Ganesh Gaitonde
beschafft sich Land

Ich entschied mich für das Land zwischen der N. C. Road und dem Hügel. Sie kennen doch Gopalmath, das Basti, das sich von der N. C. Road aus den Hügeln hinaufzieht und über die sechs Kilometer von Sindh Chowk bis zur G. T. Junction erstreckt? Damals war das unbebautes Ödland, nur von Unkraut und Gebüsch bewachsen - kommunales Land. Es gehörte der Stadt, also gehörte es niemandem. Ich griff zu.

Sie wissen, wie so was läuft, Sartaj. Es ist ganz einfach. Man schmiert drei Chutiyas in der Stadtverwaltung, spickt sie ordentlich, und dann bringt man den örtlichen Dada141 um, der meint, ihm stünde ein Anteil zu, als wäre es sein verdammtes Geburtsrecht. Das ist alles. Dann gehört einem das Land. Es gehörte mir.

Ich war mein Gold losgeworden und hatte Geld. Paritosh Shah, dieser fette Gujarati, sagte, ich solle alles in Geschäfte stecken: hier etwas kaufen, da etwas verkaufen. »Ich kann dir dein Geld innerhalb von einem Jahr verdoppeln«, sagte er, »verdreifachen.« Er wußte genau, wieviel ich besaß, denn schließlich hatte er mir mein ganzes Gold abgehandelt.

Ich hörte ihm zu, während er elegant auf seiner Gadda ausgestreckt lag, ein Kissen unter der Schulter und eins unter den Knien. Und ich zog sein Angebot in Betracht, wußte jedoch intuitiv, wenn man kein Land besitzt, ist man ein Nichts. Man kann für die Liebe sterben, für die Freundschaft, fürs Geld, aber letzten Endes ist Land auf dieser Welt das einzig Wahre. Auf Land kann man sich verlassen. Ich sagte: »Ich vertraue dir, Paritosh-bhai - trotzdem, laß mich meinen eigenen Weg gehen.« Er hielt mich für einen Dummkopf, aber ich hatte das Land schon gesehen, war es abgeschritten - ein ideales Terrain, in der Nähe der Hauptstraße und nicht weit vom Bahnhof entfernt. Also ging Geld an die Stadtverwaltung, an einen Buchhalter und zwei Beamte, und kurz darauf konnte ich meinen eigenen Grund und Boden bebauen.

Doch dann mußten wir uns mit Anil Kurup herumschlagen. Wir hatten das Land roden lassen, mein Bauunternehmer ließ seine Männer die Gruben für die Fundamente der Kholis ausheben, und wir erwarteten eine Ladung Zement, da kaperten Anil Kurups Jungs unseren Laster und fuhren ihn ins rund anderthalb Kilometer entfernte Gopalmath Village. Den Zement bekamen wir nie zu sehen, statt dessen ließen sie uns einen Zettel mit einer Telefonnummer zukommen.

»Du bist nicht mehr als ein Bachcha aus der Provinz«, schrie mir Anil Kurup ins Ohr, als ich anrief. »Du meinst wohl, du könntest einfach so in mein Dorf kommen und mir ins Gesicht spucken. Maderchod - hier wird keine Henne verkauft, ohne daß ich davon erfahre! Ich kipp dir eine Ladung Zement in deinen Gaand und schick dich zurück in die Gosse, wo du hergekommen bist.«

Ich blieb ruhig und bat ihn um einen Tag Bedenkzeit. Er schimpfte noch weiter vor sich hin und forderte mich schließlich auf, ihn am nächsten Tag wieder anzurufen. Er hatte natürlich recht. Er war in Gopalmath aufgewachsen, und es war eindeutig sein Gebiet, er regierte es wie ein König. Viel gab es nicht in seinem Raj512, nur ein paar kleine Läden und ein oder zwei Tankstellen, aber sie unterstanden alle ihm.

Vier Tage später stattete ich ihm in Gopalmath einen Besuch ab. Ich ging in Begleitung von Chhota117 Badriya hin. Sie erinnern sich doch an diesen Muskelmann Badriya, Paritosh Shahs Leibwächter? Chhota Badriya war sein kleiner Bruder. Eigentlich hieß er Badrul-Ahmed, und sein älterer Bruder hieß Badruddin, irgendein Sufi-Pir491 604 hatte ihrem Vater nämlich gesagt, er solle all seinen Söhnen Namen geben, die mit »Ba« anfangen, damit sie Glück und Erfolg im Leben hätten. Deshalb also diese ausgefallenen langen Namen, für uns hießen sie einfach Badriya und Chhota Badriya. Badriya und ich begegneten uns jedesmal, wenn ich Paritosh Shah besuchte, und mochten uns, und als ich mein Projekt begann, bat er mich, seinen jüngeren Bruder mitzunehmen, damit etwas aus ihm würde. Chhota war noch größer, größer als sein großer Bruder, ein Berg von einem Mann. Er war ein guter Junge, wohlerzogen und gehorsam, und ich war froh, ihn bei mir zu haben. Ich sagte zu seinem Bruder: »Wenn du mich bittest, tue ich es gern.«

Eines Nachmittags gingen Chhota Badriya und ich zu Fuß nach Gopalmath, damals eine traurige kleine Müllhalde mit einer einzigen, unbefestigten Straße, hie und da einer Handvoll armseliger, von Palmen und Feldern umgebener Hütten und ein paar Läden an der Hauptstraße. Anil Kurup erwartete uns im Hinterzimmer einer Dhaba162, wo es das einzige Telefon in Gopalmath gab.

Seine Jungs filzten uns und nahmen uns die Revolver ab -sie waren tief beeindruckt, ich glaube, sie hatten nicht damit gerechnet, daß wir Waffen bei uns trugen. Sie waren zu fünft. Sie führten mich an den riesigen Pfannen mit in heißem Fett garenden Puris und Bhajiyas vorbei in einen abgetrennten Raum, wo Anil Kurup an einem Tisch saß und Bier trank. Um zwei Uhr nachmittags hatte dieser häßliche Kerl bereits rote Augen und rülpste. Er hatte wulstige Lippen, und die Haare fielen ihm in die Stirn; er trug weiße Chappals. Ich legte zwanzigtausend Rupien, in eine Zeitung gewickelt, vor ihn auf den Tisch.

»Zuwenig«, sagte er.

»Bhai«, erwiderte ich, »ich bringe Ihnen den Rest bald, nächste Woche, versprochen. Und ich hätte auch das hier schon früher gebracht, wenn ich es gewußt hätte.«

»Was bist du bloß für ein hirnloser Bhenchod«, sagte er. »Du fängst einfach irgendwo an zu graben, ohne dich vorher über die Gegend kundig zu machen?«

»Tut mir leid.« Ich zuckte mit den Achseln, klein und hilflos.

Da lachte er und spuckte Bier auf den Tisch. »Setzt euch«, sagte er. »Beide. Trinkt ein Bier.«

Ich sagte: »Nur ein bißchen Chai, Anil-bhai.«

»Wenn ich euch Bier anbiete, trinkt ihr Bier.«

»Ja, Anil-bhai.« Er lachte wieder, und die drei Jungs, die im Raum waren, lachten ebenfalls. Sie brachten uns Bier, jedem eine Flasche und ein Glas, und wir tranken.

»Woher kommst du, Bachcha?« wollte er wissen.

»Nashik

»Man muß in Bombay aufgewachsen sein, um zu verstehen, wie die Sache läuft«, sagte er. »Man kann nicht einfach herkommen und sich wie ein Chutiya aufführen, sonst liegt man ziemlich schnell mit einer Kugel im Kopf auf der Straße.«

»Ja, Anil-bhai«, sagte ich. »Er hat vollkommen recht, Badriya«, fügte ich hinzu. »Wir müssen auf Anil-bhai hören.«

Anil Kurup blies sich auf wie eine onkelhafte Kröte. »Are, bringt uns ein paar Bhajiyas!« sagte er. »Und ein paar Eier dazu.«

Zwei seiner Jungs nahmen Haltung an und eilten dann hinaus. Es blieb also noch einer, der an der Wand zu meiner Rechten lehnte.

»Bhai, ich würde Sie gern in einer Sache um Rat fragen«, sagte ich.

»Nur zu, nur zu.«

»Es geht um die Stadtverwaltung und das Wasser.« Ich kratzte mich an der Nase.

In diesem Moment stieß Chhota Badriya sein Bier vom Tisch. »Maderchod«, sagte er und bückte sich. Blitzartig schoß er wieder hoch und beugte sich vor, sein Arm sauste schneller, als man sehen konnte, über den Tisch, und im nächsten Moment ragte Anil Kurup, der auf seinem Stuhl schwankte, ein Holzgriff aus dem rechten Auge.

Ich hatte eine Flasche in der Hand, die ich jetzt dem Mann zu meiner Rechten ins Gesicht schlug. Er schrie auf und suchte Halt, ich ging an ihm vorbei, knallte die Tür zu, schob den Riegel vor und lehnte mich mit der Schulter gegen das Holz. Ich wußte, daß Anil Kurups Jungs keine Schußwaffen hatten und da unsere Ghodas nicht geladen waren, mußten wir nicht befürchten, daß sie eine Kugel durch die Tür jagen würden, gegen die sie jetzt schlugen und polterten.

»Halt!« schrie ich. »Halt! Prashant. Vinod. Amar. Er ist tot. Anil Kurup ist tot. Und meine Jungs sind draußen, ihr könnt uns zwar umbringen, aber dann werden sie euch allesamt erledigen. Ich kenne eure Namen, und meine Jungs wissen, wer ihr seid. Uns könnt ihr kriegen, aber dann werden sie euch fertigmachen. Amar, denk einen Augenblick darüber nach. Er ist tot.«

Anil Kurup war tatsächlich tot; Blut sickerte ihm über die Wange. Nachdem seine Jungs unsere Pistolen gefunden hatten, hatten sie nicht weitergesucht, und so war Chhota Badriyas Eispickel, ein langer Dorn mit quersitzendem Griff, den er mit weißem Heftpflaster an der Innenseite seines linken Beins unter der Hose befestigt hatte, unentdeckt geblieben. Er war einfach zu stark, dieser Chhota Badriya, er hatte Anil Kurup das Ding voll ins Auge gerammt, mit geballter Kraft. Er war unglaublich schnell, sie hätten gar nichts dagegen tun können. Erst jetzt, da Anil Kurup tot war, hätten sie versuchen können, uns zu töten. Aber ich brachte sie davon ab. Ich sagte ihnen, daß ich sie reich machen würde, daß Anil Kurup ein Scheißkerl gewesen sei, der sie seit Jahren ausgenommen und betrogen habe, und daß es Wahnsinn wäre, jetzt, wo er ohnehin tot sei, für ihn zu sterben. Genau das nämlich werde passieren, wenn sie uns etwas antäten, meine Jungs seien darauf eingeschworen, mich zu rächen. Sie sollten nur mal rausschauen - und wirklich, da standen sie, sechs meiner Jungs in einer Reihe auf der Straße.

