Die Crista nuchalis ist stark abgerundet.« Sie tippte auf die Knochenleiste. »Wenn Sie Ihren Hinterkopf betasten, werden Sie eine stärkere Ausprägung fühlen. Das ist bei Männern normal.« Sie betrachtete die linke Ohrhöhle. »Auch das Antrum mastoideum deutet auf eine Frau hin, da es bei Männern stärker ausgeprägt ist.« Dann zeigte sie auf die Augenhöhlen. »Bei einem Mann würden die Augenbrauenwülste weiter hervortreten.«

»Sie sind also relativ sicher, dass es sich um eine Frau handelt?«

»In der Tat. Wenn wir das Becken freigelegt haben, kann ich es hundertprozentig sagen. Ich werde einige Messungen vornehmen. Das männliche Skelett ist gemeinhin robuster gebaut, und die Proportionen sind anders.« Sie zögerte kurz. »Zu einer Sache würde ich gerne Frazers Meinung hören.«

»Und die wäre?«

Sie deutete auf den Hals des Skeletts. »Das Zungenbein ist gebrochen.«

»Zungenbein?«

Sie zeigte auf einen Knochen, der von einem winzigen Streifen vertrockneter Haut baumelte. »Sehen Sie diesen u-förmigen Knochen? Er hält die Zunge an Ort und Stelle. Der Zustand könnte auf die Todesursache hindeuten. Bei einer Erdrosselung wird häufig das Zungenbein gebrochen.«

Grace ließ diese Information sacken, betrachtete den Knochen und dann wieder die perfekten Zähne. Er versuchte, sich an die letzte Untersuchung eines Skeletts zu erinnern, der er beigewohnt hatte. Es musste mehrere Jahre her sein.

»Was ist mit dem Alter?«

»Morgen kann ich Ihnen mehr dazu sagen. Auf den ersten Blick würde ich schätzen, eine Frau in den besten Jahren, zwischen fünfundzwanzig und vierzig.«

Sandy war achtundzwanzig gewesen, als sie verschwand. Er starrte auf den Schädel, die Zähne. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Ned Morgan den Strahl seiner Taschenlampe in beide Richtungen lenkte.

»Wir sollten noch einen Fachmann vom Bauamt dazuholen, Roy«, schlug er vor. »Jemanden, der sich mit dem städtischen Abwassersystem auskennt. Wir müssen herausfinden, welche Kanäle mit diesem hier verbunden sind. Möglicherweise wurden Kleider oder andere Dinge dort hineingespült.«

»Meinen Sie, der Kanal wird gelegentlich überflutet?«, wollte Grace wissen.

Morgan leuchtete den Strahl seiner Lampe nachdenklich hin und her. »Nun ja, es regnet ziemlich stark, schon den ganzen Tag. Im Augenblick steht wenig Wasser hier drin, aber denkbar wäre es. Vermutlich wurde der Kanal gebaut, damit die Bahngleise nicht überflutet werden. Allerdings …« Er zögerte.

»Sieht aus, als läge sie schon einige Jahre hier«, warf Joan ein. »Würde der Kanal regelmäßig geflutet, wäre sie hin und her bewegt worden, und das Skelett wäre vermutlich auseinandergefallen. Es wirkt aber völlig intakt. Auch die vertrocknete Haut weist daraufhin, dass es hier drinnen schon längere Zeit trocken war. Eine gelegentliche Überflutung können wir allerdings nicht ausschließen.«

Grace betrachtete den Schädel, während die verschiedensten Gefühle in seinem Inneren tobten. Auf einmal wollte er nicht mehr bis zum nächsten Tag warten, das Team sollte jetzt gleich mit der Arbeit beginnen.

Fast widerwillig wies er den Officer an, den Eingang zu verschließen und die gesamte Baustelle abzusichern.

9

OKTOBER 2007 Nicht zu fassen – sie musste auf die Toilette. Abby schaute auf die Uhr. Eine Stunde und zehn Minuten waren vergangen, seit sie in den verfluchten Aufzug gestiegen war. Warum? Warum? Warum war sie nur so verdammt blöd gewesen? Wegen der verdammten Bauarbeiter, darum. Herrgott. Auf der Treppe brauchte sie dreißig Sekunden und hielt sich dabei noch fit. Warum? Warum? Warum?

Und nun dieser scharfe, unangenehme Druck in der Blase. Bevor sie die Wohnung verlassen hatte, war sie noch auf dem Klo gewesen, doch nun fühlte sie sich, als hätte sie zehn Liter Kaffee und einen Kanister Wasser getrunken.

Keine Chance, ich werde durchhalten. Ich will doch nicht, dass mich die Feuerwehr in einer Urinlache findet. Auf diese Peinlichkeit kann ich gut verzichten.

Sie spannte die Muskeln an, drückte die Knie aneinander und wartete zitternd, bis der schlimmste Druck vorbei war. Dann schaute sie nach oben an die Decke, zu dem milchigen Lichtfeld mit dem Gittermuster. Horchte. Horchte auf die Schritte, die sie soeben gehört hatte.

Oder die sie sich eingebildet hatte …

Im Film hebelten Leute die Aufzugtür auf oder stiegen durch die Dachluke. Im Film schwankten die Aufzüge auch nicht hin und her.

Der Drang zu pieseln ging vorbei. Er würde wiederkommen, aber fürs Erste war es in Ordnung. Sie versuchte aufzustehen, doch die Kabine prallte schon wieder gegen die Wand, dass ein schepperndes Echo durch den Aufzugschacht hallte. Sie hielt die Luft an und wartete, bis sich die Kabine beruhigt hatte. Sie betete, das Seil möge halten. Dann kniete sie sich hin, hob ihr Handy vom Boden auf und wählte noch einmal. Der gleiche durchdringende Piepton, kein Empfang.

Sie versuchte, die Finger in den Schlitz zwischen den Türen zu quetschen, nichts rührte sich. Dann wühlte sie in ihrer Handtasche nach etwas, das sie als Hebel benutzen konnte, fand aber nur eine Nagelfeile aus Metall. Sie schob sie dazwischen, traf aber bald auf etwas Hartes, und die Feile bewegte sich nicht mehr. Sie drückte nach rechts, nach links, die Feile bog sich durch.

Abby betätigte nacheinander alle Knöpfe und schlug verzweifelt mit der flachen Hand gegen die Wand.

Einfach toll.

Wie viel Zeit blieb ihr noch?

Wieder ein bedrohliches Knirschen von oben. Sie stellte sich vor, wie das Stahlseil allmählich zerfaserte, dünner und dünner wurde.

Wie die Bolzen am Dach allmählich nachgaben. Vor einigen Jahren hatten sich Leute auf einer Party darüber unterhalten, was man tun solle, wenn ein Aufzugseil riss und der Aufzug abstürzte. Mehrere Leute sagten, man solle in die Luft springen, bevor die Kabine aufschlug. Woher aber sollte man den Zeitpunkt kennen? Und wenn der Aufzug mit 150 km/h in die Tiefe schoss, bewegte man sich mit der gleichen Geschwindigkeit. Andere empfahlen, sich flach hinzulegen. Und ein Witzbold erklärte, es sei immer noch am sichersten, den Aufzug erst gar nicht zu benutzen.

Abby stimmte ihm aus ganzem Herzen zu.

Mein Gott, das war wirklich grotesk. Was hatte sie nicht alles durchgemacht, um nach Brighton zu kommen? Die ganzen Risiken, die sie auf sich genommen hatte, die Sicherheitsvorkehrungen, um keine Spuren zu hinterlassen.

Und jetzt das.

Sie malte sich aus, wie sich die Meldung in der Zeitung lesen würde. Unbekannte Frau bei tragischem Aufzugunglück getötet.

Nein. Nie im Leben.

Sie schaute zu der Glasscheibe hoch. Streckte sich, stieß mit dem Finger dagegen. Sie rührte sich nicht.

Abby drückte fester.

Nichts.

Aber sie musste sich bewegen. Sie reckte sich so sehr sie konnte, drückte die Fingerspitzen beider Hände dagegen und stieß mit aller Kraft zu. Der Aufzug geriet wieder in Bewegung. Ein dumpfer Laut, ein Aufprall an der Wand.

Dann hörte sie ein Kratzen über sich. Ein deutlich hörbares, langes Kratzen, als würde ihr jemand zu Hilfe kommen.

Sie horchte wieder. Versuchte, ihren keuchenden Atem und das Pochen ihres Herzens auszublenden. Sie horchte volle zwei Minuten, und ihre Ohren knackten, als säße sie in einem Flugzeug, doch diesmal war es nicht der Luftdruck, sondern die pure Angst.

Sie hörte nur das stete Knirschen des Seils und ein gelegentliches Knacken, als ob Metall riss.

10

11. SEPTEMBER 2001 Lorraine umklammerte das Telefon. Ein furchtbares Gefühl der Dunkelheit tat sich in ihr auf. Sie sprang aus dem Liegestuhl, rannte über die Terrasse, wobei sie fast über Alfie stolperte, und stürzte ins Haus. Ihre Füße versanken tief im weißen Teppich, ihr goldenes Fußkettchen klirrte.

»Genau da ist er«, sagte sie zu ihrer Schwester. Ihre Stimme war nur noch ein zitterndes Flüstern. »Genau da ist Ronnie jetzt gerade.«

Sie schaltete den Fernseher ein. BBC 1. Aufnahmen einer wackligen Handkamera, die bekannte Silhouette der hohen silbernen Zwillingstürme des World Trade Center. Aus den oberen Stockwerken des einen Turms quoll schwarzer Rauch, der das Gebäude fast verdeckte. Darüber ragte die schwarz-weiße Antenne hoch in den wolkenlosen kobaltblauen Himmel.

Oh, mein Gott, oh, mein Gott. Ronnie war da. In welchem Turm? In welchem Stock?

Sie achtete kaum auf die erregte Stimme des amerikanischen Korrespondenten. »Das war keine kleine Maschine, sondern ein richtig großes Flugzeug. Mein Gott!, mein Gott!«

»Ich rufe dich zurück, Mo. Ich rufe gleich zurück.« Sie wählte Ronnies Handynummer. Sekunden später erklang das Besetztzeichen. Sie versuchte es noch einmal. Und noch mal. Und noch mal.

Oh, Gott, mach, dass es ihm gut geht. Bitte, Liebling, ich will, dass es dir gut geht.

Im Fernsehen ertönte Sirenengeheul. Die Menschen blickten nach oben. Überall standen Gruppen in eleganter Bürokleidung und in Arbeitsanzügen wie festgefroren. Manche Leute hatten die Hände vors Gesicht geschlagen, andere hielten Kameras hoch. Dann schwenkte das Bild wieder auf die Zwillingstürme. Auf den schwarzen Qualm, der den wunderschönen blauen Himmel besudelte.

Ein Schauer überlief sie. Sie stand ganz still da.

Die Sirenen wurden lauter.

Kaum einer bewegte sich. Einige Wenige rannten auf das Gebäude zu. Ein Löschzug mit langer Leiter fuhr mit heulendem Martinshorn vor.

Wieder wählte sie Ronnies Nummer. Wieder besetzt. Immer das Gleiche.

Lorraine rief ihre Schwester zurück. »Ich kann ihn nicht erreichen«, sagte sie weinend.

»Alles wird gut, Lori. Ronnie ist ein Überlebenskünstler, er schafft das schon.«

»Aber – wie konnte das passieren? Wie kann ein Flugzeug so was machen? Ich meine –«

»Es geht ihm sicher gut. Das ist furchtbar, einfach unglaublich. Wie in einem dieser Katastrophenfilme.«

»Ich lege jetzt auf. Vielleicht versucht er, mich anzurufen. Ich versuch’s auch noch mal bei ihm.«

»Rufst du mich an, wenn du ihn erreicht hast?«

»Ja.«

»Versprochen?«

»Ja.«

»Es geht ihm gut, Süße, ganz bestimmt.«

Lorraine hängte ein und starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Wieder wählte sie seine Nummer. Hielt abrupt inne.

11

OKTOBER 2007 »Bin ich die Liebe deines Lebens?«, wollte sie wissen. »Bin ich das, Grace? Ehrlich?« »Und ob.«

Sie grinste. »Belügst du mich auch nicht, Grace?«

Sie hatten ein feuchtfröhliches Mittagessen im La Coupole in St. Germain hinter sich und bummelten an diesem herrlichen Juninachmittag an der Seine entlang zum Hotel.

Wenn sie zusammen waren, war scheinbar immer schönes Wetter, genau wie jetzt. Sandy beugte sich in dem hübschen Hotelzimmer über ihn und verdeckte das Sonnenlicht, das durch die Läden hereinströmte. Ihre langen blonden Haare umrahmten ihr sommersprossiges Gesicht und strichen über seine Wangen. Sie schüttelte die Haare in sein Gesicht, als wollte sie es abstauben.

»Hey! Ich muss noch diesen Bericht lesen –«

»Mann, bist du langweilig, Grace. Immer musst du lesen! Wir sind in Paris! Verbringen hier ein romantisches Wochenende! Stehst du nicht mehr auf mich?« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Lesen, lesen, lesen! Arbeit, Arbeit, Arbeit!« Wieder küsste sie ihn auf die Stirn. »Öde, öde, öde!«

Sie tänzelte aus seinen ausgestreckten Armen, um ihn zu reizen. Sie trug nur ein hauchdünnes Sonnenkleid, das ihre Brüste kaum halten konnte. Es entblößte ihre langen gebräunten Beine, und er wurde auf einmal richtig geil.

Sie kam näher, nahm ihn in die Hand. »Ist das alles für mich, Grace? Einfach klasse! Das nenn ich einen Ständer!«

Das strahlende Sonnenlicht ließ ihr Gesicht verschwimmen. Dann plötzlich waren ihre Gesichtszüge verschwunden, und er starrte in ein leeres, schwarzes Oval, umrahmt von goldenem Haar. Es sah aus wie eine Sonnenfinsternis. Ein Gefühl von Panik bemächtigte sich seiner, einen Moment lang wusste er nicht mehr, wie sie aussah.

Dann erschien ihr Gesicht wieder deutlich.

