Ganesh Gaitonde
verkauft sein Gold

Und, Sardar-ji, hören Sie mir noch zu? Sind Sie bei mir, irgendwo auf dieser Welt? Ich spüre Sie. Was dann passiert ist, wollen Sie wissen, und dann. Ich ging unter dem von Wolken zerrissenen, winddurchwirbelten Himmel dahin, den ständigen Druck des Goldes auf dem Rücken, vor mir die Stadt. Ich war neunzehn und hatte Gold auf dem Rücken. Hier war ich, Ganesh Gaitonde, in einem schmutzigen blauen Hemd, brauner Hose, ramponierten Schuhen mit Gummisohlen und ohne Socken, mit siebenundvierzig Rupien in der Tasche, einem Revolver im Gürtel und Gold auf dem Rücken. Ich wußte nicht, wohin, denn zu meinem Schlafplatz hinter dem gewürzduftenden Lagerraum eines Restaurants in Dadar konnte ich nicht mehr gehen. Wenn Salim Kakas Leute nach mir suchen würden oder auch sonst irgendwer, würde ich nicht mehr dort sein, ich würde mich nicht wie ein Einfaltspinsel dort finden lassen und den Tod eines Hundes sterben. Seit ich das Gold gefunden hatte, war mir das Vertrauen abhanden gekommen. Ich hatte die Probleme eines Reichen. Mir ging durch den Kopf: Ich habe nichts auf dieser Welt als siebenundvierzig Rupien, einen Revolver und diese Zentnerlast Metall. Auf meinem Rücken nützt mir Gold nichts, ich muß es verkaufen. Solange ich es nicht verkaufe, ist Gold bedeutungslos. Wie verkauft man Gold in solchen Mengen? Und wo? Solange ich es nicht verkauft habe, bin ich arm. Ein armer Mann mit den Problemen eines Reichen.

Ich grinste, dann mußte ich lachen. Ich mußte dringend ein Versteck finden, und zwar schleunigst, trotzdem hatte die Situation auch etwas sehr Komisches. Ich sang: »Mere desh ki dharti sona ugle, ugle hire moti.«417 Doch halb elf Uhr vormittags war nicht die richtige Zeit, um mit einer geladenen Pistole und einem Sack Gold am Rand von Borivali herumzuspazieren. Ringsum gab es hauptsächlich Felder und Dickicht, nur hier und da standen ein paar kleine Häuser dorfartig zusammen, aber früher oder später würde jemand auf mich aufmerksam werden, etwas fragen, etwas wollen. Ich hatte nur noch drei Kugeln im Revolver. Und ob drei oder dreihundert würde keine Rolle spielen, wenn erst jemand herausfand, was ich da mit mir herumtrug.

Zu meiner Rechten entdeckte ich einen Stacheldrahtzaun, der ein kleines Wäldchen schützte. Ich sah mich um, und mein Beschluß war gefaßt. Ich schlüpfte unter dem untersten Draht hindurch, zog den Sack nach und ging schnell, doch ohne zu rennen, zu den Bäumen hinüber. In ihrem Schatten hockte ich mich hin und richtete mich aufs Warten ein. Ich streckte die Finger, versuchte den Krampf loszuwerden, den ich vom Umklammern des Sacks bekommen hatte, vom Tragen dieser schweren Last. Falls etwas passieren würde, dann jetzt. Mich umsurrten plötzlich winzige fliegende Insekten, und ich war bereit, ihre Stiche hinzunehmen, doch sie schwirrten nur in einer wabernden Wolke um meine Schultern, ein Zittern in der Luft. In ihrem schimmernden Kreis erinnerte ich mich an den Blick durchs Fenster auf einen Berghang, an die im Wind raschelnden Seiten eines Schulbuchs, an das endlose Schluchzen meiner Mutter nebenan. Endlos. Genug - mit einer wedelnden Handbewegung vor meinem Gesicht löste ich mich davon. Ich ging geduckt durch das Dunkel unter den Zweigen, hielt auf eine Wasserfläche zu, die in Sicht gekommen war. Ein kleiner Teich in einer flachen Senke, gesäumt von vergilbten Gräsern. Ich hockte mich wieder hin, den Sack vor mir. Es waren keine Fußabdrücke in dem schlammigen Boden rings um den Teich zu entdecken, keine Pfade führten durch das harte Gras, und bis hin zum Stacheldraht jenseits des Gewässers, ja selbst dahinter, auf der Straße, sah ich keine Menschenseele. Aber ich wollte noch eine halbe Stunde warten. Ich hielt den glatten Quader in meiner Tasche fest, atmete ein, aus. Ich verfolgte das rasche, irisierende Auf und Nieder der Libellen über dem Wasser. Das würde mir nicht noch einmal passieren, ich würde nicht wieder in den langsamen Strudel der Vergangenheit sinken. Ich hatte ein Leben gehabt und hatte es verlassen. Für Ganesh Gaitonde gab es nur diesen Tag, diese Nacht und alle Tage und Nächte danach.

Als ich den geeigneten Zeitpunkt für gekommen hielt, ging ich tief in das Wäldchen hinein, in den dunkelsten Schatten. Ich wählte einen Baum aus und begann zu graben. Die Erde war locker, aber trocken, und ich kam nur langsam voran, so daß meine Finger bald wund waren. Ich hätte mir erst irgend etwas zum Graben suchen sollen, ein Stück Blech oder so was. Schlechte Planung. Aber nun hatte ich angefangen, also machte ich weiter, schaufelte die Erde händeweise zur Seite. Als ich die härtere Schicht unter dem Mutterboden erreicht hatte, rückte ich ein Stückchen weg und bearbeitete sie mit den Fersen, bis sie gelockert war. Eine harte, schweißtreibende Arbeit, und als ich aufhörte, hatte ich kaum ein Loch zustande gebracht, nur eine flache Mulde unter dem dunklen Baumstamm. Ich war müde und hungrig, sie würde reichen müssen. Mein Atem ging schwer. Ich zog die Schnur des Sacks auf, nahm zwei Barren heraus und verlor mich einen Moment lang in ihrem sanften bronzenen Glühen. Dann stopfte ich den Sack in die Kuhle und scharrte die Erde darüber. Es sah aus wie ein kleiner Hügel, und ich krabbelte unter den Bäumen herum und suchte Grasbüschel, Blätter und Zweige zusammen, um ihn damit zu bedecken. Schließlich trat ich einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk. Im Halbdunkel würde es als eine zufällige Erhebung unter einem beliebigen Baum durchgehen, es sei denn, jemand setzte sich darauf. Aber warum sollte irgendwer hierherkommen, hier herumstreifen, sich setzen? Es war ein sicheres Versteck. Ganz bestimmt. Doch ich mußte vom Zaun aus noch einmal zurückgehen, um mich zu vergewissern, daß ich wieder hinfinden würde. Einmal nur. Danach zwang ich mich, unter dem Zaun durchzukriechen, die Straße hinunterzugehen, festen Schrittes abzubiegen, trotz des Verlustgefühls, das mir in die Magengrube fuhr, so schmerzhaft, daß ich mir mit beiden Händen den Bauch halten mußte. Risiko bleibt Risiko, und daraus entsteht Profit. Wenn es weg ist, ist es weg. Man muß sich auf einen Deal einlassen. Den Deal durchziehen.