Wir kamen lebendig dort heraus, Chhota Badriya und ich, mit unseren Pistolen unterm Hemd. »Was für eine Rede Sie denen gehalten haben, Ganesh-bhai«, sagte Chhota Badriya, als wir Gopalmath hinter uns gelassen hatten. Und dann mußte er lachen, er blieb mitten auf dem Weg stehen, senkte den Kopf, stützte die Hände auf die Knie und lachte. Ich klopfte ihm grinsend auf den Rücken. Wir hatten es geschafft. Wir hatten es tatsächlich geschafft, Sardar-ji. Fragen Sie irgend jemanden auf der Straße nach der Geschichte von Ganesh Gaitonde, sie wird immer in dieser Dhaba in Gopalmath beginnen. Es ist schon so oft erzählt worden, wie ich Anil Kurup umgebracht habe, daß man es nicht mehr für wahr hält, das weiß ich wohl. In fünf verschiedenen Filmen haben sie die Story verbraten, und im letzten habe ich - also, die Figur, die auf mir basiert - es mit einer kleinen Pistole getan, die an meinem Fußgelenk befestigt war. In Wirklichkeit jedoch hat es sich so abgespielt, wie ich es beschrieben habe.

Die Neuigkeit von meinem Sieg über Anil Kurup breitete sich aus wie ein Lauffeuer, und bald kamen die Leute zu mir, damit ich Streitigkeiten schlichtete, ihnen Arbeit verschaffte, sie beschützte, ihnen im Umgang mit Polizei und Stadtverwaltung half. Mein Kampf gegen Anil Kurup war kurz und entscheidend gewesen, und erst im nachhinein wurde mir klar, daß er nicht nur wegen meiner Gebietsansprüche, sondern auch zu meiner Legitimation notwendig gewesen war. Ich war jetzt als Ganesh Gaitonde von Gopalmath anerkannt, und niemand mehr würde mein Recht, in der Stadt zu bleiben, anfechten.

Ich hatte gesiegt, und zwar deshalb, weil ich alles über Anil Kurup wußte, als ich zu ihm ging. Ich kannte seine Geschichte, seine Stärken, seine Waffen, kannte die Namen seiner Gefolgsleute und überblickte, wer wie lange schon bei ihm war. Ich hatte mir die Zeit genommen, mich über ihn zu informieren, ihn zu durchleuchten, und er - der arrogante Gaandu - wußte nichts über mich. Aber warum war mir Chhota Badriya in den Rachen des Todes gefolgt? Er kannte mich kaum, der Irrsinn und das Risiko meines Plans hingegen müssen ihm sehr wohl bewußt gewesen sein, und trotzdem kam er mit. Und ich sage Ihnen: Er kam mit, weil ich es ihm befahl. Die meisten Männer wollen geführt werden, und es gibt nur sehr wenige, die führen können. Ich hatte ein Problem, ich hatte Handlungsoptionen, und ich traf eine Entscheidung. Weil ich es so beschlossen hatte, folgten mir Chhota Badriya und die anderen. Wer nicht entscheiden kann, ist nur formbare Masse in den Händen anderer.

Ich machte meine Jungs zu meiner diamantharten Waffe, und ich baute das Basti Gopalmath. Ich geizte weder bei den Materialien noch bei den Bauarbeiten, wir errichteten stabile, geräumige Kholis aus Ziegelsteinen und Zement, ordentlich verputzt. Den Häusern war anzusehen, daß sie Bestand haben würden, so wie man den Straßen ansah, daß sie auch während der heftigsten Monsunregen nicht überschwemmt werden würden. Es sprach sich herum: Ganesh Gaitonde versetzt seinen Zement nicht mit Sand, bei ihm bekommt man, was man bezahlt hat.

Gopalmath füllte sich schnell, die Leute standen Schlange für die Kholis, noch ehe sie fertig gebaut waren, ehe wir das Land gerodet, ja ehe wir die Häuserreihen auch nur erdacht hatten. Das Basti breitete sich entlang der Straße aus, zog sich den Hügel hoch, schien mit jedem Tag zu wachsen. Gleich von Anfang an gab es dort Dalits145 und OBCs, Marathen und Tamilen, Brahmanen und Muslime. Meist fanden sich diese Gemeinschaften straßenweise zusammen. Gleich und gleich gesellt sich gern, und selbst inmitten der Abermillionen dieser Stadt, in diesem Dschungel, in dem ein Mann seinen Namen verlieren und zu etwas anderem werden kann, suchen noch die Niedrigsten der Niedrigen ihresgleichen und leben gemeinsam in stolzem Elend. Ich sah das und fand es seltsam, daß nicht ein Mann unter Tausenden den Mut hat, allein zu sein. Aber es war gut, sie scharten sich zusammen, und aus ihrer Mitte rekrutierte ich die Jungs für meine Company. Als Gaitonde-Company, oder auch G-Company, machten wir uns schnell einen Namen. Noch nicht in der Presse, doch die Basti-Bewohner im Norden und Osten Bombays kannten uns, und die Polizei und die anderen Companys ebenso.

Mütter suchten mich auf. »Eine Stelle auf dem Postamt für meinen Jungen, Ganesh-bhai«, sagte eine. »Bringen Sie ihn irgendwo unter, Ganesh-bhai«, sagte eine andere. »Sie wissen am besten, wo.« Sie wollten Arbeit und Gerechtigkeit und meinen Segen. Ich gab ihnen das alles und dazu Wasser und Strom, den wir von den Leitungen an der Hauptstraße abzweigten. Ich lebte in einem Haus am Fuß des Hügels von Gopalmath, mit zwei Schlafzimmern und einem großen Raum in der Mitte, und jeden Morgen sammelte sich draußen auf der Treppe eine Schar von Suchenden, Bittstellern, Bewerbern und Verehrern. Sie kamen, um dies und das zu erbitten oder nur den Kopf zu senken. »Wir wollten bloß deinen Darshan151, Ganesh-bhai«, sagten sie, und den bekamen sie auch, sie schauten, falteten die Hände und zogen sich dann mit einem Vorrat an Wohlwollen für unausbleibliche künftige Katastrophen zurück. Ich wiederum erhielt ihren Segen und Geld, Bargeld von den Ladeninhabern und Händlern, den Tankstellenbesitzern und Dhaba-Besitzern der Gegend, damit wir sie und ihre Etablissements beschützten. Geschäftsleute, die in Streitereien und Zwistigkeiten verwickelt waren, kamen zu mir, und ich hörte mir alle Seiten an und fällte ein Urteil, eine faire und schnelle Entscheidung, die von meinen Jungs vollstreckt wurde, wenn nötig mit Gewalt; für derlei Schnellverfahren, durch die sich die Disputanten endlose und unsinnige Gerichtsprozesse ersparten, zahlten sie mir einen bestimmten Prozentsatz des Streitwerts. Geld kam rein und ging raus. Binnen acht Monaten hatte ich siebenunddreißig Angestellte - Raufbolde zum Köpfeeinschlagen, aber auch Jungs, die Botengänge erledigten, die sich um die Polizei-vaalas, die Stadtverwaltungs-vaalas und die Elektrizitäts-vaalas kümmerten. Intuitiv wußte ich - das hatte mir Paritosh Shah nie beibringen müssen -, daß man Geld ausgeben muß, um welches zu verdienen. Ich hatte gute Beziehungen zu dem Inspektor von der Wache an der G. T. Junction, der für unseren Bezirk zuständig war, Samant hieß er, wir trafen uns Woche für Woche mit seinen Unterinspektoren und steckten ihnen Umschläge zu. Tausende, aber es war nur Geld. Und was ich großzügig ausgab, kam vervielfacht zurück.

In jenem Jahr feierten wir Diwali177 mit elektrischen Lichterketten entlang der größeren Straßen und einem großen Podest auf dem zentralen Chowk, mit Bhajan-Gesang074 und Mithai422, und nach Einbruch der Dunkelheit stand ich am Tor meines Hauses und verteilte körbeweise »Atombomben«, Raketen und Wunderkerzen an die Kinder des Basti. Am Himmel über Gopalmath gingen silberne und goldene Funkenregen nieder, und die Detonationen verkündeten die Rückkehr des Guten und den Sieg der Tugend über den Tod. Flackernde Lichtpünktchen markierten die Umrisse meines Hauses, und obwohl ich im Dunkeln die Wände nicht sehen konnte, zeigten mir diese Flämmchen von Hunderten von Diyas178, daß ich einen Ort hatte, wo ich hingehörte, meine eigene Welt, ein Zuhause.

Dann kam Paritosh Shah mit Kanta Bai und Bada Badriya vorbei, und als er mich draußen stehen sah, zog er mich ins Haus. »Laß uns Lakshmi361 willkommen heißen«, sagte er.

Wir schoben zwei Matratzen nebeneinander, setzten uns darauf und spielten Karten.

»Ich bin aber nicht besonders gut.«

Kanta Bai lachte. »Ganesh Gaitonde, du bist der waghalsigste Spieler, der mir jemals begegnet ist, und im Tin-patti636 willst du nicht gut sein? Das ist völlig unmöglich, ich werde es dir beibringen.« Sie saß im Schneidersitz, mit einem Kissen im Schoß, auf das sie die Ellenbogen stützte, während sie die Karten blitzschnell mischte. Sie machten ein schwirrendes Geräusch zwischen ihren Fingern. »Und du, rück was von dem guten Zeug raus, Paritosh-bhai«, sagte sie. Also mußten wir Eis besorgen lassen und schickten drei der Jungs zum Vyas Bazaar, wo sie den Besitzer von Parthiv-Haushaltswaren von seinem Abendessen wegholten, damit er ihnen den Laden aufschloß, denn Paritosh Shah wollte seinen Johnny Walker auf keinen Fall aus meinen Stahlbechern trinken. Er hielt die funkelnden neuen Gläser hoch, die meine Jungs gebracht hatten, und meinte, die seien gar nicht schlecht. Und als ich mein Glas in der Hand hielt, sein Gewicht spürte und mit dem Finger über die scharfen Kanten des eingeprägten Musters fuhr, mußte ich zugeben, daß sich das alles richtig anfühlte. Ich wußte jetzt, daß »das gute Zeug trinken« bedeutete, daß man es aus guten Gläsern trank. Paritosh Shah hob sein Glas ans Gesicht und schwenkte es grinsend.

»Hör mal, Yaar«, sagte er. »Hör dir das an.«

Ich hob mein Glas ans Ohr, schüttelte es sanft und lauschte der perfekten kleinen Melodie der Eiswürfel im Glas.