Er grinste. »Ich liebe dich mehr als alles –«

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke. Die Temperatur sank. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, als wäre sie sterbenskrank.

Er schlang die Arme um ihren Hals und drückte sie an sich. »Sandy!«, sagte er drängend. »Sandy, Liebes!«

Sie roch seltsam. Ihre Haut war plötzlich ganz hart. Sie roch faulig, nach Verwesung, Erde und bitteren Orangen.

Dann ging das Licht ganz aus, als hätte jemand einen Schalter gedrückt.

Roy hörte das Echo seiner Stimme in der kalten, leeren Luft.

»Sandy!«, rief er, doch das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Das Licht ging wieder an. Das grelle Licht des Leichenschauhauses. Er starrte in ihre Augen. Und schrie.

Er blickte in die Augen eines Totenschädels. Hielt ein Skelett im Arm. Ein Skelett, das ihn mit perfekten Zähnen angrinste.

»SANDY!«, schrie er. »SANDY!«

Wieder änderte sich das Licht. Wurde weich und gelblich. Bettfedern knarrten. Dann hörte er eine Stimme.

»Roy?«

Cleos Stimme.

»Bist du wach, Roy?«

Er schaute zur Decke, blinzelte verwirrt, war schweißgebadet.

»Roy?«

Er zitterte. »Ich – ich –«

»Du hast so laut geschrien.«

»Es tut mir leid.«

Cleo richtete sich auf. Die langen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht, sie sah schläfrig und entsetzt aus. Sie stützte sich auf einen Arm und schaute ihn seltsam an, als hätte er sie gekränkt. Er wusste, was sie sagen würde, bevor sie den Mund aufmachte.

»Sandy.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. »Schon wieder.«

Er schaute zu ihr auf. Die gleiche Haarfarbe wie Sandy, die gleiche Augenfarbe – vielleicht ein bisschen mehr Grau als Blau. Ein bisschen härter. Er hatte gelesen, dass Leute, die einen geliebten Menschen verloren haben, sich oft in jemanden verliebten, der demjenigen ähnlich sah. Bis jetzt war ihm dieser Gedanke nie gekommen. Und sie sahen sich auch nicht ähnlich, überhaupt nicht. Sandy war hübsch, aber weicher gewesen, keine klassische Schönheit wie Cleo.

Er starrte an die weiße Decke und die weißen Wände von Cleos Schlafzimmer. Starrte zur schwarz lackierten Frisierkommode mit dem rissigen Holz. Sie kam nicht gern zu ihm, weil sie Sandys Gegenwart in seinem Haus spürte.

»Tut mir leid«, sagte er. »Es war ein Albtraum.«

Sie streichelte ihm zärtlich über die Wange. »Vielleicht solltest du noch mal zu diesem Seelenklempner gehen.«

Er nickte nur. Fürchtete insgeheim, der Traum könne wiederkehren. Schließlich fiel er in einen unruhigen Schlaf.

12

OKTOBER 2007 Die Krämpfe wurden schlimmer und schmerzhafter, und sie kamen immer häufiger. Alle paar Minuten. Vielleicht fühlte sich eine Geburt so ähnlich an.

Auf ihrer Uhr war es 3.08 Uhr. Abby saß seit beinahe neun Stunden im Aufzug fest. Vielleicht musste sie bis Montag hier drinnen bleiben, vorausgesetzt, sie stürzte nicht schon vorher in die Tiefe.

Verdammte Scheiße. Wie war dein Wochenende? Na ja, ich habe meins im Aufzug verbracht. Echt cool. Es gab einen Spiegel und verschiedene Knöpfe und ein schmutziges Glasdach mit Glühbirnen und einen Kratzer an der Wand, der aussah, als hätte jemand ein Hakenkreuz hineinritzen wollen und es sich dann anders überlegt. Ach ja, ein Schild hing da auch noch. Wer das aufgehängt hat, konnte nicht richtig schreiben – und auch keine Aufzüge instand halten.

 

WENN NOTFALL BITTE 013 228 7828 ODER 999 WÄHLEN

 

Sie zitterte vor Zorn. Ihre Kehle war ausgedörrt, tat weh vom Rufen, die Stimme versagte ihr den Dienst. Nach einer kurzen Pause rappelte sie sich wieder auf. Inzwischen war es ihr egal, ob der Aufzug wackelte – sie musste hier raus, konnte nicht einfach warten, bis das Seil riss oder die Halterung nachgab und sie in den Tod stürzte.

»Ich versuche es ja, ihr Idioten«, krächzte sie mit einem Blick auf das Schild. Dann rückten die Wände wieder näher, die nächste Panikattacke kündigte sich an.

Das Telefon im Aufzug war immer noch tot. Sie drückte ihr Handy ans Ohr, atmete tief ein, um sich zu beruhigen, wollte ein Signal heraufbeschwören, verfluchte den Netzbetreiber, verfluchte die ganze Welt. Ihre Kopfhaut fühlte sich so straff an, dass ihr alles vor Augen verschwamm. Schon wieder der furchtbare Drang zu pieseln. Er erfasste ihren ganzen Körper.

Sie drückte die Knie aneinander und holte tief Luft. Ihre Oberschenkel zitterten. Sie spürte einen grauenhaften Schmerz im Bauch, als hätte jemand ein glühendes Messer tief hineingestoßen und umgedreht. Sie wimmerte, rang nach Luft, wobei ihr ganzer Körper zitterte. Sie rollte sich in Fötalhaltung zusammen, drückte sich an die Wand. Lange würde sie es nicht mehr aushalten.

Aber sie hielt durch, biss die Zähne zusammen, ihr Verstand würde über den Körper triumphieren. Sie war fest entschlossen, nichts zuzulassen, das ihr Gehirn ablehnte. Sie dachte an ihre Mutter, die – noch keine sechzig – durch Multiple Sklerose inkontinent geworden war.

Verdammt, ich bin aber nicht inkontinent. Holt mich hier raus, holt mich hier raus, holt mich hier raus. Sie wiederholte es wie ein Mantra, bis der Drang den Höhepunkt erreichte und wieder abebbte. Unendlich langsam verschwand.

Dann endlich war es vorüber, und sie ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Sie fragte sich, wie lange man den Harndrang unterdrücken konnte, bevor die Blase platzte.

In der Wüste überlebten manche Leute, indem sie ihren eigenen Urin tranken. Vielleicht könnte sie in einen Stiefel pinkeln. Eine Notration. Wie lange konnte man ohne Flüssigkeit überleben? Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass ein Mensch wochenlang ohne Nahrung, aber nur wenige Tage ohne Wasser auskommen konnte.

Sie richtete sich auf dem schwankenden Boden auf, zog den rechten Stiefel aus und sprang so hoch sie konnte, wobei sie mit dem Absatz gegen die Decke schlug. Es half nichts. Der Aufzug schaukelte nur wie wild, prallte gegen die Wände und schleuderte sie zur Seite. Sie hielt die Luft an. Diesmal, diesmal würde etwas reißen, ganz sicher. Die letzte Faser, die zwischen ihr und dem Nichts hing …

Es gab Momente, in denen sie tatsächlich hoffte, das Seil möge reißen. Es wäre eine Lösung, für alles. Keine elegante Lösung, aber egal. Der Gipfel der Ironie.

Und dann ging, wie als Antwort, das Licht aus.

13

11. SEPTEMBER 2001 Im Stadtteil Coldean in Brighton, wo Ronnie Wilson früher gewohnt hatte, war eines Nachts ein Haus niedergebrannt. Er erinnerte sich noch an den Geruch, den Lärm, das Inferno, die Feuerwehrautos. Er hatte in Bademantel und Pantoffeln dagestanden und zugeschaut, fasziniert und verängstigt zugleich. Vor allem aber erinnerte er sich an den Geruch.

An den entsetzlichen Geruch von Zerstörung und Verzweiflung.

Der gleiche Geruch lag auch jetzt in der Luft. Nicht das angenehm süßliche Aroma von Holzrauch oder der anheimelnde Geruch eines Kohlefeuers, sondern der scharfe, beißende Gestank brennender Farbe, verkohlten Papiers, versengten Gummis und ätzender Gase, die geschmolzenem Kunststoff entwichen. Ein erstickender Gestank, der ihm in den Augen brannte. Am liebsten hätte er sich die Nase zugehalten und wäre einfach weggelaufen, zurück zu dem Café, das er soeben verlassen hatte.

Doch er blieb wie gelähmt stehen.

Wie alle anderen.

Eine geradezu surreale Stille senkte sich an diesem Morgen über Manhattan, als hätte jemand einen Knopf gedrückt und einen Film angehalten. Nur die Autos bewegten sich noch, bevor auch sie vor einer roten Ampel zum Stehen kamen.

Die Leute starrten auf etwas. Er brauchte eine Weile, bis er erkannte, was sie anstarrten. Zuerst schaute er sich auf der Straße um, sah einen Hydranten und Tische vor einem Geschäft, auf denen sich Zeitschriften und Reiseführer stapelten. Die Markise eines Ladens pries Butter und Eier an. Er blickte an einer Ampel mit einer rot erleuchteten Don’t cross!-erhobenen Hand und einer Gerüstbrücke über der Kreuzung Warren Street vorbei, vor der sich der Verkehr staute.

Dann wurde ihm klar, dass die Leute nach oben schauten.

Er folgte ihren Blicken und sah zuerst nur die dichte schwarze Wolke, die sich über den Wolkenkratzern erhob. Sie sah aus, als käme sie aus dem Schornstein einer Ölraffinerie.

Ein Gebäude brannte. Entsetzt begriff er, welches Gebäude es war. Das World Trade Center.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Er stand wie angewurzelt da und traute seinen Augen nicht.

Die Ampel wurde grün. Die Autos fuhren weiter, und er fragte sich, ob die Fahrer den Brand nicht bemerkt hatten oder ob sie ihn aus ihrem Blickwinkel nicht sehen konnten.

Die Rauchwolke wurde dünner. Dahinter ragte eine schwarz-weiße Antenne stolz in den leuchtend blauen Himmel. Es war der Nordturm, das wusste er von einem früheren Besuch. Erleichtert atmete er auf. Donald Hatcooks Büro befand sich im Südturm. Okay. Er würde seinen Termin also nicht verpassen.

Plötzlich erklang eine Sirene. Ein Geheul, das an- und abschwoll, lauter wurde, ohrenbetäubend laut durch die Stille hallte. Er drehte sich um und sah einen blauweißen Streifenwagen der New York Police mit drei Insassen. Der Mann auf dem Rücksitz reckte den Hals und spähte aus dem Fenster. Der Wagen brauste mit hoher Geschwindigkeit auf der falschen Straßenseite vorbei, das rote Licht warf einen Funkenschauer auf die drei gelben Taxis, die hintereinander parkten. Er bremste mit kreischenden Reifen und rollte über die Kreuzung, genau zwischen dem Lieferwagen einer Bäckerei, einem Porsche und einem weiteren Taxi hindurch.

»Oh, mein Gott! Oh, Jesus! Oh, mein Gott!«, jammerte eine Frau knapp hinter ihm. »Oh, mein Gott, es hat den Turm getroffen! Oh, mein Gott!«

Die Sirene verklang in der Ferne. Auf der Chambers Street wurde es wieder ruhig. Sie lag jetzt beinahe verlassen da. Ronnie sah einen Mann die Straße überqueren. Er trug eine Baseballkappe, einen leichten Anorak und Arbeitsstiefel und eine Plastiktüte, in der er vielleicht sein Mittagessen hatte. Er konnte die Schritte des Mannes hören. Der Mann schaute vorsichtig in alle Richtungen, als fürchtete er, von einem Streifenwagen überfahren zu werden.

Doch es kam kein zweiter Streifenwagen. Alles war still. Als könnte der eine Wagen mit der Situation fertig werden, als wäre es nur eine Bagatelle.

»Haben Sie das gesehen?«, fragte die Frau hinter ihm.

Ronnie drehte sich um. »Was ist denn passiert?«

Sie hatte langes braunes Haar und hervorstehende Augen. Zwei Einkaufstüten lagen neben ihr auf dem Gehweg, Kartons und Konservendosen waren herausgefallen.

Ihre Stimme bebte. »Ein Flugzeug! Jesus, es war ein Flugzeug! Es ist in den verdammten Turm geflogen. Ich kann es nicht glauben. Es war ein Flugzeug. Es ist in den verdammten Turm geflogen!«

»Ein Flugzeug?«

»Es hat den Turm getroffen. Es hat den verdammten Turm getroffen.«

Sie stand offenkundig unter Schock.

Nun ertönte eine weitere Sirene. Sie klang anders als der Streifenwagen, ein tiefes Tuten. Ein Löschzug der Feuerwehr.

Na toll!, dachte er. Das ist ja klasse! Ausgerechnet an dem Morgen, an dem ich mit Donald verabredet bin, fliegt irgendein durchgeknallter Spinner mit seinem Flugzeug ins World Trade Center!

Er sah auf die Uhr. Scheiße! Fast fünf vor neun! Er hatte das Café um Viertel nach acht verlassen, damit er genügend Zeit hätte, um zu seiner Verabredung zu kommen. Hatte er etwa zehn Minuten an ein und derselben Stelle gestanden? Donald Hatcooks hochnäsige Sekretärin hatte gesagt, er solle unbedingt pünktlich kommen, da Donald nur eine Stunde Zeit habe, bevor er einen Flug erreichen müsse. Nach Wichita, es konnte auch Washington gewesen sein. Nur eine Stunde. Eine Stunde, um sich und seine Firma zu retten!

Die nächste Sirene. Scheiße. Das würde ein gewaltiges Chaos geben. Polizei und Feuerwehr würden die Gegend abriegeln. Er musste unbedingt zu dieser Besprechung, bevor das geschah.

Er musste.

Um jeden Preis.

Nein, er würde sich nicht von irgendeinem Irren, der gerade eben sein Flugzeug demoliert hatte, die Besprechung versauen lassen!

Ronnie stürzte los und zerrte den Rollkoffer hinter sich her.

