Kapitel

Derek wartete, und mit jeder Sekunde wuchs in ihm die Befürchtung, dass etwas mit seinem Computer nicht stimmte. Der Monitor blieb jetzt schon viel zu lange dunkel, wahrscheinlich war der Rechner abgestürzt.

Einen Reset hatte Derek schon versucht, aber das hatte nicht geklappt. Die letzte Option war es, die Stromversorgung zu kappen; buchstäblich den Stecker zu ziehen, doch das würde er nur im Notfall tun.

Ohne es gleich zu bemerken, hatte er begonnen, an seinem Daumennagel herumzuknabbern. Blöde Angewohnheit. Und blödes Spiel, falls es denn wirklich eines war. Er würde …

Auf dem Bildschirm rührte sich etwas. Derek beugte sich vor.

Eine blasse Hand mit dunklen, spitzen Fingernägeln reckte sich in sein Sichtfeld. Jede Hautfalte, jede Ader war genau zu erkennen. Dann schob sich der Besitzer der Hand ins Bild; eine Art Zwerg oder Gnom, mit kahlem Kopf und langer, gebogener Nase. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Derek prüfend von oben bis unten. »Man hat mich geschickt, um dich in Empfang zu nehmen.« Es wirkte nicht, als wäre das eine Aufgabe gewesen, die dem Gnom besondere Freude bereitete.

»Aha.«

»Du bist auserwählt.«

Das nun wieder. »Ja, das habt ihr schon gesagt«, antwortete er und hörte, wie gereizt seine Stimme klang. Der Gnom fletschte die Zähne.

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Junge«, zischte er. »Es sind nur wenige auserwählt, sie tragen Verantwortung, und wäre es nach mir gegangen, hättest du keine Chance gehabt.« Er rülpste, und eine blassgrüne Made kroch aus seinem Mund. »Aber mich fragt ja keiner.«

Derek lachte nervös auf. Er hatte eigentlich kein Interesse an dem Spiel gehabt, und er wusste weniger denn je, was er davon halten sollte, aber dieses Gespräch hier faszinierte ihn. Der hässliche Typ war genauso schlecht gelaunt wie Derek selbst.

»Ich habe nicht darum gebeten, auserwählt zu werden«, gab er zurück. »Also lass mich in Ruhe oder lass uns endlich loslegen. Kommt da überhaupt noch irgendetwas?«

Die Augen des Gnoms verengten sich zu Schlitzen. »Oh ja«, flüsterte er. »Und ob da noch etwas kommt. Du wirst staunen.«

Im nächsten Augenblick war er verschwunden. Der Monitor färbte sich schwarz, dann rot, wieder schwarz und schließlich nachtblau. In grauen und silbrigen Schattierungen zeichneten sich die Umrisse einer verfallenen Burg unter einem fahlen Vollmond ab.

Davor stand eine Gestalt, die sich auf einen langen Stab stützte. Sie trug eine geflickte Jacke, eine Hose, die zu groß wirkte, und löchrige Schuhe.

Derek begriff sofort. Das hier war die Figur, mit der er spielen sollte; anfangs ein totaler Loser, wie so oft, bis er ihn nach und nach zu einem stahlgepanzerten Killer hochentwickelt haben würde.

»Originell ist anders«, murmelte er und griff nach der Maus, im selben Moment raschelte es neben seinem Spielcharakter im Gras. Er hatte nicht bemerkt, dass dort jemand lag. Erst jetzt, als die Gestalt sich aufrichtete, begriff er, dass er beinahe auf ihr gestanden haben musste.

Es war ein Mädchen. Kränklich blass, mit strähnigem, braunen Haar, das ihr bis auf den Rücken reichte. Die Augen standen zu nah zusammen, die Ohren waren spitz, standen aber ab. Eine Elfe vermutlich, oder eine Fee?

»Sei gegrüßt«, hauchte die junge Frau.

»Du auch.«

Sie blickte ihn aus großen, blaugrünen Augen verständnislos an. Dann bedeckte sie erst die Ohren mit den Händen und strich sich danach vom Ohr bis zum Mundwinkel. Wiederholte die Geste. Zweimal, dreimal, bis Derek verstand.