»Cheers«, sagte Paritosh Shah. Ich zögerte, es war ein englisches Wort, das ich zwar schon gehört, aber noch nie verwendet hatte. »Cheeeeers«, wiederholte Paritosh Shah.

»Cheers«, sagte ich. Kanta Bai lachte und teilte die Karten aus. Ich schlürfte meinen Johnny Walker und fand rundum Gefallen daran, an dem Geschmack, dem Eis an meinen Zähnen, der kalten glatten Fläche an meiner Unterlippe. »Cheers«, sagte ich noch einmal und begriff, daß man für Johnny Walker ein anderes Haus brauchte, ein ganz und gar neues Setting.

Wir spielten Karten. Ich verlor unablässig, die ganze Nacht. Die Scheine wanderten von meiner Seite zu ihrer, aber ich war glücklich. Ich wußte, daß das Geld zurückkommen würde, man muß Lakshmi fröhlich und ohne Angst ziehen lassen, dann kommt sie zurück und überschüttet einen mit Wohltaten, nimmt einen auf den Schoß und drückt einen an sich wie einen Sohn. Dieses Kommen und Gehen macht das Glück aus, das Lakshmi bringt. Also knallten wir die Karten hin, und das Geld verschwand, aber ich war zufrieden, denn es würde wiederkehren - multipliziert durch Paritosh Shahs Geschäfte und seine Kenntnis der ansässigen Händler, die ein Vermögen verdienten, in meinem Königreich aßen und tranken und mir einen Tribut entrichten mußten; von Kanta Bai mit ihrem Satrangi-Fusel und den Hunderten, die ihn tranken, und weiteren Tausenden, die ihn trinken würden, wenn ich ihr half; diese Diwali-Nacht war golden. Jemand hatte für Musik gesorgt - »jab tak hai jaan279 jaan-e-jahaan« dudelte es aus einem Kassettenrecorder -, von draußen drang das Geknall der Bomben und Kracher zu uns, und wir, wir spielten. Der Kreis der Spieler vergrößerte sich allmählich, Paritosh Shah erzählte Witze, bis sich Inspektor Samant zu uns gesellte und uns zeigte, wie man Paplu475 spielt. Kanta Bais Pallu glitt ihr von der Schulter, und sie brüllte vor Lachen über Chhota Badriya, der schüchtern das Gesicht abwandte angesichts ihrer üppigen Reize, unentwegt sausten die Karten nieder, und ich verlor und verlor.

Ich erwachte unter einem Laken, das auf der Matratze gelegen hatte. Offensichtlich hatte ich es nachts wegen des sirrenden Tischventilators, der auf die höchste Stufe gestellt war, über mich gezogen. Außer mir war niemand im Zimmer, das von Zigarettenstummeln, verschmierten Tellern und leeren Gläsern übersät war. Ich stand auf, und ein dumpfer Schmerz stieg mir vom Nacken in den Kopf. Vergeblich sah ich mich nach meinen Chappals um und ging dann barfuß nach draußen. Chhota Badriya lag direkt vor der Tür in seinem Erbrochenen, bei dessen Geruch es mir hochkam, also rannte ich zum Tor, beugte mich vor und würgte immer wieder, doch es kam fast nichts, und was kam, war scharf und bitter wie Gift. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, und die Straßen waren in beiden Richtungen vollkommen leer. Jeder x-beliebige hätte nach Gopalmath kommen, in mein Haus spazieren und mich im Schlaf umbringen können. Es wäre ganz einfach gewesen. Ich wandte mich um, ging wieder hinein, stieg die Treppe zum Dach hinauf. Oben setzte ich mich auf den Wassertank und wartete auf den Tagesanbruch. Ich hatte Durst, trank jedoch nicht. Ich wollte die Schmerzen und den Ekel in Erinnerung behalten.

Die Umrisse des von mir Erbauten traten allmählich aus der Dunkelheit hervor, gleichsam in langsamen Schüben. Der Zement, den wir verwendet hatten, war inzwischen bräunlich verfärbt und fleckig, und die Leute in den Kholis hatten ihrerseits Farbtupfer gesetzt: das Blau und Grün der in den Türen hängenden Kleider, das glänzende Plastik auf den Dächern, rote Parolen an den Wänden und bunte Frauen auf Plakaten. Diese dicht beieinanderstehenden Kholis ergaben ein Patchwork aus Rechtecken und Quadraten, von Stromleitungen überspannt, die überallhin Verbindungen knüpften. Das alles war mein.

Chhota Badriyas Kopf tauchte aus der Dachluke empor. »Bhai?«

»Hier.«

Er kam hoch, und ich sah, daß sein Haar naß zurückgekämmt war. Er hatte sich gewaschen und ein frisches Hemd angezogen. Er war ein guter Junge.

»Wir werden Alkohol verkaufen«, sagte ich, »aber in diesem Haus wird es nie wieder einen Tropfen Alkohol geben.«

»Bhai?«

»Keinen Satrangi, keinen Narangi, keinen Johnny Walker, nichts.«

»Ja, Bhai.«

»Und jetzt geh einen Tee kochen. Und versuch, uns etwas zu essen aufzutreiben.«

Die Geschäfte liefen gut. Ich ließ die Jungs Hafta256 von den Ladeninhabern und Geschäftsleuten rund um Gopalmath eintreiben, bis hin zur Gaikwad Road, der Grenze zwischen meinem Gebiet und dem der Cobra-Gang. Sie nannten sich wirklich Cobra-Gang, so wie in einem Film vor dreißig Jahren eine von Pran und Ranjit angeführte Truppe hätte heißen können. Sie kontrollierten das ganze Gebiet im Osten bis zu den Fischerdörfern am Malad Creek, schmuggelten also auch im großen Stil, und alles in allem waren sie mächtig, sehr mächtig, stärker als wir und ungeheuer finanzkräftig. Ihren Anführer, einen gewissen Rajesh Parab, hatte ich nie zu Gesicht bekommen, er war ein alter Profi, mittlerweile sicher fünfzig oder sechzig, der mit Haji Mastan hergekommen war. Seinen Jungs hingegen begegnete ich auf der Straße und gelegentlich auch in einer Bar. Ich ging nicht in Bars, um zu trinken - nach jener ersten Johnny-Walker-Nacht trank ich nie wieder -, sondern wegen der Frauen, der Kellnerinnen und der Tänzerinnen. Meine Jungs folgten mir darin, sie rührten keinen Alkohol an, nicht mal ein Bier. Ich hatte das nie von ihnen verlangt, hatte es nicht zur Regel erhoben, doch da ich nichts mehr anrührte, rührte auch Chhota Badriya nichts mehr an, und schließlich wurde es in unseren Reihen zur Konvention. Ich begrüßte das außerordentlich: Etwas gemeinsam aufzugeben brachte die Jungs einander näher, es machte sie zum Team. Im Sinn gehabt hatte ich das nicht, als ich mit dem Trinken aufhörte, doch ich erkannte klar, was es bewirkte, und förderte es. Ein Mann von der G-Company verliert nie den Kopf, erklärte ich ihnen, er bleibt kalt. Selbst im Schlaf bleibt er wach. Nehmt euch Frauen, sagte ich, das ist die richtige Unterhaltung für einen Mann, eine Zerstreuung, die eines harten Burschen würdig ist, nehmt fünf, nehmt zehn. Aber sich Gift in die Kehle zu kippen, sich dumm und langsam zu saufen, das ist ein idiotisches Spiel, etwas für Maderchods. Überlaßt das der Cobra-Gang.

Ich wußte, daß sich ein Krieg anbahnte. Er war unvermeidlich. Es hatte ein paar kleinere Zusammenstöße zwischen meinen und ihren Jungs gegeben, böse Blicke im Vorbeigehen, Gedrängel und Geschubse im Vorraum eines Kinos, geflüsterte Beleidigungen. Aber noch herrschte Frieden. Ich saß nachts auf dem Dach, wendete die Zukunft im Kopf hin und her, probierte Möglichkeiten durch. Welchen Weg ich auch einschlug, früher oder später würde er zu Krieg und Gemetzel führen. Sie waren stark, wir waren schwach. Den Frieden würden wir nur bewahren können, wenn sie stark und wir schwach blieben, wenn wir nahmen, was sie uns übrigließen, mit einer Verbeugung zur Seite traten, wenn sie des Weges kamen, und uns alles von ihnen gefallen ließen, heute, morgen und übermorgen. Diese Art von ungleichgewichtiger Ruhe wäre möglich gewesen - wenn da nicht ich gewesen wäre. Ich war nicht dafür geschaffen, schwach zu sein. Die G-Company war ich, und ich prüfte mich, schonungslos und ohne Illusionen, und erkannte, daß ich nicht würde schwach bleiben können. Ich war stärker als bei meiner Geburt, stärker als bei meiner Ankunft in dieser Stadt, und ich würde immer stärker werden. Es würde unweigerlich zum Krieg kommen. Akzeptieren wir also, dachte ich, daß ein Kampf bevorsteht, und bereiten wir uns darauf vor. Und wenn es soweit ist, werden wir ohne Haß und ohne Zorn kämpfen. Wir werden die Oberhand gewinnen.

»Trag mir Namen zusammen, Gesichter«, sagte ich zu Chhota Badriya. »Ich will wissen, wer sie sind.« Und so gaben wir Geld aus, leisteten kleinen Leuten kleine Hilfen, und es dauerte nicht lang, bis wir unser eigenes Netz von Khabaris hatten, einige davon im Herzen des Gebietes der Cobra-Gang. Es gab einen Paanvaala, der seinen Laden in Nabbargali439 hatte, gleich dort, wo Rajesh Parab in der obersten Etage eines dreistöckigen Hauses wohnte. Und dieser Paanvaala beobachtete nun den ganzen Tag das Kommen und Gehen der Cobra-Leute. Wenn er abends nach Hause ging, gesellte sich einer unserer Jungs für zehn Minuten zu ihm, und so erfuhren wir täglich, wer bei der Konkurrenz ein und aus ging. Wir bezahlten den Paanvaala, aber er tat es nicht nur wegen des Geldes. Sechs Jahre zuvor war Rajesh Parab eines späten Winterabends betrunken in einem nagelneuen Toyota angefahren gekommen, hatte Paan verlangt und dem Paanvaala dann erklärt, sein Maghai Paan liege einem wie ein Backstein auf der Zunge, er solle nach UP zurückgehen und sein Handwerk noch einmal neu erlernen. Am folgenden Nachmittag war Rajesh Parab wieder vorbeigekommen, nüchtern und lächelnd, und hatte sich wie immer sein Paan geben lassen. Mochte er auch vergessen haben, was er abends zuvor gesagt hatte, als er hoch auf seinem japanischen Roß saß, eine Beleidigung kann lang im Gedächtnis haftenbleiben, sich eingraben wie ein stecknadelgroßer Wurm, der immer dicker und länger wird, bis er sich um die Eingeweide gewickelt hat und drückt und drückt. Der Paanvaala jedenfalls erinnerte sich lebhaft und half uns, und andere taten es auch.