14

OKTOBER 2007 Im Abwasserkanal herrschte ein unangenehmer Geruch, der am Vortag noch nicht da gewesen war. Vielleicht ein verwesendes Tier, irgendein Nager. Schon als er um kurz vor neun eintraf, war Roy der Gestank aufgefallen, und als er den Kanal jetzt erneut betrat, rümpfte er die Nase. Er hatte zwei Tüten mit heißen Getränken aus einem nahe gelegenen Costa Café dabei, die ihm ein eifriger junger Polizeibeamter besorgt hatte.

Der Regen trommelte unablässig nieder und verwandelte den Boden der Baustelle in Morast. Hier drinnen würde der Wasserstand jedoch nicht steigen. Er fragte sich, wie viel Regen der Kanal fassen konnte. Vor einigen Jahren war die Leiche eines jungen Mannes in den Abwasserkanälen von Brighton gefunden worden. Daher wusste er, dass alle Abflüsse in einen zentralen Kanal mündeten, der bei Peacehaven ins Meer floss. Falls auch dieser Kanal einmal überflutet worden war, waren die Beweisstücke, vor allem die Kleidung des Opfers, vermutlich längst weggeschwemmt worden.

Die Kollegen machten ein paar ironische Bemerkungen, als er ihnen die Getränke brachte, doch Roy ignorierte sie, obwohl er schlecht geschlafen und ständig an das Skelett gedacht hatte. Er verteilte Kaffee und Tee, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er seinen Leuten das Wochenende verdorben hatte.

Es herrschte reges Treiben. Im Tunnel waren Ned Morgan, der Mann vom Erkennungsdienst, mehrere erfahrene Beamte und Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Anzügen bei der Arbeit. Sie suchten den weichen Boden Zentimeter um Zentimeter nach Schuhen, Kleidungsstücken, Schmuck und allen Fetzen oder Resten ab, die dem Opfer gehört haben konnten. In dieser feuchten Umgebung blieben Leder und synthetische Stoffe am besten erhalten.

Das Team bot einen unheimlichen Anblick, wie es auf allen Vieren in dem düsteren gemauerten Tunnel hockte, umgeben von Schatten und dem Licht der Lampen, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren.

Joan Major war ebenfalls von Kopf bis Fuß in einen weißen Anzug gehüllt und arbeitete schweigend und konzentriert. Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, müsste sie ein präzises 3-D-Modell des Skeletts am Fundort vorlegen. Sie war mehrmals aus dem Kanal und wieder hinein geklettert, weil das Signal ihres GPS-Gerätes nicht funktionierte. Sie benötigte es, um die genauen Koordinaten der Fundstelle zu ermitteln. Nun zeichnete sie die exakte Position des Skeletts auf. Alle paar Sekunden leuchtete das Blitzlicht einer Kamera auf.

»Danke, Roy«, sagte sie geistesabwesend, nahm den großen Caffè Latte entgegen und stellte ihn auf die Holzkiste mit ihrer Ausrüstung, die auf einem Stativ lag, um sie vor Nässe zu schützen.

Grace hatte entschieden, am Wochenende mit einem kleineren Team zu arbeiten und erst am Montagmorgen alle Kräfte zusammenzuziehen. Glenn Branson hatte er freigegeben, was dieser mit unendlicher Erleichterung zur Kenntnis genommen hatte. Noch arbeiteten sie mit angezogener Handbremse, da der Todeszeitpunkt offensichtlich viele Jahre zurücklag. Die erste Pressekonferenz konnte bis Montag warten.

Vielleicht würden er und Cleo es an diesem Abend doch noch zu ihrem Dinner nach London schaffen und etwas von dem romantischen Wochenende retten, das er geplant hatte. Allerdings nur, wenn Joan bis dahin mit den Kartierungs- und Bergungsarbeiten fertig war und der Rechtsmediziner die Autopsie bald durchführen konnte. Das wäre bei Frazer Theobald allerdings nicht einfach. Wo steckte er überhaupt? Sie hatten schon vor einer Stunde mit ihm gerechnet.

Wie aufs Stichwort betrat Frazer im weißen Schutzanzug den Kanal. Er schaute sich argwöhnisch, beinahe verstohlen um wie eine Maus, die Käse wittert. Er war klein und untersetzt, mit ungepflegtem schütterem Haar und einem Hitlerbärtchen unter einem riesigen Riechorgan. Glenn Branson hatte einmal gesagt, mit einer dicken Zigarre wäre er ein perfekter Doppelgänger von Groucho Marx.

Er murmelte entschuldigend, der Wagen seiner Frau sei nicht angesprungen und er habe seine Tochter zum Klarinettenunterricht bringen müssen. Dann lief er im großen Bogen um das Skelett, als wollte er es herausfordern, seinen Namen preiszugeben.

»Ja«, sagte er schließlich, ohne jemanden direkt anzusprechen. »Ach ja.« Er drehte sich zu Roy um. »Das ist die Leiche?«

Grace hatte Theobald schon immer ein wenig sonderbar gefunden, aber nie so sehr wie in diesem Moment. »Ja«, antwortete er verblüfft.

»Sie sehen braun aus, Roy«, bemerkte der Rechtsmediziner und trat näher an das Skelett heran, als habe die Frage ihm gegolten. »In Urlaub gewesen?«

»New Orleans«, erwiderte Grace, nahm den Deckel von seinem Kaffeebecher und wünschte sich insgeheim, er wäre immer noch dort. »Ich war bei der IHIA, der internationalen Vereinigung der Mordermittler.«

»Was machen die Aufbauarbeiten?«

»Gehen langsam voran.«

»Noch viele Flutschäden?«

»Eine Menge.«

»Gibt es da viele Leute, die Klarinette spielen?«

»Klarinette? Ja. Ich war sogar in ein paar Konzerten. Habe Ellis Marsalis gehört.«

Theobald schenkte ihm ein seltenes freudiges Strahlen. »Den Vater!«, sagte er anerkennend. »Haben Sie ein Glück!« Er wandte sich wieder dem Skelett zu. »Und was haben wir hier?«

Grace brachte ihn auf den neuesten Stand. Dann begannen Theobald und Joan Major eine Debatte darüber, ob man das Skelett in Einzelteilen oder intakt bergen solle, was einen langen und aufwändigen Prozess bedeutete. Schließlich befanden sie, dass es besser wäre, es intakt zu bergen, da es auch so gefunden worden war.

Grace betrachtete den Regen, der in den Kanal strömte. Die einzelnen Tropfen wirkten wie lang gezogene Staubflocken. New Orleans, dachte er versonnen, pustete auf seinen Kaffee und trank vorsichtig, um sich nicht zu verbrennen. Cleo war mitgekommen, und sie hatten nach der Konferenz eine Woche Urlaub angehängt, um die Stadt und einander zu genießen.

Weit weg von Brighton und der Erinnerung an Sandy gingen sie viel ungezwungener miteinander um. Sie entspannten sich, genossen die Wärme und schauten sich die Stadtviertel an, die von der Flut zerstört und noch nicht wieder aufgebaut worden waren. Sie aßen Gumbo, Jambalaya, Krabbenkuchen und Austern à la Rockefeller, tranken Margaritas, Mojitos und Wein aus Kalifornien und Oregon, hörten Jazz im Snug Harbor und in anderen Clubs. Grace verliebte sich immer mehr in sie.

Er war stolz, wie gut Cleo sich auf der Konferenz präsentiert hatte. Als schöne Frau, die einen sehr unschönen Beruf ausübte, musste sie viele Sticheleien, neugierige Blicke und ein paar wirklich ätzende Sprüche von einigen der fünfhundert führenden und beinahe ausschließlich männlichen Ermittler, die alle in Feierlaune waren, hin nehmen. Wie immer wusste sie sich zu behaupten und zog alle Blicke auf sich, wenn sie ihr Gardemaß von knapp eins achtzig in ihre übliche exzentrische, aufreizende Garderobe hüllte.

»Sie haben mich gestern Abend gefragt, wie alt sie war«, unterbrach ihn die forensische Archäologin.

Sofort war seine Konzentration wieder da. »Ja?«

Sie deutete auf den Kiefer. »Die Weisheitszähne verraten uns, dass sie über achtzehn ist. Es gibt Hinweise auf Zahnbehandlungen, weiße Füllungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten häufiger vorkommen als früher. Außerdem sind sie teurer. Möglicherweise war sie bei einem privaten Zahnarzt in Behandlung, was den Personenkreis natürlich einschränkt. Außerdem hat sie eine Krone auf einem der vorderen Schneidezähne.« Sie deutete auf den linken oberen Schneidezahn.

Grace wurde nervös. Bei einer ihrer ersten Verabredungen hatte Sandy auf einen Knochensplitter in einem Steak Tartare gebissen, wobei ihr ein Stück aus dem linken oberen Schneidezahn gebrochen war. Später hatte sie eine Krone anfertigen lassen.

»Was sonst noch?«

»Nach dem allgemeinen Zustand und der Farbe der Zähne zu urteilen, würde ich sagen, dass meine Altersschätzung von gestern in etwa zutrifft. Zwischen fünfundzwanzig und vierzig.« Sie schaute zu Frazer Theobald, der mit ausdrucksloser Miene nickte, als dulde er ihre Schlussfolgerung, sei aber nicht unbedingt der gleichen Meinung.

Dann deutete sie auf den Arm. »Der lange Knochen hier wächst in drei Teilen – zwei Epiphysen und der Diaphyse, das ist der Teil dazwischen. Der Prozess, bei dem sich die drei Teile zusammenschließen, wird Schließung der Wachstumsfuge genannt und ist gewöhnlich mit Mitte dreißig abgeschlossen. Hier sind die Fugen noch nicht ganz geschlossen. Das Gleiche gilt für das Schlüsselbein. Sie können die Fugennaht am mittleren Schlüsselbein erkennen. Sie schließt sich, wenn ein Mensch etwa dreißig ist. Bei der Autopsie kann ich Ihnen eine noch genauere Schätzung liefern.« »Sie sind also sicher, dass sie um die dreißig war?«, wollte Grace wissen.

»Ja. Auf keinen Fall sehr viel älter. Vielleicht sogar jünger.«

Roy schwieg. Sandy war zwei Jahre jünger als er gewesen. Dazu die gleichen Haare. Der überkronte Schneidezahn.

»Alles in Ordnung, Roy?«, fragte Joan Major.

Ihre Stimme schien wie aus weiter Ferne zu kommen, ein körperloses Echo.

»Alles klar, Roy?«

Er schaute sie an. »Ja, ja. Alles bestens.«

»Sie sehen aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst gesehen.«

15

11. SEPTEMBER 2001 Ronnie eilte den West Broadway hinunter, überquerte Murray Street, Park Place und Barclay Street. Das World Trade Center ragte jetzt steil vor ihm auf, zwei silberne Monolithen erhoben sich vor seinen Augen. Der Gestank des Feuers wurde stärker; gekräuseltes, brennendes Papier schwebte in der Luft, während Trümmer zu Boden fielen und zerschellten.

Durch den dichten schwarzen Rauch leuchtete etwas karminrot, als blutete der Turm. Dann loderten orangefarbene Flammen daraus hervor. Mein Gott, dachte er, während sich eine dunkle Angst in seinem Inneren ausbreitete. Das kann doch nicht wahr sein.

Menschen taumelten aus dem Gebäude, schauten betroffen nach oben, Männer in eleganten Hemden und Jacketts ohne Krawatten, manche pressten ihr Handy ans Ohr. Eine attraktive Brünette im Businesskostüm stolperte mit nur einem Schuh dahin. Plötzlich fasste sie sich an ihren Kopf, das Gesicht schmerzverzerrt, als hätte sie ein herabfallender Gegenstand getroffen. Blut lief über ihre Wange.

Er zögerte. Weiterzugehen schien riskant. Andererseits war dieser Termin ungeheuer wichtig, lebenswichtig. Er musste es einfach wagen. Lauf um dein Leben, dachte er. Er hustete, als ihm Rauch in die Kehle drang, und trat vom Gehweg auf die Straße. Der Bordstein war höher, als er gedacht hatte, und als die Räder des Koffers auf die Straße prallten, fiel die Aktentasche herunter.

Scheiße, nicht auch noch das.

Als er sich bückte, um nach der Aktentasche zu greifen, erklang das durchdringende Heulen eines Flugzeugs.

Er schaute hoch. Und traute seinen Augen nicht. Einen Sekundenbruchteil später gab es eine Explosion. Ein ungeheures metallisches Scheppern, als stießen zwei gigantische Mülltonnen aneinander. Der Lärm hallte erbarmungslos in seinem Schädel wider, und er hätte sich am liebsten die Finger in die Ohren gesteckt, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann spürte er die Druckwelle. Jedes Atom seines Körpers schien durcheinander gewirbelt zu werden.

Im Südturm versprühte ein riesiger orangefarbener Feuerball glitzernde Funken und schwarzen Rauch. Einen Moment lang staunte er über die Schönheit dieses Anblicks: den Kontrast der Farben, Orange und Schwarz, die sich vor dem strahlenden Blau des Himmels abzeichneten.

Es schien, als würden Millionen, nein, Milliarden Federn durch die Luft schweben und langsam zu Boden sinken. In Zeitlupe.

Dann traf ihn die Wirklichkeit mit ganzer Wucht.

Holzsplitter, Glas, Stühle, Schreibtische, Telefone und Aktenschränke stürzten vor ihm auf das Pflaster. Ein Streifenwagen hielt neben ihm, die Türen wurden schon aufgerissen, bevor er zum Stehen kam. Einige hundert Meter weiter schlug ein Gegenstand, der wie eine brennende fliegende Untertasse aussah, auf den Boden und riss einen tiefen Krater in den Asphalt. Einzelne Teile flogen brennend durch die Gegend. Auch als sie schließlich auf dem Boden landeten, brannten sie weiter.

Mit unbeschreiblichem Entsetzen erkannte Ronnie, dass es sich um einen Flugzeugmotor handelte.

Und das hier war der Südturm.

In ihm befand sich Donald Hatcooks Büro. Im siebenundachtzigsten Stock. Er versuchte, aufwärts zu zählen.

Donalds Büro. Seine erste Schätzung ergab, dass es sich genau an der Stelle befunden hatte, an der das Flugzeug in den Turm gerast war.