Ich wußte nur einen Namen: Paritosh Shah. Ich hatte ihn zweimal gehört, das erste Mal von einem Mann namens Azam Sheikh, der gerade eine vierjährige Haftstrafe wegen Einbruchs abgesessen und schon nach zwei Tagen den nächsten sauberen Bruch hingelegt hatte, und zwar am hellichten Tag, ein Rein-Abräumen-Raus in der Wohnung eines frisch vermählten Paars in Santa Cruz East. »Die brave kleine Ehefrau ist auf den Markt gegangen, um Gemüse für ihren Mann zu kaufen«, erzählte Azam, »und wir haben uns ihre Goldkette, ihre Armreifen, ihre Ohrringe und ihren Nasenring geschnappt, alles außer der Mangalsutra398, und Paritosh Shah hat einen guten Preis für das Ganze gezahlt.« Ich stand in dem Restaurant, wo ich als Kellner arbeitete, hinter der Küchentür, machte eine Pause und lauschte der Prahlerei, doch als Azam meine Füße unter der Tür entdeckte, beschimpfte er mich und hörte auf zu reden. Ich trat weg. Später erzählte mir der Kellner, der ihn bedient hatte, Azam Sheikh habe ganze drei Rupien Trinkgeld dagelassen, nach anderthalb Stunden mit Tangdis, Shammi Kebabs und Bier. Nur einen Monat später erfuhr ich voller Genugtuung, daß Azam Sheikh wieder im Gefängnis saß; man hatte ihn gefaßt, als bei einem neuerlichen Einbruch in Santa Cruz East ein Hausmädchen aufgewacht war und geschrien hatte. Die Nachbarn hatten ihn erwischt und blutig geprügelt. Azam Sheikh hatte jetzt einen komischen Gang, eine weitere Genugtuung. Und dann war da der Name Paritosh Shah, der mir keine Ruhe ließ.

Ich hörte ihn abermals, nachdem ich mich mit Salim Kaka angefreundet und sein Vertrauen gewonnen hatte. Wir waren nach Borivali gefahren, Mathu, Salim Kaka und ich, um schießen zu üben. Auf einer Lichtung im Dschungel hatten Mathu und ich jeweils sechs Schüsse abgefeuert, Salim Kaka hatte uns die richtige Körper- und Handhaltung gezeigt, und wir hatten geladen und nachgeladen, bis es schnell und leicht ging und ich es blind konnte. Das hatte Salim Kaka gefallen, und er hatte mir auf die Schulter geklopft. Er ließ uns beide noch zweimal schießen. Die Explosionen, lauter, als ich je gedacht hätte, fuhren mir in die Glieder, ich jubelte, und über uns flogen die Vögel in Scharen auf. »Klammert euch nicht an eure Samaan551«, sagte Salim Kaka. »Haltet sie sanft, aber fest, mit Liebe.« Auf einem Baumstamm war mit Kreide eine Zielscheibe aufgemalt, und ich jagte genau in ihrem Mittelpunkt die Späne in die Luft. »Mit Liebe«, sagte ich, und Salim Kaka lachte mit mir. Auf unserem langen Rückweg aus dem Dschungel, unter kahlen braunen Ästen und zwischen den allgegenwärtigen Dornenbüschen, ängstigte er uns mit Geschichten von Leoparden. Hier in diesem Dschungel sei vor nicht einmal zehn Tagen ein Mädchen beim Holzsammeln von einem getötet worden.

»Der Leopard kommt so schnell, daß man ihn nicht sieht, man spürt nur seine Zähne im Nacken«, sagte Salim Kaka.

»Ich schieß ihm die Augen aus«, sagte ich und wirbelte meinen Revolver herum.

Mathu sagte: »Na klar, Maderchod, wo du ja jetzt ein Goldmedaillenschütze bist.«

Ich spuckte aus. »Das Leopardenfell würde Geld bringen. Ich würde den Bhenchod häuten und es verkaufen.«

»An wen denn, Chutiya?« wollte Mathu wissen.

Ich deutete auf Salim Kaka. »An seinen Hehler.«

»Nein«, sagte Salim Kaka. »Der ist ausschließlich an Schmuck, Diamanten, Gold und teurer Elektronik interessiert.«

»Nicht an deinem räudigen Leopardenfell«, sagte Mathu und lachte. Später stellte sich Mathu an die Straße und wartete mit erhobenem Arm auf eine Autorikscha, während sich Salim Kaka neben mich vor eine Mauer hockte und wir pißten. Ich starrte auf die Mauer und hielt mich fest, plötzlich ungeduldig angesichts der langen Zugfahrt, die noch vor mir lag, dann der Busfahrt und dem Stück zu Fuß bis nach Hause.

»Was ist los, Yaar?« fragte Salim Kaka. »Denkst du immer noch an dein Leopardenfell?« Er hatte kräftige, vom Tabak braun gefärbte Zähne. »Keine Sorge, du kannst dein Fell zu Paritosh Shah bringen, der nimmt alles.«

»Zu wem?« fragte ich nach.

»Das ist ein neuer Hehler in Goregaon211. Sehr ehrgeizig.«

Inzwischen hatte Mathu eine Autorikscha angehalten, Salim Kaka schüttelte ab und stand auf, und ich erhob mich ebenfalls und machte meinen Reißverschluß zu. Salim Kaka grinste mich an, und wir gingen Schulter an Schulter hinüber. In der holpernden und ruckelnden Rikscha saßen wir all drei dicht zusammengedrängt, Salim Kaka in der Mitte, den schwarzen Beutel mit den Revolvern in der Hand. Sie gehörten ihm. Er drückte den Beutel an sich.

Und so fuhr ich jetzt nach Goregaon, doch Paritosh Shah war einer von Hunderttausenden hier in dieser Gegend, und unter den Werbetafeln für Sex-Doktoren, Makler und Zementhändler im Bahnhof fand sich keine für ihn. Ich kaufte mir eine Zeitung, sah draußen einen Vadapau-vaala649 und dachte über mein Problem nach, während ich etwas aß. Bei einem Glas Tee vom Chaivaala einen Stand weiter fiel mir eine mögliche Lösung ein.

