Ganesh Gaitonde
gewinnt eine Wahl

Kanta Bai starb an einem Freitag im Februar. Nur vier Tage zuvor war sie mit Fieber aufgewacht. Sie brüstete sich gern mit ihrer Widerstandsfähigkeit und trug eine gepflegte Verachtung für Ärzte zur Schau. Sie hatte mir mal gesagt, daß mehr Menschen infolge ihres Krankenhausaufenthalts stürben als infolge der eigentlichen Krankheit. Also trank sie ein Glas Mausambi-Saft nach dem anderen und ging wie gewohnt zu ihrer Destille. Sie traf sich mit ihren Angestellten und brachte ihre Sendungen auf den Weg. Am späten Nachmittag war sie sehr müde, ging nach Hause und schlief. Sie erwachte abends um elf, zitternd, mit Gliederschmerzen und Durchfall. Doch sie rief immer noch keinen Arzt, glaubte, die alte Närrin, sie würde alles überleben, ob bakteriell oder menschlich. Sie aß einen Teller Reis mit Joghurt, nahm zwei Lopamide-Tabletten und schickte ihre Leute fort. Am nächsten Morgen um acht fand ihre Schwester sie, die Augen verdreht, den Körper ins besudelte Laken verknäuelt. Ich erfuhr davon um neun, als man sie bereits in ein Privatkrankenhaus in Andheri gebracht hatte. Den Medizinern zufolge hatte sie Malaria. Ich ließ sie nach Jaslok verlegen und sagte den Ärzten, sie sollten ihr jegliches ausländische Medikament, jede Therapie zukommen lassen, die nötig sei. Doch am Freitagnachmittag war sie tot.

Wir brachten sie ins elektrische Krematorium in Marine Lines. Als die Trage mit ihrem Leichnam auf der Schiene aufgebahrt war, die ins Feuer führte, waren ihre Wangen eingefallen, und ihr Körper sah unter dem Leichentuch flach aus, als hätte die kurze Krankheit sie schrumpfen lassen. Ihre Haut hatte nicht mehr diesen dunklen rötlichen Schimmer, sondern die Farbe von hellem Schlamm. Ich zwang mich hinzusehen, als die Metalltür sich schloß und uns für immer von ihr trennte. Und ich blieb, bis man ihrer Schwester die Asche übergab. Ich konnte nichts tun, als still neben dieser Schwester zu sitzen, während wir warteten, und sie dann nach Hause zu fahren.

Ich hatte nichts unternommen, um Kanta Bai zu retten -dieser Gedanke quälte mich an jenem Tag und in den folgenden Nächten. Ich ermahnte die Jungs, auf ihre Gesundheit zu achten und zum Arzt zu gehen, sobald sie Anzeichen einer Krankheit spürten. Ich organisierte kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für meine Controllers, und im Basti leitete ich eine Anti-Malaria-Kampagne in die Wege. Ich ließ die Abflußrinnen reinigen und sorgte dafür, daß Ansammlungen stehenden Wassers beseitigt wurden. Aber letztlich war das alles nur Schau. Ich wußte, daß ich besiegt worden war.

Damals kamen sie zu mir. Ich möchte, daß Sie das wissen, Sartaj Singh: Ich bin nie selbst zu den Politikern gegangen, sie sind zu mir gekommen. Ich hatte Gopalmath, hatte das gesamte ehemalige Gebiet der Cobra-Gang, die Geschäfte liefen gut, es kam Geld herein, und abgesehen von der Geschichte mit Kanta Bai war ich glücklich und zufrieden. Ich hatte oft mit Kommunalbeamten zu tun, besonders als wir eine regelmäßige Wasserversorgung für Gopalmath einrichteten, aber ich mochte diesen Menschenschlag nicht, das waren geborene Lügner. Auch für Politiker hatte ich nichts übrig, daher hatte ich die MLAs und MPs427 nie hofiert. Doch eines Tages brachte Paritosh Shah einen von ihnen zu mir. Er sagte: »Bhai, das hier ist Bipin Bhonsle. Er kandidiert für die Parlamentswahl nächste Woche und braucht deine Hilfe.« Bipin Bhonsle war elegant gekleidet - feine blaue Hose, bedrucktes Shirt, dunkle Brille -, ganz anders als diese Typen in schlabbrigen Gandhi-Hemden, die sich ständig im Fernsehen über irgendwelche Nehru-Themen ausließen. Bipin Bhonsle war jung, in meinem Alter, und respektvoll.

»Namaskar, Ganesh-bhai«, sagte er. »Ich habe viel von Ihnen gehört.«

»Hat Ihnen dieser fette Kerl von mir erzählt?« fragte ich und wies ihm einen Stuhl an. Dann nahm ich Paritosh Shah bei der Hand und zog ihn neben mich auf das Sofa. Er war in den etlichen Jahren, die ich ihn nun kannte, immer mehr auseinandergegangen - der Paritosh Shah, den ich einst kennengelernt hatte, verschwand unter diesen Fettpolstern allmählich. »Hören Sie nur, wie er keucht. Ich mache mir Sorgen um sein Herz.« Und wirklich, von den zwei Treppen zu mir hoch atmete er schwer.

Paritosh Shah tätschelte meinen Arm. »Ich nehme ayurvedische Medizin, Bhai. Kein Grund zur Sorge.«

Er hatte mir von seinem neuen ayurvedischen Arzt erzählt, der in seiner klimatisierten Praxis fünf Computer stehen hatte. »Du solltest lieber jeden Tag ein paar Kilometer laufen«, sagte ich. Er bewegte ein paarmal flott die angewinkelten Arme, wie beim Joggen, und sah dabei so ulkig aus mit seinen wippenden Brüsten und seinem schwabbelnden Bauch, daß ich losprustete und er auch. Doch Bipin Bhonsle lächelte bloß verhalten. Das gefiel mir. Er hatte Manieren. Unterdessen brachte uns ein Junge Tee und Plätzchen. Wir tranken und unterhielten uns. Schwer würde es nicht sein, dachte ich. Bipin Bhonsle war der Rakshak-Kandidat für den Wahlkreis Morawada, der im Norden an Gopalmath grenzte. Die Wählerschaft dort bestand zu mehr als der Hälfte aus Marathen, Leuten, die schon lange vor dem Bau-Boom dort gelebt hatten, bevor die Bauunternehmer angefangen hatten, die noblen Kolonien in den Vorstädten hochzuziehen. Der Stimmen dieser Marathen, der Büroangestellten und mittleren Verwaltungsbeamten wie auch der verstreuten Grüppchen von Gurajatis und Marvaris, Ladeninhabern oder Händlern, war sich Bipin Bhonsle sicher. Das Problem seien die anderen, die Kongreß-Wähler und eingefleischten NCPler452, die in der Narayan Housing Colony und der Gegend um die Satyasagara Estates sowie in den Bastis Gandhinagar und Lalghar wohnten. Die Rakshaks hätten in Morwada noch nie eine Wahl gewonnen, und zwar hauptsächlich wegen dieser Mistkerle, die alles mögliche seien, Seths, Akademiker, Flugpersonal, Rentner; am meisten jedoch ärgerte sich Bipin Bhonsle über die armen Chutiyas, die in den Hütten von Lalghar lebten.