»Ich soll mir mein Headset aufsetzen, ja? Warum sagst du das nicht einfach?«

Sie neigte den Kopf, lächelnd. Legte eine Hand auf den Mund.

»Ist ja auch egal.« Derek stülpte sich seine Kopfhörer über die Ohren und aktivierte die Bluetooth-Verbindung.

Der Unterschied zu vorher war enorm. Er hörte einen entfernten Bach plätschern und ein Käuzchen schreien. Das Rauschen des Windes war so realistisch, dass Derek beinahe erwartete, ihn auch auf der Haut zu spüren.

Die Feenfrau nickte zufrieden. »So ist es gut. Jetzt wird er dich nicht mehr lange warten lassen.«

»Er?«

»Der Bote«, flüsterte sie. »Er wird dir alles erklären, was du wissen musst.«

»Ein Bote? Du meinst, so etwas wie ein Herold? Einer der Nachrichten überbringt? Von wem?«

Sie hatte sich schon halb abgewandt.

»Geduld. Es dauert nicht mehr lange.«

Geduld. Schon wieder. Vage und aus weiter Entfernung hörte Derek ein Geräusch wie von Hufschlägen.

»Er wird dich finden«, fuhr das Mädchen fort. »Keine Sorge. Du erkennst ihn an seinen gelben Augen.«

Er war von Kopf bis Fuß gepanzert, genau wie sein Pferd. Eine schwarze Rüstung, die an manchen Stellen rot schimmerte, wie von frischem Blut. Gelbe Augen in einem blassen Gesicht, dessen Haut so straff um den Schädel gespannt war, dass sich die Knochen darunter deutlich abzeichneten.

»Derek«, sagte er; es klang rau, als rieben die Stimmbänder trocken aneinander. »Mach dich bereit.«

Derek blinzelte. Dieser Bote wandte sich direkt an ihn, nicht an seine Spielfigur, die ein wenig verloren danebenstand. Die gelben Augen suchten Blickkontakt und hielten ihn, auch als das Pferd schnaubte und unruhig zu tänzeln begann.

»Bereit wofür?« Dereks Stimme klang heiser, er räusperte sich. Der gelbäugige Bote wandte keine Sekunde lang den Blick von ihm ab, verfolgte jede seiner Bewegungen. Es fühlte sich unbehaglich an. Als würde er ihn tatsächlich sehen können.

»Für das erste Ritual«, antwortete er und deutete auf die zerlumpte Gestalt, die sich auf ihren langen Stab stützte, zwischen dem Boten und Derek hin- und herschaute und ein wenig ratlos wirkte. »Du bist ein Namenloser und damit nutzlos für Erebos. Das erste Ritual ist der erste Schritt in dein neues Leben.«

Neues Leben hörte sich nun besser an als vorhin. Ein Leben, in dem Riley und Morton keine Rolle spielen würden? In dem Dad ihn nicht insgeheim ständig mit seinem anderen Sohn vergleichen würde, dem, über den nie gesprochen wurde? Ein Leben, in dem er es wagen würde, Maia um ein Date zu bitten oder sie zumindest einmal anzulächeln?

Nein, darum ging es nicht, das war schon klar. Es ging um ein virtuelles Leben, eines, das ihn von seinem realen Dasein ablenken würde. Immerhin. Besser als nichts.

»Was muss ich tun bei diesem Ritual?«, fragte Derek.

Der Bote wies auf das Burgtor hinter der Spielfigur, das sich nun knirschend öffnete. »Du musst wählen.«

Er war grußlos in die Nacht davongeritten, nachdem er noch einmal nachdrücklich auf das offene Tor gewiesen hatte. Derek zögerte. Einerseits hatte ihn nun die Neugier gepackt, andererseits traute er der Sache nicht. Das Spiel war wie von selbst aufgetaucht, aus dem Nichts, und dafür sah es einfach zu gut aus. Wenn man solche Spiele downloadete, zahlte man dafür gut vierzig oder fünfzig Pfund. Für manche auch mehr.

Aber – vielleicht war es ja ein Testlauf? Und er war unter den zufällig ausgewählten Personen, die Probe spielen sollten?