»Bidu090«, sagte ich zu dem Chaivaala. »Wo ist hier das Polizeirevier?«

Ich ging zu Fuß hin, durch enge, beiderseits von Läden und fliegenden Händlern gesäumte Straßen. Die Schultern voran, schlüpfte ich rasch und wendig durch die Menge, durch den Tee wiederbelebt und begierig, den nächsten Schritt zu tun. Ich fand die Polizeiwache und lehnte mich gegenüber der länglichen, niedrigen braunen Fassade an eine Motorhaube. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich durch die Eingangstür in den Empfangsraum mit den breiten Schreibtischen sehen, und ich wußte, was dahinter lag - die vollen Büros, die in Reihen dahockenden Gefangenen, die kahlen Zellen ganz am Ende. Die kleine Menschenansammlung vor dem Gebäude bewegte sich, verlagerte sich, formierte sich neu, aber sie war immer da, und ich beobachtete sie, während ich in meiner Zeitung blätterte. Ich erkannte die Cops, selbst die zivilen, an der Wölbung ihres Nackens und einer gewissen Rückwärtsneigung - ein bißchen wie bei einer Kobra, die sich mit ausgebreitetem Halsschild in einem frisch gepflügten Feld aufgerichtet hat, bebend vor Macht und Arroganz. In ihren Augen glitzerte dieselbe Kampfeslust. Ich hielt nach etwas anderem Ausschau.

Erst um halb drei, nach zwei Fehlstarts, fand ich meine Informantin. Zuvor hatte ich es mit einem schmalhüftigen Mann versucht, der sich seitlich durch das Tor auf die Straße schob und sie mit der aalglatten Zurückhaltung eines Taschendiebs hinunterging; ihm folgte ich fast einen Kilometer weit, bis schließlich seine langen Hände, die sich mit hundeartiger Gier zusammenkrallten und wieder entspannten, mein Mißtrauen erweckten. Zurück beim Revier, hielt ich erneut Ausschau und nahm einen älteren Mann um die Fünfzig ins Visier, der aus der Eingangstür trat, vor dem Tor stehenblieb und mit dem Daumen eine Schachtel Zigaretten aufschnippte. Bedächtig und präzise klopfte er mit seiner Zigarette dreimal auf das Päckchen, zündete sie an und inhalierte, alles mit derselben gelassenen Selbstsicherheit. Ich ging ihm nach; der saubere Bogen seines weißen Haaransatzes und sein unauffälliges graues Buschhemd gefielen mir. Doch als ich ihn an der Kreuzung überholte und höflich um eine Zigarette bat, sah mich der Mann bar jedes Mißtrauens und mit solch rückhaltloser Freundlichkeit an, daß an seiner Ehrbarkeit nicht der geringste Zweifel bestehen konnte. Er war ein rechtschaffener Bürger, der auf die Wache gegangen war, um ein gestohlenes Fahrrad zu melden oder lärmende Nachbarn anzuzeigen; er würde keine Ahnung haben, wer Paritosh Shah war. Ich nahm dankend eine Zigarette entgegen und kehrte zu meinem Posten zurück.

Ich trat gerade den Zigarettenstummel mit dem Absatz aus, als ich sie hörte. Es war eine tiefe Stimme, eindeutig die einer Frau, wenn auch sehr dunkel und sehr sonor. Sie stritt mit einem Rikschafahrer, erklärte, sie fahre diese Strecke jede Woche, und er habe sein Taxameter ausgeschaltet, zwölfsechzig könne er von irgendeinem frisch aus UP646 gekommenen Chutiya verlangen, aber nicht von ihr. Die Autorikscha und der Fahrer versperrten mir die Sicht, ich konnte nur ihre rundlichen Arme und eine enge gelbe Bluse erkennen, doch als der Fahrer dann mit neun Rupien unter lautem Reifenquietschen wegfuhr, erhaschte ich einen Blick auf einen tiefroten Sari, einen fleischigen Rücken mit molliger Taille und einen raschen, wiegenden Gang, was alles irgendwie anrüchig wirkte. Jetzt war ich ungeduldig. Ich machte mir nicht mehr die Mühe, die anderen, die in der Wache ein und aus gingen, in Augenschein zu nehmen, sondern wartete nur noch auf sie. Als sie nach einer Dreiviertelstunde herauskam, war ich vorbereitet.

Sie überquerte die Straße, stemmte die eine große Hand in die Hüfte und winkte mit der anderen gebieterisch nach jeder Rikscha, die vorbeiknatterte. Ich holte tief Luft und trat näher, und nun sah ich unter der hennaroten Mähne ihre Hängebacken, ihre kräftigen Augenbrauen, ihre großen, lotosförmigen Ohrringe. Sie war alt, zumindest älter, von der Zeit gezeichnet, vielleicht vierzig oder fünfzig. Mir gefiel ihre Haltung, sie stand stämmig und leicht vorbeugt da, die kräftigen Beine weit auseinander. Ihr Pallu war achtlos über die Schulter geworfen, alles andere als sittsam.

»Die Rikschas sind um diese Zeit alle besetzt«, sagte ich.

»Geh weg, Junge. Ich bin keine Randi«, knurrte sie. »Wobei du nicht so aussiehst, als ob du dir eine leisten könntest.«

Ich hatte gedacht, sie hätte mich noch gar nicht wahrgenommen. »Ich suche keine Randi.«

»So, so.« Jetzt wandte sie mir das Gesicht zu, und ihre Augen traten leicht hervor, nicht häßlich, aber ungewöhnlich, es gab ihrem Gesicht etwas Unberechenbares. »Was willst du dann?«

»Ich möchte Sie etwas fragen.«

»Warum sollte ich antworten?«

»Ich brauche Hilfe.«

»So siehst du aus. Du kriegst deine Hose nicht auf und willst, daß ich ihn dir rausziehe. Warum sollte ich mir die Hände schmutzig machen? Seh ich aus wie deine Mutter?«

Ich lachte. »Nein, tun Sie nicht. Kein bißchen. Aber Sie könnten mir vielleicht trotzdem helfen.«

Eine Autorikscha, die in die andere Richtung fuhr, bremste ab und kam mit einem Satz quer über die Straße auf uns zu. Die Frau griff nach der Eisenstange über dem Taxameter, noch ehe die Rikscha zum Stehen gekommen war, und schwang sich auf den Sitz. »Los«, sagte sie zu dem Fahrer.

»Paritosh Shah«, sagte ich und beugte mich in die Rikscha vor.

Mit einemmal hatte ich ihre Aufmerksamkeit. »Was ist mit ihm?«

»Ich muß ihn finden.«

»Du mußt?«

»Ja.«

Sie rutschte auf dem Sitz vor und sah mich mit unverhohlen drohendem Blick an. »Für einen Khabari327 bist du zu schmutzig. Die versuchen immer, sauber und vertrauenswürdig auszusehen.«

»Ich bin auch keiner«, sagte ich. »Ich wüßte gar nicht, bei wem ich jemanden denunzieren sollte.«

»Steig ein.« Sie machte mir auf dem rissigen roten Kunstleder Platz, gab dem Rikschafahrer einige Anweisungen, und dann tuckerten wir durch mir unbekannte Gassen davon. Die Gebäude rückten näher zusammen, und die Straßen waren voller Menschen, die zur Seite traten, um die Rikscha vorbeizulassen. Ich schaute erst links hinaus, dann durch das ovale Fenster hinten im Stoffverdeck.