Zwei Flugzeuge.

Was zum Teufel war hier los? Herrgott, was passierte hier?

Er starrte auf den brennenden Motor. Spürte die Hitze. Sah die Polizisten aus dem Auto springen.

Ronnies Verstand sagte ihm, dass es keinen Termin mehr geben würde. Doch er verdrängte es. Sein Verstand täuschte sich. Seine Augen täuschten sich. Irgendwie würde er es noch zu diesem Termin schaffen. Geh weiter. Du schaffst es noch. Du schaffst es noch zum Termin. DU BRAUCHST DEN GOTTVERDAMMTEN TERMIN!

Ein anderer Teil seines Gehirns sagte ihm, dass ein Flugzeug, das in einen der Türme flog, noch als Unfall durchgehen konnte, doch zwei konnten kein Zufall mehr sein.

In seiner absoluten Verzweiflung griff er nach dem Koffer und ging weiter.

Sekunden später hörte er einen dumpfen Aufprall, als fiele ein Kartoffelsack zu Boden. Etwas Nasses spritzte ihm ins Gesicht. Dann rollte etwas Weißes auf ihn zu und blieb knapp vor seinen Füßen liegen. Es war ein menschlicher Arm. Flüssigkeit rann ihm über die Wange. Er tastete nach seinem Gesicht, es war ganz feucht. Seine Hände waren blutverschmiert.

Ronnies Magen fuhr Achterbahn. Er drehte sich um und erbrach sein Frühstück, wobei er den nächsten Aufprall nur wenige Schritte von ihm weg kaum bemerkte. Sirenen heulten, ein Höllenlärm. Überall Sirenen. Der nächste Aufprall, die nächsten nassen Spritzer auf seinem Gesicht und den Händen.

Er schaute hoch. Sah Flammen, Rauch, ameisenkleine Gestalten, Glasscheiben und einen Mann, der vom Himmel fiel. Er verlor einen Schuh, der in der Luft kreiselte und kreiselte und kreiselte. Ronnie konzentrierte sich ganz auf den Schuh. Menschen, klein wie Spielzeugsoldaten, fielen inmitten der Trümmer vom Himmel.

Er stand nur da und starrte auf das Szenario. Erinnerte sich an einen Satz Briefmarken, auf dem die Höllenvisionen des niederländischen Malers Hieronymus Bosch abgebildet waren. Genauso sah es aus. Wie in der Hölle.

Die widerlich stinkende, stickige Luft war jetzt von Lärm erfüllt. Schreie, Sirenen, Hubschrauberrotoren. Polizisten und Feuerwehrleute rannten auf die Gebäude zu. Ein Löschzug mit der Aufschrift »Gruppe 12« hielt an und versperrte ihm die Sicht. Er ging um das Fahrzeug herum, während Feuerwehrleute in Schutzkleidung heraussprangen und losliefen.

Wieder ein dumpfer Aufprall. Ein dicker Mann im Anzug landete auf dem Rücken und explodierte.

Erneut erbrach er sich, schwankte, fiel auf ein Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Einen Augenblick lang verharrte er so, zitterte am ganzen Körper. Er schloss die Augen, als könnte er damit das Grauen vertreiben. Dann geriet er in Panik. Wo waren sein Koffer und die Aktentasche? Ein Glück, da waren sie, genau hinter ihm. Im Augenblick interessierte sich niemand für seine schicke Aktentasche, egal von welcher Marke sie war, ob echt oder falsch.

Einige Minuten später hatte Ronnie sich wieder in der Gewalt und stand auf. Er spuckte aus, um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden. Plötzlich durchflutete ihn ein ungeheurer Zorn. Wieso gerade heute? Wieso nicht an irgendeinem anderen beschissenen Tag.? Wieso musste das gerade heute passieren?

Ein Menschenstrom, viele von ihnen mit weißem Staub bedeckt oder blutverschmiert, bewegte sich wie in Trance aus dem Eingang des Nordturms. Ronnie hörte das ferne Jaulen des nächsten Feuerwehrautos. Und noch eins. Und noch eins. Jemand vor ihm hielt eine Videokamera in der Hand.

Die Nachrichten, dachte er, das Fernsehen. Blöd wie sie war, würde Lorraine in Panik geraten. Sie geriet ständig in Panik. Bei jedem Stau auf der Autobahn rief sie ihn sofort an, ob alles in Ordnung sei, auch wenn er nur hundertfünfzig Kilometer entfernt war.

Er holte das Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Ein scharfer Piepton, dann erschien eine Nachricht im Display:

 

Netz überlastet.

 

Er versuchte es noch zweimal und steckte das Handy dann wieder ein.

Als er kurze Zeit später in aller Ruhe darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass dieser nicht zustande gekommene Telefonanruf ein absoluter Glücksfall gewesen war.

16

OKTOBER 2007 Verdammt, die Uhr sollte doch Leuchtziffern haben! Abby hielt sie in der undurchdringlichen Schwärze vor ihr Gesicht, bis sie den kalten Stahl und das Glas an der Nase spürte. Noch immer nichts zu sehen.

Mist, ich habe für eine Leuchtuhr bezahlt!

Sie lag zusammengerollt auf dem harten Boden. Vielleicht hatte sie geschlafen, wusste aber nicht, wie lange. War jetzt Tag oder Nacht?

Ihre Muskeln waren völlig verkrampft, ihr Arm war wie abgestorben. Sie wedelte damit in der Luft, um die Blutzirkulation anzuregen. Er wog schwer wie Blei. Sie kroch ein Stück weiter, schwang ihn erneut und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie gegen die Wand des Aufzugs schlug.

»Hallo!«, krächzte sie.

Wieder und wieder schlug sie gegen die Wand.

Spürte, wie der Aufzug schwankte.

Schlug und schlug und schlug.

Sie musste dringend pieseln. Ein Stiefel war schon voll. Der Uringestank wurde stärker. Ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und hielt sich erneut die Uhr vor die Nase. Noch immer nichts zu erkennen.

In einer plötzlich aufkeimenden Panik überlegte sie, ob sie blind geworden war.

Verdammt, wie spät mochte es wohl sein? Als sie das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es acht Minuten nach drei gewesen. Danach war das Licht ausgegangen. Irgendwann hatte sie in den Stiefel gepinkelt und in der Dunkelheit so gut wie möglich gezielt.

Danach war es ihr besser gegangen, und sie hatte wieder klar denken können. Nun aber lenkte die volle Blase sie erneut ab. Sie versuchte, dem Drang zu widerstehen. Vor einigen Jahren hatte sie einen Dokumentarfilm im Fernsehen gesehen, in dem es um die Überlebenden einer Flugzeugkatastrophe ging. Eine junge Frau in ihrem Alter hatte erklärt, sie habe ihrer Ansicht nach nur deshalb überlebt, weil sie ruhig geblieben war, während die meisten in Panik gerieten. Sie habe logisch gedacht und inmitten von Rauch und Dunkelheit den Ausgang gefunden.

Auch die anderen Überlebenden berichteten von einem ähnlichen Verhalten. Ruhig bleiben, klar denken. Das war der einzige Weg.

Leichter gesagt als getan.

Flugzeuge besaßen immerhin Ausgänge. Und Stewardessen, die vor jedem Flug mit reglosem Gesicht auf die Ausgänge deuteten, orangefarbene Rettungswesten und Sauerstoffmasken in die Höhe hielten und erklärten, als hätten sie es mit einem Haufen Zurückgebliebener zu tun. England war so ein verdammter Überwachungsstaat geworden. Warum gab es in Aufzügen noch keine Stewardessen? Warum stand nicht in jedem eine dämliche Blondine, die einem eine laminierte Karte reichte, auf der die Türen eingezeichnet waren? Und eine orangefarbene Rettungsweste, falls der Aufzug einmal überflutet werden sollte? Warum hielt sie einem nicht eine Sauerstoffmaske vor die Nase?

Plötzlich erklang ein scharfes Piepsen.

Ihr Handy!

Sie wühlte in ihrer Handtasche. Das Display war erleuchtet. Ihr Handy funktionierte wieder! Es hatte Empfang! Und natürlich gab es auch eine Uhr – die hatte sie in ihrer Panik völlig vergessen! Sie holte es aus der Tasche und schaute aufs Display.

 

Neue Nachricht.

 

Sie konnte ihre Aufregung kaum zügeln und klappte es auf.

Die Nummer des Anrufers wurde nicht angezeigt. Die Nachricht lautete:

 

Ich weiß, wo du bist.

 

17

OKTOBER 2007 Roy Grace zitterte. Obwohl er unter seinem Papieranzug dicke Jeans, einen warmen Strickpullover und gefütterte Stiefel trug, drang ihm die Feuchtigkeit in die Knochen.

Die Spurenermittler und Suchspezialisten, die die unerfreuliche Aufgabe hatten, auf Händen und Knien jeden Zentimeter des Kanals abzusuchen, hatten bislang nur einige Nagetierskelette gefunden, aber nichts Interessantes. Entweder hatte man die Kleider der toten Frau entfernt, bevor sie im Kanal abgelegt wurde, oder sie waren weggespült, verrottet oder von Tieren zum Nestbau verwendet worden. Joan Major und Frazer Theobald arbeiteten unendlich langsam, kratzten mit Maurerkellen den Schlick um die Beckenknochen weg und verpackten jede Schmutzschicht in separaten Zellophanbeuteln. Wenn sie in diesem Tempo weitermachten, würde die Bergung noch zwei bis drei Stunden dauern.

Grace musste die ganze Zeit an den grinsenden Schädel denken.

Das Gefühl, dass Sandys Geist in seiner Nähe war. Bist das wirklich du?, fragte er sich. Jedes Medium, das er in den vergangenen neun Jahren konsultiert hatte, hatte ihm gesagt, seine Frau befinde sich nicht in der Geisterwelt. Folglich war sie noch am Leben, vorausgesetzt, er glaubte ihnen. Doch niemand hatte ihm bis jetzt sagen können, wo sie sich aufhielt.

Ein Schauer überlief ihn. Diesmal lag es nicht an der Kälte, etwas anderes steckte dahinter. Vor einiger Zeit hatte er sich entschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen und nach vorn zu blicken. Doch wann immer er es versuchte, geschah etwas, das neue Zweifel in ihm weckte. So wie jetzt.

Sein Funkgerät knisterte und riss ihn aus seinen Gedanken. Er meldete sich mit einem knappen »Roy Grace«.

»Morgen, Roy. Ihre Karriere ist ganz schön im Eimer, im Abfluss, meine ich.« Dann hörte er Norman Pottings kehliges Lachen.

»Sehr witzig, Norman. Wo sind Sie?«

»Beim Wachposten. Soll ich mich in Schale werfen und runterkommen?«

»Nein, ich komme zu Ihnen. Wir treffen uns im Wagen der Spurensicherung.«

Grace war dankbar, den Kanal zu verlassen. Hier wurde er nicht dringend gebraucht und hätte sogar ins Büro fahren können, doch er legte Wert darauf, dass ihn seine Leute vor Ort sahen. Wenn sie schon ihren Samstag in einem ekelhaften, dunklen Kanal verbringen mussten, wollte er mit gutem Beispiel vorangehen.

Es tat gut, die Tür vor dem scheußlichen Wetter zu schließen und sich auf die weichen Polster im Wagen zu setzen, selbst wenn er dabei auf engem Raum mit Norman Potting zusammentraf, was nie besonders angenehm war. Der Mann verströmte abgestandenen Pfeifenrauch, vermischt mit dem Knoblauch vom letzten Abendessen.

Detective Sergeant Norman Potting hatte ein schmales Gesicht mit geplatzten Äderchen, dicke Lippen und schütteres Haar, das er seitlich über die Glatze kämmte. Dank des Wetters stand es ihm jetzt zerzaust vom Kopf ab. Er war dreiundfünfzig, obwohl böse Zungen munkelten, er habe sich jünger gemacht, damit er länger im Dienst bleiben konnte, weil ihm vor dem Ruhestand graute.

Grace hatte seinen Kollegen noch nie ohne Krawatte erlebt, und dieser Morgen bildete keine Ausnahme. Potting trug ein Nylonhemd und eine zerfranste grüne Strickkrawatte, eine Tweedjacke und einen langen Anorak mit Knebelverschluss, dazu graue Flanellhosen und solide Schuhe. Mit einem Keuchen quetschte er sich auf die Bank gegenüber von Grace und ließ mit triumphierendem Blick eine große, tropfnasse Plastikmappe auf den Tisch fallen.

»Warum lassen sich die Leute immer an solch scheußlichen Orten ermorden oder ablegen?« Er beugte sich vor und atmete Roy ins Gesicht.

Dieser versuchte, nicht zurückzuzucken, als ihn der üble Geruch anwehte. So ähnlich stellte er es sich vor, von einem Drachen angefaucht zu werden. »Vielleicht sollten Sie einige Richtlinien aufstellen«, erwiderte er gereizt. »Fünfzig goldene Regeln, an die sich jedes Mordopfer halten sollte.«

Ironie war noch nie Norman Pottings Stärke gewesen, und er brauchte einen Augenblick, um den Sarkasmus seines Vorgesetzten zu durchschauen. Dann grinste er und entblößte seine viereckigen, schiefen Zähne, die wie Grabsteine in seinem Mund standen.

Er hob einen Finger. »Heute Morgen bin ich ein bisschen schwer von Begriff, Roy. War eine harte Nacht. Li hat sich wie eine Tigerin aufgeführt!«

Potting hatte sich kürzlich eine Braut aus Thailand zugelegt und erfreute seither alle, die es nicht hören wollten, mit seinen Leistungen im Bett.