Allerdings war er dafür nicht gerade die perfekte Wahl. Allein unter seinen Mitschülern fielen ihm auf Anhieb fünf ein, die deutlich mehr spielten als er. Und wenn er wirklich einer von einer Handvoll Auserwählten war …

Ach, war doch egal. Das Spiel war da, also konnte er es ebenso gut ausprobieren. »Der erste Schritt in ein neues Leben«, murmelte er, während er seine Spielfigur – seinen Namenlosen, wie der Bote ihn genannt hatte – zum Burgtor marschieren ließ.

Es öffnete sich von selbst, kaum dass der Namenlose die Hand nach dem rostigen Türring ausgestreckt hatte. Was dahinterlag, war kaum zu erkennen, das Mondlicht erhellte nur ein Stück brüchige Mauerwand und ein paar Zentimeter grauen Steinboden. Zögernd ließ Derek seinen Spielcharakter einen Schritt hineingehen. Dann noch einen.

RUMS. Hinter ihm war die Tür zugefallen, und nun herrschte undurchdringliche Finsternis. Wenn jetzt gleich ein Angriff kam, hatte der Namenlose keine Chance. Derek lauschte, aber es war hier ebenso ruhig, wie es dunkel war. Das Einzige, was er hörte, waren die Schritte der Spielfigur, wenn er sie vorsichtig weiterbewegte. Und, nach einiger Zeit, das Geräusch von Tropfen, die auf Stein fielen. Nicht oft und nicht regelmäßig, aber immer wieder.

War das ein Zeichen? Sollte er dem Geräusch folgen? Er drehte den Namenlosen um die eigene Achse, in der Hoffnung, doch irgendwo einen Lichtschein zu entdecken oder etwas anderes, woran er sich orientieren konnte. Aber da war absolut nichts.

»Scheiße«, murmelte Derek.

»Shhhhhh«, drang es im nächsten Moment durch die Kopfhörer. »Geduld.«

Nicht schon wieder, langsam wurde es wirklich ärgerlich. »Geduld ist nicht meine Stärke«, gab er schroff zurück.

»Du wirst sie lernen«, flüsterte die Stimme ihm ins Ohr, und beinahe hätte er die Kopfhörer abgenommen – er ließ sich doch nicht von einem Computerspiel bevormunden –, als an der Wand vor ihm eine Feuerscheibe erschien und den Raum erleuchtete. Sie drehte sich und wurde dabei immer langsamer, bis sie zum Stillstand kam. Rotgelbes Licht fiel auf die groben Steinblöcke der Burgmauer.

Dann verformte sich das Feuer zu brennenden Buchstaben.

Willkommen, Derek. Willkommen in der Welt von Erebos. Wenn du spielen möchtest, mache dich mit den Regeln vertraut.

Und wenn ich nicht spielen möchte?, dachte er trotzig, wusste aber bereits, dass er jetzt noch nicht aussteigen wollte. Erst würde er herausfinden, was es mit dem Spiel auf sich hatte, und danach konnte er es immer noch abbrechen.

»Es ist wichtig, dass du die Regeln genau behältst«, raunte ihm eine samtige Stimme ins Ohr. »Wenn du sie brichst, bleibt das nicht ohne Folgen. Okay?«

»Was denn für Folgen?« Er fragte mehr amüsiert als besorgt; angedrohte Konsequenzen nahm er höchstens ernst, wenn sie von seinen Lehrern kamen. Andererseits, falls Erebos doch eher ein Virus als ein Spiel war, konnte es seinen Computer lahmlegen. Danach hörte sich auch die Antwort an.

»Unerfreuliche Folgen, Derek. Keine, die du erleben möchtest.«

Er unterdrückte ein Seufzen. »Alles klar. Also, welche Regeln sind das?«

Das Feuer an der Wand formte einen Totenschädel.

»Die erste Regel: Du hast nur eine Chance, Erebos zu spielen. Wenn du sie vertust, ist es vorbei. Wenn deine Figur stirbt, ist es vorbei. Wenn du gegen die Regeln verstößt, ist es vorbei. Okay?«

»Okay.« Regelbruch bedeutete also nichts weiter als Rausflug aus dem Spiel, so viel zu den unerfreulichen Folgen. Möglicherweise würde er das schade finden, kam darauf an, aber es war ein Gratisspiel. Er würde den Verlust verschmerzen können.

Der Schädel zerfloss zu brennenden Tropfen, die die Wand hinunterliefen, als würde sie Feuer weinen.

