Belagerung in Kailashpada

»Hier kommen Sie nie rein«, tönte Gaitondes Stimme aus dem Lautsprecher, nachdem sie drei Stunden lang die Tür bearbeitet hatten. Zuerst hatten sie es mit einem Flachmeißel versucht, aber was aus der Entfernung wie braunes Holz ausgesehen hatte, entpuppte sich als lackiertes Metall, und obwohl es unter dem Meißel weiß wurde und wie eine Tempelglocke schrillte, gab das Schloß nicht nach. Dann hatten sie mit Werkzeug, das sie sich von Straßenarbeitern geliehen hatten, den Türsturz attackiert, doch auch als die Arbeiter selbst ihre Vorschlaghämmer schwangen, fachkundig und schwer atmend, ließ der Beton die Hiebe einfach abprallen, und der Sony-Lautsprecher neben der Tür lachte sie aus. »Ihr lebt hinterm Mond«, knisterte Gaitondes Stimme.

»Wenn ich nicht reinkomme, kommen Sie auch nicht raus«, sagte Sartaj.

»Wie bitte? Ich kann Sie nicht hören.«

Sartaj ging die Stufen zur Tür hinauf. Das Gebäude war ein exakter Kubus, weiß mit grünen Fenstern, auf einem großen Grundstück in Kailashpada am erst teilweise erschlossenen Nordrand von Zone 13. Hierher, wo schweres Gerät in den sumpfigen Boden griff und Mumbai langsam weiter ins Umland vorschob, war Sartaj gekommen, um den großen Ganesh Gaitonde zu verhaften - Ganesh Gaitonde, Gangster, Boß der G-Company, mit allen Wassern gewaschener Überlebenskünstler.

»Wie lange wollen Sie da drin bleiben?« fragte Sartaj, den Hals zur Sprechanlage hochgereckt. Das tiefe, runde Videoauge der Kamera über dem Eingang schwenkte hin und her und kam schließlich auf ihm zur Ruhe.

»Sie sehen müde aus, Sartaj«, sagte Gaitonde.

»Ich bin müde.«

»Es ist sehr heiß heute.« Es klang mitfühlend. »Ich weiß nicht, wie ihr Sardars das unter eurem Turban aushaltet.«

Zwei Sikh-Kommissare arbeiteten bei der Polizei, aber Sartaj war der einzige Sikh-Inspektor in der ganzen Stadt und daher daran gewöhnt, daß man ihn an Turban und Bart erkannte. Er war auch für den Schnitt seiner Hosen bekannt, die er in einer exklusiven Boutique in Bandra schneidern ließ, und für sein Profil, das die Zeitschrift Modern Woman einmal in ihrer Rubrik »Bombays bestaussehende Junggesellen« gezeigt hatte. Katekar dagegen hatte einen Bauch, der wie ein Koffer auf seinem Gürtel lagerte, ein quadratisches Gesicht und ungeheuer dicke Hände. Er kam um die Hausecke und blieb breitbeinig stehen, die Hände in den Hosentaschen. Er schüttelte den Kopf.

»Wo wollen Sie hin, Sartaj?« fragte Gaitonde.

»Ich hab was zu erledigen.« Sartaj und Katekar bogen um die Ecke, wo unter einem Ventilator eine Leiter an der Hauswand lehnte.

»Das ist kein Ventilator«, sagte Katekar. »Der sieht nur so aus. Dahinter ist Beton. Mit den Fenstern ist es das gleiche. Was ist das für ein Haus, Sir?«

»Ich weiß es nicht.« Es hatte etwas zutiefst Befriedigendes, daß ein plötzlich in Kailashpada emporgewachsener, uneinnehmbarer Kubus mit einer schwenkbaren schwarzen Videokamera über dem Eingang selbst Katekar aus der Fassung brachte, der in Bombay geboren war und einen überheblichen, Buleshwar-typischen Zynismus pflegte. »Ich weiß es nicht. Und Gaitonde hört sich ganz seltsam an. Traurig fast.«

»Was ich so gehört habe, genießt er das Leben. Gutes Essen, jede Menge Frauen.«

»Heute ist er traurig.«

»Aber was macht er in Kailashpada?«

Sartaj zuckte die Schultern. Der Gaitonde, von dem sie in Polizeiberichten und in der Presse gelesen hatten, amüsierte sich mit juwelenbehängten Starlets, griff Politikern finanziell unter die Arme, kaufte und verkaufte sie. Seine Tageseinnahmen aus Bombays diversen kriminellen Dhandas164 , so erzählte man sich, waren höher als die Jahresumsätze mancher Aktiengesellschaften, und sein Name wurde dazu benutzt, Widerspenstige zur Räson zu bringen. Gaitonde-bhai072 will es so, hieß es dann, und der Aufmüpfige kam zur Vernunft, alle Wege wurden geebnet, und es herrschte wieder Frieden. Doch Gaitonde hatte viele Jahre im Exil gelebt - Gerüchten zufolge auf einer vergoldeten Yacht vor der indonesischen Küste -, weit weg und doch nur einen Anruf entfernt. Genausogut hätte er sich nebenan aufhalten können oder, wie sich nun erstaunlicherweise herausstellte, im staubigen Kailashpada. Der morgendliche Anrufer, von dem der Tip stammte, hatte sofort wieder aufgelegt. Sartaj war aus dem Bett gesprungen, hatte im Revier angerufen, während er in seine Hose schlüpfte, und ein Polizeitrupp war in einem waffenstarrenden Transporter mit aufheulendem Motor nach Kailashpada gerast.

»Keine Ahnung«, sagte Sartaj. »Jedenfalls ist er jetzt hier, und er gehört uns.«

»Ein guter Fang, ja, Sir«, sagte Katekar mit dem hochnäsigen Gesichtsausdruck, den er immer aufsetzte, wenn Sartaj eine seiner Meinung nach naive Äußerung tat. »Aber wollen Sie ihn wirklich für sich haben? Warum nicht warten, bis ein Vorgesetzter kommt?«

»Das dauert zu lange. Und die haben anderes zu tun.« Sartaj hoffte inständig, es möge kein Kommissar auftauchen und ihm die Beute wegschnappen. »Außerdem gehört Gaitonde schon mir, er weiß es nur noch nicht.« Er setzte sich in Bewegung, um zum Eingang des Gebäudes zurückzugehen. »Okay. Wir stellen ihm den Strom ab.«

»Sardar-ji297«, sagte Gaitonde, »sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Ich war mal verheiratet -«

Seine Stimme brach ab, wie mit dem Messer durchgeschnitten.

Sartaj wandte sich von der Tür ab. Jetzt hieß es warten. Eine oder zwei Stunden in der glühenden Junisonne würden das stromlose, unbelüftete Gebäude in einen Backofen verwandeln, und es würde dann selbst für Gaitonde, der viele Gefängnisse, Schleichwege und Slums kennengelernt hatte, so unerträglich werden wie die Hallen der Hölle. Zudem war Gaitonde in letzter Zeit sehr erfolgreich gewesen und daher ein wenig verweichlicht; er würde eher schon nach einer Stunde aufgeben. Doch Sartaj war noch keine drei Schritte gegangen, da fühlte er ein tiefes Brummen durch seine Zehen in seine Knie aufsteigen, und Gaitonde war wieder da.

»Wie - haben Sie im Ernst geglaubt, das geht so leicht?« fragte er. »Einfach den Strom abstellen? Halten Sie mich für blöd?«

Es gab also einen Generator in dem Kubus. Gaitonde war auch der erste in den Gefängnissen der Stadt, vielleicht sogar der erste in ganz Bombay gewesen, der ein Handy besaß. Von seiner sicheren Zelle aus hatte er damit die wichtigsten Drogen-, Spekulations-, Schmuggel- und Baugeschäfte getätigt.

»Nein, nicht im geringsten«, sagte Sartaj. »Dieses ... dieses Gebäude ist sehr beeindruckend. Wer hat es entworfen?«

»Wer es entworfen hat, tut nichts zur Sache, Sardar-ji. Die Frage ist: Wie kommen Sie rein?«

»Warum kommen Sie nicht raus? Das würde uns viel Zeit sparen. Es ist wirklich heiß hier draußen, und ich kriege langsam Kopfschmerzen.«

Stille trat ein; nur das Gemurmel der Schaulustigen war zu hören, die sich am Ende der Gasse versammelten.