Grace wechselte rasch das Thema und deutete auf die Mappe. »Haben Sie die Pläne?«

»Viermal in einer Nacht, Roy! Ein dreckiges Luder, sage ich Ihnen, die macht einfach alles! Wow! Ich bin ein wirklich glücklicher Mann!«

»Wie schön.«

Einen Moment lang freute sich Grace tatsächlich für ihn. Potting hatte mit seinem Liebesleben nie viel Glück gehabt. Drei gescheiterte Ehen und mehrere Kinder, die er zu seinem Bedauern nur selten sah. Das jüngste Mädchen hatte Down Syndrom, und Potting hatte vergeblich versucht, das Sorgerecht zu bekommen. Er war kein schlechter Mensch, auch nicht dumm – im Gegenteil, er war ein äußerst fähiger Polizist –, doch fehlte es ihm an grundlegenden sozialen Fähigkeiten, um bei der Polizei Karriere zu machen. Dennoch galt Norman Potting als solides und zuverlässiges Arbeitstier, das manchmal überraschend die Initiative ergriff. Und das war es, was bei einem großen Fall für Grace zählte.

»Sie sollten auch mal drüber nachdenken, Roy.«

»Worüber?«

»Über eine Thai-Braut. Es gibt Hunderte, die ganz wild auf einen englischen Ehemann sind. Ich gebe Ihnen mal die Internetadresse. Die sind wirklich toll, sag ich Ihnen. Sie kochen, putzen, bügeln und verschaffen Ihnen den besten Sex Ihres Lebens. Wirklich süße kleine Körper –«

»Die Pläne?« Grace ignorierte die letzten Bemerkungen.

»Ach ja.«

Grace holte mehrere große fotokopierte Straßenkarten, Gitternetzkarten und Abschnittszeichnungen aus der Mappe und breitete sie auf dem Tisch aus. Manche stammten noch aus dem 19. Jahrhundert.

Ein Windstoß ließ den Wagen erbeben. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene und verklang wieder. Der Regen trommelte stetig aufs Dach.

Roy hatte immer Schwierigkeiten gehabt, Pläne zu lesen, und ließ sich von Potting die Feinheiten des Abwassersystems von Brighton and Hove erläutern, wobei er sich an den Unterlagen orientierte, die ihm ein Ingenieur der Stadt an diesem Morgen gebracht hatte. Potting fuhr mit einem schmutzigen Fingernagel über sämtliche Zeichnungen und zeigte die Fließrichtung des Wassers, die immer bergab bis zum Meer führte.

Roy bemühte sich, ihm zu folgen, war eine halbe Stunde später aber so klug wie zuvor. Anscheinend lief alles darauf hinaus, dass das Gewicht der Frau sie im Schlamm hatte stecken lassen, während alle anderen Gegenstände, die sie bei sich hatte, ins Meer geschwemmt worden waren.

Potting stimmte ihm zu.

Graces Handy klingelte. Er entschuldigte sich und zuckte zusammen, als die durchdringende Stimme des frisch ernannten Detective Superintendent Cassian Pewe, des Schleimscheißers von der Met, mit dem ihn seine Chefin ärgern wollte, an sein Ohr drang.

»Hallo, Roy«, sagte Pewe. Er sah Pewes hübsches, aalglattes Gesicht direkt vor sich. »Alison Vosper hat vorgeschlagen, Sie anzurufen und nachzufragen, ob ich Ihnen zur Hand gehen soll.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Cassian, aber die Leiche ist intakt. Wir haben beide Hände hier.«

Schweigen. Pewe gab einen Laut von sich, als hätte er gegen einen Elektrozaun gepinkelt. Sein Lachen klang unnatürlich. »Sehr witzig, Roy«, meinte er gönnerhaft und fügte nach einer Pause hinzu: »Haben Sie alle Leute, die Sie brauchen?«

Grace spürte, wie sich etwas in ihm anspannte. Er unterdrückte mit Mühe den Impuls, dem Mann zu sagen, er solle seinen Samstag gefälligst woanders verbringen. »Vielen Dank.«

»Gut, das wird Alison freuen. Ich sage ihr Bescheid.«

»Nein, das erledige ich schon selbst«, entgegnete Grace. »Falls ich Ihre Hilfe brauche, werde ich Sie darum ersuchen, doch im Augenblick kommen wir gut zurecht. Außerdem – fangen Sie nicht erst am Montag an?«

»Gewiss, Roy, das stimmt. Alison hatte nur den Eindruck, dass es ganz nützlich sein könnte, wenn ich mich am Wochenende schon ein bisschen einarbeite.«

»Ich weiß ihre Sorge zu schätzen«, stieß Grace hervor und hängte ein. Er kochte vor Wut.

»Detective Superintendent Pewe?«, erkundigte sich Potting mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sie kennen ihn?«

»Ja. Und andere seines Schlags. Wenn Sie so einem aufgeblasenen Esel wie ihm genügend Seil geben, hängt er sich irgendwann selbst auf. Das funktioniert immer.«

»Haben Sie zufällig ein Seil dabei?«

18

11. SEPTEMBER 2001 Ronnie Wilson hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er stand wie gebannt da und klammerte sich an den Griff seiner Aktentasche, während sich vor seinen Augen unbegreifliche Szenen abspielten.

Gegenstände fielen vom Himmel auf die umliegenden Straßen. Sie regneten geradezu herunter. Ein nicht enden wollender Schauer aus Mauerwerk, Trennwänden, Schreibtischen, Stühlen, Glas, Bildern, gerahmten Fotos, Sofas, Computerbildschirmen, Tastaturen, Aktenschränken, Papierkörben, Toilettenbrillen, Waschbecken und DIN-A4-Blättern, die aussahen wie riesiges Konfetti. Und Körper. Fallende Körper. Männer und Frauen, gerade noch lebendig, die beim Aufprall explodierten und zerflossen. Er wollte sich abwenden, schreiend davonlaufen, doch eine riesige bleierne Hand drückte ihn nieder und zwang ihn, wie betäubt zuzusehen.

Es war wie der Weltuntergang.

Alle Feuerwehrleute und Polizeibeamte New Yorks schienen in die Zwillingstürme zu laufen. Ein endloser Menschenstrom, der hineindrängte, vorbei an den verwirrten Leuten, die ihnen aus den Gebäuden entgegentaumelten. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen, waren mit Staub bedeckt, zerzaust, viele Gesichter waren blutverschmiert oder vom Schock verzerrt. Viele hielten ein Handy ans Ohr.

Dann folgte das Erdbeben. Zuerst war es nur ein sanftes Vibrieren, doch es wurde stärker, worauf er den Griff des Rollkoffers fester umklammerte. Dann schienen die Zombies, die aus dem Südturm strömten, zum Leben zu erwachen. Beschleunigten ihre Schritte.

Rannten los.

Ronnie blickte hoch. Stutzte. Eine Sekunde lang glaubte er an einen Irrtum. Das war doch nicht möglich! Eine optische Täuschung. Es musste eine Täuschung sein.

Das gesamte Gebäude stürzte in sich zusammen, brach ein wie ein Kartenhaus, nur –

Ein Streifenwagen in einiger Entfernung vor ihm wurde plötzlich platt gedrückt.

Dann ein Löschfahrzeug.

Eine ungeheure Staubwolke wälzte sich wie ein Sandsturm in der Wüste auf ihn zu. Er hörte Donner. Grollenden Donner, von allen Seiten, wie im Kino.

Eine ganze Menschenmenge verschwand unter Mauerwerk.

Die dunkelgraue Wolke hob sich wie ein Schwarm wütender Insekten in die Luft.

Der Donner war ohrenbetäubend.

Das war doch nicht möglich.

Der ganze verdammte Turm stürzte in sich zusammen.

Menschen rannten um ihr Leben. Eine Frau verlor einen Schuh und hinkte weiter, verlor den anderen auch noch. Ein grauenhaftes berstendes Geräusch, das die Sirenen übertönte, als reiße ein riesiges Ungeheuer die Welt in Stücke.

Sie rannten an ihm vorbei. Einer, dann noch einer und noch einer, die Gesichter voller Panik. Manche waren bleich vom Staub, andere von Sprinkleranlagen durchnässt, voller Blut oder Glassplitter. Statisten in einer unheimlichen frühmorgendlichen Prozession.

Plötzlich flog nur wenige Meter vor ihm ein BMW in die Luft und landete auf dem Dach, der Kofferraum war abgerissen. Dann sah er die schwarze Wolke wie eine Flutwelle auf sich zukommen.

Er umklammerte den Griff des Koffers, drehte sich um und rannte den Leuten hinterher. Er wusste nicht, wohin, rannte nur, setzte einen Fuß vor den anderen, zog den Koffer hinter sich her, achtete nicht mehr darauf, ob die Aktentasche noch obenauf lag. Er rannte vor der schwarzen Wolke davon, vor dem einstürzenden Turm, vor dem Donnern in seinen Ohren, seinem Herzen und seiner Seele. Er rannte um sein Leben.

19

OKTOBER 2007 Mittlerweile hatte sich der Aufzug in ein lebendes Wesen verwandelt, ein übernatürliches Geschöpf. Wenn Abby atmete, seufzte, knarrte und stöhnte er. Wenn sie sich bewegte, schwankte, ruckte und schaukelte er. Ihr Mund und ihre Kehle waren ausgedörrt; Zunge und Mundhöhle fühlten sich an wie Löschpapier und sogen jedes winzige Speicheltröpfchen auf.

Ein kalter Luftzug blies ihr hartnäckig ins Gesicht. Sie tastete in der Dunkelheit nach dem Knopf am Handy, mit dem sie die Displaybeleuchtung einschalten konnte. Sie machte es alle paar Minuten, um zu überprüfen, ob sie Empfang hatte. Und um einen winzigen, aber verzweifelt ersehnten Lichtstrahl in ihre wankende Gefängniszelle zu lassen.

Kein Empfang.

Mittlerweile war es 1.32 Uhr.

Sie wählte noch einmal den Notruf, doch das schwache Empfangssignal war verschwunden.

Zitternd las sie aufs Neue die Nachricht:

 

Ich weiß, wo du bist.

 

Obwohl der Empfänger seine Nummer unterdrückt hatte, wusste sie, von wem die SMS stammte. Es gab nur einen Menschen, der sie geschickt haben konnte. Woher aber wusste er ihre Nummer? Das war ihre größte Sorge. Woher zum Teufel weiß er meine Nummer?

Es war ein Kartenhandy, das sie bar bezahlt hatte. Sie hatte genügend Krimiserien im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass Anrufer auf diese Weise nicht zurückverfolgt werden konnten. Drogendealer benutzten solche Handys. Sie hatte es gekauft, um mit ihrer Mutter im nahe gelegenen Eastbourne in Kontakt zu bleiben, während sie vorgab, noch immer im Ausland zu leben. Außerdem konnte sie Kontakt zu Dave halten und ihm gelegentlich Fotos schicken. Es war schwer, so lange von einem geliebten Menschen getrennt zu sein.

Dann kam ihr ein Gedanke. War er bei ihrer Mutter gewesen? Selbst wenn, hätte sie ihm die Nummer nicht geben können. Abby achtete peinlich darauf, sie geheim zu halten. Außerdem hatte sie erst gestern mit ihrer Mutter telefoniert, und diese hatte nichts davon erwähnt.

War er ihr vielleicht gefolgt und hatte gesehen, wo sie das Telefon gekauft hatte? Nein, unmöglich. Sie hatte es in einem kleinen Telefonladen in einer Seitenstraße vom Preston Circus gekauft und darauf geachtet, dass niemand sie beobachtete. Sie hatte sich jedenfalls bemüht.

War er etwa im Haus? Wenn er sie nun im Aufzug gefangen hatte und in der Zwischenzeit in ihre Wohnung einbrach? Was, wenn er die Wohnung in diesem Augenblick durchsuchte?

Angenommen, er fände –

Unwahrscheinlich.

Wieder schaute sie aufs Display.

Die Worte machten ihr zunehmend Angst. Sie sprang vor lauter Panik hoch. Drückte die Leuchttaste und schob ihre Finger zum hundertsten Mal zwischen die Aufzugtüren. Heulte vor lauter Verzweiflung, weil sie auch diesmal nicht aufgingen.

Sie rührten sich nicht von der Stelle.

Geht bitte auf. Oh, Gott, geht doch bitte auf.

Wieder schaukelte der Aufzug wie wild. Ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf, Taucher in einem Haikäfig, ein großer Weißhai stieß mit der Nase gegen die Gitterstäbe. So musste es sich anfühlen. Ein großer Weißhai. Ein gefühlloser Räuber. Sie musste verrückt gewesen sein, als sie sich auf die Geschichte eingelassen hatte.

Falls sie je in ihrer Entschlossenheit gewankt und alles, was sie besaß, dafür gegeben hätte, Dinge ungeschehen zu machen, dann in diesem Augenblick.

20

OKTOBER 2007 Schmeißfliegen oder Blauarschfliegen, wie die Australier sie gerne nennen, ernähren sich von flüssigen Proteinen, die aus verwesenden Leichen austreten, und können eine Leiche aus fast zwanzig Kilometern Entfernung wittern. Eine Eigenschaft, die sie mit Kriminalreportern teilen, wie Roy Grace zu sagen pflegte. Daher war er auch nicht überrascht, als in diesem Augenblick ein ebensolches Exemplar vor dem Wagen der Spurensicherung auftauchte: Kevin Spinella, der hartnäckigste und am besten informierte Kriminalreporter vom Argus. Manchmal war er sogar zu gut informiert.

Grace erklärte dem Beamten, der den Tatort bewachte und ihn per Funk benachrichtigt hatte, dass er mit Spinella sprechen werde. Er trat hinaus in den Regen, dankbar, dass er Norman Pottings Geruch nicht länger einatmen musste. Als er auf den Reporter zuging, bemerkte er zwei Fotografen, die sich ebenfalls in der Nähe herumdrückten.

Spinella stand kaugummikauend ohne Schirm da, die Hände in den Taschen, den Kragen seines Regenmantels hochgeklappt. Er war Anfang zwanzig, ein schmächtiger Mann mit schmalem Gesicht und wachen Augen. Sein dünnes schwarzes Haar war mit Gel nach vorn gekämmt und klebte ihm nass am Kopf.

Unter dem Mantel trug er einen schwarzen Anzug und ein Hemd, das mindestens eine Nummer zu groß war. Der Kragen hing lose um seinen Hals, obwohl er die karminrote, ungeschickt gebundene Polyesterkrawatte straff festgezogen hatte. Seine schicken schwarzen Schuhe waren mit Schlamm bedeckt.