»Bhenchod Landyas367«, sagte er. »Von denen kriegen wir natürlich keine einzige Stimme. Wenn man denen freundschaftlich die Hand reicht, wenden sie sich ab.« Lalghar war ein islamisches Basti, es war klar, daß dort niemand die Rakshaks wählte. Wählerstimmen aus einer Bevölkerungsgruppe zu erwarten, der man mit offenem Haß begegnete, war dumm und typisch für die Rakshaks, aber ich lächelte Bipin Bhonsle höflich an.

»Also, Bhonsle-saab, was kann ich für Sie tun?«

Er setzte die Teetasse ab und beugte sich eifrig vor. »Zunächst brauchen wir Unterstützung im Wahlkampf, Bhai. Unsere Helfer werden eingeschüchtert, wenn sie auf Stimmenwerbung gehen, erst gestern sind ein paar unserer Leute herumgeschubst worden, und man hat ihnen die Plakate weggenommen. Zweihundertfünfzig Plakate. Später haben wir gehört, daß sie ein Freudenfeuer damit veranstaltet haben.«

»Und die Rakshaks sind so hilflos? Ich habe noch nie gehört, daß es einer von Ihnen nötig gehabt hätte, sich Hilfe zu holen. Sie haben doch Ihre eigenen Jungs und Ihre eigenen Waffen.«

Er nahm meinen höhnischen Unterton wahr und fand keinen Gefallen daran. Aber er blieb sanft und höflich. »Bhai, wir haben vor niemandem Angst. Aber ich stehe noch weit unten in unserer Organisation, diese Wahl ist meine erste, und der ganze Wahlkreis gilt als eher unwichtig. Die Mittel fließen woandershin. Und ich weiß, daß sich diese Mistkerle von der Kongreßpartei und der NCP jede Menge schlagkräftige Unterstützung geholt haben. Selbst diese Typen von der Samajwadi-Partei554 wollen sich anscheinend Verstärkung besorgen.«

»Aha. Und?«

»Der eigentliche "Wahltag, wenn der Wahlkampf vorbei ist - das sind die entscheidenden Stunden. Wir wollen sicherstellen, daß bestimmte Leute nicht wählen gehen.«

Ich lachte. »Okay. Sie wollen, daß Ihnen der Wahlsieg geschenkt wird.«

Er wurde nicht verlegen. Er lächelte und sagte: »Ja, Bhai.«

»Ich dachte, die Rakshaks wollen der Korruption in diesem Land ein Ende setzen.«

»Wenn die ganze Welt schmutzig ist, Bhai, muß man sich selbst die Hände schmutzig machen, um Ordnung zu schaffen. Ohne Tricks kommen wir gegen deren Geld nicht an. Sobald wir an der Macht sind, wird das anders werden. Wir werden einen völlig neuen Kurs einschlagen.«

»Dann erinnern Sie sich nur mal schön an mich. Nicht daß Sie mich im Zuge der großen Säuberungsaktion mit wegsäubern.«

Er streckte mir beide Hände entgegen. »Sie, Bhai? Nein, nein, Sie sind unser Freund, Sie sind einer von uns.«

Er meinte, daß ich ein Hindu war und aus Maharashtra kam. Mir waren diese Dinge egal, jedenfalls wenn es ums Geschäftemachen ging, aber ihn beruhigte es, daß ich Ganesh Gaitonde war. Ich gab ihm die Hand und sagte: »Wir treffen uns in ein oder zwei Tagen noch einmal. Dann reden wir darüber, wieviel Geld nötig sein wird.«

»Bhai, Geld ist kein Problem. Bitte denken Sie in Ruhe darüber nach, und nennen Sie uns Ihre Bedingungen. Ich schätze, wir werden fünfzig, sechzig Jungs brauchen.« Er stand auf und faltete die Hände. »Sagen Sie mir Bescheid, wann ich kommen soll.«

Als er gegangen war, sagte ich zu Paritosh Shah: »Vernünftiger Kerl.«

»Er spinnt ein bißchen, wie alle Rakshaks.«

Paritosh Shah bedeutete das Profitmachen alles, der Gewinn war sein Gott, deshalb mußte ihm natürlich jeder, der die Religion dem Geldverdienen in die Quere kommen ließ, verrückt erscheinen. Die Rakshaks glaubten an eine goldene Vergangenheit, an Blut und Boden und solche Dinge, und mit alldem konnte Paritosh Shah überhaupt nichts anfangen. Ich sagte: »So sehr spinnt er nun auch wieder nicht. Er engagiert uns nicht nur, damit wir ihm helfen, sondern auch, weil er nicht will, daß wir für seine Gegner arbeiten.«

»Stimmt. Ich habe auch nicht gesagt, daß er dumm ist. Diese Marathen sind verrückt, aber gerissen. Das weißt du.«

»Wo kommst du eigentlich her?« fragte ich. »Aus Bombay?«

»Ich bin hier geboren. Mein Urgroßvater ist aus Ahmedabad hergekommen, wir haben dort immer noch Verwandtschaft.« Er war verdutzt. Wir kannten uns nun schon viele Jahre, aber diese Frage hatte ich ihm noch nie gestellt. Und da ich es nun getan hatte, fragte er mich ebenfalls. »Und du? Wo kommst du her?«

Ich machte eine Handbewegung über die Schulter. »Egal.« Ich stand auf. »Wieviel verlangen wir für die Wahl?« Also redeten wir übers Geld. Jemandem einen Wahlsieg zu verschaffen hieß für mich soviel wie, ihn zu einem Raj oder zumindest einem Navab zu machen, so daß unsere Hilfe viel wert sein müßte. Doch anscheinend war das Geben und Nehmen von Wahlsiegen schon lange ein etabliertes Geschäft, und es gab feste Sätze, die keineswegs fürstlich waren. Fünfundzwanzigtausend Rupien pro Person für die Jungs, für die Controller vielleicht fünfzig. Das hieß, für nur fünfundzwanzig, dreißig Lakhs an uns würde Bipin Bhonsle ins Parlament einziehen. »So billig kann man Demokratie kaufen?« bemerkte ich.

»Jetzt willst du wohl selbst Politiker werden.«

»Nicht mal, wenn sie die Sitze verschenken würden.«

»Warum nicht?« Er lächelte mild.

Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte einen Kloß im Hals, eine Mischung aus Erinnerung und Wut, und traute meiner Stimme nicht. Also spuckte ich aus dem Fenster und tat dieses ganze schmutzige Geschäft ab, die verlogenen Plakate, die sich andienenden Reden, die vorgetäuschte Demut, und Paritosh Shah kannte mich gut genug, um nicht nachzufragen. Er redete ohnehin nur zu gern wieder übers Geschäftemachen.