»Beruhige dich«, sagte die Frau. »Du bist in Sicherheit. Wenn ich dir etwas antun wollte, würde dir der große Ghoda in deiner Hosentasche auch nichts nützen.«

Ich schaute nach unten. Durch den fleckigen blauen Stoff hatte ich den Revolver umklammert gehalten. Ich ließ ihn los und massierte mir die rechte Hand mit der linken. »Ich war noch nie hier«, sagte ich.

»Ich weiß.« Sie beugte sich zu mir. »Wie heißt du?«

»Ganesh. Und Sie?«

»Kanta Bai047. Was hast du für Paritosh Shah?«

Dicht an ihrem Ohr flüsterte ich: »Ich habe Gold.« Ich rückte noch näher. »Barren.«

»Sei still, Ganesh, kein Wort davon, bis wir ausgestiegen sind.«

Die Autorikscha hielt an einem geschäftigen Bazaar mit lauter Läden, in denen Kleider en gros verkauft wurden, und Kanta Bai führte mich rasch durch gewundene, immer enger werdende Gassen. Man kannte sie hier, Passanten grüßten sie mit Namen, doch sie eilte weiter, ohne sich aufhalten zu lassen. Am Ende einer Gasse befand sich eine Mauer mit einem Durchbruch, einem zackigen Loch, unter dem zersprungene Ziegel lagen, auf der anderen Seite war ein Basti. Ich paßte auf, wo ich hintrat, während ich ihren raschen Schritten folgte. Wand an Wand standen hier die Hütten, und die Zement- und Backsteingebäude kamen sich an manchen Stellen über dem Weg so nahe, daß man meinte, durch einen Tunnel zu gehen. Männer, Frauen und Kinder traten beiseite, um Kanta Bai vorbeizulassen. Auf Fenstersimsen und in Türen saßen junge Männer, ich spürte ihre Blicke im Nacken und hielt mich aufrecht, möglichst nah bei Kanta Bai.

Zuerst roch ich die penetrante, schwere Süße von Gur251, dann das Erbrochene. Wir wandten uns nach rechts und kamen an einer niedrigen Tür vorbei, durch die ich Männer an Metalltischen sitzen und trinken sah. Ein Junge stellte einen Teller mit zwei gekochten Eiern auf den Tisch am Eingang, während sein Kunde sich die letzten milchigen Tropfen aus einem Glas in den Mund schüttete. Kanta Bai bog um die Ecke des Gebäudes, und ich hörte das Heulen eines Generators, das nun tiefer wurde. Sie ließ mich in einem dunklen Raum zurück, in dem sich Gur-Säcke bis zur Decke stapelten. »Warte hier«, sagte sie, also wartete ich. Der warme Geruch legte sich auf meine Schultern, braun wie Flußschlamm. Über dem unablässigen Geleier des Motors hörte ich Musik aus einem Radio im vorderen Raum, der Bar - nur die höchsten Töne, die blechernen Spitzen der Lieder, wie Luftbläschen drangen sie an mein Ohr. Ich fragte mich, wie gut Kanta Bais Produkt wohl war. Für einen Werktagnachmittag hatten sich nicht wenige Kunden versammelt, bestimmt zwanzig, die stetig an ihren Acht- oder Zehn-Rupien-Gläsern mit dem im Hinterhaus gebrannten Saadi540 und Satrangi566 nippten. Es war ein gutes Geschäft, die Rohstoffe waren billig und legal zu haben, die laufenden Kosten niedrig. Und nach gutem rustikalem Schnaps herrschte stete Nachfrage, so anhaltend und gewaltig wie das Fußgetrappel draußen in den Gassen. Ich beugte mich vor und konnte unter dem Türvorhang die nackten Füße von Kanta Bais Arbeitern sehen, die Böden von Säcken, die herumgeschleift wurden, und das gelegentliche Aufblitzen von Flaschen. Ich erkannte ihren Sari sofort, so daß ich mich rechtzeitig abwenden konnte und am hinteren Ende des Raums stand, als sie den Vorhang zur Seite schob. Ihre Augen, die in der schlammigen Dunkelheit der Gur-Säcke zu glühen schienen, machten mir angst.

»Ich habe mit Paritosh Shah telefoniert«, sagte sie.

Ich bekam kein Wort über die Lippen, war wie gelähmt von dem plötzlichen Schrecken, unerfahren allein zu sein, allein mit dem Gold. Ich nickte und lehnte mich zugleich mit der Schulter an den Türrahmen, ganz lässig.

Kanta Bai war amüsiert. Ein leichtes Schmunzeln umspielte ihren Mund, und sie sagte: »Laß das Gold mal sehen.«

Ich nickte abermals. Mir war immer noch mulmig zumute, aber es mußte sein. Ich griff in meine rechte Tasche, legte die Goldbarren in meine Linke und hielt sie ihr hin, zwei kleine Barren, die schwer auf meiner Handfläche lagen. Kanta Bai nahm sie, wog sie prüfend in der Hand und gab sie mir zurück. Ihr Blick blieb auf mein Gesicht geheftet. »Du kannst jetzt zu ihm. Einer meiner Leute wird dich hinbringen.«

»Gut.« Ich hatte meine Stimme und mein Selbstvertrauen zurückgewonnen. Die Barren verschwanden wieder in meiner Tasche, und ich fummelte ein dünnes Bündel Geldscheine heraus, das ich auffächerte.

»Du kannst mich nicht bezahlen.«

»Was?«

»Wieviel hast du?«

Ich hielt die Hand ins Licht. »Neununddreißig Rupien.«

Sie stieß ein gurgelndes Lachen aus, ihre Wangen wölbten sich nach außen, und ihre Augen schlossen sich beinahe. »Bachcha042, geh zu Paritosh Shah. Wenn alles gut läuft, ist er mir einen Gefallen schuldig. Neununddreißig Rupien machen dich nicht zum Raja514 Bhoj515 von Bumbai.«

»Dann bin ich Ihnen auch einen Gefallen schuldig«, sagte ich, »wenn alles gut läuft.«

»Sehr clever«, antwortete sie. »Vielleicht bist du ja doch ein guter Junge.«

Paritosh Shah war ein Familienmensch. Ich wartete in einem Flur im zweiten Stock auf ihn, neben einem Treppenhaus, aus dem gelegentlich ein Schwall beißenden Uringestanks aufstieg. Das Gebäude war sechs Stockwerke hoch und uralt, die wackelige Fassade wurde durch ein mit Stricken und Nägeln befestigtes Bambusgerüst gestützt, und die kunstvoll durchbrochenen Balkongeländer wiesen besorgniserregende Lücken auf. Im zweiten Stock, zu dem Kanta Bais Junge mich gebracht hatte, herrschte geschäftiges Treiben, lauter Shahs gingen auf dem Treppenabsatz an mir vorbei; sie nannten einander Chachu105 und Mamu394 und Bhai und ignorierten mich vollkommen. Mein schmutziges Hemd und meine zerlumpte Hose waren ihnen keines Blickes wert. Es war eine protzige, mit Goldringen bewehrte Schar, größtenteils in weißen Safarianzügen, und ihre weißen Schuhe und Sandalen waren unordentlich neben der bewaffneten Wache an der Tür aufgereiht. Irgendwo da drinnen war das Allerheiligste von Paritosh Shah, bewacht von einem ergrauten alten Muchchad429, der mit einem Gewehr von grotesker Länge auf einem Hocker saß. Er trug eine Uniform mit gelben Litzen und hatte einen mächtigen gezwirbelten Schnurrbart. Nachdem ich zwanzig Minuten im Uringestank dem Hin und Her der Shahs zugesehen hatte, fühlte ich mich brüskiert, und aus irgendeinem Grunde richtete sich mein Groll auf den Munitionsgürtel, den der Alte um die Brust trug, auf das rissige Leder und die drei zylindrischen Patronen. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Revolver zog und ein Loch mitten in den Gürtel schoß, direkt über dem Hängebauch des Mannes. Es war ein absurder Gedanke, doch er hatte etwas Befriedigendes.