Die Nummer zwei waren bei Rajesh Parab vier Männer zugleich, die für verschiedene Bereiche seiner Geschäfte zuständig waren; ich kannte ihre Namen und wußte, wo sie wohnten. Ich führte ein schwarzes Tagebuch, in dem ich Seite um Seite mit Namen und Informationen zur jeweiligen Person und ihrer Geschichte füllte, ich erstellte Listen mit Rajesh Parabs Geschäftspartnern, seinen Finanziers, den mit ihm kooperierenden Bauunternehmern. Ich studierte dieses schwarze Tagebuch, bis meine Jungs sich ein Lächeln nicht mehr verkneifen konnten. »Bhai liest wieder seine Gita234«, flüsterten sie einander zu. Mir machte das nichts aus. Ich suchte nach einem Zugang, einer Schwachstelle, auf die ich meine Attacke richten konnte, um die Cobra-Gang aufzubrechen und stückweise zu vernichten. Es gab einen Namen auf der Liste, den ich nicht verstand, einen Namen, den ich in die Formation, die ich gegen mich aufgestellt sah, nicht einordnen konnte. Es handelte sich um einen gewissen Vilas Ranade, er war schon lange bei Rajesh Parab, niemand wußte genau, wie lang, doch dieser Mann tat nichts für Rajesh Parab. Er stand keinem Bereich vor, weder dem Schmuggel noch dem Hafta noch den Geschäften mit den Bauunternehmern, und manchmal sah man ihn wochen-, ja monatelang nicht in der Nähe von Rajesh Parabs Haus. Niemand wußte, wo er wohnte. Niemand konnte mir sagen, ob er verheiratet war, Kinder hatte, dem Glücksspiel zuneigte, nichts. Und doch marschierte er geradwegs in Rajesh Parabs Wohnung, wenn er denn auftauchte. Er mußte nicht Schlange stehen, und selbst wenn Rajesh Parab mitten im Gespräch mit einem MLA war, wurde er sofort vom Chef höchstpersönlich empfangen. Vilas Ranade war nie im Gefängnis gewesen und sein Name nur zweimal in der Presse erwähnt worden. Schließlich sagte ich zu Chhota Badriya: »Ich möchte wissen, wie dieser Mistkerl aussieht. Besorg mir ein Foto von ihm.«

Unterdessen galt es, Waffen zu besorgen. Inländischen Waffen wollte ich mein Leben nicht anvertrauen, und Glocks konnte ich mir natürlich nicht leisten. Aber wir versteckten 9-mm-Munition und chinesische Star-Pistolen, die damals zehn-, zwölftausend kosteten, in meinem Haus, einem Dutzend Kholis in Gopalmath und im Gopalmath-Tempel, der damals nur aus einem kleinen Schrein und einem Raum für den Pujari501 bestand. Sie dauerten Wochen und Monate, diese langsamen Vorbereitungen, und erforderten ein hohes Maß an strategischer Überlegung - wieviel Geld sollte in Waffen investiert werden, wieviel sollten die Jungs bekommen, wieviel sollte für Verbesserungen im Basti ausgegeben werden, damit die Leute zufrieden waren.

Eines Abends berichtete mir Chhota Badriya, wir hätten erfolgreich eine Ladung Munition erhandelt und entgegengenommen. Ich saß gerade mit vier meiner Jungs in einer Bar namens Mahal, unten an der Link Road in Jogeshwari, es waren Mohan Surve, Pradeep Pednekar, Krishna Gaikwad und Qariz Shaikh, das weiß ich noch genau. Chhota Badriya betrat die Bar und kam direkt auf uns zu, wir saßen an unserem üblichen Tisch. Er grinste, als er sich auf die Bank quetschte.

»Ein gutes Geschäft, Bhai«, sagte er. »Dreihundert Kanchas. Alle mit Garantie.« Das war unsere eigene Sprache, Kanchas und Gulels249 für Kugeln und Pistolen. Die Cobra-Gang und all die anderen Companys sagten Daane139 für Kugeln und Samaan für Pistolen, bei uns waren es Kanche und Gulels. Auch das förderte ich, es unterschied uns von den anderen, schweißte uns zusammen, um zu uns zu gehören, mußte man eine neue Sprache lernen, und dieses Lernen veränderte einen. Ich sah das bei den neuen Jungs, die hart daran arbeiteten, von reinen Taporis zu geachteten Bhais zu werden. Sie lernten unsere Sprache, lernten unseren Gang, sie gaben vor, etwas zu sein, und dann wurden sie es. Amerikanische Dollars nannten wir Choklete statt, wie alle anderen, Dalda; britische Pfund waren Lalten365 statt Pital492; Heroin und Brown Sugar waren Gulal248 statt Atta; die Polizei nannten wir Iftekar275 statt Nau-namber447 , eine schiefgegangene Aktion war ghanta220, nicht fachchad, und ein Mädchen, das so unglaublich reif und rund und knackig war, daß es schmerzte, sie anzusehen, war kein Chabbis103, sondern ein Chhuri118.

Wir bestellten Chhota Badriya ein Mango-Lassi, und Qariz Shaikh sprach weiter. Wir redeten gerade über den lang zurückliegenden Kampf zwischen Haji Mastan und Yusuf Patel; sie waren Partner gewesen, doch als Yusuf Patel durch seinen Schmuggel immer reicher wurde, hatte Haji Mastan beschlossen, ihn umzubringen, seinen Freund zu eliminieren. Eine rein geschäftliche Angelegenheit. Qariz Shaikh hatte diese Geschichten von seinem Vater gehört.

»Haji Mastan hat Karim Lala mit dem Mord an Yusuf Patel beauftragt«, sagte er. »Aber Yusuf Patel hat den Schuß überlebt.«

»Ich hab diesen Karim Lala mal gesehen«, sagte Mohan Surve. »In der Nähe der Grant Road Station. Vor zwei Jahren.«

»Ach ja?« fragte ich. »Wie hat er denn ausgesehen?«

»Ein Paschtune, ein Schrank von einem Kerl«, sagte Mohan Surve. »Mit riesigen Händen. Er hat sich zur Ruhe gesetzt. Wohnt irgendwo hier in der Gegend. Aber selbst in seinem jetzigen Alter hat er noch einen Gang wie ein Badshah045. Er muß ein wahrer Schrecken gewesen sein.«

Ich versuchte mir Karim Lala mit seinem großspurigverwegenen Gang vorzustellen, mich an den Akzent des Paschtunen, den Pran in Zanjeer spielt, zu erinnern. Ich hörte diese Geschichten von Mord und Totschlag nicht zum ersten Mal, aber jetzt lauschte ich ihnen mit verzweifelter Aufmerksamkeit. Ich suchte nach Lehren, nach grundsätzlichen Aussagen über Sieg und Verlust, nach den Strategien jener, die noch am Leben waren, die überdauert hatten, seit Haji Mastan und Yusuf Patel in der Mohammed Ali Road und in Dongri Jagd aufeinander gemacht hatten. Ich hörte Qariz Shaikh zu, aber ich war unruhig. Hier zu sitzen, zu reden und nachzudenken reichte nicht. Ich mußte nach Hause, zurück in die Gassen von Gopalmath. »Ich gehe«, sagte ich. »Jetzt schon, Bhai?«

Chhota Badriya trank mit hüpfendem Kehlkopf sein Lassi-Glas aus.

»Ich habe genug von diesem Laden«, sagte ich. »Gehen wir.«

Ich steuerte zügig die Tür an. Die Straße fiel zu den vorbeisausenden Lichtern der Schnellstraße hin ab. Linker Hand standen drei Rikschas in einer Reihe. Wir hatten unseren Wagen rechts von der Straßenlaterne geparkt. Es war ein uraltes, schrottreifes Ambassador-Taxi, das tagsüber Qariz Shaikhs Vater fuhr. Ich wollte ein besseres Auto, aber wir brauchten all unser Geld für Waffen. Irgendwann, dachte ich, bald. Ich trat auf die Straße, in den ovalen Lichtfleck. Als ich den Kopf umwandte, sah ich Chhota Badriya, wie er gerade ein Taschentuch einsteckte, dicht hinter ihm folgten die anderen. Beim Gehen verschoben sich ihre Schultern gegeneinander, und durch eine Lücke zwischen ihnen sah ich Mohan Surve unter der Neonreklame stehen, immer noch an der Tür, reglos, den Rücken zur Wand. Im selben Augenblick warf ich mich auf die Seite, krallte mich in die Dunkelheit und spürte dabei einen Schlag gegen die Schulter, der mich niederriß, doch ich fing mich, und im nächsten Moment rannte ich los, seitlich an dem Gebäude entlang, und wußte, daß ich angeschossen worden war, obwohl ich keine Schüsse gehört hatte. An der Ecke bremste ich mich mit einer Hand an der Mauer ab, blickte zurück, irgend etwas bewegte sich in dem Dunkel. Ich wirbelte um die Ecke, hielt die Pistole gezückt. Jetzt hörte ich Schüsse. Ich riskierte einen weiteren Blick und entdeckte Chhota Badriya. Er stand an der Ecke und schoß auf irgend etwas dahinter.

»Badriya«, rief ich. »Komm.«

Wir kletterten über eine Mauer, liefen über ein Grundstück, verließen es durch das Tor und rannten eine Straße hinunter. Nach zweimaligem Abbiegen mußte ich anhalten. Ich lehnte mich gegen einen Lieferwagen, dann beugte ich mich vor und erbrach spritzend auf die Straße. Mein linker Arm zitterte, krampfartige Schmerzen durchzuckten mich.

»Hast du was abgekriegt?« fragte ich Chhota Badriya.

»Keinen Kratzer«, sagte er. »Nichts. Alles in Ordnung.« Er lachte, ein dünnes Keckern.

»Gut«, sagte ich und drehte den Kopf zu ihm hoch. »Ich weiß, daß du es nicht bist.«

»Daß ich was nicht bin?«

»Daß du nicht derjenige bist, der uns verkauft hat. Denn wenn du es wärst, wärst du jetzt nicht hier. Und falls doch, könntest du mich jetzt umbringen.« Ich war mit dem Kopf nur wenige Zentimeter vom Lauf seiner Pistole, nur eine kurze Fingerbewegung vom Tod entfernt.

»Bhai«, sagte er. »Also ehrlich, Bhai.« Er war schockiert. In diesem Moment liebte ich ihn, liebte ihn wie einen Bruder.