»Ich kann nicht rauskommen.«

»Warum nicht?«

»Ich bin allein. Außer mir ist niemand hier.«

»Ich dachte, Sie haben überall Freunde, Gaitonde. Jeder ist doch ein Freund von Gaitonde-bhai. Überall - in der Regierung, bei der Presse, sogar bei der Polizei. Wieso sind Sie allein?«

»Wußten Sie, daß ich Bewerbungen bekomme, Sardar-ji? Ich bekomme mehr Bewerbungen als ihr Polizei-Chutiyas. Sie glauben mir nicht? Dann lese ich Ihnen eine vor. Moment. Hier ist sie. Aus Wardha. Hier steht -«

»Gaitonde!«

»›Geschätzter Shri592 Gaitonde.‹ Haben Sie das gehört, Sardar-ji? »Geschätztere Also: ›Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und wohne in Wardha, Maharashtra. Ich studiere Betriebswirtschaft und mache zur Zeit meinen Master, den Bachelor habe ich mit einundsiebzig von möglichen hundert Punkten bestanden. Ich bin außerdem der beste Sportler an meinem College und Kapitän der Kricket-Mannschaft.‹ Dann kommt lauter Gefasel, wie stark und mutig er ist und daß alle im Ort Angst vor ihm haben. Okay, und dann: ›Ich bin sicher, daß ich Ihnen nützlich sein kann. Ich verfolge seit langem Ihre kühnen Taten in unseren Zeitungen, in denen ständig von Ihrer großen Macht und Ihrem starken politischen Einfluß berichtet wird. Sie sind der Größte in Mumbai. Meine Freunde und ich reden oft von Ihren berühmten Abenteuern. Bitte, Shri Gaitonde, ich erlaube mir, meinen Lebenslauf und einige kleine Zeitungsausschnitte über mich beizulegen. Ich mache jede Arbeit. Ich bin sehr arm, Shri Gaitonde. Ich glaube fest daran, daß Sie mir eine Chance geben werden, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Hochachtungsvoll, Amit Shivraj Patil‹. Haben Sie das gehört, Sardar-ji?«

»Ja, Gaitonde. Klingt nach brauchbarem Nachwuchs.«

»Klingt nach Lodu375, Sardar-ji«, entgegnete Gaitonde. »Den würde ich nicht mal zum Autowaschen einstellen. Aber als Polizist würde er sich gut machen.«

»Allmählich reicht's mir, Gaitonde«, sagte Sartaj. Katekar stand angespannt da und schaute Sartaj finster an. Er wünschte, Sartaj würde Gaitonde verfluchen, ihm den Mund stopfen, ihm sagen, was für ein Bhenchod er sei und daß man ihn aufknüpfen und ihm einen Lathi in seinen dreckigen Gaand schieben würde. Doch Sartaj schien es absolut sinnlos - wenn auch für den Moment befriedigend -, einen Verrückten in einem uneinnehmbaren Kubus zu beschimpfen.

Gaitonde lachte bitter. »Sind Sie beleidigt, Saab? Sollte ich mehr Respekt zeigen? Sollte ich von den staunenswerten Großtaten der Polizei sprechen, unserer edlen Beschützer, die im Dienst ihr Leben hingeben, ohne an ihren Vorteil zu denken?«

»Gaitonde?«

»Was ist?«

»Ich komme gleich wieder. Ich muß etwas Kaltes trinken.«

»Aber natürlich. Heiß draußen.« Es klang jovial, gutmütig.

»Für Sie auch etwas? Ein Thums Up631

»Ich habe hier einen Kühlschrank, Chikniya. Daß Sie so hellhäutig sind und wie ein Filmstar aussehen, heißt noch lange nicht, daß Sie besonders schlau sind. Na los, holen Sie sich was.«

»Ja. Ich komme gleich wieder.«

»Was sollten Sie sonst auch tun, Sardar-ji? Gehen Sie, gehen Sie.«

Sartaj ging die Straße hinunter, und Katekar schloß sich ihm an. Der rissige schwarze Asphalt war aufgeweicht und flimmerte in der Hitze. Die Straße hatte sich geleert. Schüsse und Explosionen waren ausgeblieben, und den Schaulustigen war langweilig geworden, außerdem war Mittagszeit, und sie hatten Hunger bekommen. Zwischen Bhagwan Tailors und Trimurti Music fanden Sartaj und Katekar ein Lokal, das sich ganz ungeniert Best Cafe nannte, mit Tischen unter einem Neem-Baum453 und ratternden Bodenventilatoren. Sartaj sog gierig an einer Cola, und Katekar trank einen nur leicht gesüßten, frischen Limonensaft mit Soda. Er wollte abnehmen. Von ihrem Platz aus konnten sie Gaitondes weißen Bunker sehen. Warum war Gaitonde wieder in der Stadt? Wer war der Informant, der ihn an Sartaj verraten hatte? Doch das waren Fragen für später. Erst müssen wir den Mann haben, dachte Sartaj, dann zerbrechen wir uns den Kopf über das Wie, Wann und Warum. Er nahm noch einen Schluck.

»Jagen wir ihn in die Luft«, sagte Katekar.

»Womit? Außerdem geht er dabei garantiert drauf.«

Katekar grinste. »Ja, Sir. Na und?«

»Und was würden die Jungs vom Geheimdienst dazu sagen?«

»Entschuldigung, Sahib, aber die Jungs vom Geheimdienst, das sind fast alles nichtsnutzige Bhadwas. Warum haben die nichts davon gewußt, daß Gaitonde das Ding hier baut?«

»Das war wohl ein bißchen zu geheim für sie.« Sartaj lehnte sich zurück und reckte sich. »Meinen Sie, wir können irgendwo einen Bulldozer auftreiben?«

Sartaj ließ einen Metallstuhl an den Eingang des Bunkers bringen, setzte sich und tupfte sich mit einem kalten nassen Handtuch das Gesicht. Er wurde schläfrig. Die Videokamera stand still.

»He, Gaitonde!« rief Sartaj. »Sind Sie da?«

Die Kamera schwenkte mit einem leisen Summen blind hin und her, dann fand sie Sartaj.

»Ja«, sagte Gaitonde. »Haben Sie Ihren Durst gelöscht? Soll ich Ihnen was zu essen bringen lassen?«

Diesen großspurigen Ton mußte Gaitonde Filmschauspielern abgelauscht haben, dachte Sartaj - Prithviraj Kapoor498 im Hausrock, großherzig gegen die Armen. »Nein, danke. Wollen Sie sich nicht selbst etwas bestellen?«

»Ich mag nichts essen.«

»Sie sitzen lieber mit knurrendem Magen da?« Sartaj versuchte abzuschätzen, ob die Chance bestand, Gaitonde auszuhungern, aber dann fiel ihm Gandhi-ji ein, der wochenlang nur von Wasser und Saft gelebt hatte. Der Bulldozer würde in einer, maximal anderthalb Stunden da sein.

»Ich habe jede Menge Lebensmittel hier«, sagte Gaitonde, »das reicht für Monate. Und es ist nicht das erste Mal, daß ich Hunger habe. Größeren Hunger, als Sie sich vorstellen können.«

»Hören Sie, es ist einfach zu heiß hier draußen. Kommen Sie raus, dann können Sie mir auf dem Revier in Ruhe erzählen, wie groß Ihr Hunger schon mal war.«

»Ich kann nicht rauskommen.«

»Ich passe auf Sie auf, Gaitonde. Ich weiß, daß alle möglichen Leute Sie umbringen wollen. Aber es besteht keine Gefahr, das garantiere ich Ihnen. Es wird hier keine Schießerei geben. Sie kommen jetzt raus, und in sechs Minuten sind wir auf dem Revier. Dort sind Sie sicher. Absolut sicher. Sie haben mein Wort.«