Weitere zehn Minuten verstrichen, und dann reichte es mir. Entweder es geschah sofort etwas, oder er bekam die Kugel in die Brust. Ich hatte hämmernde Kopfschmerzen.

»Hör mal, Mamu«, sagte ich zu dem Wachposten, der gerade mit einem Bleistiftstummel in seinem linken Ohr bohrte. »Sag Paritosh Shah, daß ich gekommen bin, um ein Geschäft zu machen, nicht um hier herumzustehen und seine Latrine zu riechen.«

»Was?« Der Bleistift fiel heraus. »Was?«

»Sag Paritosh Shah, daß ich gegangen bin. Woandershin. Sein Pech.«

»Halt, halt.« Der Alte lehnte sich zurück und wandte seine Schnurrbartspitzen Richtung Tür. »Badriya, komm mal her und hör dir an, was dieser Bursche zu sagen hat.«

Badriya, deutlich jünger und viel größer als der Bleistiftbohrer, ein Bodybuilder mit ruhigen, bedächtigen Bewegungen, kam leise auf seinen nackten Füßen herbei. Er stand in der Tür, die Arme leicht vom Brustkorb abgespreizt, und ich war mir sicher, daß er auf dem Rücken unter seinem schwarzen Buschhemd eine Waffe stecken hatte. »Gibt es irgendein Problem?«

Es war eine Herausforderung, ganz klar, von einem harten Mann mit ausdrucksloser Miene geäußert, aber ich fühlte mich plötzlich vom schieren Wahnwitz des Moments getragen, von der Erschöpfung nach einem langen Tag und der Triebkraft meines spontanen Ärgers. »Ja, das gibt es«, sagte ich. »Ich bin es leid, auf euren Maderchod Paritosh Shah zu warten.«

Der alte Mann fuhr auf und wollte von seinem Hocker heruntersteigen, doch Badriya sagte ganz ruhig: »Er ist ein vielbeschäftigter Mann.«

»Das bin ich auch.«

»Ach ja?«

»Ja.«

Mehr brauchte es nicht. Die Schultern des Wachmanns waren vor Panik angespannt. Er hielt das Gewehr ungeschickt umklammert, ganz vorn am Schaft, und da er ein Bein auf dem Boden und eins auf einer Querstrebe des Hockers aufgestützt hatte, saß er schief, war nicht im Gleichgewicht. Ich beobachtete ihn und ebenso Badriya. Es war absurd, mit diesem Geruch in der Nase in einem verdreckten Korridor dem Tod plötzlich so nahe zu sein; es war nicht einzusehen, daß ich fast vermögend war, aber eben doch nicht ganz; es war lachhaft, Ganesh Gaitonde zu sein, mittellos in dieser Stadt und immer am Rande stehend - das alles entbehrte jeden Sinns, und deshalb erfaßte mich ein überschäumender Eifer, ein froher, verrückter Mut. Hier. Jetzt. Hier bin ich. Also, was gibt's?

Badriya hob langsam die Hand. »Na gut«, sagte er. »Ich seh mal nach, ob er Zeit hat.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Okay«, sagte ich und fand Gefallen an dem englischen Wort, einem der wenigen, die ich damals kannte. »Okay, ich warte.« Die nächsten paar Minuten grinste ich den Muchchad an, was den alten Mann zunehmend verängstigte, so daß seine Hände auf dem Gewehr zu zittern begannen. Als Badriya wiederkam, war ich mir sicher, daß ich den alten Soldaten mit seinem martialischen Schnauzer durch mein Anstarren geradewegs in einen Herzanfall hätte treiben können. Doch es galt ein Geschäft abzuwickeln.

»Komm«, sagte Badriya, und ich zog die Schuhe aus und folgte ihm in ein Labyrinth aus Fluren, die von identischen schwarzen Türen gesäumt waren. »Heb die Arme hoch«, sagte Badriya. Ich nickte, lupfte mein Hemd und zog den Bauch ein, als Badriya mir sanft den Revolver abnahm. Er ließ ihn professionell aus dem Handgelenk einmal vor- und zurückwirbeln und schaute prüfend am Lauf entlang. Dann hob er die Waffe konzentriert an die Nase. »Der ist vor kurzem abgefeuert worden.«

»Ja«, sagte ich.

»Dreh dich um.« Badriya tastete mich rasch ab, eine Reihe leichter Klapse unter den Armen und die Oberschenkel hinauf, wobei er nur kurz auf den Barren in meinen Taschen innehielt. Er tat das ganz professionell, ohne jede Feindseligkeit, und es nahm mich für Paritosh Shah ein, daß er jemanden wie Badriya in seinem Team hatte.

Paritosh Shah lag seitlich auf einer weißen Gadda202, auf ein rundes Kissen gestützt. Der Raum war ziemlich kahl, mit glänzend braunen holzgetäfelten Wänden und weißen Milchglasscheiben hoch oben unter der Decke, und er war von einer Klimaanlage auf eine Temperatur heruntergekühlt, die ich sofort als schmerzhaft empfand. Drei schwarze Telefone standen ordentlich aufgereiht neben der Gadda. Paritosh Shah war vollkommen entspannt und wies mit einer trägen Handbewegung auf einen niedrigen Schemel.

»Setz dich«, sagte er. Ich tat wie geheißen, nahm links hinter mir Badriya wahr, hörte das Klicken der zufallenden Tür. »Du bist also dieser Junge«. Paritosh Shah war selbst nicht besonders alt, sechs oder sieben Jahre älter als ich, höchstens zehn, doch er strahlte ein enormes, schon müdes Selbstvertrauen aus. »Name?« fragte er, und irgendwie vermittelte die ganze Art, wie er auf der weichen Gadda hingegossen lag, entspannt und reglos, das eine Bein untergeschlagen, die Warnung: Versuch ja nicht, mich übers Ohr zu hauen, Junge.