Nachdem er gegangen war, wandte ich mich meinen englischen Büchern zu. Ich brachte mir die Sprache selbst bei, mit Kinderbüchern, Zeitungen und einem Lexikon. Nur Chhota Badriya wußte davon, denn er hatte mir die Bücher und das Wörterbuch besorgt. Ich machte immer die Tür zu, wenn ich Englisch lernte, denn ich wollte nicht, daß mich jemand auf dem Boden hocken sah, einen unsicheren, stockenden Finger auf den Buchstaben, die ich mit langsamen Lippenbewegungen mühevoll zusammenfügte, bis sie ein Wort ergaben: »P-a-r-l-i-a-m-e-n-t«, Parlament. Es war erniedrigend, aber notwendig. Ich wußte, daß sich das eigentliche Geschäftsleben dieses Landes zu einem Großteil auf englisch vollzog. Leute wie ich und meine Jungs, wir benutzten englische Ausdrücke, setzten bestimmte Wörter flüssig und ohne Zögern in unsere Sätze ein: »Bole to voh ekdam danger aadmi hai!093« oder »Yaar, abhi ek matter ko settle karta hun«668 oder »Us side se wire de, Chutiya«648. Doch wenn man nicht ganze Sätze herunterrasseln konnte, ohne innehalten, noch einmal ansetzen und sie qualvoll Wort für Wort aufbauen zu müssen, wenn man keine Witze auf englisch reißen konnte, gab es komplette Bereiche im eigenen Leben, die sich einem entzogen, die unsichtbar waren. Man konnte in einer Welt der Marathen leben, in einer hinduistischen Kolonie, in einem tamilischen Straßenzug, aber was stand auf diesen Reklamewänden, diesen aufragenden Botschaften, die ihre scharf umrissenen Schatten auf das Haus warfen, in dem man wohnte? Wenn man ein teures, »mit amerikanischem Knowhow entwickeltes« neues Shampoo kaufte, was stand da in Rot auf dem Etikett? Worüber lachten diese Leute, die in ihren weich gepolsterten Mitsubishi Pajeros sanft vorüberglitten? Es gab viele, die wie ich fern der englischen Sprache geboren waren und die bereitwillig in Unwissenheit lebten. Die meisten waren zu faul, hatten Angst, nach dem Wie, Was, Warum zu fragen. Aber ich mußte Bescheid wissen. Also nahm ich die englische Sprache, rang sie nieder, zwang sie, sich mir Stück für Stück zu erschließen.

Um vier Uhr nachmittags klappte ich meine Bücher zu, legte mich auf den Boden und hielt ein Mittagsschläfchen. Ich hatte ein gutes Bett mit weichen Kissen, aber darin schlief ich in letzter Zeit schlecht. Ein unkontrollierbares Zucken in meinen Gliedmaßen weckte mich auf, sobald ich am Wegdämmern war. Nachmittags auf dem harten Boden gelang es mir manchmal, eine Stunde zu schlafen, aber heute warf ich mich hin und her, den Kopf voller Zukunftspläne und Projekte, Gedanken an Expansion, Verdächtigungen dieses oder jenes Mannes und plötzlicher Erkenntnisse über einen anderen. Ich herrschte über mein Stück der Insel, doch meine Gedanken fanden keine Ruhe. Als um fünf einer meiner Jungs an die Tür klopfte, schoß ich mit heftig pochendem Herzen hoch. Ich wusch mir das Gesicht, atmete tief durch, und dann gingen wir. Einmal am Tag - zu verschiedenen Zeiten, aber jeden Tag - zog ich mit meinen Jungs durch mein Gebiet. Wir wählten verschiedene Routen, ich wollte Präsenz zeigen, wollte gesehen werden. Ich will nicht behaupten, daß ich keine Angst gehabt hätte, aber ich hatte gelernt, sie zu verstecken, sie unter einer dicken Schicht der Gleichgültigkeit zu verbergen. Seit sich die Kugel in mich hineingebohrt hatte, wußte ich, daß der Tod eine Realität war. Ich hatte keine Illusionen. Ich hatte erlebt, daß eine Frau, die an einem Tag noch quicklebendig ist, Hammel ißt, spottet und scherzt und mit ihren weiblichen Reizen spielt, die Augen übervoll von Lachen und Verlangen, am nächsten Tag bewußtlos in einem Krankenhausbett liegen kann, keuchend und mit offenem Mund. Ich wußte, daß ich sterben, daß ich getötet werden würde. Für mich gab es kein Entkommen. Ich hatte keine Zukunft, kein langes Leben, keinen Ruhestand, kein entspanntes Alter vor mir. Mir dergleichen auszumalen war Feigheit. Vorher würde mich eine Kugel treffen. Aber bis dahin würde ich wie ein König leben. Ich würde das Leben, dieses Miststück, das uns zum Tode verurteilt, niederringen, würde es mir einverleiben, es ausschöpfen bis zum letzten, Minute um Minute. Und so ging ich durch die Straßen wie der Herr der Menschheit, flankiert von meinen Jungs.

Auf diese Weise erhielt ich meine Herrschaft, meine Vormacht aufrecht. Angst spielte dabei eine Rolle, die Angst der Ladeninhaber bei meinem Anblick, die Angst in den Augen der Frauen, die in der Tür zurücktraten, um uns vorbeizulassen. Doch das war nicht alles, beileibe nicht. Es hat natürlich etwas Berauschendes, Macht auszuüben, aber es vermittelt auch ein Gefühl der Sicherheit, sich ihr zu beugen. Glauben Sie mir, das ist so. Ich spürte es, wenn sie mir Chicken Tikka und Bhakri servierten und mich fragten, ob ich ein Erfrischungsgetränk oder einen Tee haben wollte, ich sah es in ihren sich weitenden Pupillen, wenn sie ihren besten Stuhl für mich heranzogen und ihn mit ihrem Pallu abstaubten. Die Wahrheit ist, daß die Menschen sich gern beherrschen lassen. Sie reden ständig über Freiheit, aber sie haben Angst davor. Unter meiner Gewalt waren sie sicher und zufrieden. Die Angst vor mir lehrte sie, wo sie leben konnten, sie schuf einen Zaun, innerhalb dessen sie zu Hause waren. Und ich war gut zu ihnen. Ich war fair und forderte ihnen nur so viel Geld ab, daß es sie nicht schmerzte, ich hielt meine Jungs zur Zurückhaltung an, und vor allem war ich großzügig. Einem Fabrikarbeiter brach ein umkippender Ladekarren das Bein, und ich unterstützte für ein halbes Jahr seine Familie; eine Großmutter benötigte eine Operation zur Erweiterung ihrer Venen und Rettung ihres Herzens, und ich schenkte ihr Leben, die Möglichkeit, mit den Kindern ihrer Kinder zu spielen. »Ganesh-bhai«, sagte eines Nachmittags ein Drucker zu mir, »lassen Sie mich eine richtig professionelle Geschäftskarte für Sie machen.« Aber ich brauchte keine Karte. Mein Name war in meinem Raj hinreichend bekannt.