Doch Sartajs Wort interessierte Gaitonde nicht. »Vor langer Zeit, als ich noch ganz jung war, habe ich das Land zum ersten Mal verlassen. Mit einem Boot. So hat man das damals gemacht: Man stieg in ein Boot, fuhr nach Dubai, fuhr nach Bahrain, verdiente sich dort eine goldene Nase und kam wieder zurück. Ich war aufgeregt, weil ich noch nie im Ausland gewesen war. Nicht mal in Nepal, stellen Sie sich vor. Okay, Sardar-ji, die Sache sah so aus: ein kleines Boot, wir zu fünft drin, eine ziemlich beschissene Atmosphäre. Chef des Ganzen war Salim Kaka306, ein baumlanger Paschtune mit einem langen Bart, ein kampferprobter, wehrhafter Mann. Dann war da Mathu, an dem war alles schmal und dünn, und er zupfte sich ständig an der Nase, spielte den harten Burschen. Ich selber war neunzehn und hatte von nichts eine Ahnung. Dann Gaston, dem das Boot gehörte, und Pascal, sein Gehilfe, zwei dunkelhäutige kleine Männer irgendwo aus dem Süden. Salim Kaka hatte die Sache organisiert, er hatte die Beziehungen, von seinem Geld war das Boot gemietet worden, er hatte die Erfahrung und wußte, wann man losfahren und wann man zurückkommen mußte. Von ihm hing alles ab. Mathu und ich waren seine Jungs, wir wichen ihm nicht von der Seite. Kapiert?«

Katekar verdrehte die Augen. Sartaj sagte: »Also, Salim Kaka war der Anführer, Sie und Mathu waren die Gorillas, und Gaston und Pascal haben das Boot gesteuert. Alles klar.«

Katekar lehnte sich neben dem Eingang an die Wand und schüttete sich Paan461 masala in die hohle Hand. Der Lautsprecher schimmerte metallisch. Sartaj schloß die Augen.

Gaitonde fuhr fort: »Einen so riesigen Himmel hatte ich noch nie gesehen. Purpur und Gold und Purpur. Mathu kämmte sich alle paar Minuten seine Dev-Anand-Tolle. Salim Kaka saß mit uns auf Deck. Er hatte mächtige Quadratlatschen, rissig wie ein Stück Holz. An dem Abend erzählte er uns von seinem ersten Job, einem Überfall auf einen Kurier, der von Surat nach Bombay unterwegs war. Sie schnappten ihn sich, als er aus dem Bus stieg, warfen ihn hinten in einen Ambassador und rasten zu einem leerstehenden Lagerhaus im Industriegebiet Vikhroli. Dort zogen sie ihm Hemd, Unterhemd, Hose und überhaupt alles aus und fanden auf Schenkelhöhe in die Hose eingenäht vier Lakhs in Fünfhundert-Rupien-Scheinen. Dazu einen Geldgürtel mit sechzehntausend drin. Als sie gingen, stand der Mann mit zitternder Wampe splitternackt da und hielt sich die Hände vor seinen geschrumpften Lauda373. Klar?«

Sartaj öffnete die Augen. »Ein Kurier, sie haben ihn geschnappt, sie haben Geld gemacht. Und?«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, schlauer Sardar-ji. Salim Kaka wollte schon die Tür zumachen, aber dann drehte er sich um und ging noch mal zurück. Er packte den Kerl an der Gurgel, riß ihn herum und schob ihm das Knie zwischen die Beine. ›Laß doch, Salim Pathan‹, rief ihm einer von den anderen zu, ›jetzt ist keine Zeit für den Gaand von so einem Typen.‹ Aber Salim Kaka tastete am Hintern des Angadia021 herum und sagte: ›Manchmal verrät ein schöner Arsch alle Geheimnisse der Welt, man muß ihn nur wie einen Pfirsich ausquetschen.‹ Er hielt ein kleines braunes Seidenpäckchen hoch, das der Kurier sich hinter die Eier geklebt hatte. Darin waren zehn, fünfzehn erstklassige Diamanten, funkelnd und blitzend, und in der Woche darauf verkauften sie die Steine fünfzig Prozent unter Wert an einen Hehler. Salim Kakas Anteil war allein schon ein Lakh, und damals war ein Lakh noch was wert. ›Aber‹, sagte Salim Kaka, ›das Lakh war noch das wenigste, Geld ist nur Geld.‹ Seit diesem Zwischenfall kannte man ihn als einen hochtalentierten, gerissenen Burschen. Er brauchte nur zu sagen: ›Ich quetsch dich gleich aus wie einen Pfirsich‹, und dabei seine buschigen Brauen hochzuziehen, und schon spuckte das arme Opfer Cash, Kokain, Geheimnisse oder sonstwas aus. ›Woher wußtest du das mit dem Angadia, Salim Kaka?‹ fragte ich, und Salim Kaka sagte: ›Ganz einfach. Ich hab von der Tür aus gesehen, daß er immer noch Angst hat. Als ich ihm das Messer an die Kehle gesetzt habe, hat er mit zitternder Kinderstimme gefleht: Bitte, bring mich nicht um, mein Baap038. Ich hatte ihn nicht umgebracht, er war noch am Leben, und trotzdem hielt er sich seinen Lauda; das Geld war weg, aber es war nicht seins gewesen, außerdem waren wir schon fast draußen - wovor hatte er also noch Angst? Wer Angst hat, der hat noch was zu verlieren.‹«

»Sehr beeindruckend«, sagte Sartaj. Er veränderte seine Position auf dem Stuhl und bereute es sofort, denn er traf mit dem Schulterblatt auf einen glühend heißen Metallwulst. Er rückte seinen Turban zurecht und versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen. Katekar fächelte sich mit einer gefalteten Abendzeitung Kühlung zu, die Augen gedankenverloren, die Stirn schlaff. Dann drang wieder das kühle elektronische Zischen von Gaitondes Stimme durch die nahezu unbewegte Luft.

»Ich beschloß daraufhin, immer scharf aufzupassen, denn ich war ehrgeizig. In dieser Nacht legte ich mich in den Bug des Bootes, den schäumenden Wellen so nahe wie möglich, und ich träumte. Habe ich schon gesagt, daß ich erst neunzehn war? Ich war neunzehn, und ich malte mir Geschichten aus, mit Autos und einem großen Haus und wie ich im Blitzlichtgewitter auf einer Party erscheine.

Mathu kam und setzte sich neben mich. Er zündete sich eine Zigarette an und gab mir auch eine. Ich zog kräftig daran, wie er. Im Dunkeln sah ich nur seine Tolle und seine mageren Schultern, und ich versuchte mir sein Gesicht vorzustellen, das viel zu knochig war, um auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Dev Anand zu haben. Trotzdem schmierte er sich unverdrossen jeden Tag Talkumpuder in sein spitzes Rattengesicht. Plötzlich tat er mir leid. ›Ist es nicht schön hier?‹ fragte ich. Er lachte. ›Schön? Wir könnten ertrinken, und niemand würde wissen, was aus uns geworden ist. Wir würden verschwinden, wären einfach weg.‹ Seine Zigarette beschrieb Spiralen. ›Wie meinst du das?‹ fragte ich. ›Ach, du armer Dorftrottel‹, sagte er. ›Kapierst du's nicht? Niemand weiß, daß wir hier draußen sind.‹ - ›Salim Kakas Leute wissen es doch‹, sagte ich, ›und sein Boß weiß es auch.‹ Ich spürte, daß er über mich lachte, denn seine Knie stießen an meine Schulter. ›Von wegen.‹ Er beugte sich näher zu mir, ich konnte ihn riechen und sah seine Augen glimmen. ›Niemand weiß es‹, flüsterte er, ›Salim Kaka hat seinem Boß nichts davon gesagt. Das hier ist sein privater Deal, verstehst du? Was glaubst du, warum wir mit diesem kleinen, lebensgefährlichen Boot unterwegs sind und nicht mit einem Trawler? Was glaubst du, warum wir beide mitfahren, ein nach Misthaufen stinkender Bauerntrampel und ein blutjunges Mitglied der Company? Hm? Warum? Das hier ist Salim Kakas eigenes kleines Ding. Er will sich selbständig machen, und weißt du, was man braucht, wenn man sich selbständig machen will? Kapital. Kapital braucht man. Deshalb schippern wir hier in dieser lausigen Mausefalle herum, nur eine Handbreit von den großen Fischen entfernt. Er glaubt, es springt genug für einen frischen, glänzenden Neuanfang dabei raus. Kapital, Kapital, verstehst du?‹

Ich setzte mich auf. Er stützte sich auf meine Schulter und schwang sich hoch. ›Gaandu‹, sagte er, ›wenn du in der Stadt leben willst, mußt du immer drei Ecken vorausdenken, du mußt hinter eine Lüge schauen, um die Wahrheit zu sehen, und hinter diese Wahrheit, um die Lüge zu sehen. Und dann, dann brauchst du einen Haufen Geld, wenn du gut leben willst. Denk drüber nach.‹ Mathu klopfte mir auf die Schulter und ging davon. Als er in die Kajüte hinunterstieg, sah ich im schwachen Licht einen Moment lang sein Gesicht. Und ich habe darüber nachgedacht.«

Katekar stand unter dem Lautsprecher, er drehte den Kopf hin und her, und Sartaj hörte seine Halswirbel knacken. »Ich erinnere mich an diesen Salim Kaka«, sagte Katekar leise. »Ich hab ihn früher in Andheri herumlaufen sehen, in einem roten Lungi379 und einer Seidenkurta. Die Kurtas hatten verschiedene Farben, aber der Lungi war immer rot. Er hat mit Haji Salmans Gang zusammengearbeitet, und ich hab mal gehört, daß er in Andheri eine Freundin hatte.«

Sartaj nickte. Katekars Gesicht war verquollen, als sei er gerade aufgewacht.