»Sie kommen ein bisschen spät, mein Sohn«, sagte Grace zur Begrüßung.

»Spät?«, erkundigte sich der Reporter stirnrunzelnd.

»Die Schmeißfliegen waren schon Jahre vor Ihnen da.«

Spinella lächelte schwach, als wüsste er nicht, inwieweit Grace ihn auf den Arm nahm. »Ich habe mich gefragt, ob Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten, Detective Superintendent.«

»Am Montag gibt es eine Pressekonferenz.«

»Können Sie mir vorher schon etwas sagen?«

»Eigentlich dachte ich, Sie könnten mir weiterhelfen. Gewöhnlich sind Sie doch besser informiert als ich.«

Wieder schien sich der Reporter nicht sicher zu sein, ob Grace scherzte. Er lächelte gezwungen: »Wie ich höre, hat man in dem Abflusskanal da drüben ein Frauenskelett gefunden. Ist das richtig?«

Die Achtlosigkeit, mit der Spinella die Frage stellte, als wären die menschlichen Überreste völlig bedeutungslos, machte Grace wütend. Aber er durfte es nicht zeigen. Es hatte keinen Sinn, mit Spinella Streit anzufangen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass eine gewisse Hilfsbereitschaft der Presse gegenüber durchaus sinnvoll war.

»Es sind menschliche Überreste«, entgegnete er. »Das Geschlecht haben wir allerdings noch nicht eindeutig bestimmen können.«

»Wie ich gehört habe, handelt es sich definitiv um eine Frau.«

Grace lächelte. »Na bitte, ich habe doch gesagt, Sie sind besser informiert als ich.«

»Hm – also ist es wirklich eine Frau?«

»Wem trauen Sie mehr, Ihren Quellen oder mir?«

Der Reporter starrte Grace prüfend an. An seiner Nase bildete sich ein Tropfen, doch er machte keine Anstalten, ihn wegzuwischen. »Kann ich Sie noch etwas fragen?«

»Wenns schnell geht.«

»Ich habe gehört, dass am Montag ein neuer Kollege bei Ihnen in Sussex House anfängt. Detective Superintendent Pewe von der Met.«

Grace erstarrte. Noch eine Bemerkung, und er würde Spinella den Tropfen höchstpersönlich von der Nase hauen. »Sie haben richtig gehört.«

»Meinen Informationen zufolge ist die Met die erste britische Polizeibehörde, die ernsthaft einen Abbau der Bürokratie betreibt.«

»Ach ja?«

Das hämische Grinsen des Reporters war unerträglich. Er sah aus, als wüsste er alle möglichen Geheimnisse. Einen Augenblick lang argwöhnte Grace sogar, der Mann könnte vertrauliche Informationen von Alison Vosper erhalten haben.

»Ich habe gehört, man setze dort mittlerweile Zivilangestellte ein, um verhaftete Personen ins Gefängnis aufzunehmen, damit die Polizeibeamten sofort wieder auf Patrouille gehen können und nicht stundenlang Formulare ausfüllen müssen«, erklärte Spinella. »Gehen Sie davon aus, dass die Kripo Sussex von Detective Superintendent Pewe nützliche Dinge lernen kann?«

Grace schluckte seine Wut hinunter und antwortete mit großer Umsicht: »Ich bin mir sicher, dass Detective Superintendent Pewe ein wertvolles Mitglied der Kripo Sussex werden wird.«

»Darf ich Sie so zitieren?« Das Grinsen wurde immer schlimmer.

Was weißt du denn schon, kleiner Scheißer?

Graces Funkgerät knisterte. Er hielt es ans Ohr und meldete sich.

Es war Tony Monnington von der Spurensicherung. »Roy, ich glaube, wir haben das erste brauchbare Beweisstück gefunden.«

Grace entschuldigte sich höflich bei dem Reporter und kehrte in den Kanal zurück. Unterwegs rief er Norman Potting an und teilte ihm mit, es werde einige Minuten dauern. Seltsam, wie rasch sich Situationen ändern konnten. Eben noch hatte er es gar nicht abwarten können, den Fundort des Skeletts zu verlassen. Wenn aber die Alternativen darin bestanden, im Regen mit Spinella zu reden oder mit Norman Potting im selben Wagen zu sitzen, wirkte der Kanal auf einmal durchaus anziehend.

21

OKTOBER 2007 Abbys Mitbewohnerin Sue hatte unbewusst ihr Leben verändert. Sie hatten einander kennen gelernt, als sie in einer Kneipe am Strand von Yarra in Melbourne kellnerten, und sich spontan angefreundet. Sie waren gleich alt, und Sue war genau wie Abby von England nach Australien gegangen, um Abenteuer zu erleben.

Vor etwa einem Jahr hatte Sue ihrer Freundin erzählt, dass sie in der Kneipe mit einigen gut aussehenden und sehr charmanten Typen geplaudert hatte. Die Jungs seien am Sonntag zum Grillen eingeladen und Sue solle doch mitkommen und könne gern eine Freundin mitbringen.

Da sie nichts Besseres vorhatten, waren sie hingegangen. Der Grillabend fand in einer coolen Junggesellenwohnung statt, einem Penthouse in einem der angesagtesten Viertel von Melbourne, von dem aus man eine herrliche Sicht auf die Bucht genoss. Abby hatte ihre Umgebung allerdings kaum wahrgenommen, weil sie vom Gastgeber Dave Nelson völlig hingerissen war.

Es waren noch viele andere Leute auf der Party, die Männer mindestens zehn Jahre älter als sie, einige auch jenseits der sechzig, und sie erinnerten an Statisten aus einem Gangsterfilm. Die Frauen waren über und über mit Schmuck behängt und schienen frisch aus dem Schönheitssalon zu kommen. Doch auch die beachtete sie kaum. Tatsächlich sprach sie eigentlich nur mit ihrem Gastgeber, nachdem sie die Wohnung betreten hatte.

Dave war schlank, groß, ein ungeschliffener Diamant von Mitte vierzig, tief gebräunt, mit kurzer Gelfrisur und leicht verlebtem Gesicht. Als junger Mann war er vermutlich äußerst attraktiv gewesen. Er wirkte angenehm entspannt, und genauso fühlte sie sich in seiner Nähe.

Er bewegte sich mit einer lässigen, animalischen Anmut und schenkte den ganzen Nachmittag über großzügig Champagner aus Magnumflaschen aus. Er sei müde, weil er drei Tage lang bei einem internationalen Pokerturnier mitgespielt habe, den ›Aussie Millions‹ im Casino des Crown Plaza. Er hatte tausend Dollar Startgebühr bezahlt und vier Runden überstanden, einen Topf von über hunderttausend aufgebaut. Dann sei er leider ausgeschieden. Drei Asse, hatte er Abby wehmütig erzählt. Woher sollte er denn wissen, dass der andere zwei Asse verdeckt hielt? Dabei hatte er drei Könige besessen, zwei davon bei den verdeckten Karten!

Abby hatte noch nie gepokert. Als alle Gäste gegangen waren, setzte er sich mit ihr hin und brachte es ihr bei. Es gefiel ihr, wie aufmerksam er war, dass er sie die ganze Zeit anschaute und ihr Komplimente machte, wie schön sie sei und wie sehr er es genieße, mit ihr hier zu sitzen. Er ließ sie stundenlang kaum aus den Augen, als würde nichts anderes mehr zählen. Er hatte gute Augen, braun mit einem grünen Schimmer, wachsam, aber mit einer gewissen Traurigkeit, als trüge er einen tiefen Schmerz in sich. Er weckte in ihr das Bedürfnis, ihn zu beschützen und zu bemuttern.

Dave erzählte wunderbare Geschichten von seinen Reisen und wie er im Internet mit wertvollen Briefmarken und Pokerspielen ein Vermögen verdient hatte. Sein System klang einleuchtend und clever.

Im Internet wurde rund um die Uhr gepokert. Er nutzte die Zeitzonen und loggte sich in Gegenden, wo früher Morgen war, in Partien ein. Die Leute dort waren müde und oft angetrunken. Er schaute eine Weile zu und stieg dann ein. Es war ein leichtes Spiel für einen Mann, der hellwach, nüchtern und aufmerksam war.

Abby hatte sich immer für ältere Männer interessiert, und dieser scheinbar so abgebrühte Typ, der mit solcher Leidenschaft von winzigen, empfindlichen und wunderschönen Briefmarken und deren historischer Bedeutung sprach, faszinierte sie. Für ein schlichtes britisches Mädchen wie sie war es eine Begegnung mit einer anderen Welt. Und obwohl er etwas Verletzliches an sich hatte, wirkte er gleichzeitig sehr stark und männlich, und sie fühlte sich in seiner Gegenwart völlig sicher.

Zum ersten Mal verstieß sie gegen ihr Prinzip und schlief gleich in der ersten Nacht mit ihm. Wenige Wochen später zog sie bei ihm ein. Er ging mit ihr einkaufen, ermunterte sie, teure Kleider auszusuchen, und kam, wenn er beim Pokern einen Coup gelandet hatte, mit einem Schmuckstück, einer neuen Uhr oder einem irrsinnig kostspieligen Blumenstrauß nach Hause.

Sue bemühte sich nach Kräften, Abby den Mann auszureden. Er sei zu alt für sie, habe eine zweifelhafte Vergangenheit und einen Ruf als Frauenheld. Besser gesagt, er sei ein Serienbumser.

Doch Abby hörte nicht auf sie, beendete zuerst die Freundschaft mit Sue und brach dann auch alle anderen Kontakte in Melbourne ab. Sie genoss es, sich in Daves Kreisen zu bewegen, wo die Leute älter, glamouröser und interessanter waren. Das große Geld hatte sie schon immer gereizt, und diese Leute gaben es mit vollen Händen aus.

Als Kind war sie in den Schulferien manchmal mit ihrem Vater unterwegs gewesen, der als selbstständiger Fliesenleger arbeitete. Sie hatte es wunderbar gefunden, ihm zu helfen, doch am meisten interessierte sie sich für die Häuser, in denen reiche Leute lebten. Ihre Mutter arbeitete in der Stadtbibliothek von Hove. Die Familie bewohnte eine kleine Doppelhaushälfte in Hollingbury, und ihre Eltern pflegten liebevoll den Garten, an dessen Zaun ihr Horizont endete.

Als Abby größer wurde, empfand sie das bescheidene Leben ihrer Eltern als beengend. Als Teenager verschlang sie die Romane von Danielle Steel, Jackie Collins und Barbara Taylor und las jede Woche OK! und Hello! von der ersten bis zur letzten Seite. Insgeheim träumte sie davon, wahnsinnig reich zu sein, träumte von prächtigen Häusern, Yachten und allem, was dazugehörte. Sie sehnte sich danach, auf Reisen zu gehen. Tief im Inneren wusste sie, dass sie irgendwann ihre Chance bekommen würde. Bevor sie dreißig würde, wäre sie reich, dieses Versprechen gab sie sich selbst.

Als man einen Freund von Dave wegen dreifachen Mordes verhaftete, war sie entsetzt, verspürte aber auch eine leise Erregung. Dann wurde ein Mitglied seines Kreises vor den Augen seiner Zwillinge im Auto erschossen, als er sich deren Fußballtraining ansah. Allmählich wurde ihr klar, dass sie sich in einer Welt bewegte, die nichts mit ihrer Herkunft zu tun hatte und die sie auch nicht ganz durchschaute. Trotz ihres Entsetzens über den Tod des Mannes fand sie auch das Begräbnis aufregend. Von diesen Leuten akzeptiert zu werden, war der größte Erfolg ihres Lebens.

Gleichzeitig begann sie sich zu fragen, was Dave in Wirklichkeit trieb. Manchmal scharwenzelte er um Leute herum, die angeblich zu den ganz Großen gehörten, und versuchte, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Eines Morgens bekam sie mit, wie er am Telefon den Handel mit Briefmarken als perfekte Geldwäsche anpries, bei der man Werte unauffällig um den Globus herum bewegen könne.

Das gefiel ihr nun weniger. Solange sie eher am Rand der Gruppe gestanden und mit den Leuten in Kneipen und auf Partys abgehangen hatte, war es in Ordnung gewesen. Dass Dave aber mit ihnen Geschäfte machen wollte, sie geradezu darum anflehte, fand sie enttäuschend. Tief im Herzen wusste sie, dass sie ihm helfen könnte, doch dazu musste sie die Mauer, die er um sich herum errichtet hatte, durchdringen. Obwohl sie schon seit mehreren Monaten zusammen waren, hatte er nur einmal nebenbei erwähnt, dass er zweimal verheiratet gewesen war und zwei schmerzliche Scheidungen hinter sich hatte.

Doch dann ließ er eines Tages die Bombe platzen.

22

SEPTEMBER 2007 Der metallicblaue Pickup fuhr von Melbourne aus nach Westen. Am Steuer saß MJ, ein hoch gewachsener Mann von achtundzwanzig mit pechschwarzem Haar und Surferfigur, lässig in ein gelbes T-Shirt und Bermudas gekleidet. Er hatte eine Hand am Lenkrad und die andere um Lisas Schultern gelegt.

Der Geländewagen mit den breiten Schlappen und fetten Auspuffrohren lag sicher auf der gewundenen Straße, die durch offenes Gelände führte. Der Wagen war sein ganzer Stolz, und er horchte zufrieden auf das Brummen des 5,7-Liter-Motors mit den acht Zylindern. Rechts von ihnen erstreckte sich ausgedörrtes Buschland, während sich links hinter einem durchhängenden Stacheldrahtzaun sanfte braune Hügel erhoben. Auch sie wirkten trocken und dürr, da es seit sechs Jahren praktisch nicht geregnet hatte. Einige spärliche Baumreihen standen verstreut wie Bartstoppeln, die der Rasierer übersehen hatte.

Es war Samstagmorgen, und zum ersten Mal seit zwei Tagen konnte MJ an etwas anderes als seine Ausbildung denken. In einem Monat stand die Prüfung in Börsenwesen an, die er bestehen musste, um eine feste Stelle bei der Macquarie Bank zu erhalten. Trotz der Trockenheit war der Frühling in diesem Jahr spät gekommen, und an diesem Wochenende hoffte er auf den ersten wirklich schönen Tag nach den langen trüben Wintermonaten. Er war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.