An jenem Abend, nach meinem Gespräch mit Bipin Bhonsle und meinem täglichen Rundgang, begab ich mich zu Paritosh Shah. Seine älteste Tochter, die erste von vieren, sollte in sieben Tagen heiraten. Das Haus funkelte schon unter Lichterkaskaden in Rot, Blau und Grün, die über drei Stockwerke fröhlich vor sich hin blinkten. Es war ein großes Haus, das er und seine beiden Brüder erst vor einem Jahr fertiggestellt hatten und in dem sie alle zusammen wohnten, mit ihren Frauen, Cousins und Cousinen und zahllosen Onkeln auf Besuch, ein quirliger gujaratischer Kreis von Menschen. Dandia Raas, den althergebrachten Stocktanz, vor einer Hochzeit zu veranstalten, war eindeutig passe, aber bei all seinen geschäftlichen Innovationen war Paritosh Shah doch ein gestandener Traditionalist. Also tummelten sich aufgeregte Grüppchen junger Mädchen im Hof, ein Gewirbel betörender Seide. Man wartete darauf, daß ich den Tanz eröffnete, und sobald ich in einem Armsessel Platz genommen hatte, stellten sich die Männer und Frauen in vier Kreisen auf, die Kinder in den inneren beiden, und der Sänger erhob deklamatorisch eine Hand und begann: »Radha game ke game Mira«509, die Kreise drehten sich langsam, dann schneller, und in dem stetigen Händeklatschen setzte sich der fröhliche Rhythmus fort. Als die Stöcke für den Tanz hervorgeholt wurden, stand ich auf und bat ebenfalls um ein Paar. Sie lachten, als sie mich unbeholfen herumstolpern sahen, außerstande, innerhalb der sich gegeneinander bewegenden Kreise den Takt zu halten, in den klackenden Rhythmus zu finden. Ich glaube, zunächst lag das auch an den anderen Tänzern, vor allem den Männern, die sich nicht trauten, mit mir zu tanzen, und durch meine Gegenwart ihre Anmut verloren. Sie zögerten, ihre Dandias gegen meine zu schlagen, hatten Angst, zuviel Kraft hineinzulegen, zuckten vor meinen Schlägen zurück. Doch als sie sahen, daß ich über mich selbst lachte und daß meine Jungs - die an den Säulen lehnten - lächelnd den Kopf schüttelten, entspannten sich alle. Der Disco-Dandia-Song kobolzte vergnügt weiter, ich wurde lockerer in den Hüften, in den Schultern gelöst, ich war im Fluß, bewegte mich mühelos im Takt, und die Stöcke hoben und senkten sich, ein Schwung hier und klack, eine Drehung da und klack, ein rundes Gesicht, das sich mir zuwandte, und klack, und ich tanzte.

Chhota Badriya hatte dafür gesorgt, daß mich zu Hause eine Frau erwartete. Ich war fröhlich vom Tanzen, summte vor mich hin, machte den einen oder anderen kleinen Tanzschritt. Aber sie zog mich herunter. Es gibt nichts Deprimierenderes als eine deprimierte Randi. Sie war neunzehn, hübsch mollig und hatte ein rundes Näschen, doch sie lag mit aufgedunsenem Batata-Wada-Gesicht066 da, und als ich versuchte, sie in Schwung zu bringen, indem ich sie ein bißchen drückte und zwickte und kniff, fuhr sie bloß zurück und biß die Kiefer aufeinander, also packte ich sie bei den Haaren und warf sie raus. Dann trank ich etwas Milch, legte mich, um ein Kissen geschmiegt, auf die Seite und versuchte zu schlafen, doch der Schlaf turnte mir davon, und mein Kopf war von dem Stocktanz, Paritosh Shah und den Lichtern erfüllt, die an der Seite des Hauses hinab- und wieder hinaufrutschten, ich drehte mich um, und dann dachte ich an all die Männer, die ich umgebracht hatte. Ich stellte sie im Geiste nebeneinander auf und verglich sie hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Stärke, und ich kam zu dem Ergebnis, daß ich besser war als sie alle. Dann beschloß ich, die Zufahrten zu meinem Haus überprüfen zu lassen und sicherheitshalber mehr Jungs dort zu postieren. Es war jetzt spät, sehr spät, und zum ersten Mal seit Monaten legte ich selbst Hand bei mir an, und all die Frauen, die ich gekannt hatte, kamen und glitten über mich, auch Rati Agnihotri528 mit ihrer Sahnehaut. Als ich fertig war, drehte ich mich wieder auf die andere Seite, machte es mir bequem und atmete tief und gleichmäßig. Doch schließlich warf ich die Decke ab, fluchte und griff nach dem Wecker. Viertel vor vier. Jetzt hätte ich getrunken, egal was, eine Flasche Whisky oder Rum, doch es war nichts im Haus, und ich hätte die Jungs natürlich etwas besorgen lassen können, doch bei dem Gedanken daran, was sie denken, aber nicht sagen würden, schämte ich mich, also legte ich mich auf den Rücken und beschloß auszuharren. Ich würde um sechs aufstehen, meinen Tag früh beginnen. Ich betrachtete das Schimmern des schwirrenden Ventilators, und plötzlich wachte ich auf, und es war hellichter Tag, draußen auf der Straße war das Leben in vollem Gange. Zwölf Uhr. Ich hatte sechs Stunden geschlafen, vielleicht auch sieben, aber ich war müde.

Meine Erschöpfung wuchs in den folgenden Tagen noch, während wir Wahlkampf machten. Meine Jungs zogen mit den Rakshaks los, und wir trugen ihre Kampagne bis in den letzten Winkel, ihre Plakate bestürmten die Wähler auf viele Kilometer hin von jeder verfügbaren freien Fläche. Zwei Leute, mit Pistolen bewaffnet, reichten als Eskorte einer Gruppe von Rakshaks aus, damit diese in aller Ruhe ihre Arbeit tun konnten. Für seine Skrupellosigkeit berüchtigt zu sein kann hinsichtlich der Erhaltung des Friedens Wunder wirken. Für uns war es leicht verdientes Geld. Unterdessen rückte die Hochzeit näher. Ich ging schon vor der Trauung zum Haus der Familie, zur Menhdi-Feier416, und merkte, daß Paritosh Shah es zu schätzen wußte, wie sehr ich an seinen Freuden und Sorgen Anteil nahm. Obwohl er sich um tausend Dinge kümmern mußte - Essen, Geschenke, Hotelreservierungen für die Verwandten des Bräutigams fiel ihm auf, wie wackelig ich war, daß es mir Mühe machte, aufmerksam zu bleiben.