»Liebe?« fragte Sartaj.

Katekar grinste. »Der Seide nach zu schließen, muß es Liebe gewesen sein. Vielleicht auch, weil sie erst siebzehn war und ein Hinterteil hatte wie ein tänzelndes Reh. Sie war die Tochter eines Automechanikers, hab ich gehört.«

»Sie glauben nicht an Liebe, Katekar?«

»Ich glaube an Seide, Saab, und an alles, was weich ist, und an alles, was hart ist, aber ...«

Ein Grollen kam aus dem Lautsprecher über ihnen. »Was murmeln Sie da, Sardar-ji?«

»Nur ein paar Anweisungen. Erzählen Sie weiter.«

»Also, hören Sie zu. Am nächsten Nachmittag schwammen Zweige im Wasser, alte Kistenbretter, auf und ab wippende Flaschen, Autoreifen, einmal ein komplettes hölzernes Hausdach. Gaston blieb jetzt die ganze Zeit auf Deck, den Arm um den Mast, und schaute durch sein Fernglas ununterbrochen hierhin und dorthin. ›Sind wir bald da?‹ fragte ich Mathu. Er zuckte die Schultern. Salim Kaka kam in einer frischen Kurta herauf. Er stellte sich in den Bug, den Blick Richtung Norden, und berührte den silbernen Talisman auf seiner Brust. Ich hätte ihn gern gefragt, wo wir sind, aber er machte ein so ernstes Gesicht, daß ich lieber nichts sagte.«

Sartaj erinnerte sich an Bilder von Gaitonde - ein mittelgroßer Mann, ein gewöhnliches Gesicht, weder häßlich noch gutaussehend, alles nicht weiter bemerkenswert, trotz der hellblauen und roten Kaschmirpullover, alles ganz alltäglich. Und jetzt diese Stimme, leise und eindringlich. Sartaj neigte den Kopf zum Lautsprecher.

»Als es Abend wurde, sah ich im letzten Licht einen winzigen, blinkenden roten Punkt im Norden. Wir warfen Anker und hielten mit einem Beiboot darauf zu. Mathu ruderte, Salim Kaka saß ihm gegenüber und behielt unser Leuchtfeuer im Auge, ich saß zwischen den beiden. Ich hatte gedacht, wir würden an einer Mauer landen, wie ich sie beim Gateway of India216 gesehen hatte, aber vor uns ragten nur hohe Binsen auf. Salim Kaka nahm eine Stange und stakte das Boot durch das raschelnde, wispernde Uferschilf, und ich hatte, obwohl niemand mich dazu aufgefordert hatte, meinen Ghoda227 in der Hand, geladen und entsichert. Dann schrammte das Holz unter meinen Füßen hart über den Grund. Salim Kaka leuchtete uns mit einer Taschenlampe auf die Insel, denn es war wohl eine Insel, eine weiche, feuchte Erhebung im Sumpf. Der Mond ging auf, und wir marschierten lange, eine halbe Stunde vielleicht, Salim Kaka vorneweg. Er trug eine braune Segeltuchtasche über der Schulter, groß wie ein Getreidesack. Dann sahen wir über den Halmen wieder das Leuchtfeuer. Eine Fackel, die an einem Pfahl befestigt war. Die Flammen schlugen über einen halben Meter hoch, und ich konnte den Talg riechen. Drei Männer standen in dem flackernden Lichtschein, städtisch gekleidet, hellhäutig, mit buschigen schwarzen Brauen und langen Nasen. Türken? Iraner? Araber? Ich weiß es bis heute nicht, aber zwei von ihnen hatten Gewehre, und der Lauf zeigte knapp neben uns. Der Abzug meines Revolvers lag kühl und schweißfeucht an meinem Finger. Ich verkrampfte mich und dachte, die schießen, die erledigen uns alle. Ich holte tief Luft, drehte das Handgelenk und spürte den Kolben am Daumen, und ich beobachtete sie. Salim Kaka und einer von ihnen unterhielten sich, die Köpfe dicht beieinander. Dann gab ihm Salim Kaka die Tasche und bekam dafür einen Koffer. Etwas Gelbes blitzte auf, und Schlösser klickten. Mein Arm schmerzte.

Salim Kaka kam zurück, und wir entfernten uns langsam von den Männern. Ein nasser Schilfhalm streifte meinen Hals, ich glaubte mich zwischen den Binsen gefangen, spürte nur ihren weichen Druck und geriet in Panik. Dann drehte Salim Kaka sich plötzlich um, und ich erkannte am schwachen Schein seiner Taschenlampe, daß er zwischen die Büsche schlüpfte, gefolgt von Mathu. Ich kam als letzter, bewegte mich seitwärts voran, die Hand mit dem Revolver nach unten gerichtet, den Nacken verkrampft. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie uns nachschauten, die drei Männer. Ich sehe noch die schimmernden Metallbänder um die Mündung ihrer Gewehre und ihre beschatteten Augen. Wir liefen nun schneller. Mir war, als würde ich fliegen, und das hohe Schilf, das zuvor an mir gezerrt und gekrallt hatte, strich mir jetzt sanft über die Seiten. Salim Kaka schaute zurück, und ich sah sein verwegenes Lächeln. Froh und erleichtert rannten wir los.

An einem Bach, wo das Wasser den Grund etwa einen Meter tief ausgehöhlt hatte, blieb Salim Kaka stehen, tastete sich mit dem Fuß nach unten und fand einen Halt. Mathu sah mich an, sein Gesicht kantig im fahlen Mondlicht, und ich sah ihn an. Noch ehe Salim Kaka den Fuß richtig aufgesetzt hatte, wußte ich, was wir tun würden. Der Knall des Schusses wurde vom Wasser zurückgeworfen und traf mich wie ein Schlag in den Bauch. Der Kolben hatte mich am Daumen verletzt. Erst als der Lichtblitz aus meinen Augen schwand, konnte ich wieder sehen, und mein Magen krampfte sich zusammen, löste sich wieder und krampfte sich von neuem zusammen. In dem Graben unten bewegten sich Salim Kakas Füße, so regelmäßig, als bahnten sie sich noch immer ihren Weg zum Boot. Das Wasser spritzte und schäumte. ›Schieß, Mathu!‹ rief ich. ›Schieß doch, Maderchod!‹ Es waren meine ersten Worte, seit wir an Land gegangen waren, und meine Stimme klang seltsam fest und fremd. Mathu neigte den Kopf und zielte. Wieder riß ein Blitz die Binsen aus dem Dunkel, aber die Füße strampelten weiter. Ich richtete meinen Revolver auf die brodelnden Strudel, und nach diesem dritten Schuß regte sich nichts mehr. Trotzdem schoß ich zur Sicherheit noch einmal. ›Los‹, sagte ich, ›machen wir, daß wir wegkommen.‹ Mathu nickte, als wäre ich jetzt der Boß, sprang in den Graben und wühlte nach dem Koffer. Die Taschenlampe lag im Wasser, eine helle gelbe Blase, die Salim Kakas Kopf genau zur Hälfte umschloß. Ich schnappte sie mir, doch den ganzen Weg zurück zum Beiboot stand der Mond groß und rund am Himmel und leuchtete uns, bis wir in Sicherheit waren.«

Gaitonde trank etwas. Sartaj und Katekar hörten deutlich jeden einzelnen Schluck, hörten, wie sich das Glas leerte.