»Wisch dir das Gesicht ab«, sagte ich. »Du hast da noch Mango-Lassi kleben. Und bring mich zum Arzt.«

Ich telefonierte von der Untersuchungsliege aus, während der Arzt meine Schulter nähte. Ich rief Paritosh Shah, Kanta Bai und ein paar von meinen Jungs an und sagte ihnen, sie sollten sich bereithalten. Paritosh Shah berichtete, die Polizei sei schon am Tatort vor der Bar, und drei meiner Jungs seien tot. Pradeep Pednekar, Krishna Gaikwad und Qariz Shaikh waren ums Leben gekommen. Pradeep Pednekar war durch die Hüfte geschossen worden und dann noch mal aus nächster Nähe in den Kopf. Von Mohan Surve war nichts bekannt. Und ich hatte überlebt.

Angeschossen zu werden ist eine eigenartige Erfahrung, mit nichts anderem vergleichbar. Als es passierte, war es mir zunächst nicht wirklich bewußt gewesen, ich hatte einfach nur das Weite gesucht, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, daß das, was ich in meiner Haut und meinen Muskeln spürte, eine Kugel sein könnte, die sich in mich hineinbohrte. Die Schmerzen kamen erst später, erst als ich die Möglichkeit des Lebens auf der Zunge schmeckte, saftig wie eine Mango. Jetzt waren meine Brust und meine Schulter kalt, als hätte jemand meine Knochen bis ins Mark gefrieren lassen und steche zugleich mit einer Eisspitze auf mich ein. Ich bat Chhota Badriya: »Bring mich nach Gopalmath.«

Drei der Jungs kamen uns mit dem Auto beim Arzt abholen. Als sie Chhota Badriya und mich zum Wagen führten, umringten sie mich zum Schutz. Wir waren einander einmal fremd gewesen, aber nun verband uns etwas. Wir waren angegriffen worden, wir hatten überlebt, und jetzt empfanden sie so etwas wie Liebe für mich. Sie fragten mich: Alles in Ordnung, Bhai? Sitzen Sie bequem? Wir rasten über die leere nächtliche Straße nach Gopalmath. Ich hatte diese Geschwindigkeit vorgegeben, und sie gehorchten mir. Ich war ein einzelner Mann, der in dieser Nacht beinahe umgekommen war, und sie wichen nicht von meiner Seite.

»Was machen wir jetzt?« fragte Chhota Badriya.

»Sucht Mohan Surve.«

Mein Haus in Gopalmath war bereits durchgecheckt, meine Jungs hatten es gleich zweimal auf den Kopf gestellt. Ich gelangte unbeschadet hinein, in mein Zimmer, auf meine Gadda. Für den Fall eines neuerlichen Angriffs postierte ich ein paar Jungs in den Randbezirken von Gopalmath, aber ich wußte, daß ich vorerst sicher war. Die bevölkerten Straßen waren mein Schutz, die Kinder, die durch die Gassen streiften, die Frauen, die in den Türen saßen. Sie kannten einander alle. An ihnen kam der Feind nicht vorbei, nicht ohne Verluste.

»Sie sollten etwas schlafen«, sagte Chhota Badriya. Es war schon Morgen.

»Ja.« Er hatte recht, es war sinnlos, mich völlig zu verausgaben. »Du auch. Aber sorg dafür, daß keine Lücke in der Wache entsteht.«

Ich lag im Bett und schlotterte unter dem Laken. Immer wieder schüttelte es mich, erfaßte mich ein Zittern, das im Magen begann und dann in Brust und Hals aufstieg. Meine linke Körperhälfte schmerzte unablässig. Aber es waren nicht die Schmerzen, die mich wach hielten. Es war die Wut auf mich selbst, auf meine Dummheit. Im Rückblick lag es auf der Hand: Man kann nicht jemanden beobachten, ohne die Welt, in der er lebt, zu verändern, und wenn der Beobachtete wachsam ist, spürt er die kleinen Verschiebungen, das schwache Echo der Fragen, die man stellt. Sie hatten mich ebenfalls beobachtet und dieselben Schlüsse gezogen wie ich, sie hatten mich durchschaut, mein Handeln vorhergesehen und hätten meinen Gaand fast gekriegt. Sie hatten Ort, Zeitpunkt und Methode gewählt und den Krieg erklärt. Wenn nicht dieser zufällige Blick zurück gewesen wäre, dieses Zusammenspiel von Zeit und Bewegung, diese Kugel, die in einem ganz bestimmten Winkel und keinem anderen durch die Luft sauste, wenn, wenn, wenn, dann hätte ich tot vor dem Mahal gelegen, wieder ein Nichts, ein Schwacher, der noch schwächer geworden war. Der Krieg hätte begonnen und wäre sofort vorbei gewesen. Meine Dummheit, meine Blindheit waren kaum zu ertragen.

Schließlich ließ ich von den Ereignissen des Abends ab, denn man kann die Vergangenheit doch nicht ändern, nur Abstand zu ihr gewinnen. Ich schnitt sie wie mit einem Skalpell aus mir heraus. Für dich ist die Zukunft da, sagte ich mir. Du bist ein Mann der Zukunft. Ich schmiedete Pläne. Und ich schlief.

Am nächsten Tag ging ich zum Gegenangriff über. Sie wußten, daß wir sie beobachteten, aber sie konnten nicht alles vor uns verbergen. Wir wußten zumindest ein paar Dinge, zum Beispiel, was für Geschäfte sie machten, wo sie hingingen. Am nächsten Tag brachten wir fünf von ihnen um. Einen der beiden Überfälle führte ich selbst an. Mir fiel es schwer, mich zu bewegen, ich konnte den rechten Arm nur mit Mühe heben, aber meine Jungs schauten auf mich, und dies war ein wichtiger Moment. Also setzte ich mich vorne ins Auto, neben Chhota Badriya, der am Steuer saß. Auf der Rückbank saßen drei weitere Jungs. Wir warteten vor Kamaths Hotel auf den Feind, denn wir wußten, daß die Cobra-Gang dort die Zahlungen eines Bauunternehmers entgegennahm. Es war sechs Uhr abends, und die Straßen waren voll heimkehrender Arbeiter, die lange Schatten warfen. Wenn ich die Augen schloß, sah ich noch die grelle Sonne, sie flimmerte in meinem Kopf.

»Da sind sie«, sagte Chhota Badriya.

Sie waren zu dritt, junge Kerle, mit weißem Hemd und gebügelten Hosen, wie anständige Geschäftsleute, die sich in der normalen Welt ihr Geld verdienen. Der mittlere hatte eine Plastiktüte in der Hand.

»Fahr hinter ihnen her«, sagte ich.

Wir folgten ihnen über den Parkplatz, bogen nach rechts, als sie die Treppe vor dem Hoteleingang erreichten, und rollten gemächlich weiter, sie gingen direkt vor uns vorbei. Ich ließ sie noch zwei Schritte machen, dann stieß ich mit der Linken die Autotür weit auf und griff nach der Pistole auf meinem Schoß. Wir stiegen alle auf einmal aus. Chhota Badriya feuerte den ersten Schuß ab, dann folgte ein anhaltendes ohrenbetäubendes Krachen. Sie kamen nicht einmal dazu, sich umzudrehen. Meine Hand war unsicher, und ich glaube nicht, daß ich auch nur mit einem einzigen Schuß traf. Aber ich erinnere mich, daß am Kopf eines der Männer jählings eine Blume aus Blut aufblühte, die er noch gesehen haben muß, bevor er tot zu Boden stürzte. Es ging alles leicht und schnell. Chhota Badriya stieg wieder ein.

»Nehmt das Geld«, sagte ich.

Zwei Minuten später befanden wir uns wohlbehalten auf der S.V Road. In der Einkaufstüte waren drei Lakhs und ein unangebrochenes Anti-Schuppen-Shampoo von Halo.

»Das ist für mich, Bhai«, sagte Chhota Badriya.

»Da«, sagte ich und warf ihm das Shampoo in den Schoß. »Hast du Schuppen?«

»Nein«, sagte er. »Und jetzt werde ich auch keine kriegen. Ich beuge vor. Verstehen Sie?«

Ich mußte lachen. »Du bist schon ein verrückter Chutiya.«

»Ich sollte mir die Haare wachsen lassen«, sagte er. »Ich glaube, mir stehen lange Haare.«

»Ja, ja, du wirst aussehen wie bhenchod Tarzan höchstpersönlich.« Es gelang mir, auf dem Rückweg nach Gopalmath ein Schläfchen zu halten, und als wir zu Hause ankamen, erfuhr ich, daß wir mit der anderen Mission - einem Hinterhalt für ein paar Cobra-Jungs, die sich oft in einem Carrom-Club099 in der Nähe des Bahnhofs von Andheri aufhielten - zwei weitere Schlagmänner ins Aus befördert hatten. Wir lagen also vorn, aber das Spiel war noch nicht vorbei, es hatte kaum begonnen. In der Serie, die folgte, behielten wir immer einen kleinen Vorsprung, allerdings nur einen hauchdünnen. Am Ende des Monats hatten sie zwölf Spieler verloren und wir elf. Für sie war das ein geringfügiger Verlust, wir hingegen waren fast auf die Hälfte geschrumpft, in Gopalmath fast von der Bildfläche verschwunden. Samant, der Inspektor, lachte mich mehr als einmal am Telefon aus. »Gaitonde«, sagte er. »Am besten hauen Sie ab und verstecken sich irgendwo, sonst machen sie Sie fertig.«

Am Morgen nach unserem dreizehnten Toten erschienen drei meiner Jungs nicht mehr. Ich wußte, daß sie nicht umgebracht worden waren, sondern angesichts eines praktisch verlorenen Spiels das Feld verlassen hatten. Mir leuchtete das durchaus ein. Wir waren Brüder, das schon, und durch die Kämpfe, die wir zusammen durchgestanden hatten, eng verbunden, aber wenn die Niederlage gewiß ist, wenn man sich versteckt, erschöpft und ohne Hoffnung, und der starke Feind kommt, um einem die Oberschenkel zu brechen, dann verlassen einen manche Männer eben einfach. Es war nur eine Niederlage unter vielen, und ich nahm sie hin und baute auf die, die bei mir geblieben waren. Wir machten weiter, hielten das Alltagsgeschäft in Gang, waren immer zu zweit oder zu dritt unterwegs, beruhigt durch das harte Metall, das wir unter dem Hemd trugen, unsere Waffen, die wir wie besessen reinigten, ölten und liebkosten. Einmal sah ich Sunny die Pistole an die Stirn heben und ein Gebet flüstern, bevor er zur Tür hinausging, ich mußte lachen und fragte ihn, ob er auch Diyas anzündete und jeden Morgen vor seiner Pistole eine Puja500 abhielt, woraufhin er schüchtern zurücklächelte. Es stimmte ja: Wir hatten den Segen der Götter dringend nötig, und wenn ich geglaubt hätte, daß es helfen würde, hätte ich mich ohne Zögern vor meiner mit Girlanden geschmückten Tokarev zu Boden geworfen.