MJ ließ es langsam angehen. Er hatte schon sechs Strafpunkte und musste aufpassen, dass er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Außerdem hatte er es nicht eilig. Er war wahnsinnig glücklich, mit dem Mädchen, das er liebte, im Auto zu sitzen, und genoss die Aussicht und das Gefühl, das ganze Wochenende vor sich zu haben.

Er erinnerte sich an einen Spruch, den er irgendwo einmal gelesen hatte. Glück heißt nicht, zu bekommen, was man will. Es heißt, zu wollen, was man hat.

Er zitierte es laut, und Lisa sagte, es sei wunderschön und sie sei ganz seiner Meinung. Dann küsste sie ihn. »Du sagst immer so schöne Sachen, MJ.« Er wurde rot.

Sie drückte einen Knopf, und die Whitlams hämmerten aus der sündhaft teuren Anlage, die er in den Wagen eingebaut hatte. Die Campingausrüstung und die Palette Bierdosen, die unter einer Plane auf der Ladefläche lagen, vibrierten im Takt. Genau wie sein Herz. Es war schön, hier zu sein, sich lebendig zu fühlen, die warme Luft im Gesicht zu haben, Lisas Parfüm zu riechen und ihre blonden Locken an seinem Arm zu spüren.

»Wo sind wir?«, wollte sie wissen. Eigentlich war es ihr egal, denn auch sie genoss die Fahrt. Eine nette Abwechslung zum Alltag, in dem sie als Pharmareferentin des Wyeth-Konzerns Arztpraxen besuchte und Medikamente gegen Hämophilie verkaufte. Sie genoss es, statt der üblichen Businesskostüme nur ein weißes Top und rosa Shorts zu tragen. Vor allem aber genoss sie die kostbare Zeit mit MJ.

»Wir sind fast da.«

Sie kamen an einem sechseckigen gelben Verkehrsschild vorbei, auf dem ein schwarzes Fahrrad zu sehen war, und hielten an einer Einmündung neben dem skelettartigen Stamm einer Radiata-Kiefer mit dicker Krone, die wie ein schlecht sitzendes Toupet aussah. Vor ihnen erhob sich ein kahler, steiler Hügel mit einzelnen Büschen, die aussahen wie angeklebt.

Lisa war Engländerin und lebte erst seit zwei Jahren in Australien. Vor einigen Monaten war sie von Perth nach Melbourne gezogen und kannte sich in der Gegend noch gar nicht aus. »Wann bist du zuletzt hier gewesen?«, erkundigte sie sich.

»Vor zehn Jahren. Früher habe ich mit meinen Eltern hier gezeltet. Es war unsere Lieblingsstelle. Du wirst begeistert sein. Yeah!«

Voller Elan trat er aufs Gas. Der Geländewagen schoss vorwärts, bog scharf nach links ab, der Auspuff knatterte laut.

Nach einigen Minuten kamen sie an einem Schild vorbei, das den Barwon River ankündigte. MJ fuhr langsamer und schaute nach rechts. Sie passierten ein weiteres Schild mit der Aufschrift STONEHAVEN AND POLLOCKS FORD.

Kurz darauf bremste er scharf und bog nach rechts auf einen sandigen Weg ab. »Hier müsste es sein!«

Sie rumpelten noch etwa fünfhundert Meter weiter. Rechts lag offenes Gelände, links Büsche und eine Böschung, die zum Fluss hinunterführte, der vom Weg aus nicht zu sehen war. Sie fuhren über eine Metallbrücke mit alten gemauerten Pfeilern. Der Weg neigte sich abrupt und stieg wieder an. Nach einigen Minuten gelangten sie auf eine Grasfläche, die von dichtem Gebüsch abgeschirmt wurde.

MJ hielt und zog die Handbremse an. Hinter ihnen schwebte eine Staubwolke in der Luft. »Willkommen im Paradies«, sagte er.

Sie küssten sich.

Kurz darauf stiegen sie aus, in eine warme Stille. Es roch nach Heu. Ein Laubenvogel machte ein pfeifendes Geräusch, dann war es wieder still. Unter ihnen wand sich der schimmernde Wasserlauf. In der Ferne waren im grellen Sonnenlicht kahle braune Hügel zu erkennen, auf denen nur vereinzelte Akazien und Eukalyptusbäume wuchsen. Die Stille war so intensiv, dass sie sich einen Moment lang wie die einzigen Menschen auf dem Planeten vorkamen.

»Mein Gott, ist das schön«, sagte Lisa.

Sie verscheuchte eine Fliege, die vor ihrem Gesicht summte. Dann noch eine.

»Die guten alten Fliegen«, sagte MJ. »Wir sind genau richtig!«

»Die erinnern sich an dich«, sagte Lisa, als ein drittes Exemplar auf ihrer Stirn landete.

Er boxte sie spielerisch und wedelte dann vor seinem eigenen Gesicht, um die Tiere zu verscheuchen. Er legte den Arm um Lisa und führte sie zu einer Öffnung im Gebüsch.

»Hier haben wir immer das Kanu zu Wasser gelassen«, sagte er.

Sie blickte einen steilen, sandigen Abhang hinunter, der mit Farn bewachsen war und eine natürliche Rampe zum Fluss hinunter bildete. Der Wasserlauf war um die zwanzig Meter breit und still wie ein Teich. Auf der Oberfläche saßen einige Libellen, die Moskitolarven fraßen oder Eier legten, andere schwebten über ihnen in der Luft. Das Gebüsch am anderen Ufer spiegelte sich im klaren Wasser.

»Wow!«, sagte sie. »Wow, wow, wow! Das ist ja Wahnsinn.«

Dann bemerkte sie eine Reihe weißer Pflöcke, die entlang der Rampe im Boden steckten. Alle trugen schwarze Markierungen.

»Als ich klein war, reichte das Wasser bis hier oben«, sagte MJ und deutete auf die oberste Markierung.

Lisa zählte acht sichtbare Markierungen. »Ist das Wasser so weit gesunken?«

»Der gute alte Klimawandel«, erwiderte er.

Dann entdeckte sie die Henkersschlinge, die von einem hervorspringenden Ast baumelte, der dick wie ein Elefantenbein war.

»Von da oben sind wir runter gesprungen. Es war nicht tief.«

Jetzt betrug die Entfernung gute fünf Meter.

Er zog das T-Shirt aus. »Kommst du rein?«

»Lass uns zuerst das Zelt aufbauen.«

»Ach komm, Lisa, das hat doch noch den ganzen Tag Zeit! Mir ist heiß!« Er zog sich weiter aus. »Und die Fliegen hassen Wasser!«

»Sag mir erst, wie das Wasser ist. Dann überlege ich es mir.«

»Bist du ein Weichei!«

Lisa lachte. MJ verschwand nackt im Unterholz, dann sah sie ihn über den Ast kriechen. Er griff nach dem Seil, das gefährlich zerfranst wirkte, machte einen Überschlag und hielt sich daran fest.

»Pass auf, MJ!«

Er hielt sich mit einem Arm fest, trommelte mit dem anderen auf seine Brust und stieß Tarzanschreie aus. Dann schwang er sich über das Wasser, berührte es fast mit den Füßen, beschrieb einen großen Bogen und ließ sich mit einem gewaltigen Platsch hineinfallen.

Lisa schaute ängstlich hinüber. MJ tauchte wieder auf und schüttelte sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Es ist toll! Na los, komm rein!«

Er kraulte mit kraftvollen Zügen und hob plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf.

»Mist!«, stieß er hervor. »Aua, verdammt! Hab mir an irgendwas den Zeh gestoßen.«

Lisa lachte.

MJ tauchte unter. Als er wieder hochkam, schaute er sie voller Panik an.

»Scheiße, Lisa! Da unten ist ein Auto! Da liegt ein verdammtes Auto im Fluss!«

23

11. SEPTEMBER 2001 Lorraine starrte wie betäubt auf den Femseher. Hatte die Zigarette, die sie zwischen den Fingern hielt, noch gar nicht angezündet. Eine junge Reporterin sprach eindringlich in die Kamera und schien gar nicht zu bemerken, dass wenige hundert Meter hinter ihr der Südturm einstürzte.

Er fiel fast senkrecht in sich zusammen, unerträglich ordentlich, und Lorraine kam es vor, als erlebte sie den größten Zaubertrick aller Zeiten. Die Reporterin sprach weiter. Hinter ihr verschwanden Autos und Menschen unter Trümmern und Staubwolken. Andere rannten um ihr Leben, stürmten geradewegs auf die Kamera zu.

Großer Gott, merkte sie denn nichts?

Noch immer las die Reporterin den Text vom Bildschirm ab oder wiederholte, was man ihr über das Ohrmikro durchgab.

DREH DICH UM!, hätte Lorraine am liebsten geschrien.

Endlich wandte sich die Frau um. Und verlor die Fassung. Sie machte einen unsicheren Schritt zur Seite, dann noch einen. Menschen drängten an ihr vorbei, schubsten sie, rissen sie beinahe von den Füßen. Die Wolke, die wie ein Pilz in den Himmel stieg, schien sich über die ganze Stadt auszubreiten und rollte wie eine Lawine auf sie zu. Die Frau stand unter Schock, sagte noch ein paar Worte, doch es kam kein Ton, als wäre ihr Kabel durchtrennt worden. Man sah nur noch schattenhafte Gestalten in einem grauen Wirbelsturm, als die Staubwolke die Kamera umhüllte.

Lorraine hörte Schreie. Das Bild im Fernseher wechselte zur wackligen Perspektive einer Handkamera, durch die man einen riesigen Brocken aus Stahl, Glas und Mauerwerk auf ein Feuerwehrauto stürzen sah. Er durchschlug die Leiter und drückte den mittleren Teil des Autos platt, als hätte ein Kind auf sein Spielzeug getreten.

Wieder und wieder hörte man eine Frauenstimme: »Mein Gott! Oh, mein Gott! Oh, mein Gott.«

Überall Geschrei. Es wurde kurz dunkel, dann filmte wieder eine Handkamera, ein junger Mann hinkte vorbei und hielt einer Frau ein blutgetränktes Handtuch vors Gesicht. Er versuchte, sie mit sich zu ziehen, weg von der Wolke, die unerbittlich näherrückte.

Dann folgte die Schaltung ins Nachrichtenstudio zum Sprecher, hinter dem auf Monitoren die chaotischen Bilder zu sehen waren.

»Es wird gemeldet, dass der Südturm des World Trade Center soeben eingestürzt ist. Außerdem bringen wir Ihnen gleich die neuesten Berichte über die Situation im Pentagon.«

Lorraine versuchte, die Zigarette anzuzünden, doch ihre Hand zitterte so sehr, dass das Feuerzeug auf den Boden fiel. Sie konnte die Augen nicht vom Fernseher wenden. Hatte Angst, Ronnie zu verpassen. Eine aufgeregte Frau rief unverständliche Wörter. Eine attraktive Reporterin, die ein Mikrofon umklammert hielt, stand vor einer schwarzen Rauchwolke, aus der Flammen züngelten und hinter der die niedrige Silhouette des Pentagon zu erkennen war.

Sie wählte Ronnies Handynummer, doch es war immer noch besetzt.

Sie versuchte es wieder und wieder. Ihr Herz hämmerte wie wild, und sie zitterte, sehnte sich verzweifelt danach, seine Stimme zu hören, sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Doch sie konnte nicht verdrängen, dass seine Besprechung im Südturm hätte stattfinden sollen. Und der war soeben eingestürzt.

Sie wollte neue Aufnahmen von Manhattan, nicht vom blöden Pentagon. Sie schaltete auf Sky News um. Wieder eine Handkamera, diesmal filmte sie drei staubige Feuerwehrmänner mit gelben Armbinden, die mit eiligen Schritten einen verletzten grauhaarigen Mann davontrugen.

Dann ein brennendes Auto. Ein brennender Krankenwagen. Gestalten, die aus der Düsternis auftauchten. Ronnie? Sie beugte sich vor, kroch ganz nah an den großen Bildschirm. Ronnie? Die Gestalten gewannen an Schärfe wie auf einem Foto im Entwicklerbad. Keine Spur von Ronnie.

Wieder wählte sie seine Nummer. Eine Pause, ein Sekundenbruchteil, gleich würde es klingeln! Dann ertönte wieder das Besetztzeichen.

Sky News schaltete nach Washington. Sie drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. Alle Sender schienen dieselben Bilder zu zeigen, dieselben Quellen zu benutzen. Sie sah noch einmal den Einschlag des ersten Flugzeugs, dann den des zweiten. Die Bilder liefen wieder und wieder über den Bildschirm.

Ihr Telefon klingelte. Mit Herzklopfen nahm sie das Gespräch an und erstickte fast an ihrem »Hallo?«

Aber es war der Waschmaschinenmonteur, der den Termin für den nächsten Tag bestätigen wollte.

24

OKTOBER 2007 Der Name der Zielperson lautete Ricky. Abby war ihm gelegentlich auf Partys begegnet, wo er schnurstracks auf sie zuzukommen und mit ihr zu plaudern pflegte. Sie fand ihn tatsächlich recht attraktiv und genoss es, mit ihm zu flirten.

Er war ein gut aussehender Mann Mitte vierzig, dem etwas Geheimnisvolles anhaftete. Er wirkte sehr selbstsicher und erinnerte sie an einen alternden entspannten Surfer. Genau wie Dave verstand er sich auf den Umgang mit Frauen, stellte viele Fragen, gab aber nur wenig von sich selbst preis. Er war eine große Nummer im Briefmarkenhandel.

Allerdings gab es Streit mit ihm. Es ging um Briefmarken im Wert von vier Millionen Pfund. Laut Dave hatten er und Ricky vereinbart, den Gewinn zu teilen, doch nun verlangte Ricky auf einmal neunzig Prozent. Als sie sich erkundigte, weshalb Dave nicht einfach die Polizei einschaltete, hatte er nur gelächelt. Die Polizei schien für beide keine Option zu sein.

Außerdem hatte er einen viel besseren Plan.