»Whisky?« flüsterte Sartaj. »Bier?«

Katekar schüttelte den Kopf. »Nein, er trinkt keinen Alkohol. Er raucht auch nicht. Sehr gesundheitsbewußt, dieser Don179. Trainiert täglich. Er trinkt Wasser. Bisleri mit einem Schuß Limone.«

Gaitonde erzählte weiter, plötzlich hatte er es eilig. »Als am nächsten Tag die Sonne über dem Boot aufging, waren Mathu und ich noch wach. Wir hatten die ganze Nacht in der Kajüte gesessen. Den Koffer hatten wir unter Mathus Koje geschoben, aber man sah ihn noch. Ich hatte meinen Revolver im Schoß, Mathus Waffe schaute unter seinem Schenkel vor. Über uns ließen leise Schritte das Dach knarren. Wir hatten Gaston und Pascal gesagt, die Polizei hätte uns aufgelauert, die Polizei des Landes - welches Landes auch immer-, in dem wir gewesen seien. Pascal hatte geweint, und beide bewegten sich seitdem sehr behutsam, aus Rücksicht auf unsere Trauer. Die Holzwand hinter Mathus Kopf war dunkelbraun, und das Weiß seines Banian057 schwankte mit den Wellen auf und ab. Eine vage Distanz lag zwischen uns, und ich wußte, was er dachte. Ich faßte einen Entschluß. Ich legte den Revolver auf mein Kopfkissen und zog die Füße in die Koje hoch. ›Ich schlafe ein bißchen‹, sagte ich. ›Weck mich in drei Stunden, danach kannst du schlafen.‹ Ich drehte mich zur Wand und schloß die Augen. Ganz unten am Rücken spürte ich ein kreisförmiges Zucken und Kribbeln, als wartete die Stelle auf eine Kugel. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich drückte die Knöchel an den Mund und versuchte möglichst gleichmäßig zu atmen. Manche Dinge kann man steuern.

Als ich aufwachte, war es Abend. Leuchtend orangefarbenes Licht fiel durch die Luke in die Kajüte und färbte das Holz feuerrot. Meine Zunge schien den ganzen Mund auszufüllen, und als ich die Hand bewegen wollte, war sie scheußlich aufgedunsen und bleischwer. Ich glaubte schon, die Kugel hätte mich gefunden oder ich hätte die Kugel gefunden, mein Herz hämmerte schmerzhaft, und ich setzte mich auf. Mein Bauch war schweißnaß. Mathu schlief, das Gesicht im Kissen vergraben. Ich steckte mir den Revolver in den Hosenbund und ging an Deck. Pascal lächelte mir aus seinem kleinen schwarzen Gesicht zu. Mächtige Wolken türmten sich höher und höher in den roten Himmel. Und das Boot - eine Nußschale auf dem Wasser. Meine Beine gaben nach, und ich setzte mich zitternd hin. Das Zittern hielt an, hörte auf, fing wieder an. Als es ganz dunkel war, bat ich Pascal um zwei feste Taschen. Er gab mir zwei weiße Seesäcke mit Zugband.

›Wach auf‹, sagte ich zu Mathu, als ich wieder in der Kajüte war, und trat gegen seine Koje. Er fuhr hoch und tastete nach seinem Revolver, fand ihn aber erst, als ich darauf zeigte, zwischen Matratze und Wand. ›Ganz ruhig, du schreckhafter Chut131. Ganz ruhig. Wir müssen teilen.‹ - ›Mach so was nie wieder‹, knurrte er und reckte die Schultern, wie ein Hahn, der die Federn spreizt. ›Hör zu‹, sagte ich lächelnd, ›du bhenchod verschlafener Sohn des maderchod Kumbhkaran352, willst du deine Hälfte haben oder nicht?‹ Er überlegte einen Moment, noch ganz verquollen und wütend, doch dann entspannte er sich und lachte. ›Ja, ja‹, sagte er. ›Halbe-halbe. Halbe-halbe.‹

Gold ist gut. Es fühlt sich so angenehm glatt an. Wenn es nahezu rein ist, hat es diesen kräftigen rötlichen Schimmer, der an Apfelbäckchen erinnert. Aber was mir am besten gefiel, als wir die Barren an diesem Nachmittag aus dem Koffer in die Säcke packten, einen nach dem anderen, immer abwechselnd einen für Mathu und einen für mich, das war ihr Gewicht. Die Barren waren klein, kaum länger, als meine Handfläche breit ist, viel kleiner, als ich gedacht hatte, aber sie fühlten sich so rund und kompakt an, daß ich es kaum ertrug, sie einzeln in meinen Sack zu legen. Mein Gesicht glühte, mein Herz krampfte sich zusammen, und ich wußte, daß ich das Richtige getan hatte. Den letzten von meinen Barren steckte ich in meine linke Hosentasche, so daß er beim Gehen an mein Bein stieß und ich ihn immer spüren konnte. Den Revolver schob ich mir auf der anderen Seite in den Bund. Mathu nickte. ›Fast geschafft‹, sagte er. ›Was meinst du, wieviel die wert sind?‹ Er lächelte zögernd und zupfte sich nervös an der Nase, wie immer. Ich schaute auf ihn hinab und empfand nichts als Verachtung. Ich wußte plötzlich mit absoluter Sicherheit, daß er immer ein Tapori bleiben würde, vielleicht mit zehn oder zwölf Leuten, die für ihn arbeiteten, aber doch immer ein Nervenbündel, ein mickriger Provinzhanswurst, mit einer Knarre und einem Messer unterm Hemd notdürftig zum Brutalo aufgemotzt. Wer in Rupien denkt, ist ein besenschwingender Bhangi077, weiter nichts. Denn Lakhs sind Dreck, und Crores134 sind Scheiße. Golden ist die Zukunft in meiner Tasche, dachte ich, und sie birgt ungeahnte Möglichkeiten. Ich schob den Sack unter meine Koje, stieß ihn mit dem Fuß vollends darunter, und Mathu schaute mit großen Augen zu. Ich kehrte ihm den Rücken, ging an Deck und lachte in mich hinein. Ich hatte keine Angst mehr. Ich kannte ihn jetzt. In dieser Nacht schlief ich wie ein Baby.«

Katekar schnaubte und schüttelte den Kopf. »Und jahrelang hat er jede Nacht ruhig geschlafen, während sich links und rechts von ihm die Leichen stapelten.« Sartaj hob warnend die Hand, doch Katekar wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte leise: »Das sind doch alles die gleichen Schweine, diese maderchod raffgierigen Dreckskerle. Das Problem ist nur, wenn einer von ihnen ins Gras beißt, wachsen fünf andere nach.«

»Still«, sagte Sartaj. »Ich will zuhören.«

Der Lautsprecher brummte wieder. »Am übernächsten Tag sah ich weit entfernt über dem Wasser einen Hügel. ›Was ist das?‹ fragte ich Gaston. ›Wir sind da‹, sagte er. Pascal stand am Bug, lehnte sich weit hinaus und rief ›Aaa-hoooooooo!‹ zu einem anderen Boot hinüber. Dieser langgezogene Ruf und die Antwort darauf waren wie eine Umarmung. Ich hatte es geschafft.

Wir halfen das Boot auf den Strand ziehen und verabschiedeten uns dann von Pascal und Gaston. Mathu flüsterte ihnen Drohungen zu, aber ich stieß ihn mit der Schulter etwas unsanft beiseite und sagte: ›Hört zu, Jungs, zu niemandem ein Wort, kein Sterbenswörtchen, dann kommen wir wieder ins Geschäft.‹ Ich gab jedem einen Goldbarren aus meinem Sack und schüttelte ihnen die Hand, und sie grinsten und waren meine Freunde fürs Leben. Mathu und ich gingen mit unseren Säcken über der Schulter ein Stück die Straße entlang zur Bushaltestelle. Ich winkte eine Motorrikscha heran, nickte Mathu zu und ließ ihn stehen, fix und fertig, wie er war, die Finger an der Nase. Er wäre gern mitgekommen, das wußte ich, aber er hatte nicht das Format, das er zu haben glaubte, und früher oder später hätte ich ihn töten müssen. Ich hatte keine Zeit für ihn. Ich wollte nach Bombay.«

Der Lautsprecher schwieg. Sartaj stand auf, drehte sich um und schaute die Straße hinauf und hinunter. »He, Gaitonde!« rief er.