»Deine Doshas180 sind aus dem Gleichgewicht geraten«, sagte er. »Ich werde dir einen Termin bei meinem ayurvedischen Arzt besorgen.«

»Dieser Mann kriegt mich ganz bestimmt nicht in seine Klauen«, sagte ich. »Es ist bloß Schlaflosigkeit. Das geht schon vorbei.«

»Nichts ist bloß etwas. Dein Körper sagt dir etwas. Aber du hörst nicht auf ihn.«

Dann mußte ich mich zu den Frauen und den Juwelieren setzen. Es galt zu klären, wie viele Tolas637 Gold für die breiten Halsketten, Armreife und Ohrringe der Mitgift verwendet werden sollten, wieviel ihre Herstellung kosten würde. Ich beobachtete, wie Paritosh Shah mit kleinen Schritten die Treppe zum Hof hinunterging, und fragte mich, was sein Körper wohl sagte. Wie waren die Fettschichten zu deuten, die ihn umwogten und umwallten? Ich rieb mir die Augen. Er war gut zu mir gewesen. Er hatte mich in Gelddingen nie belogen, hatte nie vorgegeben, sein Eigeninteresse zurückzustellen, hatte mich, soweit nur irgend möglich, unterstützt, bis hin zur Gefährdung seines Lebens, und er hatte mir gezeigt, daß in dieser Welt alles zusammenhängt, wo beim Geschäftemachen Politik und Bhaigiri073 ins Spiel kommen, wie es sich am besten leben ließ. Dieserart war unsere Freundschaft. Er war ein guter Mensch, soweit er es sein konnte, war durch seine harte Arbeit fett geworden, seine Körperfülle war also seine Tugend. Und deshalb war ihm sein Fett auch keine Last.

Das ganze Haus duftete nach Essen. Ich hatte Hunger, war aber sterbensmüde, und ich wußte, daß ich vom Essen noch müder werden würde. Doch zu gehen, ohne etwas zu essen, wäre eine Beleidigung gewesen, also nahm ich einen Teller und aß ein paar Happen, dann raffte ich mich hoch, gab meinen Jungs ein Zeichen und erklärte Paritosh Shah, er solle sich um seine Gäste kümmern, als er mich an die Tür bringen wollte. Nach einigem Hin und Her brachen wir schließlich auf. Ich suchte gerade in den Unmengen von Schuhen an der Eingangstür nach meinem Paar, als Dipika zu mir kam. Dipika war Paritosh Shahs zweitälteste Tochter, eine Stille mit ernstem Gesicht und großen, großen Augen. Sie hielt mir einen Teller mit Puris und ein Glas hin und sagte: »Aber Sie haben ja noch gar keinen Ras genommen, Ganesh-bhai.« Das hatte ich wohl, aber ich nahm gern einen weiteren Puri von ihr an, wo sie doch so höflich war. Als ich danach griff, flüsterte sie mir mit gesenktem Kopf zu: »Könnte ich mal mit Ihnen reden, Ganesh-bhai?«

Also nahm ich sie mitsamt Teller und Glas mit zum Auto, und wir unterhielten uns. »Die reden schon über meine Heirat«, sagte sie bitter. »Obwohl meine Schwester noch nicht mal verheiratet ist.«

»Das ist doch klar«, sagte ich. »Sie sind deine Eltern. Und du wirst glücklich sein, Heiraten ist doch etwas Gutes.« Ich wußte, daß sie aufs College ging, und vermutete, daß sie irgendwelche modisch-emanzipierten Einwände gegen das Heiraten hatte, irgendwelche Vorstellungen von Beruf und Karriere, die sie einer dieser albernen Zeitschriften entnommen hatte, und so begann ich ihr einen Vortrag darüber zu halten, was ihre Pflicht und was das wahre Leben sei. Sie rutschte unruhig herum, raschelte mit ihrem rotgrünen Rock und ihrem goldenen Tuch.

»Aber Ganesh-bhai«, sagte sie.

»Kein Aber«, sagte ich. »Deine Eltern haben recht.«

»Aber Ganesh-bhai«, sagte sie, nun in leicht klagendem Ton. »Ich will doch heiraten.«

Als ich sah, wie ihre glatte Stirn sich peinvoll runzelte, begriff ich schlagartig, daß es hier um etwas weitaus Heikleres ging als um Mädchenphantasien über eine berufliche Laufbahn. »Was?« sagte ich. »Denkst du an jemand Bestimmten?«

»Ja.«

»Woher kennst du ihn? Aus dem College?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das N. N. College ist eine Mädchenschule. Ich bin mit seiner Schwester befreundet. Sie ist auch auf dem N. N. College.«

»Wie heißt er?«

Wenigstens besaß sie noch die schickliche Schüchternheit. Nach zwei Anläufen und heftigem Erröten bekam sie den Namen über die Lippen.

»Prashant.«

»Und was ist das Problem? Ist er kein Gujarati?«

»Nein, Ganesh-bhai.«

»Was dann? Ein Marathe?«

Rasches Kopfschütteln, und nun umklammerte sie den Teller wieder krampfhaft.

»Was dann?«

Ihr Gesicht hing fast im Teller. »Ein Dalit«, sagte sie. »Und arm ist er außerdem.«

Ihr Problem war gigantisch, so riesenhaft wie ihr Vater. Ich hatte immer wieder die Erfahrung gemacht, daß die Gujaratis fortschrittlicher und toleranter waren als andere Gemeinschaften, aber dies würde das Verständnis ihres Vaters überstrapazieren. Geschäfte machte er mit jedem, aber eine Heirat war doch etwas anderes. Er hatte sie aufs College geschickt, aber nicht für so etwas, nicht damit sie irgendeinen Gaandu heiratete, der nicht nur ein Dalit, sondern gar ein armer Dalit war. Ein sehr reicher Dalit wäre vielleicht akzeptabel gewesen, aber ich hörte Paritosh Shah schon sagen: »In diese Familie sollen wir einheiraten?« Ihre Mutter und ihre Tanten würden schroffer in ihrer Ablehnung sein, radikaler. Die junge Dipika hatte einen harten Kampf vor sich. »Warum willst du deiner Familie das antun?« fragte ich. »Wir sind doch nicht im Film. Dein Vater wird deinen Prashant in Stücke reißen.«

Sie heftete ihren Blick auf mich, ihr Rückgrat streckte sich, und ihr Hals nahm in ihrem Ärger etwas Anmutiges an. »Ich weiß, daß das kein Film ist«, sagte sie. »Ich werde sterben, Ganesh-bhai. Wenn ihm irgend etwas geschieht, bringe ich mich um.«

Wie wenig jungen Menschen das Leben doch wert ist, ihnen, die so voll davon sind. Wie wenig wissen sie vom Tod. Sie denken, er sei nur eine Pause in einem Drama, suhlen sich in der Vorstellung, wie ihre unterdrückerischen Eltern sich gegen die Brust schlagen und jammern, und begreifen nicht, daß der Vorhang fällt, daß dieses Verschwinden unwiderruflich ist. Ich sagte das zu Dipika, worauf sie lachte. »Ich bin kein Kind mehr«, antwortete sie, und da wurde mir klar, wie weit sie mit diesem Prashant schon gegangen war, sah den strahlenden Stolz der jungen Frau auf die Freuden, die sie empfangen und gewährt hatte.

»Was willst du von mir, Dipika?« fragte ich.