»Ganesh.«

»Du bist ein aufbrausender Bursche, Ganesh. Ganesh wie?«

»Ganesh Gaitonde.«

»Du stammst nicht aus Bombay. Ganesh Gaitonde von woher?«

»Das spielt keine Rolle.« Ich lehnte mich zurück, zog zwei Barren hervor und legte sie nebeneinander auf den Rand der Matratze.

»Die hättest du jedem beliebigen Marvari-Juwelier401 verkaufen können. Warum kommst du zu mir?«

»Ich will einen fairen Preis. Und ich kann Ihnen mehr davon bringen.«

»Wieviel mehr?«

»Sehr viel. Wenn ich für die hier einen fairen Preis kriege.«

Paritosh Shah neigte sich nach hinten und schwang dann in die Senkrechte, wie ein Stehaufmännchen. Ich sah jetzt, daß er schmale Arme und Schultern, aber einen richtigen Kugelbauch hatte, über dem er nun die Hände faltete. »Fünfzig-Gramm-Barren. Wenn sie korrekt sind, siebentausend Rupien pro Stück.«

»Der Marktpreis für fünfzig Gramm beläuft sich auf fünfzehntausend.«

»Das ist der Marktpreis. Deshalb wird Gold geschmuggelt.«

»Weniger als die Hälfte ist zuwenig. Dreizehntausend.«

»Zehn. Mehr ist nicht drin.«

»Zwölf.«

»Elf.«

Ich nickte. »Einverstanden.«

Paritosh Shah sprach flüsternd in eines seiner schwarzen Telefone und hielt mir mit der freien Hand eine silberne Schatulle mit silberfleckigen Paan, Supari und Elaichi hin. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nur Geld, Geld, das ich festhalten konnte, Geld in meiner Tasche, dicke Bündel von Banknoten, dick genug für silberne Schatullen, weiche Gaddas und rote Bettdecken, für Plattenspieler und saubere Badezimmer und Liebe, genügend knisterndes Papier für Zuversicht, Sicherheit, das Leben. Mein Mund war trocken. Ich umklammerte meine Hände und hielt sie fest aneinandergepreßt, während es dezent klopfte, die Tür auf- und zuging und Badriya eine kleine Waage und zwei Stapel Geldscheine brachte, einen dicken und einen dünnen.

»Nur um sicherzugehen«, sagte Paritosh Shah. Er hob die Barren einzeln mit den Fingerspitzen hoch und wog sie mit kleinen Gewichten aus. »Gut.« Er lächelte. »Sehr gut.« Er sah mich erwartungsvoll an. Das Geld lag auf der Matratze, und ich setzte meine ganze Willenskraft ein, zwang mich zur Ruhe, ließ mir nicht anmerken, daß ich es gesehen hatte, bis Paritosh Shah seine schlanken Finger vorstreckte und den Stapel ein paar Zentimeter nach vorne schob. Jetzt griff ich danach, mit leicht zitternder Hand.

Ich stand auf. Der Raum drehte sich, die frostig-weißen Lichtrechtecke stürzten mir in die Augen, weißer horizontloser Himmel blitzte auf.

Dann sagte Paritosh Shah: »Du redest nicht viel.«

»Nächstes Mal rede ich mehr.«

Badriya hatte die Tür geöffnet, der Korridor war lang, und ich ließ ihn hinter mir, mit Geld in der Tasche und bezwungenem Schwindel. Ich bückte mich ganz locker, um mir die Schuhe anzuziehen, und als ich mich wieder aufrichtete, hatte ich die dünne Rolle mit meinen neununddreißig Rupien in der Linken. Ich steckte sie dem alten Wachposten resolut hinter den Patronengurt und fuhr noch kurz mit einer polierenden Bewegung über das Leder. »Da, Mamu«, sagte ich. »Und laß mich nicht noch einmal draußen warten.«

Der Mann stammelte irgend etwas, und Badriya lachte laut auf. Er hielt mir den Revolver hin und zog eine Augenbraue hoch. »Du hast einen Goldbarren zurückbehalten.«

Ich überprüfte mit einem kurzen Schwung aus dem Handgelenk die Patronenkammer, so zackig wie möglich. »Der ist nicht zu verkaufen«, sagte ich.

»Warum nicht?«

Ich packte den Revolver weg und hob eine Hand zum Abschied. »Nicht alles ist käuflich.« Draußen auf der Straße blieb ich äußerst wachsam. Ich stellte mich vor einen Bata-Schuhladen und überprüfte in der Schaufensterscheibe, ob mir jemand nachschlich. Ich mußte damit rechnen, daß ich verfolgt wurde, daß Paritosh Shah eilig seine Berechnungen angestellt und jemanden losgeschickt hatte, vielleicht Badriya, der mich beschatten und eine Menge Gold ausfindig machen sollte. Es wäre nur logisch. Doch keine gespiegelten Verfolger erschienen, also schlenderte ich gemächlich davon, mit häufigen Pausen an schlecht einsehbaren Stellen, um die Gesichter der vorbeigehenden Leute zu mustern. Ich war aufmerksam, aber entspannt, fühlte mich in den Straßen dieser Stadt wohl wie nie zuvor, voll herrschaftlicher Sympathie für die hübschen kleinen, im abendlichen Dämmerlicht leuchtenden Bungalows, an denen ich nun vorbeikam, für die fröhlichen reichen Kinder, die hinein- und hinausrannten. Plötzlich war mir das alles nicht mehr feind. Und ich gab mir die größte Mühe, dem Behagen zu widerstehen, mein Mißtrauen gegenüber der Euphorie angesichts eines einträglichen Geschäfts wachzuhalten, der Ekstase darüber, einen einzigen Satz Würfel geworfen zu haben, die unaufhaltsam und direkt zum Sieg gerollt waren. Sei nicht leichtsinnig. Paß auf, paß auf. Du hast die richtigen Zahlen gewürfelt, aber das Spielbrett verändert sich. Was weiß ist, wird schwarz sein. Wer schnell hoch aufsteigt, den erwarten die Schlangen. Halt dich an die Spielregeln.