Es dauerte einen Moment, bis die Antwort kam. »Ja, Sartaj?«

»Der Bulldozer ist da.«

Und da war er in der Tat, ein schwarzes Ungetüm, das dröhnend und rasselnd am Ende der Straße erschien. Im Nu hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Maschine strahlte eine gewisse Würde aus, und der Fahrer trug seine Mütze mit dem professionellen Stolz des Spezialisten.

»Die Leute da sollen weg von der Straße«, sagte Sartaj zu Katekar. »Und das Ding soll hierher, mit der Nase in die Richtung.«

»Jetzt höre ich ihn«, sagte Gaitonde. Das Videoauge schwenkte in seinem Gehäuse rastlos hin und her.

»Sie werden ihn auch gleich sehen«, erwiderte Sartaj. Die Polizisten, die bei den Transportern standen, kontrollierten ihre Waffen. »Hören Sie, Gaitonde, das Ganze hier ist eine Farce, die mir überhaupt nicht gefällt. Wir sind uns nie persönlich begegnet, aber wir haben den ganzen Nachmittag miteinander geredet. Seien wir Gentlemen. Das hier muß doch nicht sein. Kommen Sie einfach raus, und wir fahren zum Revier.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte Gaitonde.

»Hören Sie auf. Hören Sie auf, den Filmi-Bösewicht zu spielen, das haben Sie nicht nötig. Das hier ist kein Spiel für kleine Jungs.«

»Es ist ein Spiel, mein Freund«, gab Gaitonde zurück. »Es ist nur ein Spiel, ein Lila374

Sartaj wandte sich von der Tür ab. Er lechzte nach einer Tasse Tee. »Okay. Wie ist Ihr Name?« fragte er den Fahrer des Bulldozers, der an der riesigen Raupenkette lehnte.

»Bashir Ali.«

»Sie wissen, was zu tun ist?«

Bashir Ali drehte seine blaue Mütze in den Händen.

»Die Verantwortung übernehme ich, Bashir Ali. Ich erteile Ihnen hiermit einen Auftrag in meiner Eigenschaft als Polizei-Inspektor. Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Wir brechen die Tür auf.«

Bashir Ali räusperte sich. »Aber da ist Gaitonde drin, Inspektor-saab«, sagte er zögernd.

Sartaj faßte ihn am Ellbogen und führte ihn zum Eingang.

»Gaitonde?«

»Ja, Sardar-ji?«

»Hier ist Bashir Ali, der Fahrer des Bulldozers. Er traut sich nicht, uns zu helfen. Er hat Angst vor Ihnen.«

»Bashir Ali«, sagte Gaitonde. Er sprach wie ein Kaiser, im vollen Bewußtsein seiner Großmut.

Bashir Ali hielt den Blick auf die Tür gerichtet, doch dann zeigte Sartaj auf die Videokamera, und Ali sah blinzelnd zu ihr auf. »Ja, Gaitonde-bhai?« sagte er.

»Keine Sorge. Ich werde Ihnen nicht verzeihen.« Bashir Ali erbleichte. »Weil es nichts zu verzeihen gibt. Wir sitzen beide in der Falle, ich hier drin, Sie da draußen. Tun Sie, was man Ihnen sagt, bringen Sie's hinter sich, und gehen Sie nach Hause zu Ihren Kindern. Ihnen wird nichts passieren. Jetzt nicht und auch später nicht. Ich gebe Ihnen mein Wort.« Eine Pause trat ein. »Ganesh Gaitondes Wort.«

Bis Bashir Ali wieder auf seinen Bulldozer geklettert war, schien er begriffen zu haben, daß er der Star der Szene war. Schwungvoll setzte er seine Mütze auf, den Schild nach hinten. Der Motor grunzte und fiel dann in ein gleichmäßiges Dröhnen. Sartaj beugte sich nahe zu dem Lautsprecher. Sein Kopf pochte vor Hitze und Schmerz, vom Nacken bis zur linken Schläfe.

»Gaitonde?«

»Sprechen Sie, Sardar-ji, ich höre.«

»Machen Sie doch einfach die Tür auf.«

»Sie wollen, daß ich einfach die Tür aufmache? Ich weiß, Sardar-ji, ich weiß.«

»Was wissen Sie?«

»Ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen, daß ich einfach die Tür aufmache. Dann wollen Sie mich festnehmen und aufs Revier bringen. Sie wollen als Held in der Zeitung stehen. Sie wollen eine Beförderung. Zwei Beförderungen. Und insgeheim wollen Sie sogar noch mehr. Sie wollen reich werden. Sie wollen ein indischer Nationalheld werden. Sie wollen, daß Ihnen der Präsident am Tag der Republik einen Orden verleiht. Sie wollen, daß der Orden in seiner ganzen Farbenpracht im Fernsehen gezeigt wird. Sie wollen mit Filmstars gesehen werden.«

»Gaitonde ...«

»Aber wissen Sie, das alles habe ich gehabt. Und ich werde Sie besiegen. Auch noch in diesem letzten Spiel werde ich Sie besiegen.«

»Und wie? Haben Sie ein paar von Ihren Leuten da drin?«

»Nein. Keinen einzigen. Ich hab doch gesagt, ich bin allein.«

»Gibt es einen Tunnel? Und darin versteckt einen Hubschrauber?«

Gaitonde lachte leise. »Nein, nein.«

»Was dann? Haben Sie ein Arsenal Bofors-Gewehre?«

»Nein. Aber ich werde Sie besiegen.«

Der Bulldozer flimmerte auf der schwarzen Straße, flankiert von grimmig blickenden Polizisten. Ihre Alternativen schwanden zusehends, alles führte sie unausweichlich zu der Stahltür hin. Sie waren entschlossen und zugleich hilflos und voller Angst.

»Gaitonde«, sagte Sartaj und rieb sich die Augen. »Letzte Chance. Kommen Sie, Yaar. Das ist doch wirklich dumm.«

»Ich kann nicht. Tut mir leid.«

»Gut. Dann bleiben Sie von der Tür weg, wenn wir reinkommen. Und nehmen Sie die Hände hoch.«

»Keine Sorge, ich bin nicht in Gefahr.«

Sartaj straffte sich, wandte sich von der Tür ab und kontrollierte seinen Revolver. Er drehte die Trommel - die gelben Patronen saßen dick und rund im Metall. Die Hitze drang durch die Sohlen in seine Füße.

Plötzlich erwachte der Lautsprecher wieder zum Leben. »Sie haben mich Yaar genannt, Sartaj, also werde ich Ihnen etwas sagen. Ob man es groß baut oder klein - ein sicheres Haus gibt es nicht. Gewinnen heißt alles verlieren, und das Spiel gewinnt immer.«

Sartaj spürte das blecherne Vibrieren des Lautsprechers in der Brust. Der Bulldozer ließ einen Fanfarenstoß ertönen, der ihn an die Tür preßte. Das Maß war voll. Er ließ die Trommel einrasten und ging die Stufen hinunter. »Okay«, rief er. »Los, los, los!« Er schwenkte die Waffe zur Tür hin. Der Lautsprecher summte wieder, aber Sartaj achtete nicht darauf. Im Weggehen glaubte er über dem Dröhnen des Motors noch einige Worte zu hören, eine Frage.

»Sartaj Singh, glauben Sie an Gott?«

»Los, Bashir Ali, vorwärts!« rief Sartaj. Bashir Ali hob die Hand, und Sartaj zeigte mit steifem Finger auf ihn. »Setzen Sie das Ding in Bewegung.«

Bashir Ali duckte sich in seinem hohen Sitz, und das Ungetüm ruckte vorwärts, an Sartaj vorbei, und prallte dumpf knirschend in einer aufstiebenden Verputzwolke gegen das Gebäude. Doch nachdem der Bulldozer zurückgesetzt hatte, stand das Haus so unversehrt und unangreifbar da wie zuvor, die Tür nicht einmal eingedellt. Nur die Videokamera war kaputt: Halb plattgewalzt lag sie am Boden. Ein anhaltendes Johlen stieg aus der Menge der Schaulustigen auf und schwoll an, als Bashir Ali den Motor abstellte.