»Reden Sie mit Papa. Auf Sie wird er hören.« Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren Scheitel. »Sie waren immer nett zu mir, seit meiner Kindheit. Und ich weiß, daß Sie nicht altmodisch denken.«

Sie meinte, daß in meiner Company Brahmanen und Marathen, Muslime, Dalits und OBCs zusammenarbeiteten, ohne Unterschied und ohne Mißtrauen. Wir hatten OBCs, die als Controllers arbeiteten, und Brahmanen, die Fußsoldaten waren, und keiner verschwendete einen Gedanken darauf. Muslime und Hindus waren Kameraden, die einander Tag für Tag, Nacht für Nacht ihr Leben anvertrauten. Aber das war keine Besonderheit meiner Company, es traf auch auf viele andere Companys zu. Wir Bhais waren wirklich Brüder - wir lebten jenseits von Recht und Gesetz und waren einander verbunden. Wir waren zu allem entschlossen und deshalb frei. Aber eine Company war eine Company, und eine Ehe - besonders in einer Großfamilie wie der ihren -war etwas anderes. Doch wie, wie nur sollte ich das diesem Kind erklären, das jetzt meine Hand mit seinen beiden Händen hielt?

»Geh rein«, sagte ich. »Tu nichts. Sag niemandem etwas, keiner Menschenseele. Laß mich darüber nachdenken.«

Tränen tropften ihr aufs Kinn. Ich wischte ihr das Gesicht mit ihrem Pallu ab und schickte sie mit ihrem schwankenden Teller wieder hinein. Und zu Chhota Badriya sagte ich, daß wir nach Film City rausfahren würden.

»Jetzt, Bhai?« fragte er.

»Nein, nächste Woche, Chutiya«, antwortete ich. »Steig ein.« Er war wirklich ein ulkiger Junge, ein Kerl wie eine Dampfwalze, der keine Angst vor Schwertern hatte und bleihaltige Luft unterhaltsam fand, doch vor Film City im Dunkeln fürchtete er sich, denn ihm hatte mal jemand erzählt, daß nachts Leoparden von den bewaldeteten Hügeln kämen. Er setzte sich neben den Fahrer, den Arm über der Rückenlehne, und trommelte nervös mit den Fingern. Schließlich drückte ich seine Hand sanft nieder und sagte: »Okay, okay, hör auf zu zittern. Du kannst im Auto bleiben.«

Er nickte heftig, hocherfreut. »Gut, Bhai. Ich bewache das Auto.«

Die Männer im Wagen brachen in schallendes Gelächter aus. Ich schlug ihm auf den Hinterkopf. »Bhadve, verteidige es mit Zähnen und Klauen! Sorg dafür, daß die Moskitos es nicht stehlen, okay? Und wenn eine große Kakerlake kommt, schieß sie mit deiner Gulel in tausend Stücke, okay?«

Wir lachten während der ganzen Fahrt nach Film City. Für die Wachen am Eingang bremsten wir etwas ab, dann rasten wir die ansteigende Straße hinauf, durch die plötzliche Dunkelheit und Stille der buschbewachsenen Hügel. Es dämmerte schon, die Straße war leer. Man sah zusammengedrängte Schatten unter den Blättern, wildes Astgewirr, und plötzlich erhob sich auf dem offenen Gelände vor uns ein Schloß mit hohen Türmchen und flatternden Fahnen im Licht des aufgehenden Mondes. Natürlich war es aus Holz und Segeltuch erbaut, aber in diesem Licht wirkte es vollkommen echt. Wir fuhren an einem kompletten goanesischen Marktplatz vorbei, den eine hohe Kirche überragte, die ihr Kruzifix emporstreckte, und an einem Fischereihafen, in dem Boote aneinandergelehnt schlummerten. Hier in Film City wurden Träume von der perfekten Liebe geschaffen, wurden die Lieder choreographiert, die Dipika und ihr Freund einander zweifellos vorsangen. Die Straße beschrieb eine scharfe Kurve, der Motor heulte auf, und es ging immer weiter hoch, zum Heliport hinauf. Der Mond hing tief, schien ganz nah, schwebte knapp über den Gipfeln der Berge, und die Täler waren scharfe Einschnitte in Silber und Schwarz. Eine leichte Brise strich mir über den Nacken. Dies war die tiefe Stille fernab der Stadt, die ich suchte, ihretwegen kam ich immer wieder hierher. Ich trat an den Rand des Heliports, und die Jungs ließen mich gehen, sie standen abseits in einem Bogen da und überließen mich mir selbst. Ich setzte mich an den Rand des Plateaus und hielt in der scheckigen, gesprenkelten Weite unter mir nach einem Leoparden Ausschau. Komm, Leopard, sagte ich. Erlöse mich von diesem Problem. Ich hatte dem Mädchen versprochen zu helfen -bloß wie? Es war clever von ihr gewesen, mich als ersten anzusprechen und auf ihre Seite zu ziehen. Denn wäre ihr Vater dahintergekommen und hätte erst er mich angesprochen, dann hätte ich ihren zerlumpten Dalit ohne Zögern aufgreifen und von einer Klippe stürzen lassen. Einfach so. Aber was nun? Die Tochter hatte mich um Erbarmen gebeten, und ich war Ganesh Gaitonde. Doch der Vater war mein Freund.

Ich blieb sitzen, bis der Mond sich in den Höhen des Himmels verloren hatte, doch es kam weder ein Leopard noch eine einfache Antwort. Durch einen Mord ließ sich dieses Problem nicht lösen, und auch noch soviel Geld würde keinen Frieden erkaufen. Vater und Tochter liebten einander, und deshalb würden sie sich um so mehr hassen, sich weh tun, würden sich Verletzungen zufügen, zu denen kein Mörder je imstande wäre. Ich stand auf und ging zu den Jungs, die dösend nebeneinander saßen. Sie erhoben sich wankend, folgten mir zum Wagen. Chhota Badriya schlief tief und fest, das Gesicht an der Windschutzscheibe, die Lippen aufgeworfen und die Wange plattgedrückt. Ich klopfte auf Höhe seiner Nase an die Scheibe, und er erwachte und fingerte unter seinem Hemd herum, bis er mich erkannte. In diesem ersten Moment des Erwachens, des Zugreifens auf die Welt hatte er Angst gehabt. Ich erkannte die Panik wieder. Wir alle hatten Angst. Um überhaupt aus dem Haus, auf eine Straße dieser Stadt treten zu können, wo schon im nächsten Moment Kugeln durch die Luft zu schwirren drohten, schoben wir die Angst beiseite, versenkten sie in der tiefsten mondlosen Schlucht. Aber die Angst lebte weiter, sie regte und nährte sich wie ein Tier in der Nacht. Chhota Badriya mochte Mädchen, ganz junge. Er mochte sogar kleine ältere Frauen, die keine Mausambis hatten, die vorne und hinten flach waren und für ihn Rattenschwänzchen trugen, sich auf seinen Schoß setzten, von Puppen erzählten, den Kopf auf die Seite legten und kicherten. Manchmal vögelte er sie auch, aber ich glaube, das tat er nur, weil die anderen Jungs ihn sonst ausgelacht hätten. Ihm selber hätte es völlig gereicht, sie einfach nur zu halten, den Traum vom Spielen zu spielen und auf diese Weise eine Kindheit zu leben, die von der Zukunft unbelastet war. Jetzt räusperte er sich lautstark, kurbelte das Fenster herunter und spuckte aus.