Den richtigen Weg wies mir schließlich eine Frau. Ich ging mit Kanta Bai und den Jungs zum Siddhi Vinayak, und wir standen in der langen Schlange, die sich die Stufen des Tempels hinaufzog. Für mich war das alles purer Unsinn, all das Beten und Klagen, aber die Jungs waren gläubig und wollten hin, und da es gut für die Moral war, ging ich mit. Auch Kanta Bai war bei all ihrer Vulgarität und ihrem ungeheuren Zynismus eine große Ganesha-Anhängerin. Sie hielt eine kleine Schale in der Hand und hatte ihr Pallu sehr sittsam über den Kopf gezogen. Vor und hinter uns in der Schlange standen meine Jungs, Schulter an Schulter. Ich hatte den schweren süßen Tempelgeruch nach Rosenwasser und Räucherstäbchen in der Nase und fühlte mich sicher. Kanta Bai sagte: »Ich weiß, worum du bitten wirst.«

»Das ist ja wohl sonnenklar«, sagte ich. »Selbst er weiß es schon, falls es ihn gibt und er überhaupt etwas weiß.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung die Treppe hinauf, wo Ganesha saß, der angeblich alles wußte.

Sie schüttelte den Kopf. »Er kann dir nicht geben, was du nicht mit eigenen Händen entgegennimmst.«

»Wie meinst du das?«

Sie hatte den Kopf tief über die Silberschale geneigt und schob die kleinen Häufchen aus Reis, Sindur und Blütenblättern zurecht. In ihrem Nacken wölbten sich dicke Hautfalten. »Sie werden dich umbringen«, sagte sie. »Du wirst sterben.«

Wir gingen ruckartig drei Schritte vor, die Stufen hinauf. Auf der anderen Seite kam ein stetiger Strom von Gläubigen eilig die Treppe herunter, voller Hoffnung und frischen Mutes, nachdem sie dem Gott gegenübergestanden, ihn gesehen und sich ihm gezeigt, ohne Scham ihre Bedürftigkeit und ihren Schmerz offenbart hatten. »Warum?« fragte ich.

»Weil du kämpfst wie ein Dummkopf. Den Helden spielen, hier eine Schießerei und da eine Schießerei, so gewinnt man nicht. Die anderen werden gewinnen. Sie haben schon gewonnen. Du denkst, bei einem Krieg geht es darum, den anderen zu zeigen, daß du den größten Lauda hast.«

Meine Pistole steckte in meinem Hosenbund, drückte gegen meinen Bauch, und als Kanta Bai das sagte, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, hätte ich am liebsten die Waffe gezogen und sie abgeknallt. Ich hätte es leicht tun können, sah deutlich vor mir, wie ich es tat, Wut stieg mir in die Kehle, dann in den Kopf, ein heiseres Summen, und vernebelte mir die Sinne. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab und sagte: »Und was soll ich tun?«

»Kämpfe, um zu gewinnen. Es kommt nicht darauf an, wer mehr Männer tötet. Es ist egal, ob ganz Bombay denkt, daß du verlierst. Das einzige, worauf es ankommt, ist zu siegen.«

»Und wie?«

»Du mußt ihnen den Kopf abschneiden.«

»Rajesh Parab töten?«

»Ja. Wobei der ein alter Dummkopf ist. Er ist zwar der Boß, aber dem fällt nichts Neues mehr ein.«

»Dann ist es Vilas Ranade. Er ist der entscheidende Mann.«

»Ja«, sagte sie. »Wenn du Vilas Ranade erwischst, dann sind sie blind und taub.«

Vilas Ranade war der entscheidende Mann. Er war Rajesh Parabs General, er hatte uns dezimiert, getäuscht, war vor uns gegangen, wenn wir ihn hinter uns vermutet hatten, und hatte uns zerstört. Ich wußte jetzt, daß er sie im Krieg angeführt hatte. Aber ich wußte nach wie vor nichts über ihn, ob er eine Frau hatte, Söhne, wie er aussah, wo er hinging. So wie es sich mir darstellte, hatte er keine festen Gewohnheiten, keinen Wohnort, keine Leidenschaften. Ich wußte nicht, wie man einen Mann aufspürt, der nur für den Krieg lebt. »Ich habe ja nicht einmal ein Foto von ihm«, sagte ich.

»Sie halten ihn von der Stadt fern«, sagte sie. »Pune, Nashik, irgendwo da. Sie holen ihn nur, wenn es Ärger gibt.«

»Er schläft, bis es Zeit ist, ihn zu wecken?«

»Einen guten Scharfschützen schickt man nicht auf Botengänge zur Stadtverwaltung. Das wäre Verschwendung und außerdem zu riskant. Und er ist ein erstklassiger Schütze. Er ist schon lange dabei, zehn, zwölf Jahre.«

»Hast du ihn mal gesehen?«

»Nein, nie.«

Ich schwieg die restliche Zeit, während wir die Stufen hinauf- und in den Tempel hineingingen, und als wir schließlich vor Ganesha standen, bat ich ihn um gar nichts. Ich betrachtete ihn nur, die Schlinge und den Stachelstock, die Laddoos und den abgebrochenen Stoßzahn, und fragte mich, wie der Beseitiger von Hindernissen ein Hindernis beseitigen würde, das er nicht zu fassen bekam. Wir mußten weitergehen, denn die Massen von Gläubigen drängten unerbittlich, aber ich hatte sein Bild den gesamten Heimweg über im Kopf. In Juhu gerieten wir in einen gewaltigen Stau, Kanta Bai schlief neben mir ein, ihr Prasad aus dem Tempel umklammernd. Ich lauschte ihrem Schnarchen und dachte angestrengt nach. Meine Schulter brannte, kleine Wirbel stechenden Feuers, aber mein endloses Im-Kreis-Denken war schmerzhafter: Ich sah die Spieler, sah die Straßen und Gebäude, in denen sie zugange waren, Gopalmath, Nabargali, hatte es alles vor mir, sobald ich die Augen schloß, drehte und wendete es endlos hin und her, auf der Suche nach einer Bresche, einer Möglichkeit, alles auseinanderzureißen und neu zusammenzusetzen. Draußen jaulte und röchelte der Verkehr, und wir saßen hier, atmeten noch, waren noch am Leben.

»Laßt mich raus«, sagte ich. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Chhota Badriya rutschte hinter dem Lenkrad hervor. »Nein, nein, bleib sitzen.«

»Aber Bhai...«

»Tu, was ich sage, steig einfach wieder ein. Ich will ein Stückchen zu Fuß gehen.«

Er befürchtete einen dummen Zufall, etwa daß unter den abendlichen Spaziergängern und Bhelpuri-Essenden082 einer von der anderen Seite sein könnte, der noch einen Abendbummel machte. Es war denkbar, aber ich wollte plötzlich allein sein. Ich hob warnend die Hand, und mein Gesichtsausdruck muß ihn wohl eingeschüchtert haben, denn er stieg sofort wieder ein.

Ich folgte der kurvigen Straße, ging an den Chat-Ständen vorbei bis hinunter zum Strand. Es waren viele Familien unterwegs, die Kinder völlig aufgedreht angesichts der am Ufer entlangtrottenden Pferde, der Spielzeug-vaalas mit ihren silbrig schwebenden Ballonwolken, der Eis-vaalas mit ihren verlockenden Kühltaschen. Hier gab es keinen Krieg. Hier herrschte Frieden. Ich schlenderte entspannt zwischen alten Paaren und Scharen von ruhelosen jungen Männern. Das Meer brandete stetig an den Strand, und schließlich setzte ich mich auf eine halbfertige Backsteinrampe und blickte auf die Wellen hinaus. Ich war müde, leer im Kopf, und es tat gut, zu spüren, wie der sanfte Hauch des Meers in meinen Haaren spielte. Zu meiner Linken regte sich etwas. Ich schaute genauer hin und bemerkte unter einem Berg von Abfall, Palmblättern, durchweichten Pappschachteln und Kokosnußschalen ein kurzes Wuseln, rasches Hinundherflitzen, dann wachsame Stille. Im Schatten huschten weitere Schatten umher, und ich sah, wie sich, von ihrer Freßgier geschüttelt, ein weißer Karton in einer Zickzacklinie verschob. Ich stand auf und stellte mich vor den Karton, und jetzt roch ich die Fäulnis, all die Essensreste, all das Weggeworfene. Doch nichts regte sich mehr. Ich lachte.

»Ich weiß, daß ihr da seid, ihr Ratten«, sagte ich. »Ich weiß es.« Aber sie waren zu schlau für mich. Sie hielten still, und hätte ich es gewollt, hätte ich einige von ihnen töten können, letztlich aber hätten sie meinen Angriff und mich überlebt.

»Bhai!« Der Ruf kam vom Strand. Ich hob den Arm.

»Hier«, rief ich zurück. Sie kamen herbeigerannt, Chhota Badriya und zwei andere.

»Ist alles in Ordnung?« fragte er.

»Alles bestens«, erwiderte ich. Und es stimmte. In meinem Innern bewegte sich etwas, ein kaum spürbares Huschen. Ich wußte, daß ich warten mußte, bis es stärker wurde. »Fahren wir nach Hause«, sagte ich.

Am nächsten Tag arrangierte ich ein Treffen mit Inspektor Samant. Wir trafen uns in einem Hotel in Sakinaka. »Dieser Vilas Ranade«, sagte ich. »Er muß weg. Ich habe zehn Petis488

Er lachte mir ins Gesicht. Er hatte einen buschigen Schnurrbart, kaum Haare auf dem Kopf und große weiße Zähne. Auf seinem Hemd waren große dunkle Schwitzflecken zu sehen. »Zehn Lakhs!« sagte er. »Für Vilas Ranade. Sie sind wirklich optimistisch.«

»Dann fünfzehn.«

»Wissen Sie eigentlich, wovon Sie da reden? Er war schon da, als Sie noch Milch getrunken haben.«

»Stimmt. Aber können Sie es hinkriegen?«

»Machbar ist es.«

»Sie wissen etwas. Was wissen Sie?«

Seine trüben Augen ruhten unverwandt auf mir. Es war eine ausgesprochen dumme Frage gewesen. Er hatte keinen Grund, mir zu erzählen, was er wußte. Ich war nervös.

»Warum sollte ich es tun?« fragte er.

»Weil ich noch hier sein werde, wenn er längst von der Bildfläche verschwunden ist, Samant-saab. Denken Sie daran, was die Zukunft bringen wird, wenn wir in dieser Sache zusammenkommen. Diese Chutiyas von der Cobra-Gang haben keine Zukunft, keine Vision. Sie tun, was sie tun, aber etwas Neues ist von ihnen nicht zu erwarten. Die Zukunft ist mehr wert als Geld.«

Er hörte mir zu, wischte sich mit einem Taschentuch das glänzende Gesicht. »Dreißig«, sagte er.