Ich fand mich vor einem Tempel wieder. Ich schaute nach rechts, nach links, hatte keine Ahnung, wie ich hierhergeraten war. Auf der einen Straßenseite standen Mietshäuser, auf der anderen niedrigere Gebäude mit schrägen Ziegeldächern, die Häuser von Mühlenarbeitern, kaufmännischen Angestellten, Briefträgern. Der Tempel befand sich an einer Ecke, und es war wohl das weithin hallende Läuten der Glocke gewesen, das mich in den Hof unter das hohe Spitzdach geführt hatte. Ich lehnte mich an eine Säule und hielt abermals nach Verfolgern Ausschau, nach todbringenden Schatten inmitten der Autorikschas und Ambassadors. Falls sie da draußen waren, Gier und Heimtücke ausdünstend, war der Tempel kein schlechterer Ort als jeder andere, um abzuwarten. Ich hatte nichts für Tempel übrig, verabscheute Weihrauch, bequeme Lügen und Mitleid, glaubte weder an Götter noch an Göttinnen, doch hier bot sich mir ein Zufluchtsort. Ich zog die Schuhe aus und ging hinein. Die Gläubigen saßen im Schneidersitz auf dem glatten Boden, dicht an dicht, über die ganze beträchtliche Länge des Raums. Die Wände waren von einem kargen, im Neonlicht erstrahlenden Weiß, die dunklen Köpfe indes bewegten sich in einem Meer bunter Saris, lila, leuchtend grün, blau und tiefrot, bis hin zur orangefarbenen Statue des fliegenden Hanuman, der sich elegant den Berg über den Kopf hielt. Ich fand an der Rückwand einen Platz, setzte mich mit untergeschlagenen Beinen hin und fühlte mich sofort wohl. Ein Mann in safrangelbem Gewand saß auf einem Podium vor Hanuman, und sein Vortrag war fließend und kraftvoll, die alte Geschichte von Bali051 und Sugriv605, der Konflikt, die Herausforderung, das Duell, und die im Dschungel lauernden Götter. Ich kannte die Listen und Schliche gut und nickte schläfrig zu dem uralten Handlungsablauf und dem Rhythmus der Lektion. Als der Priester mit ausgestreckten Armen Verspaare rezitierte, verfielen die Gläubigen in einen Singsang, aus dem die Frauenstimmen hell aufstiegen. Der Pfeil flog, und dann lag Bali durchbohrt auf dem Boden, sich windend, seine Fersen in den Waldboden grabend, und ich zog die Knie an, legte meinen Kopf darauf und fühlte mich wohl.

Ich erwachte, weil mich der Priester im safrangelben Gewand schüttelte. »Beta«, sagte er. »Es ist Zeit zu gehen.« Er hatte weißes Haar und ein verschmitztes Gesicht. »Wir müssen abschließen. Hanuman-ji muß schlafen gehen.«

Ich rieb mir kräftig den steifen Hals. »Ja, ich gehe.« Ich war der letzte im Raum.

»Hanuman-ji hat Verständnis. Du warst müde. Hast lang gearbeitet. Er sieht alles.«

»Natürlich«, sagte ich. Was für phantastische Geschichten sich die Alten und Schwachen doch erzählten. Ich streckte die Beine, stand auf und stolperte zu dem abgeschlossenen Opferstock vor Hanuman. Während ich aus dem dünneren der beiden Bündel einen Fünfhundert-Rupien-Schein zog, fiel mir auf, daß ich das Geld gar nicht gezählt hatte, als Paritosh Shah es mir gab. Dilettantisch - das würde mir nicht noch einmal passieren. Ich schob das Geld in den Schlitz und sah zu meiner Rechten jetzt den Priester mit einer kleinen flachen Metallschale voller Prasad496 stehen. Ich hielt ihm die gewölbte Hand hin und aß beim Hinausgehen die kleine zuckrige Peda. Mir lief schmerzhaft der Speichel im Mund zusammen, ich war ausgeruht und fand das Leben ausgesprochen süß.

Draußen waren jetzt keine Massen von Menschen mehr unterwegs, zwischen denen sich Mörder hätten verbergen können, und während ich mit schnellen, laut knirschenden Schritten die Straße entlangging, fühlte ich mich sicher. Die Laternen ließen kein Fleckchen unbeleuchtet, und ich war vollkommen allein. Ich hielt eine Autorikscha an, und nach fünf Minuten und dreimaligem Abbiegen stand ich am Bahnhof. Ich zahlte und war schon fast am Fahrkartenschalter, als ein Mann, der an einem Eisenzaun lehnte, fragend das Kinn hob: Was willst du? Ich schaute ein bißchen zu lange hin, so daß der Mann plötzlich neben mir herlief und in der fröhlich-einschmeichelnden Art der Schlepper auf mich einflüsterte: »Was suchen Sie, Yaar? Ein bißchen Spaß, wie wär's? Charas109, Calmpose, ich habe alles. Wollen Sie eine Frau? Schauen Sie mal da rüber, in das Auto. Bedienen Sie sich.« Auf der anderen Seite, direkt vor einem Geschäft mit geschlossenen Läden, parkte schräg zur Straße ein Auto. Der Fahrer stand daran angelehnt, ich sah die Glut seines Zigarillos und wußte, daß er mich direkt ansah. Der Zigarillo bewegte sich, der Fahrer machte eine Handbewegung vor der Heckscheibe, klopfte dagegen, woraufhin sich im Wageninnern eine Gestalt regte und eine Frau den Kopf durchs linke Fenster ins Licht streckte. Ich ahnte ihr schwarzglänzendes Haar, das kräftige Gelb ihres Saris, und das reichte mir schon, ich kannte diese dick geschminkten Randis, die ihre Chut auf der Rückbank eines Autos am Bahnhof verkauften. Ich lachte und bezahlte meine Fahrkarte.

Aber der Zuhälter wich nicht von meiner Seite. »Okay, Yaar«, flüsterte er kumpelhaft auf dem Weg zum Bahnsteig. »Ich habe Sie falsch eingeschätzt, Saab. Sie wollen etwas Besseres. Sie sind ein Mann mit Geschmack, mein Fehler. Sie sehen einfach ein bißchen ... Aber ich habe das richtige Mädchen für Sie, Yaar.« Er küßte seine Fingerspitzen. »Ihr Mann hat früher in einer Bank gearbeitet, war ein großer Saab, und dann hatte er einen Unfall, der arme Kerl. Wurde zum Vollkrüppel. Kann nicht arbeiten. Jetzt muß sie für beide sorgen, was bleibt ihr anderes übrig? Sehr exklusiv. Nur für Gentlemen, in ihrer eigenen Wohnung. Ich kann Sie direkt hinbringen. Erstklassige Ware, Yaar. War auf der Klosterschule.«

Ich blieb stehen. »Ist sie hellhäutig?«

»Wie Hema Malini268, Bidu. Wie frische Sahne. Wenn Sie ihre Haut berühren, wird es Ihnen Schauer über den Rücken jagen.«

»Wieviel?«

»Fünftausend.«

»Ich bin kein Tourist. Tausend.«

»Zweitausend. Sagen Sie nichts. Wenn Sie das Mädchen sehen und finden, daß sie das Geld nicht wert ist, geben Sie mir, was Sie wollen, und ich verschwinde ohne ein weiteres Wort. Glauben Sie mir, wenn Sie sie vor der Bank ihres Mannes sehen würden, würden Sie es nicht für möglich halten, daß sie so was tun muß, die Arme. Wie eine scharfe Memsaab415 sieht sie aus.«

»Wie heißen Sie?«

»Raja.«

Ich steckte die Fahrkarte ein. »Na gut, Raja«, sagte ich. »Aber verarschen Sie mich nicht.«

Raja kicherte. »Nein, nein, Saab. Bitte, kommen Sie mit.«

Hellhäutig war sie, keine Frage. Sie öffnete die Tür, und ich sah selbst im trüben Licht des Aufzugs, daß sie hellhäutig war, nicht ganz so wie Hema Malini, aber doch wie Weizen am Nachmittag. Sie saß auf einem braunen Sofa, während Raja seine zweitausend nachzählte und sich dann verabschiedete. Sie trug einen mattgrünen Sari mit goldenen Borten und runde goldene Ohrringe und saß sittsam und reserviert da, die Schultern hochgezogen, die Hände im Schoß.