»Was war das?« fragte Sartaj.

Bashir Ali stieg von seinem Sitz herab und trat in den Schatten des Bulldozers. »Was haben Sie anderes erwartet, wenn ich's nicht so machen darf, wie es sein müßte?«

Beide wischten sich weißen Staub von der Nase. Auf der sonnenbeschienenen Seite des Bulldozers skandierte die Menge: »Jai281 Gaitonde, Jai Gaitonde!«

»Und Sie wissen, wie es sein müßte?«

Bashir Ali zuckte die Schultern. »Ich habe eine Idee.«

»Gut. In Ordnung. Machen Sie's, wie Sie wollen.«

»Dann gehen Sie aus dem Weg. Und holen Sie Ihre Leute von dem Gebäude weg.«

Als Bashir Ali sein Roß auf dem Kies drehte, sah Sartaj, was für ein Künstler er war. Seine Hände bewegten die Hebel flink und geschickt, und er legte sich synchron mit dem ächzenden Getriebe in die Kurven. Er fuhr das Planierschild hoch und senkte es wieder, brachte es exakt in Stellung, die untere Kante auf gleicher Höhe mit der Tür. Dann setzte er, den Arm lässig auf der Rücklehne, drei, sechs, neun Meter zurück. Er steuerte schräg auf das Haus zu, und seine Zähne blitzten, als er grinsend an Sartaj vorbeifuhr. Diesmal hörte man Metall kreischen, und als die Maschine zum Stillstand gekommen war, sah Sartaj, daß die Tür eingedrückt war. Ein Sprung lief weit in das Mauerwerk hinauf.

»Zurück!« rief Sartaj. Mit gezücktem Revolver rannte er nach vorn. »Weg da, zurück!« Dann war Bashir Ali verschwunden, und Sartaj lehnte an einem der Türpfosten, Katekar am anderen. Ein eisiger Luftzug kam aus dem Haus, und im Nu war der Schweiß in Sartajs Gesicht und an seinen Armen getrocknet. Einen Moment lang beneidete er Gaitonde um seine Klimaanlage, um die Kühle, die seine Verwegenheit ihm beschert hatte. Und einen Moment lang stieg irgendwo tief in seinem Innern, ungebeten und ekelerregend wie ein Galletropfen, eine winzige Blase der Bewunderung auf. Er holte tief Luft. »Meinen Sie, das Gebäude hält?« fragte er Katekar.

Katekar nickte. Er schaute durch die Tür in den Kubus, und sein Gesicht war dunkel vor Zorn. Sie gingen hinein, Sartaj voraus, doch an der ersten Zimmertür schob sich Katekar an ihm vorbei. Hinter ihnen das Rascheln der anderen. Sartaj versuchte über dem Hämmern seines Herzens etwas zu hören. Er drang nicht zum ersten Mal auf diese Weise in ein Haus ein, aber jedesmal wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals. Es war sehr kalt in dem Gebäude, die verschwenderische Beleuchtung gedämpft. Sie liefen über Teppiche. Es gab vier quadratische Zimmer, alle weiß, alle leer. Und genau in der Mitte des Baus führte eine Metalltreppe fast senkrecht nach unten. Sartaj nickte Katekar zu und folgte ihm hinab. Sie gelangten an eine Metalltür, die nicht verschlossen, aber sehr schwer war. Als Katekar sie endlich aufgewuchtet hatte, sah Sartaj, daß sie dick war wie die Tür zum Tresorraum einer Bank. Drinnen war es dunkel. Sartaj zitterte heftig. Er schob sich an Katekar vorbei, und nun entdeckte er zu seiner Linken ein bläuliches Licht. Katekar trat mit einem großen Schritt wieder vor ihn und streifte dabei seine Schultern. Sie tasteten sich weiter, die Waffen starr vor sich. Noch ein Schritt. Dann erkannte Sartaj eine Gestalt, Schultern vor einer Reihe flimmernder Monitore, eine braune Hand neben den Reglern eines schwarzen Schaltpults.

»Gaitonde!« Sartaj hatte nicht schreien wollen - er bevorzugte einen sanft mahnenden, bestimmten Ton - und zwang sich, die Stimme zu senken. »Gaitonde, nehmen Sie ganz langsam die Hände hoch.« Die Gestalt im Dunkeln regte sich nicht. Sartaj spannte den Finger schmerzhaft um den Abzug und unterdrückte den Drang, zu schießen und nochmals zu schießen. »Gaitonde! Gaitonde?«

Von rechts, wo Katekar stand, kam ein leises Klicken, und noch während Sartaj den Kopf wandte, war der Raum schon in strahlend weißes Neonlicht getaucht, üppig, allumfassend, rein. Und in diesem universellen Licht saß Gaitonde, preisgegeben, eine schwarze Pistole in der Linken. Die Hälfte seines Kopfes fehlte.

Sein rechtes Auge trat blutunterlaufen aus der Höhle. Sartaj sah das zarte Geflecht rosaroter Linien, das harte Schwarz der Pupille, die schimmernde Flüssigkeit, die aus dem inneren Augenwinkel sickerte und die er wider besseres Wissen für eine Träne hielt. Doch sie war nur die Reaktion des Körpers auf den gewaltigen Schlag, der die andere Gesichtshälfte vom Kinn aufwärts weggerissen, die Haut vom linken Nasenflügel bis in die Stirn aufgeschlitzt und eine cremefarbene Masse an die Decke gespritzt hatte. Ein perlweißer Zahn blinkte heil und unversehrt vor dem rohen Rot, an dem Gaitondes schmallippiges Grinsen abrupt endete.

»Sir«, sagte Katekar. Sartaj zuckte zusammen, und seine Augen folgten dem Lauf von Katekars Revolver zu einer Tür in der weißen Wand. Dort im Dämmer, genau auf der Grenze zwischen grellem Licht und Dunkel, zeigten die Zehen zweier nackter kleiner Füße zur Decke. Sartaj trat heran. Den Körper konnte er nicht deutlich sehen, nur zwei weiße Hosenbeine, doch an der weichen Linie der Hüften erkannte er, daß es sich um eine Frau handelte. Wieder fand Katekar einen Lichtschalter, und da lag sie, ja, eine Frau, in tiefsitzenden, hautengen weißen Hosen - Hüfthosen nannte man sie, wie Sartaj wußte. Ein schickes, enges rosa Top ließ ihren Bauch frei. Sie mußte stolz auf ihre schmale Taille und den vollkommenen Nabel gewesen sein. In ihrer Brust war ein Loch, direkt unterhalb der flaumigen Stelle, über der das Top zugehakt war.

»Er hat sie erschossen«, sagte Sartaj.

»Ja«, antwortete Katekar. »Sie muß in der Tür gestanden haben.«

Ihr Gesicht war nach links gewandt, und das lange Haar fiel ihr über die Wange.

»Checken Sie den anderen Raum«, sagte Sartaj. In dem quadratischen Zimmer, in dem das Mädchen lag, standen vier kahle Betten in einer Reihe, jedes mit einem weißen Nachttisch. Es sah aus wie ein Schlafsaal. An der Wand ein Hometrainer und auf einem Gestell Gewichte, der Größe nach aufgereiht. DVDs alter Schwarzweißfilme. Ein Metallschrank mit einer Batterie AK-56-Gewehren und Pistolen. Es gab ein Badezimmer mit Duschen und westlichen Toiletten und drei Schränke voller Herrenkleidung, Schuhe und Stiefel. Katekar hatte seine Inspektion des Hauptraums beendet, und nun standen sie nebeneinander vor Gaitonde.

Hinter ihnen drängten bewaffnete Polizisten heran, Schultern stießen gegeneinander, und Gewehrkolben klapperten, als die Männer sich vorbeugten, um zu sehen, was aus dem großen Gaitonde geworden war, und um einen Blick auf seine ermordete Freundin zu werfen.

»Genug«, sagte Sartaj. »Was ist das hier, ein Gratisspektakel? Eine Filmvorführung? Los, alle raus hier.« Er wußte, daß man ihm anhörte, wie erleichtert er war, wie seine Anspannung sich löste, und im Hinausgehen grinsten ihn die Männer an. Er setzte sich auf den Rand des langgestreckten Schaltpults und wartete darauf, daß das seltsam weiche Gefühl hinter seinen Kniescheiben wich. Von Gaitondes Stuhllehne tropfte es stetig auf den Boden.