25

OKTOBER 2007 Trotz des grellen Strahls der Halogenlampe mühte sich Roy Grace, den winzigen Gegenstand zu erkennen, den Frazer Theobald mit einer stählernen Pinzette in die Höhe hielt. Er sah nur verschwommen etwas Blaues.

Blinzelnd gestand er sich ein, dass wohl allmählich eine Brille fällig wäre. Erst als der Rechtsmediziner ein Stückchen Papier hinter die Pinzette hielt und ihm eine Lupe reichte, konnte Roy den Gegenstand erkennen. Es war eine Faser, dünner als ein menschliches Haar und zart wie eine Spinnwebe. Sie changierte im Licht, wirkte abwechselnd durchsichtig und blass blau, und die Enden zitterten leicht, weil Theobalds Hand nicht ganz ruhig war und ein eisiger Luftzug durch den Abwasserkanal pfiff.

»Wer immer die Frau getötet hat, hat sich sehr bemüht, keine Spuren zu hinterlassen«, erklärte Theobald. »Ich vermute, er hat sie hier unten abgelegt, weil er hoffte, sie würde durch die Kanalisation ins offene Meer geschwemmt. Die Abwässer werden in ziemlicher Entfernung vom Strand eingeleitet, dort wäre sie wohl kaum wieder aufgetaucht.«

Grace betrachtete das Skelett und konnte den Gedanken, dass es sich vielleicht um Sandy handelte, einfach nicht verdrängen.

»Vielleicht hat der Mörder nicht bedacht, dass der Kanal so trocken ist«, fuhr Theobald fort. »Er hat nicht damit gerechnet, dass die Leiche im Schlamm begraben und der Wasserstand so niedrig sein würde, dass sie nicht mehr frei gespült werden konnte. Möglicherweise wurde der Kanal auch einfach nicht mehr genutzt.«

Grace nickte und starrte auf den zitternden Faden.

»Es handelt sich um eine Teppichfaser, würde ich sagen. Ich kann mich natürlich irren, aber die Laboranalyse dürfte meine Ansicht bestätigen. Sie ist zu hart, um von einem Kleidungsstück oder einem Kissenbezug zu stammen.«

Joan Major nickte zustimmend.

»Wo haben Sie sie gefunden?«, wollte Grace wissen.

Der Rechtsmediziner deutete auf die rechte Hand des Skeletts, die noch halb im Schlamm begraben war. Die Finger lagen frei. Er deutete auf die Spitze des Mittelfingers. »Sehen Sie das? Ein künstlicher Fingernagel, aus einem dieser Nagelstudios.«

Grace spürte, wie es ihn kalt überlief. Sandy hatte an den Nägeln gekaut. Beim Fernsehen machte sie leise knackende Geräusche wie ein Hamster, was ihn wahnsinnig machte. Manchmal kaute sie sogar im Bett. Wenn er einschlafen wollte, knabberte sie vor sich hin, als sorgte sie sich um etwas, das sie ihm nicht anvertrauen wollte. Dann plötzlich wurde sie wütend auf sich selbst. Verlangte, er solle sie jedes Mal darauf aufmerksam machen, wenn sie an den Nägeln kaute, damit sie endlich damit aufhören konnte. Außerdem würde sie in ein Nagelstudio gehen und sich teure, künstliche Nägel machen lassen.

»Eine Kunststoffmischung, die aufgeklebt wurde. Die Nägel wurden nicht weggespült, obwohl die Haut darunter verweste«, erklärte Frazer Theobald. »Die Faser habe ich unter diesem hier gefunden. Möglicherweise hat der Angreifer sie über einen Teppich gezerrt, und sie hat sich mit den Nägeln festgekrallt. Das dürfte die wahrscheinlichste Erklärung sein. Wir haben wirklich Glück, dass die Faser nicht weggeschwemmt wurde.«

»Ach ja, Glück«, sagte Grace geistesabwesend. Seine Gedanken rasten dahin. Über einen Teppich gezerrt. Eine blaue Teppichfaser. Hellblau. Himmelblau.

Bei ihm zu Hause gab es einen hellblauen Teppich. Und zwar im Schlafzimmer. Im Schlafzimmer, das er mit Sandy geteilt hatte, bis sie verschwand.

Spurlos.

26

11. SEPTEMBER 2001 Ronnie war etwa eine Minute gelaufen, als der Tag zur Nacht wurde. Es war wie eine plötzliche Sonnenfinsternis. Er taumelte durch ein stickiges, stinkendes Nichts, Donner hallte in seinen Ohren, ein Donner, der aus dem Boden aufstieg.

Es war, als hätte jemand Milliarden Tonnen übel riechendes, bitter schmeckendes schwarz-graues Mehl vom Himmel geschüttet. Es brannte in seinen Augen, drang in seinen Mund. Er schluckte etwas davon und hustete es gleich wieder hoch. Schluckte noch mehr. Graue, geisterhafte Gestalten wirbelten an ihm vorbei. Er stieß sich den Zeh schmerzhaft an einem Hydranten, stolperte und fiel zu Boden. Der Boden bewegte sich unter ihm. Er vibrierte und bebte, als wäre ein riesiges Ungeheuer erwacht und bräche aus den Eingeweiden der Erde hervor.

Ich muss hier weg. Bloß weg von hier.

Jemand trat auf sein Bein und fiel auf ihn. Er hörte eine Frauenstimme, die schimpfte und sich entschuldigte, nahm einen flüchtigen Hauch von Parfüm war. Er kroch unter ihr hervor, versuchte aufzustehen, doch sofort prallte jemand von hinten gegen ihn und schleuderte ihn erneut zu Boden.

Ronnie hyperventilierte, rappelte sich auf und sah die Frau, die an einen grauen Schneemann erinnerte. Sie hielt ihre Schuhe umklammert und stand auf. Dann stieß ein riesiger, fetter Mann gegen ihn, dem die Haare zu Berge standen, schubste ihn wütend beiseite und verschwand im Nebel.

Wieder wurde er umgerissen. Steh auf. Steh auf. Steh auf.

Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass Menschen oft bei einer Panik zu Tode getrampelt wurden. Er stand auf, drehte sich um und sah weitere graue Gestalten aus der Düsternis auftauchen. Jemand schubste ihn zur Seite. Er suchte in dem Gewimmel von Beinen, Schuhen und nackten Füßen nach Aktentasche und Rollkoffer. Da waren sie. Er bückte sich, griff danach und wurde erneut umgerannt.

»Verdammte Scheiße!«

Ein Pfennigabsatz huschte wie ein spitzer Schatten über seinen Kopf.

Dann herrschte Stille.

Das Grummeln hörte auf. Der Donner hörte auf. Der Boden bebte nicht mehr. Auch die Sirenen waren verstummt.

Einen Augenblick lang überkam ihn neue Hoffnung. Ihm ging es gut! Er war am Leben!

Die Menschen gingen jetzt langsamer und geordneter. Manche hinkten. Einige hielten sich aneinander fest. Andere hatten Glassplitter im Haar, die wie Eiskristalle schimmerten. Blut war die einzige Farbe in einer schwarz-grauen Welt.

»Das ist doch nicht wahr«, sagte eine Männerstimme in seiner Nähe. »Das kann einfach nicht wahr sein.«

Ronnie konnte den Nordturm und rechts davon einen Berg aus verbogenen Trümmern erkennen. Bauschutt, Fensterrahmen, zerstörte Autos, brennende Fahrzeuge und verstümmelte Körper, die reglos auf dem schmutzigen Boden lagen. Er schaute in den Himmel, wo der Südturm stand.

Gestanden hatte.

Der ganze Turm war verschwunden.

Vor wenigen Minuten war er noch da gewesen, und jetzt sah man ins Leere. Ronnie blinzelte, um sicher zu gehen, dass es keine optische Täuschung war. Wieder drang ihm Staub in die Augen und ließ sie tränen.

Er zitterte am ganzen Leib. Vor allem aber zitterte er innerlich.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Es schwebte herunter, wurde von einem Luftzug erfasst und nach oben geweht, bevor es seinen Flug in die Tiefe fortsetzte. Ein Stück Stoff. Es sah aus wie die Filzlappen, mit denen man den Bildschirm eines Laptops schützte.

Es segelte wie ein toter Schmetterling zu Boden und landete nur wenige Meter von ihm entfernt. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er den Lappen mitnehmen sollte, da er seinen vor längerer Zeit verloren hatte.

Weitere Menschen zogen an ihm vorbei. Eine endlose Schlange, schwarz, weiß und grau, wie in einem alten Kriegsfilm oder einer Dokumentation über Flüchtlinge. Irgendwo klingelte ein Telefon. War es seins? Panisch durchsuchte er seine Taschen. Das Handy war noch da, Gott sei Dank! Er holte es heraus, doch es klingelte nicht, er hatte auch keinen Anruf verpasst. Er versuchte es noch einmal bei Lorraine, hatte aber keinen Empfang und hörte nur einen Piepton, der kurz darauf im Lärm eines Hubschraubers unterging.

Er wusste nicht, was er machen sollte. War völlig durcheinander. Viele Leute waren verletzt, und ihm ging es gut. Vielleicht sollte er ihnen helfen. Womöglich würde er hier irgendwo auch Donald finden. Das Gebäude war doch evakuiert worden. Sicher waren alle hinausgekommen, bevor es einstürzte. Möglicherweise lief Donald umher und suchte nach ihm. Wenn sie einander Finden könnten, würden sie in ein Café oder Hotel gehen und ihre Besprechung doch noch abhalten …

Ein Löschzug raste an ihm vorbei, hätte ihn fast überfahren, und verschwand in einem Tumult aus roten blitzenden Lichtern, Sirenen und Huptönen.

»Idioten! Ihr Schweine, fast hättet ihr mich –«

Eine Gruppe schwarzer Frauen, die grau verschmiert waren, kam auf ihn zu. Eine trug einen Beutel, eine andere rieb sich den Hinterkopf unter den Dreadlocks.

»Verzeihung«, sagte Ronnie und vertrat ihnen den Weg.

»Einfach weitergehen«, sagte eine von ihnen.

»Genau«, sagte eine andere. »Aber nicht da lang!«

Weitere Einsatzfahrzeuge fuhren an ihnen vorbei. Der Boden knirschte unter den Füßen. Alles war von Papierschnee bedeckt. Von wegen papierlose Gesellschaft, dachte er zynisch. Die ganze Straße war mit grauem Papier bedeckt. Der Himmel war dunkel von herabfallenden Blättern, blanko, beschrieben, Fetzen aus Aktenvernichtern, in allen Formen, Farben und Größen. Als hätte man unzählige Aktenschränke und Papierkörbe aus einer Wolke gekippt.

Er blieb einen Augenblick stehen und versuchte, klar zu denken.

Doch ihm ging nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Warum heute? Warum gerade heute?

Warum musste diese Scheiße gerade heute passieren? New York war von Terroristen angegriffen worden, soviel war ihm klar. Eine leise Stimme in seinem Kopf mahnte ihn, er müsse eigentlich Angst empfinden, doch die hatte er nicht, er war einfach nur verdammt wütend.

Ronnie marschierte weiter, vorbei an verstörten Menschen, die aus unterschiedlichen Richtungen auf ihn zuströmten. Als er die Plaza erreichte, hielten ihn zwei Polizisten an. Einer war klein mit kurzem blondem Haar. Er hatte die rechte Hand am Lauf seiner Pistole und drückte mit der Linken ein Funkgerät ans Ohr. Er brüllte eine Meldung hinein und horchte auf die Antwort. Der andere war viel größer, hatte Schultern wie ein Footballspieler mit Ausrüstung und ein aknenarbiges Gesicht, das zu sagen schien: Komm mir bloß nicht blöd, die ganze Scheiße ist schon blöd genug.

»Entschuldigung, Sir«, sagte der große Polizist. »Sie können hier nicht weiter, wir brauchen den Platz.«

»Ich habe eine geschäftliche Besprechung«, sagte Ronnie. »Ich – ich«, er deutete mit dem Finger, »ich muss nachsehen –«

»Sie sollten besser einen neuen Termin vereinbaren. Ich glaube nicht, dass heute noch Besprechungen stattfinden.«

»Die Sache ist die. Ich fliege morgen Abend zurück nach Großbritannien. Daher muss ich wirklich –«

»Sir, Sie müssen akzeptieren, dass Ihre Besprechung nicht stattfinden und Ihr Flug abgesagt wird.«

Dann bebte der Boden aufs Neue. Ein furchtbares Krachen ertönte. Die Polizisten drehten sich gleichzeitig um und schauten nach oben. Hoch zur silbergrauen Wand des Nordturms. Sie bewegte sich.

27

OKTOBER 2007 Der Aufzug bewegte sich. Abby spürte, wie der Boden gegen ihre Füße drückte. Er fuhr ruckartig nach oben, wie von Hand gezogen. Hielt abrupt an. Sie hörte einen Rums, dann schwappte Flüssigkeit über den Boden.

Scheiße.

Der Stiefel war umgefallen. Der Latrinenstiefel.

Der Aufzug schwankte, als hätte man ihm einen starken Schubs versetzt, und prallte gegen die Wand des Schachtes. Sie taumelte gegen eine Aufzugwand und fiel auf den nassen Boden. Gott im Himmel.

Etwas hämmerte mit ungeheurer Wucht aufs Dach. Der Knall hallte in ihren Ohren wider. Noch einer. Und noch einer. Sie versuchte sich aufzurappeln, doch der Aufzug prallte so hart gegen den Schacht, dass die stählernen Wände erzitterten. Er neigte sich, bis Abby umfiel.

Wieder ein Knall auf dem Dach.

Mein Gott, nein.

War er etwa dort oben? Ricky? Versuchte er, die Decke einzuschlagen, um zu ihr zu gelangen?

Wieder hob sich der Aufzug ein wenig und schwang wild hin und her. Sie wimmerte vor Entsetzen. Holte ihr Handy heraus, drückte eine Taste. Das Licht ging an, und sie konnte eine kleine Delle in der Decke erkennen.

Wieder ein Knall, die Delle wurde größer. Staubflocken taumelten wirr durch die Luft.

Die Schläge kamen jetzt immer schneller.