»Zwanzig kriege ich hin, Saab. Und wenn das Ganze vorbei ist, kommt mehr. Viel mehr«

»Fünfundzwanzig. Und zwar im voraus, komplett.«

Das war beispiellos und völlig wahnwitzig. Trotzdem sagte ich: »Ja, Saab. Ich bringe sie Ihnen in drei Tagen.«

Er nickte und nahm etwas Saunf aus dem Schälchen in der Mitte des Tischs. Die Rechnung überließ er mir.

»Und dann, in drei Tagen«, fügte ich hinzu, »sollten Sie mich festnehmen.«

Ich hatte keine fünfundzwanzig Lakhs. Ich hatte fünf Lakhs, vielleicht sechseinhalb, wenn ich die diversen kleinen Beträge eintrieb, die ich dem ein oder anderen Einwohner von Gopalmath für Medikamente oder Hochzeitssaris geliehen hatte. Aber das konnte ich nicht machen, und ich war schlau genug, Paritosh Shah nicht um einen so umfangreichen Kredit zu bitten. Er war Geschäftsmann, und ich war im Moment keine sichere Investition. Womöglich hätte er es nicht über sich gebracht, nein zu sagen, und das hätte uns entzweien können. Ich erkundigte mich wohl bei ihm, ob er einen Tip für einen großen Coup hatte.

»Ihr wollt ein Ding drehen«, fragte er, »das fünfundzwanzig Lakhs bringt? In drei Tagen?« Ich wußte, daß ich viel verlangte, aber er begriff, daß es dringend war.

»Ignorier das Risiko«, sagte ich. »Denk nur an den Gewinn.« Er mußte nicht lange nachdenken: Der Juwelier Mahajan in der Advani Road. Es gefiel mir, daß das Geschäft mitten im Gebiet der Cobra-Gang lag, rund zweieinhalb Kilometer von Rajesh Parabs Haus entfernt. Wir beobachteten das Juweliergeschäft einen Tag und eine Nacht lang, dann beschloß ich, daß wir tagsüber zuschlagen würden. Nachts wäre es wahrscheinlich ungefährlicher gewesen, aber dann hätten wir das schwere Schiebegitter, drei Schlösser, den ebenfalls abgeschlossenen Rolladen vor dem Eingang und schließlich die Glastüren knacken müssen. Nein, wir würden um vier Uhr nachmittags kommen, durch die offene Tür. Vor dem Geschäft hielt ein Wachmann mit einschüssiger Schrotflinte Stellung. Als er uns mit unseren sieben Pistolen und Hackmessern anrücken sah, ließ er seine Waffe jedoch ohne Zögern fallen. Und beim Rückzug hielt er uns die Tür auf. Wir hatten zwei gestohlene Wagen draußen stehen und entkamen ungehindert.

Jetzt hatten wir also das Geld. Die Ware allein reichte zwar nicht aus, Paritosh Shah gab uns fünfzehn Lakhs für alles, was wir erbeutet hatten, doch den Rest lieh er uns. Ich nahm das Darlehen an. Ich war wieder zuversichtlich, sah meinen Weg klar vor mir, und er spürte das. Mit dem Darlehen tat er mir keinen Gefallen mehr, sondern investierte in künftige Einnahmequellen. Ich war eine gute Geldanlage und womöglich mehr als das. Da ich nun die fünfundzwanzig Lakhs hatte, ließ ich Samant umgehend kommen, einen Tag vor der Zeit, und gab sie ihm. Und er nahm mich fest.

So wanderten wir ins Gefängnis, drei meiner Jungs und ich. Wir seien wegen Mittäterschaft an dem Raubüberfall auf das Juweliergeschäft Mahajan in Untersuchungshaft genommen worden, hieß es in der Presse. Draußen verschwanden meine Jungs von den Straßen, aus Gopalmath, und die Cobra-Gang feierte. Die G-Company sei erledigt, kurz und schmerzlos ausgeschaltet worden, glaubten sie zu wissen. Ich saß in meiner Zelle und betrachtete die Wand: Mit dem Rücken zur einen schaute ich auf die andere. Meine Jungs saßen um mich herum. Die Beengtheit ertrug ich gut, auch die Hitze, und ich würgte den trockenen Fraß gleichmütig hinunter, aber die Untätigkeit und Stille, dieser verordnete Ruhezustand kroch mir unter die Haut, so daß ich sie mir am liebsten vom Leib gerissen hätte. In meinen Venen sirrten und summten Insekten. Doch ich hielt mich zur Geduld an. Ich betrachtete die Wand. Und ich spürte, daß sie mich betrachtete, machtvoll in ihrer Ausdruckslosigkeit. Sie wollte mich überdauern. Sie wußte, daß sie es konnte. Ich zwang sie mit dem Blick nieder. Und ich wartete.

Es dauerte neun Tage. Als die Polizisten die Zelle aufschlössen, standen meine Jungs Wache, und ich pißte an die Wand, malte Kreise in ihre Gleichgültigkeit, erst dann ließ ich mich hinausführen.

Im Büro des Oberinspektors empfing uns ein Rechtsanwalt, der den Papierkram erledigt hatte und uns nun aus der Wache geleitete. Die Kaution war bezahlt. Draußen war es dunkel, ein mondloser, wolkiger Abend. Chhota Badriya erwartete uns in einem Wagen. Er sah sehr müde aus, und er hatte sich die Haare zurückgebunden, mit einem dieser Bänder, wie Mädchen sie benutzen.

»Was hast du denn da in den Haaren, Chutiya?« fragte ich.

»Ach, nichts, Bhai.« Er errötete und neigte den Kopf zu Seite. Und lächelte. Als er lächelte, wußte ich, daß die Welt in Ordnung war.

Er fuhr uns zügig in die Innenstadt, dann auf die Schnellstraße, an Goregaon vorbei, und ich erwachte zu neuem Leben angesichts der Menschenmassen, der sich vorwärts schlängelnden Laster und Pkw, der Kinder, die am Straßenrand Bällen hinterherliefen, des unablässigen Lärms. Ich war still, aber hellwach, wachsam wie eine Schlange. Chhota Badriya sagte nichts, und ich wollte ihm keine Fragen stellen, noch nicht. Die Verheißung glühte in der Luft, und es war ein Genuß, meine Zunge zu zügeln, die Erwartung, das Nichtwissen auszukosten. Wir verließen die Schnellstraße, fuhren eine Weile auf dem Zubringer, dann vorbei an einem Slum und bogen in die Dunkelheit ab. Im Licht der Scheinwerfer erstand eine staubige Straße, Bäume tauchten auf und verschwanden wieder, es war, als fielen wir in einen Tunnel. Nach einer scharfen Linkskurve veränderte sich die Straße, wir rollten knirschend über unbefestigten Boden. Am Ende des Wegs parkte ein Auto, und zwischen überhängenden Zweigen lugte das harte Schwarz eines Gebäudes hervor. Wir stiegen aus und gingen darauf zu, dann um die Ecke. Über einer Tür baumelte eine nackte Glühbirne. Auf einer Kiste neben der Tür saß Samant, seine Zigarette leuchtete rot wie ein Signal.

»Hat zu lange gedauert«, sagte er.

»Wegen der Anwälte und dem ganzen Drumherum«, sagte Chhota Badriya.

Samant zog an der Tür, die sich mit einem langen metallischen Quietschen öffnete. Drinnen lag ein Mann bäuchlings auf dem Boden. Blaues Hemd, schwarze Hose, verrenkte Glieder.

»Vilas Ranade«, sagte Samant mit einer kleinen Geste, als wollte er uns vorstellen.

»Sie haben das allein erledigt?«

»Er hat Brown Sugar geschnupft«, sagte Samant. »Dieser bescheuerte Bhenchod. Er hat gedacht, keiner wüßte es. Hat sich das Zeug immer allein besorgt. Ich kenne den Dealer, bei dem er eingekauft hat.«

»Der Dealer hat Ihnen gesagt, wann Vilas Ranade zu ihm kommen würde, um sich einzudecken?«

»Da er weiter dealen will, blieb ihm nichts anderes übrig.«

»Sind Sie sicher, daß das Vilas Ranade ist?«

»Ich bin ihm zweimal auf der Wache in Mulund begegnet, als ich dort stationiert war. Er hatte dort Freunde.«

»Ich möchte sein Gesicht sehen.«

Chhota Badriya stieg über die Leiche, zog an ihrer Schulter. Vilas Ranades Hemd war vorne schwarz und durchnäßt. Chhota Badriya hockte sich hinter ihn, und plötzlich richtete sich Vilas Ranade auf, ins Licht. Er sah schläfrig aus, hatte die Lider halb geschlossen. Den kenne ich doch, dachte ich. Er sah mir zum Verwechseln ähnlich. Ich beugte mich näher zu ihm vor. Kein Zweifel, er war mein Double. Ich wartete darauf, daß einer der anderen eine Bemerkung dazu machte, doch keiner sagte etwas.

»Was ist denn los, Bhai?« fragte Chhota Badriya. »Gefällt Ihnen sein Gesicht nicht?«

»Nein, ich finde, der Kerl hat eine ausgesprochen häßliche Visage.« Ich tätschelte Vilas Ranades Wange und stand auf. »Erstklasssige Leistung, Samant-saab.« Ich nahm Samants Hand und schüttelte sie heftig. Ich klopfte ihm auf die Schulter und lachte, und sie lachten alle mit, jeder einzelne von ihnen. Aber bei mir war es nur Schauspielerei. Ich gestikulierte und lachte und feierte, aber insgeheim war ich verwirrt: Was hatte es zu bedeuten, daß Vilas Ranade und ich uns so ähnlich sahen, und warum fiel es keinem der anderen auf? Was hatte es zu bedeuten, daß er und ich uns gejagt hatten wie Geister, die man im Spiegel sieht, und dann getötet hatten? Wohin führte mich dieser Zufall?

Ich war immer noch wie benommen, als wir ins Auto stiegen. Wieder ging es durch die unbeleuchtete, lange Nacht, und kurz vor der Schnellstraße hatte ich des Rätsels Lösung gefunden: Es mußte sich um eine optische Täuschung gehandelt haben. Hätte er mir wirklich so ähnlich gesehen, dann hätte Chhota Badriya es bemerkt. Samant hätte etwas gesagt. Ich war müde von den Tagen im Gefängnis. Ich brauchte Schlaf, Erholung, gutes Essen. Es gab keinen Grund, mich zu sorgen.