Katekar öffnete und schloß mit einem blauen Taschentuch zwischen den Fingern die weißen Schränke an den Wänden. Er ging wie immer, wenn Schüsse gefallen waren, methodisch vor, und seine festen, breiten Schultern und das ernste Kinn wirkten beruhigend auf Sartaj.

»Nichts drin, Sir. Alles leer.«

Neben Sartajs Bein war eine Schublade. Er griff nach seinem eigenen Taschentuch und zog sie auf. Ein kleines schwarzes Buch lag darin, in der Mitte und genau parallel zu den Seitenwänden der Lade ausgerichtet.

»Ein Tagebuch?« fragte Katekar.

Es war ein Album mit Fotos unter der glatten Klebefolie auf den schwarzen Seiten. Sartaj wendete die Blätter an der äußersten Ecke um. Frauen, einige sehr jung, in Studioposen, Blick über die Schulter, Gesicht in die Hände gestützt, vorgereckte Hüfte, dezent gekleidet, aber alle atemberaubend attraktiv.

»Alle seine Frauen«, sagte Sartaj.

»Alle seine Randis524.« Katekar wickelte sich das blaue Taschentuch um den Zeigefinger und öffnete vorsichtig den hüfthohen Aktenschrank am anderen Ende des Schaltpults. Über dem Summen der Generatoren hörte Sartaj, wie er die Luft einzog. »Sir.«

Der Aktenschrank war voller Geld. Es war neues Geld, Fünfhundert-Rupien-Scheine in sauberen kleinen Bündeln, noch mit den Banderolen und Gummibändern der Central Bank of India, zu je fünfen in Plastikfolie verpackt. Katekar griff in den Spalt zwischen den Stapeln der obersten Schicht. Darunter war mehr. Und darunter noch mehr.

»Wieviel?« fragte Sartaj.

Nachdenklich klopfte Katekar gegen die Seite des Aktenschranks. »Der ist bis oben voll. Scheint eine ganze Menge zu sein. Fünfzig Lakhs? Mehr.«

Es war mehr Geld, als sie beide je auf einmal gesehen hatten. Eine Entscheidung mußte gefällt werden. Sie wechselten einen freimütigen Blick, und Sartaj entschied. Mit dem Knie stieß er die Schranktür wieder zu. »Zuviel«, sagte er.

Katekar seufzte. Einen Moment schaute er wehmütig drein, das war alles. Er selbst hatte Sartaj diese wichtige Überlebensregel beigebracht: Ohne genügend Information nach einer fetten Beute zu greifen beschwört Unheil herauf. Schnaubend und mit einem breiten Grinsen schüttelte er sich, löste sich von der Faszination des großen Geldes. »Die da oben werden sich um Gaitondes Geld kümmern«, sagte er. »Warten wir?«

»Wir warten.«

Der Bunker war voller Menschen: Labortechniker und Fotografen, höhere Polizeibeamte aus drei Bezirken und von der Kriminalpolizei. Gaitonde saß in der Mitte des Raumes, im vollen Licht und irgendwie geschrumpft. Sartaj beobachtete Parulkar, wie er sich über ihn beugte und einen Bezirkskommissar auf irgend etwas hinwies. Parulkar war in seinem Element, wenn er eine erfolgreiche Operation mit den wichtigen Leuten erörtern konnte, und Sartaj war ihm dankbar dafür. Parulkar würde die ganze Aktion zweifellos aufpolieren und überhöhen und Sartajs Anteil daran übertreiben. So etwas lag ihm, und Sartaj war in dieser Hinsicht auf ihn angewiesen.

Drei Männer kamen rasch die Treppe herunter. Sartaj hatte sie noch nie gesehen. Der vorderste hatte so kurz geschorenes Haar, daß die Kopfhaut durch das gepflegte Grau schimmerte. Er zückte einen Ausweis und richtete das Wort an Parulkar. Parulkar hörte zu und wurde sehr still, doch seine Züge gaben nichts preis. Er nickte und führte den Igelkopf mit den anderen beiden zu Sartaj.

»Das ist der Beamte«, sagte er zu dem Igelkopf. »Inspektor Sartaj Singh.«

»Ich bin SP600 Makand, CBI100.« Es klang schroff. »Haben Sie etwas gefunden?«

»Geld«, sagte Sartaj. »Ein Fotoalbum. Seine Taschen haben wir noch nicht durchsucht, wir wollten warten, bis ...«

»Gut«, sagte Makand. »Ab jetzt übernehmen wir.«

»Können wir noch irgend etwas tun?«

»Nein. Wir bleiben in Kontakt. Ziehen Sie Ihre Leute ab.« Makands Begleiter gingen bereits durch den Raum und forderten die Labortechniker auf, Schluß zu machen.

Sartaj nickte. Daß man ihm Gaitonde wegnehmen würde, hatte er erwartet. Niemand konnte sich erklären, weshalb Gaitonde in Bezirk 13 aufgetaucht war; daß seine Laufbahn in Kailashpada so abrupt geendet hatte, war ein zu perfektes Geschenk, das man Sartaj nicht allein überlassen würde. Das Leben ließ solch ungetrübtes Glück nicht zu. Doch Makand schickte ihn übermäßig grob fort, selbst für einen so hochrangigen Beamten. Parulkar, weich wie Butter, protestierte nicht, erhob nicht den leisesten Einwand, und so folgte Sartaj seinem Beispiel, rief Katekar heran und ging.

Es war Abend. Sartaj stand im Schutz der Stahltür im Halbdunkel und sah, daß hinter den Polizei-Jeeps Reporter warteten. Neben ihm machte sich Parulkar für die Presse bereit.

»Sir«, sagte Sartaj, »warum haben die uns rausgeschmissen? Braucht das CBI keine Unterstützung von der hiesigen Polizei?«

Parulkar schob sein Hemd straffer in die Hose und rückte seinen Gürtel zurecht. »Die haben ziemlich angespannt gewirkt. Ich glaube, sie hatten Angst, daß irgendwas da drin ans Licht kommt.«

»Sie wollen etwas vertuschen?«

Parulkar neigte mit einem überlegenen Lächeln den Kopf. »Beta068«, sagte er, »wenn jemand so mit uns umspringt, dann hat er was zu verbergen. Komm. Erzählen wir unseren Freunden von der Presse, wie du den großen Don Ganesh Gaitonde zur Strecke gebracht hast.«

Und so trat Sartaj in das Blitzlichtgewitter hinaus und berichtete den Reportern von seinem Coup. Er sagte, er habe sich mit Gaitonde unterhalten, bevor sie die Tür aufgebrochen hätten, und Gaitonde habe einen furchtlosen, vernünftigen Eindruck gemacht. Gaitondes Geschichte von dem Gold behielt er für sich. Und er erzählte weder den Reportern noch Katekar oder Parulkar von der Frage, die ihm Gaitonde, wie er glaubte, am Schluß gestellt hatte. Er war sich ohnehin nicht sicher, ob er sie wirklich gehört hatte. Er berichtete den Reportern von dem anonymen Hinweis am Morgen, von den Ereignissen danach, und er sagte, es sei ihm schleierhaft, was einen Mafia-Don veranlassen könne, Selbstmord zu begehen.

In dieser Nacht aber, zu Hause, mußte Sartaj wieder an Gaitondes hochtrabenden Ton denken, sein gehetztes Reden, seine Traurigkeit. Er war Ganesh Gaitonde nie zuvor begegnet, und nun hatten sich ihre Wege gekreuzt, und der Mann war tot. Kurz vor dem Einschlafen rief Sartaj sich alles zurück, was er über Gaitonde gehört und gelesen hatte, die Gerüchte und Legenden, die Geheimdienstberichte, die Interviews in den Nachrichtenmagazinen. Er versuchte das Bild Gaitondes in der Öffentlichkeit mit der Stimme aus dem Lautsprecher in Einklang zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Da war der berühmte Gangster und da der Mann, den er am Nachmittag erlebt hatte. Aber ob so oder so -was spielte das noch für eine Rolle? Gaitonde war tot. Sartaj drehte sich um und klopfte energisch auf seine Kissen, schob sie zurecht, bettete den Kopf darauf und schlief ein.