»Du Sack«, sagte ich. »Du bist wirklich eine ausgezeichnete Wache.«

»Tut mir leid, Bhai«, sagte er. »Ich hab überall Leoparden gesehen. Ich dachte, ich würde kein Auge zutun. Aber dann muß ich wohl doch eingeschlafen sein.«

»Du hast geschlafen wie ein Baby, Chutiya.« Aber ich strich ihm dabei über den Kopf. Er war ein guter Junge. Tapfer und wachsam, wachsam für mich, und intelligent. Er hatte ein scharfes Auge, registrierte Gesichtsausdrücke, an ungewöhnlichen Stellen geparkte Autos, und besaß ein feines Gespür für Gerüchte. Doch in meiner jetzigen verzwickten Lage konnte er mir nicht helfen, bei diesem delikaten Problem, das zu gebrochenen Herzen und eingeschlagenen Köpfen führen würde. Keiner von ihnen konnte mir helfen. Es machte mich wütend, plötzlich wieder in die glitschigen Untiefen der Familie gerutscht zu sein. Ich hatte mich darüber erhoben, hatte das alles hinter mir gelassen. Ich war allein gewesen. Doch es gab kein Entkommen. Die Reifen klatschten auf die Straße, wir fuhren zurück in die Stadt.

Am nächsten Tag gingen wir in die letzte Phase des Wahlkampfs. Bipin Bhonsle rief immer wieder an, so höflich wie bei unserem ersten Treffen, aber nervlich am Ende, um sich ein weiteres Mal bestätigen zu lassen, daß wir ihm auch wirklich zu seinem kostbaren Sitz verhelfen würden. Der Amtsinhaber von der Kongreßpartei war durch die Bastis gezogen und hatte Hundert-Rupien-Scheine und ganze Ziegen an die Bürger verteilt. Gutes, frisches Fleisch, so lernte ich, ist die Grundlage manch einer politischen Laufbahn. Es leuchtete mir ein. Ein Armer schlägt sich den Bauch voll, genießt sein Essen, ölt sich die Kehle mit ein oder zwei kostenlosen Drinks, vielleicht auch dreien, aber nicht mehr, denn er hat noch etwas vor, er besteigt seine Frau, und am nächsten Morgen gehen sie beide glücklich zur Wahlkabine, ihre Körper fühlen sich in dieser seligen Vernebelung ganz leicht an, und sie vergessen völlig, daß dieser miese khakigewandete Politiker seit Jahren nichts für sie tut, daß er geraubt und gestohlen und vielleicht sogar gemordet hat. Das alles ist vergessen, dahin, das glückliche Paar gibt seine Stimme ab, und der Diener des Volkes ist wiedergewählt, um ihnen weiterhin Roti, Kapda und Makaan536 vorzuenthalten. Hungrig, nackt und ohne Dach über dem Kopf, erinnern sie sich nach dem genossenen Fleisch an nichts mehr. Und so füttert man Schafe mit Ziegen, um sie in die richtige Richtung zu treiben, zum Schlachthaus. Es ist ganz einfach.

Doch ich hatte meine eigene Intrige gesponnen. Seit zwei Tagen ließ ich Gerüchte streuen. Meine Jungs gingen auf die Märkte, die Bazaare und in die Restaurants der Kongreß- und RPI-Gegenden537 und flüsterten: »Am Wahltag kommen die Gundas250, es sind Schläger angeheuert worden.« Ein Gerücht ist die wirksamste Waffe, die es gibt, egal wo - man setzt es kostenlos in die Welt, und es wächst, mutiert, gebiert neue Gerüchte. Morgens pflanzt man irgendeinem Ladenbesitzer ein sich windendes Würmchen ins Ohr, und am Abend gehen dann hundert wolkenkratzergroße Ghatotkachas223 im ganzen Land um. Die gegnerischen Wähler waren jetzt also in der richtigen Verfassung, von einer klebrigen Marinade der Angst überzogen. Nun war es an der Zeit, das Feuer zu schüren. Ich hatte dreißig Motorräder mit abmontierten Nummernschildern bereitstellen lassen. Jedes wurde mit zwei Jungs besetzt, deren Gesichter mit Daku-Tüchern143 verhüllt waren, und der Sozius bekam mehrere Tüten mit Sprudelflaschen mit, einen Kasten pro Motorrad. Sie knatterten los, brausten hupend durch feindliches Gebiet und leerten die Straßen mit ihren Flaschen, sie schüttelten sie ein paarmal und schleuderten sie dann auf die wenigen Bürger, die es noch wagten, draußen herumzulaufen. Diese Glasflaschen fliegen wie Schrapnells, doch es ist ihr ohrenbetäubendes Zerplatzen, das die gewünschte Wirkung erzielt und die Bürger zitternd und mit vollgepißten Hosen nach Hause hasten läßt. Die Jungs amüsierten sich prächtig, während sie durch die morgendliche Kühle fuhren und ihren Wurfarm trainierten. Chhota Badriya kam singend und mit geröteten Wangen zurück. »Noch mehr, Bhai?« brüllte er von der Straße zu mir herauf. Ich saß auf dem Dach, auf dem Wassertank. »Gibt's noch mehr zu tun?«

»Bas, Badriya, bas«, sagte ich. »Beruhige dich. Es reicht. Jetzt tritt die Polizei auf den Plan.«

»Krach, peng, die Flaschen sind richtig explodiert, Bhai.«

»Ich weiß.«

»Ein Mordsspaß, Bhai.«

»Ich weiß. Jetzt setz dich schön ruhig hin, nächstes Jahr machen wir es vielleicht wieder.«

Und sie kam, die Polizei, sie eilte in die betroffenen Gebiete, Gewehre und Lathis parat. Inspektor Samant schlich sich kurz weg und rief mich von einer Telefonzelle aus an. »Der DCP-saab und der ACP007-saab sind da, Bhai«, sagte er. »Alle sind in Aktion. Wir patrouillieren durch die Straßen. Um Ruhestörungen vorzubeugen, verstehen Sie.«

»Gut, gut«, sagte ich. Bipin Bhonsle hatte auch die Polizisten bezahlt, bis in die obersten Ränge. Sie würden für die richtige Art von Ruhe sorgen. »Zu weiteren Ruhestörungen dürfte es nicht kommen. Sehen sie irgend jemanden auf der Straße?«

»Niemanden, weder Mann noch Frau. Nur drei Hunde.«

»Gut«, sagte ich. »Die typischen Kongreß-Wähler. Lassen wir sie gehen.«

Ich lachte und legte auf. Mehr als dies brauchte es nicht, damit der Gegner zu Hause blieb und das Schlachtfeld uns überließ. Keinen Urnendiebstahl, keine Stimmenfälschung, nur dies. Inzwischen waren meine Jungs in unserem Sektor unterwegs. »Wir sind vom Komitee für faire Wahlen«, erklärten sie und brachten die Wähler in Zehner- und Zwanzigergruppen zu den Wahllokalen. »Alles ist ruhig und friedlich«, sagten sie. »Kommen Sie, kommen Sie.« Und die Wähler kamen, von Eskorten geschützt, und wurden vor den Wahlkabinen von Bipin Bhonsles Männern, die hübsche gelbe Parteibuttons trugen, lächelnd empfangen. Die Wähler traten einer nach dem anderen ein, wurden allein gelassen, setzten ihr kleines schwarzes Kreuz auf den Wahlschein, der zusammengefaltet mit leisem Rascheln durch den Schlitz der hölzernen Wahlurne rutschte, die Schlangen bewegten sich zügig, die demokratische Maschinerie lief wie am Schnürchen, mit etwas Nachhilfe von uns.