»Killer Vilas Ranade stirbt gewaltsamen Tod«, war am nächsten Tag in den Nachmittagsausgaben einiger Zeitungen zu lesen. »Warlord der Parab-Gang findet blutiges Ende.«

Und dann vernichteten wir die Cobra-Gang. Wir überfielen ihre Jungs aus dem Hinterhalt, wir kassierten ihr Geld, wir schüchterten ihre Geschäftspartner ein, wir schlenderten durch ihre Straßen. Sicher, auch auf unserer Seite gab es Verluste, darunter mein Sunny, der inzwischen einen so inbrünstigen Kult um Pistolen trieb, daß er immer gleich zwei bei sich trug. Trotzdem erwischte ihn eine Kugel, von hinten, und er verreckte auf der Straße, in seiner eigenen Pisse. Aber es gelang uns dennoch, die Cobra-Gang aufzureiben und ihr Gebiet zu erobern. Wir waren zwar die kleinere Organisation, doch das erwies sich als Vorteil. Wir schlugen zu, verschwanden, pirschten uns von hinten wieder heran und schlugen erneut zu. Sie waren alt und verwirrt wie ihr Anführer Rajesh Parab, der schließlich die größeren Companys um Hilfe anging, er wandte sich hierhin und dahin, sogar bis nach Dubai, und überall erhielt er Zusicherungen und Versprechungen, doch nichts weiter. Bei uns hingegen standen alle Zeichen auf Sieg, und wer den Kampf verfolgte, setzte auf uns. Man hatte allseits die Lektion gelernt: Ein kleiner Trupp von Kämpfern, durch widrige Umstände in brüderlicher Liebe zusammengeschweißt, kann eine große, schwerfällige Organisation, die den Mut und Glauben verloren hat, leicht in die Tasche stecken.

Rajesh Parab starb sechs Wochen später an einem Herzanfall, nachts im Schlaf, in seinem eigenen Bett. Paritosh Shah meinte: »Er hat wohl geträumt, daß du durch die Tür kommst.« Aber ich war froh, daß ich ihn nicht umbringen mußte. Ich wäre mir wie ein Hundefänger vorgekommen, der einen jaulenden müden Köter einschläfert, und das war nicht einmal in Gedanken ein Vergnügen.

In jenem Winter bekam ich heftiges Fieber. Mit einem permanenten Zirpen im Kopf wälzte ich mich fahrig und ruhelos in meinem schweißnassen Bett. Weder Filme noch Musik beruhigten mich, auch nicht das Mädchen, das Chhota Badriya anschleppte. Ich spuckte und spuckte, um den ständigen Andrang bitteren Speichels loszuwerden. Ich nahm Tabletten, trank Salzwasser, aß weißen Reis. Das Fieber blieb.

Daher war ich hellwach, als eines Morgens um halb zwei Chhota Badriya bei mir klopfte. »Wir haben Mohan Surve gefunden«, sagte er.

»Habt ihr ihn hier?«

»Draußen im Auto.«

»Bringt ihn rein.«

Ich stand auf und zog mich an. Seit er uns verraten hatte, war Mohan Surve aus Bombay verschwunden. Seit jenem Abend, als ich sein Gesicht vor der Mahal Bar gesehen hatte, rot erleuchtet von der Neonreklame, schien er vom Erdboden verschluckt zu sein. Keiner hatte ihn mehr gesehen, weder in Bombay noch in Wadgaon, wo seine Schwester mit Mann und Kindern wohnte, nirgends.

Chhota Badriya kam herein und half mir mit den Schuhen. »Wir haben seine Schwester beobachtet«, sagte er. »Der Briefträger hat uns ihre Briefe gezeigt.«

»Gut. Und dann?«

»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Surve dachte wohl, er ist besonders schlau. Monatliche Postanweisungen, von einem gewissen Manmohan Pansare in Pune. Herauszufinden, auf welchem Postamt sie abgeschickt wurden, war ein Kinderspiel. Und dann haben wir das Postamt einfach beobachtet. Er hat sich einen Bart wachsen lassen.«

Der Bart auf Mohan Surves Gesicht war weich und dünn und veränderte ihn kaum. Er hatte immer noch dicke Pausbacken und Knopfaugen wie ein Eichhörnchen. Ich hätte ihn aus fünfzehn Metern Entfernung erkannt. Sobald er mich sah, fing er an zu brabbeln.

»Ich hab Schiß gekriegt, als das Geballer losging, Bhai, und da bin ich abgehauen und habe mich versteckt«, sagte er. »Ich wollte mit alldem nichts mehr zu tun haben, ich verkrafte das nicht, ich bin ein Feigling, Bhai, verzeih mir, aber so bin ich halt, verzeih mir. Sorry, Bhai, sorry.«

Er sagte immer wieder dieses englische Wort, sorry, und das verärgerte mich, brachte mich noch mehr in Rage als das, was er getan hatte.

»Wie hoch waren denn die Postanweisungen?« fragte ich Chhota Badriya.

»Fünftausend, sechstausend, in der Größenordnung. Bei der ersten waren es zehntausend.«

Ich sah Mohan Surve an. »Versuch's gar nicht erst, Mohan. Versuch's gar nicht erst.« Es kam ganz ruhig und im Flüsterton, was mich selbst überraschte.

Da brach er zusammen, er warf sich auf den Boden, umklammerte meine Knöchel und besudelte sich. Ich roch seine Pisse. Chhota Badriya hatte ihm die Handgelenke mit grünem Leitungsdraht zusammengebunden, und als er sich jetzt drehte und wand, scheuerte er sich die Haut auf. Blut tropfte über den Draht, und Mohan Surve redete und redete: Die Cobra-Gang habe sich an ihn gewandt, und er habe erst nein gesagt, aber dann hätten sie gedroht, seine Schwester und deren Mann und Kinder umzubringen. Vilas Ranade persönlich habe ihn mit einem Schwert bedroht. Also habe er ihnen gesagt, daß er an jenem Abend in der Mahal Bar sein werde, und sie hätten den Hinterhalt vorbereitet.

Chhota Badriya löste Mohan Surve von meinen Füßen, und dann ging ich in mein Zimmer zurück. Ich setzte mich aufs Bett. Ich dachte an Krishna Gaikwad, Pradeep Pednekar und Qariz Shaikh mit seinen Geschichten, sie waren damals als erste gestorben, und ich erinnerte mich daran, wie es für mich gewesen war, an jenem Abend vor dem Tod zu fliehen, während die wilden Schatten auf mich zukamen und mir das Blut über die Brust strömte. Mohan Surve wimmerte nebenan, nicht laut, dennoch drang es durch die Wand, ein langes, klagendes Stöhnen. Ich rief Chhota Badriya herein. »Stopf ihm das Maul«, sagte ich. »Ich will nicht, daß er irgendwelche Geräusche von sich gibt. Stell ihn ruhig. Gib ihm irgendwas, Whisky, egal was. Und trommel die Jungs zusammen. Alle, die in der Nähe sind oder kommen können, sollen in einer halben Stunde hier sein.«

Chhota Badriya band Mohan Surves Hände los und gab ihm Nimbu pani456 mit drei zerdrückten Schlaftabletten. Als meine Truppe vollständig versammelt war, lag Mohan Surve zusammengerollt auf dem Boden, einen Arm über dem Kopf. Die Jungs packten ihn an Hand- und Fußgelenken und hievten ihn hoch, so daß ihm der Kopf in den Nacken fiel, und seine Augen, dunkel und glasig, zuckten und verdrehten sich. Ich trat aus dem Haus, und die anderen folgten mir. Sie trugen Mohan Surve zu viert, an Armen und Beinen. Er war still. Wir trugen ihn durch die leeren Gassen, ließen die Gebäude hinter uns und gingen den Hügel über Gopalmath hinauf. Ich hatte eine große Eveready-Taschenlampe dabei, mit der ich uns leuchtete. Erst ganz oben auf der Kuppe drehte ich mich um. Während die anderen nachrückten, blickte ich auf den Lichterschleier hinaus. Durch mein Fieber wurden die harten Lichtpunkte zu weichen Kreisen, und der Horizont verschwamm unter diesem schimmernden Fließen, dem Atem dieser wogenden Stadt.

»Wir sind alle da«, sagte Chhota Badriya.

»Streckt ihn aus«, sagte ich. Sie taten, wie geheißen. Die vier, die ihn getragen hatten, hockten sich oberhalb und unterhalb von ihm hin und zogen ihn zu einem weiten Kreuz auseinander. Mohan Surve lag still, von den Lichtkegeln der Taschenlampen angestrahlt.

»Ihr wißt, was er getan hat«, sagte ich zu meiner Company. »Viele von uns sind umgekommen.« Ich reichte Chhota Badriya meine Hand, er schmiegte den kalten Griff eines Schwertes hinein. Ich ging um Mohan Surve herum, bis ich genau über seinem Kopf stand. Den Blick auf das fließende Feuer der Stadt gerichtet, wog ich das Schwert in der Hand. Es war erstaunlich schwer für so ein langes, schmales Ding. Guter, harter Stahl. In der Gegend des Schlüsselbeins, nicht weit vom Herzen, hatte ich eine Narbe, die sich manchmal durch leichtes Ziehen bemerkbar machte, aber ich fühlte wieder Kraft in meinen Armen. Ich stellte mich breitbeinig hin, hob das Schwert über den Kopf, holte Luft und schlug es in Mohan Surves rechten Arm, knapp unter der Schulter. Er riß den Kopf hoch, seine Augen wanderten hin und her. Ich hatte das Schwert wieder angehoben, und mit dem zweiten Schlag trennte ich den Arm von seinem Körper ab. Der Mann, der sein rechtes Handgelenk gehalten hatte, fiel nach hinten, und ein dicker schwarzer Blutstrahl schoß in das unstete Licht. Ein Stöhnen stieg aus den Kehlen meiner Jungs auf, und Mohan Surve begann zu reden. Ein wildes, inhaltsloses Silbenwirrwarr, mehr war es nicht, Mohan Surve plapperte in einer Babysprache, selbst dann noch, als Chhota Badriya seinen linken Arm mit einem einzigen Schwertstreich abhackte, ich hörte das Klirren von Metall auf Stein und sah weiße Funken stieben. Mohan Surves Stimme wurde immer höher, und er hielt den Kopf immer noch hoch, als einer aus der Company vortrat, das Schwert nahm und den linken Oberschenkel traktierte. Da schrie er. Doch als sein rechtes Bein an die Reihe kam, war er verstummt, und sein Kopf hing auf der Seite. Ich glaube, er war schon tot.

»Nehmt die Stücke«, sagte ich, »und schmeißt sie irgendwohin. Und ich will nie wieder seinen Namen hören.«

Dann ging ich den Hügel hinunter, in mein Basti, nach Hause. In dem Spiegel in der Nische direkt neben der Tür sah ich, daß mein Hemd ruiniert war, von Blutspritzern übersät. Ich zog es aus, ebenso wie meine durchnäßte Hose und meine feuchten Schuhe. Ich nahm ein heißes Bad. Aß ein wenig Sabudane Ki Khichdi und trank ein Glas Milch mit Mandeln darin. Und dann schlief ich ein.