»Wie heißt du?« fragte ich.

»Seema.« Sie wich meinem Blick aus.

»Seema.« Ich trat an der Tür von einem Fuß auf den anderen und wußte nicht recht, was ich als nächstes tun sollte. Ich hatte durchaus schon meine Erfahrungen gesammelt, aber in einer anderen Art von Etablissement, und der glänzende Glastisch mit der Vase voller Blumen, das nur aus wild zusammengepinselten Farben bestehende Gemälde an der Wand, der kurze braune Teppich - das alles blockierte mich regelrecht. Sie erhob sich, und ich folgte ihr mannhaft, nahm alles in mich auf, ihre gelbe Bluse, die über der Mulde ihrer Wirbelsäule spannte, das weiße Telefon in einer Wandnische im Flur. Im Schlafzimmer knipste sie eine Lampe an, und als sie die Decke zurückschlug, verkrampfte ich: Diese Geste war viel zu professionell.

»Augenblick«, sagte ich und ging zurück in den Flur. Das Bad war sauber, und ich pinkelte mit einiger Befriedigung ausgiebig in die Toilette westlicher Art. Aber dann sah ich, daß neben dem Wasserhahn keine Seife lag, daß kein Eimer dastand. Ich machte meinen Reißverschluß zu. Die Schränke in der Küche waren leer, kein Teller, kein Topf, nicht mal Gas oder einen Herd gab es, nur zwei Gläser, die zum Trocknen umgedreht neben dem Spülbecken standen. Jetzt war ich mir sicher, daß man mich übers Ohr gehauen hatte. In dieser Wohnung lebte niemand, kein Bank-saab, keine brave Ehefrau, es gab keinen Krüppel und keine Memsaab, nur eine aufgemotzte, gepuderte Nutte. Sie lag jetzt auf dem Bett, nackt bis auf die Ohrringe, die Arme über ihren kleinen Brüsten verschränkt, die Füße gekreuzt, und ihr Bauch hob und senkte sich unter dem schmalen Schatten ihrer Hüftknochen. Ich stellte mich vor sie, atmete durch den Mund.

»Sprich Englisch«, sagte ich.

»Wie?« In ihren Augen lag echtes Erstaunen, was mich nur noch wütender machte.

»Du hast richtig gehört. Sprich Englisch.«

Sie hatte ein spitzes Näschen und ein kleines fliehendes Kinn, und nach einem weiteren Moment der Verwirrung lachte sie, doch nur verhalten und mit bitterer Belustigung. »Ich soll Englisch sprechen?« fragte sie. Dann sprach sie Englisch, und die Wörter rasselten mir im Kopf herum, und ich wußte, daß das wirklich Englisch war, merkte es an den knallenden Konsonanten. »Bas061?« fragte sie.

»Nein.« Ich war hart, meine Spitze zuckte. »Nicht aufhören.« Sie sprach Englisch, während ich mich auszog. Ich wandte mich ab, um aus der Hose zu schlüpfen und den Revolver zu verstecken. Als ich mich wieder umdrehte, starrte sie an die Decke und sprach Englisch. Ich schob ihre Beine auseinander. »Nicht aufhören.« Ich ritt sie und stieß heftig in sie hinein, und sie drehte das Gesicht zur Seite und redete. Ich bäumte mich auf, sah ihre im Lampenschein sandfarbene Haut und hörte ihre Worte. Ich verstand nichts, aber der Klang wurde mir im Kopf zur zornigen Erregung. Dann spürte ich ein fernes Überfließen, weit unten, und wurde ruhig.

Ich war sehr müde, Sardar-ji. Ich fiel förmlich in meine Schritte, auf dem Weg zu meinem Gold. Daß ich beim Gehen fast vornüberkippte, hielt mich in Bewegung, doch mit jedem erschöpften In-die-Knie-Sacken wuchs meine Angst. Ich war jetzt ganz in der Nähe des Goldes, erkannte jede Kreuzung wieder, die Umrisse bestimmter Gebäude, schattiger Bäume. Der Mond war nicht zu sehen, trotzdem war die Nacht hell, und auf dem unbebauten, offenen Gelände machte ich deutlich das schwarze Band der Straße aus und das Weiß eines Meilensteins. Das Gold war fort, gestohlen, meine Brust wie ausgehöhlt. Ich war mir sicher: Es war fort, war aus meinem Leben verschwunden. Ich konnte eigentlich auch gleich aufgeben. Und es würde so leicht sein, ein Fleckchen Gras neben der Straße zu finden, mich niedersinken zu lassen und zu schlafen. Schluß damit. Geh weiter, Ganesh Gaitonde. Du hast heute jede Partie gewonnen. Gewinn auch dieses Spiel. Du weißt genau, wo du bist.

Den richtigen Abschnitt des Stacheldrahtzauns zu finden war kein Problem. Ich zählte die Pfosten, sah mich um und rollte dann unter dem Zaun hindurch. Zwischen den Bäumen herrschte unheilvolle Schwärze, und ich verlor die Orientierung. Eine Hand ausgestreckt, schob ich mich raschelnd vorwärts, war mir der Entfernungen nicht mehr sicher, doch ich fühlte und tastete und wandte mich im richtigen Moment nach rechts. Noch ein Schritt, und da war der Baum. Ich fuhr mit der Hand den Stamm hinab, der Boden darunter war flach. Ich ging um den Stamm herum, tastete mit beiden Händen. Nach zwei Umrundungen, vielleicht auch drei, lehnte ich mich mit der Schulter gegen den Baum und stieß einen langen Klagelaut aus. Ganesh Gaitonde, Ganesh Gaitonde. Ich krabbelte zum nächsten Baum, hielt inne, als ich den Stamm mit dem Kopf streifte. Rundherum, rundherum. Und dann um den nächsten. Mein Jammern hatte sich zu einem hohen Kreischen gesteigert, im Dunkeln unter dem Blätterdach. Plötzlich hielt ich inne, meine Hände lagen auf einer Wölbung. Ich tastete sie sanft ab, fühlte dann nach dem Baumstamm, hinauf und wieder hinunter. Ich stöhnte auf und krallte die Finger in den Buckel. Ich begann wie wild zu wühlen, freute mich über die Schmerzen in meinen Händen. Zuerst kam der Stoff zum Vorschein, dann die himmlische, vertraute Form eines Quaders. Ich erschauderte, faßte nach, es war alles da. Alles, unversehrt und mein. Die Unterarme in der Erde, ließ ich den Kopf sinken, sog den Geruch des Grases, meiner Achseln, meines Körpers ein und wußte, die Welt gehört mir. Während es zu dämmern begann, legte ich mich um den kleinen Hügel und schlief mit dem Revolver unter der Brust ein.