»Die zweite Regel: Wenn du spielst, achte darauf, allein zu sein. Erwähne niemals im Spiel deinen richtigen Namen. Erwähne niemals außerhalb des Spiels den Namen deines Spielcharakters.«

Ah, große Geheimnistuerei. Derek grinste schief. »Meinetwegen.«

Die flammenden Tränen zischten, sammelten sich in der Mitte der Wand und formten ein Gesicht, dessen Mund zu einem Schrei aufgerissen war.

»Die dritte Regel: Der Inhalt des Spieles ist geheim. Sprich mit keinem darüber. Besonders nicht mit Unregistrierten. Mit Spielern kannst du dich, während du spielst, an den Feuern austauschen. Verbreite keine Informationen in deinem Freundeskreis oder deiner Familie. Verbreite keine Informationen im Internet.«

Das wurde ja immer besser. Das Spiel tat, als würde es ihn in einen Geheimbund aufnehmen, wahrscheinlich musste er gleich noch Blut auf die Computertastatur tropfen lassen, um den Pakt zu besiegeln. Das wäre ein echt origineller Einfall gewesen. »Einverstanden.«

»Wir werden dich beim Wort nehmen.«

Die Fackeln, die mit Eisenringen an der Wand angebracht waren, entzündeten sich wie von selbst und erleuchteten einen niedrigen Mauergang, dessen Ende ein Tor aus schweren Balken bildete.

Ohne dass Derek etwas dazu beigetragen hätte, wandte der Namenlose sich ihm zu. Hob langsam die Hand, führte sie an sein Gesicht und zog es vom Kopf, hinterließ nichts als eine glatte Fläche ohne Mund, Nase oder Augen. Trotzdem hatte Derek das widersinnige Gefühl, die Figur würde ihn mustern. Auf eine Reaktion lauern.

»Krank«, murmelte er und lotste seinen gesichtslosen Spielcharakter auf die Tür zu. Ein leichter Druck gegen das Holz, und sie öffnete sich. Der Namenlose trat hindurch.

Treppen, die nach unten führen. Eine weitere Tür, mit glänzenden Beschlägen. Und dahinter – eine Schatzkammer. Truhen, große Säcke, vermodernde Kisten. An den Wänden entdeckt er Kupfertafeln, die das einfordern, was der Bote bereits angekündigt hat: Er muss wählen.

Wähle ein Geschlecht, verlangt die erste Tafel, und schon hier beginnt er zu zögern. Nirgendwo sind die jeweiligen Vor- und Nachteile beschrieben, also entscheidet er sich am Ende dafür, ein Mann zu bleiben, das fühlt sich logischer an.

Die zweite Tafel. Wähle ein Volk.

Noch schwieriger. Sein erster Impuls ist es, den Werwolf zu nehmen, mit seinen langen Fangzähnen und den messerscharfen Klauen, doch der Barbar überragt ihn um gut einen halben Kopf und sieht schon ohne jede Ausrüstung unbesiegbar aus.

Der Dunkelelf kommt nicht infrage, ebenso wenig wie Echsen- oder Katzenmensch … aber Vampir? Er schlüpft probeweise in dessen Haut und ist begeistert von den blitzschnellen, eleganten Bewegungen, zu denen sein Charakter plötzlich fähig ist. Mit seinen dunklen Haaren und der blassen Haut wirkt er wie eine verbesserte Version von Derek. Wie jemand, der er irgendwann vielleicht einmal werden könnte.

Doch so schnell will er seine Entscheidung nicht treffen, auswählen macht schließlich Spaß. Zum Beispiel stehen Zwerge zur Wahl, doch für die hat er noch nie etwas übriggehabt, die kann er leichten Herzens ignorieren. Das Gleiche gilt für die Menschen, die sind ohnehin immer sein Volk, ob ihm das gefällt oder nicht.

Dafür sieht die letzte Option umso spannender aus. Ein Geschöpf, das er so noch nicht kennt: Es nennt sich Harpyie und wirkt majestätisch. Ein Menschenkörper mit Greifvogelklauen statt Füßen, Federn anstelle von Haar und vor allem – Schwingen, die sich ausbreiten lassen. Sie sind nicht sehr lang, aber ein bisschen würde man damit sicher fliegen können. Und wahrscheinlich würden sie im Lauf der Zeit wachsen …

Es ist verlockend. Derek betrachtet das Flügelwesen von allen Seiten und versucht, probeweise Harpyien-Gestalt anzunehmen, aber eigenartigerweise klappt das nicht. Dafür entrollt sich ein Pergament an der Wand, direkt neben der zweiten Tafel.

Zum Volk der Harpyien hast du keinen Zugang. Wähle ein anderes.

Na toll, wieso stehen sie dann hier zur Auswahl? Derek versucht es noch einmal, vielleicht ist die Meldung auf der Schriftrolle ja bloß ein Irrtum.

Ein Geräusch lässt ihn herumfahren. Die Tür hat sich knarrend geöffnet, und ein Gnom schlurft herein, der dem vom Anfang ähnelt. Er blickt sich um und lacht meckernd. »Sieh an. Ein neuer Kämpfer. Leider einer, der nicht lesen kann.«

»Natürlich kann ich lesen«, erwidert Derek. Die Anwesenheit des Gnoms stört ihn, nicht nur, weil er schauderhaft hässlich ist. Bläuliche Haut mit roten Flecken, krumme Beine und riesige Ohren, die fast bis zum Boden hängen. »Aber ich verstehe nicht, warum ich mir die Harpyien nicht als Volk aussuchen kann, wenn es sie doch gibt.«

»Weil du nicht zu ihnen gehörst«, antwortet der Gnom schroff. »Alles andere steht dir offen. Du würdest dich sicher bei den Werwölfen wohlfühlen, die sind alle so dämlich.«

Er spürt die vertraute Wut in seinen Eingeweiden rumoren und schiebt sie weg, so gut es geht. Den Gnom würdigt er keiner Antwort mehr, sondern entscheidet sich kurzerhand für den Vampir, mit dem Gefühl, dabei nichts falsch machen zu können.

»Langzahn«, sagt der Gnom verächtlich und versetzt der nächstliegenden Truhe einen Tritt. »So lange herumüberlegt und dann so schlecht gewählt.«

Nicht verunsichern lassen. Und nicht provozieren. Ein Blick auf seinen neu geschaffenen Spielcharakter genügt, und Derek weiß, dass er sich richtig entschieden hat.

Wähle dein Äußeres, lautet die Aufforderung auf der dritten Tafel. Das findet er einfacher. Er gibt seinem Charakter schmale, dunkle Augen mit rötlichem Schimmer; helle Haut und schwarzes Haar, das ihm bis über die Schultern fällt. Ein schlankes Gesicht, kräftige Lippen, die beim kleinsten Lächeln die Fangzähne freigeben. Eine gebogene Nase, schräg nach oben gezogene Augenbrauen. Zufrieden und gleichzeitig wehmütig betrachtet er sein Werk. So gut würde er auch gerne aussehen. Aber egal. Weiter.

Wähle eine Berufung.

Auch hier ist die Auswahl riesig. Assassine, Gladiator, Heiler, Krieger, Beschwörer, Ritter, Späher, Dieb, … es nimmt kein Ende. Doch wenn er seinem Vampir ins Gesicht blickt, ist klar, dass Ritter oder Heiler für ihn nicht infrage kommen.

Assassine hingegen … warum nicht auch einmal die erste Option auf der Liste nehmen?

Die fünfte Tafel. Wähle …

»Assassine, haha!« Der Gnom zieht an seinen Ohren, wahrscheinlich sind sie deshalb so lang. »Stiefelputzer wäre passender gewesen.«

»Meine Angelegenheit«, sagt Derek und wendet sich wieder der Tafel zu.

Wähle deine Fähigkeiten.

Es ist eine endlos scheinende Liste voll mit verführerischen Möglichkeiten, doch er kann sich kaum darauf konzentrieren, weil der verdammte Gnom begonnen hat, eine der Truhen auszuräumen und den Inhalt durch die Kammer zu werfen. »Spielt keine Rolle, was du dir aussuchst«, kräht er dabei. »Versagen wirst du in jedem Fall.«

»Lass mich in Ruhe.« Er zögert kurz, dann wählt er Tarnung, Nachtsicht und Sprungkraft.

Jede seiner Entscheidungen lässt eine oder mehrere der verbliebenen Optionen erlöschen. Eisenhaut ist verschwunden, ebenso Langer Atem und Waffenkunde. Macht nichts, dadurch wird die Auswahl einfacher. Er wählt Klettern, Lautlosigkeit und Schlagkraft, während der Gnom einen Totenschädel zu seinen Füßen detonieren lässt. »Du hast auf Selbstheilung verzichtet, du Narr«, ruft er. »Du hast Listigkeit verschmäht! Du bist dumm, Langzahn, und die Dummen überleben hier nicht lange.«

Er wählt Zielgenauigkeit, greift sich einen rostigen Kelch vom Boden und wirft ihn dem hässlichen Störenfried an den Kopf. Treffer. Grünes Blut läuft dem Gnom übers Gesicht. »Doch nicht so schlecht gewählt, oder?«, sagt er lachend.

Der Gnom streckt ihm drei gekrümmte Finger entgegen, als wolle er ihn verfluchen. »Lach nur«, zischt er. »Wenn dir das Lachen vergeht, werde ich da sein.«

Damit wendet er sich um und verlässt die Schatzkammer, hinterlässt nur eine Spur klebriger grüner Tropfen auf dem Boden.

Besser so. Die sechste Tafel. Wähle deine Waffen.

Aus der Truhe, die unterhalb dieser Aufforderung platziert ist, ragt spitzes und scharf geschliffenes Metall in allen denkbaren Formen. Gezackte Dolche, Äxte, breite Kurzschwerter, ein Morgenstern mit schauderhaft langen Stacheln.

Er lässt sich Zeit, nimmt eine Waffe nach der anderen zur Hand, überprüft, ob sie ihn in seiner Wendigkeit beeinträchtigt. Zu guter Letzt entscheidet er sich für ein leichtes Schwert mit langer, schmaler Klinge, das silbrige Bögen in die Luft malt, wenn er es schwingt. Dazu einen dreieckigen Schild und einen Helm, der zwar ein bisschen verbeult wirkt, aber besser ist als nichts. Dann findet er noch eine Art Schmuckstück, einen bronzefarbenen Halsring, vorne offen und an den Enden mit Schlangenköpfen besetzt, deren Augen rubinrot glitzern. Es sieht perfekt aus, als wäre das Stück eigens für ihn gemacht worden.

Fast fertig. Es ist nur noch eine Tafel übrig. Wähle deinen Namen.

Keine einfache Aufgabe. Er möchte etwas, das zu seinem düsteren Aussehen passt. Nichts Banales, vor allem auch nichts aus Büchern oder Filmen Geklautes. Schon gar keine Anspielungen auf Dracula oder andere Vampirgeschichten.

Nachdenklich betrachtet er die Tafel. Neben ihr hängt an einer Kette ein schlichter Holzstab an der Wand. Wenn er damit gegen das Kupfer schlägt, erhält er dann Vorschläge?

Er versucht es. Vergebens. Also muss er selbst weitergrübeln.

Ein Wortspiel mit beißen oder Zähnen oder Blut? Nein, das findet er nicht nur langweilig, sondern lächerlich. Aber …

Für diese Art Halsring, den er eben gefunden hat, gibt es einen speziellen Namen. Es ist ein Schmuckstück, das keltische Krieger früher getragen haben, er hat es einmal im Museum betrachtet, wie hieß das noch –

Dann hat er es. Torque. Genau. Damit ist seine Entscheidung gefallen. Er wird sich Torqan nennen, und sollte jemand ihn fragen, kann er seine Wahl sogar begründen.

»Ich habe einen Namen gefunden«, sagt er.

Das Feuer der Fackeln im Raum verfärbt sich blau; die Schrift auf der siebten Tafel erlischt, gleichzeitig schlagen helle Flammen aus der Spitze des Holzstabs.

Es dauert einen Moment, bis klar ist, was er nun tun soll. Er nimmt den Stab und brennt damit seinen Namen in die Tafel.

Torqan, wispert, raunt und flüstert es durch die nächtliche Burg. Tor-qan. Sei willkommen, Torqan.

Er hört sich selbst auflachen. Hinter ihm öffnet sich knarrend die Tür. Torqan wendet sich um und macht sich auf den Weg nach draußen.