In Gopalmath saß ich auf dem Dach und ging meinen täglichen Geschäften nach. Unten im Hof und auf der Straße sammelten sich die üblichen Grüppchen von Bittstellern. Man brachte mir Geld, und ich verteilte welches. Ich übte Gerechtigkeit. Ich regierte. Die Sonne zerfloß, zögerte und starb ihren täglichen Tod. Ich aß und zog mich in mein Schlafzimmer zurück. Es war ein ruhiger, ganz normaler Tag.

Bipin Bhonsle gewann mit sechstausenddreihundertunddreiundvierzig Stimmen Vorsprung.

Ich hatte einen Horror vor der Hochzeit. Ich mußte natürlich hingehen, aber ich wußte nicht, wie ich Dipika gegenübertreten, ihr mein Gesicht zeigen sollte, ohne die magische Formel gefunden zu haben, die ihr immerwährendes Glück garantierte. Mich ärgerte dieses Gefühl der Hilflosigkeit, diese Lähmung meines Willens. Das Problem ließ mich nicht los, nagte mit tausend winzigen Zähnen an den Rändern meines Bewußtseins, wie ein Heer erbarmunsgloser Ameisen. Ich war wütend auf Dipika. Wer war sie schon? Was bedeutete sie mir, daß ich ihr das schuldig war? Da trat dieses kleine Nichts von einem Mädchen zwischen mich und meinen Freund und verfolgte mich mit seinen riesigen stierenden Augen, dabei war sie nicht einmal hübsch - warum konnte ich ihr nicht einfach sagen, daß sie ihren dreckigen Mashuq402 nehmen und zur Hölle gehen sollte? Warum? Ich konnte es nicht. Sie hatte mich gebeten, und ich hatte ihr ein Versprechen gegeben. Es entbehrte jeder Logik, aber es war die Wahrheit, es war geschehen. Ich mußte also handeln. Bloß hatte ich immer noch keine Ahnung, wie.

Am Tag der Hochzeit nahm ich meine Geschenke - goldene Armreife, goldene Ohrringe und eine goldene Halskette - und ging zu Paritosh Shah. Ich hatte meine Schuhe kaum ausgezogen, da kam Dipika zur Tür gerannt, wäre fast gefallen, hätte sie sich nicht am Türpfosten festgeklammert. Schwankend stand sie da in ihrem goldenen Sari, und ich spürte, daß meine Jungs den Blick abwandten. Ich wußte, daß sie dachten: »Was treibt Bhai denn da?« Mehr war nicht nötig, um eine Geschichte in die Welt zu setzen, die, während sie in der Stadt kursierte, immer länger und detailreicher werden würde. »Beti069«, sagte ich und tätschelte ihr väterlich den Kopf. Dann nahm ich sie bei der Schulter und führte sie hinein. Während ihre Tanten und Cousinen, prachtvoll und wunderschön in ihrem Feststaat, im Korridor an uns vorübereilten, beugte ich mich zu ihr und tat so, als gäbe ich ihr etwas aus meiner Brieftasche. »Sei ruhig, du Dummkopf«, sagte ich. »Wenn du verrückt spielst, kann ich nichts für dich tun. Benimm dich. Wenn ich dir etwas sagen will, werde ich es dir sagen.«

»Aber«, sagte sie. »Aber ...«

»Still jetzt«, sagte ich. »Wenn du diese Sache durchziehen willst, mußt du tapfer sein. Lerne, dich zu beherrschen. Laß die Angst hinter dir. Schau mich an. Lerne von mir. Du hast mir gesagt, du wärst kein Kind mehr, aber du verhältst dich wie eins. Kannst du eine Frau sein?«

Sie blinzelte ihre Tränen weg und wischte sich mit einem Zipfel ihres Pallus die Nase ab. Dann nickte sie.

»Geh und hab am Glück deiner Schwester teil. Sei fröhlich, sonst merken die Leute etwas.« Sie war nach wie vor wackelig auf den Beinen. »Ich bin Ganesh Gaitonde, und ich sage dir, daß alles gut werden wird. Ganesh Gaitonde sagt dir das. Glaubst du ihm?«

»Ja«, sagte sie, und während sie es sagte, begann sie es zu glauben. »Ja.«

»Jetzt geh.«

Sie sprang davon, nahm im Hof zwei kleine Mädchen bei der Hand und wirbelte mit ihnen herum, und in dem schallenden Gelächter ertönte ihr Glück, so greifbar wie der Duft der Unmengen von Blumen, die in den Türen und an den Wänden hingen. Sie war glücklich. Das hatte ich ihr geschenkt, obwohl ich es nicht zu verschenken hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo und wie ich es finden könnte. Und so saß ich im Mandap397 neben Paritosh Shah, während die Priester sangen, dichter Rauch vom Opferfeuer emporquoll und das Glück der älteren Schwester beschworen wurde - dem Leben der jüngeren sah ich mich hilflos gegenüber. Ja, Dipika war jetzt glücklich, wie sie da hinter ihrer Schwester saß, an die Schulter ihrer Mutter gelehnt, das Gesicht gerötet und von der Hitze des Feuers schweißbenetzt, die Augen feucht glänzend von dem beißenden Rauch. Während ich sie betrachtete, rätselte ich: Warum bloß sind die Frauen so sehr Gefangene? Warum ist der eine Mann ein Dalit und arm und der andere nicht? Warum passiert dies, aber nicht das? Die Sanskrit-Verse krochen unter meine Haut, ich spürte, wie sie meine Seele zersplitterten, und in mir stieg die Frage auf: Wer ist Ganesh Gaitonde?

Nachdem die Feierlichkeiten vorüber waren, nach dem Essen und Trinken und den Abschiedsritualen, sagte ich Paritosh Shah, seiner Frau, seinen Eltern und den Bataillonen von Gujaratis auf Wiedersehen; er begleitete mich noch zum Auto, und selbst inmitten all des Trubels bemerkte er, daß mich etwas umtrieb. »Was ist los, Bhai? Du siehst müde aus. Kannst du immer noch nicht schlafen?«

»Ja, ich bin sehr müde«, sagte ich.

»Hör mir mal zu. Du kannst so nicht weitermachen. Nimm heute nacht eine Calmpose, und morgen kümmern wir uns um deine Gesundheit.«

»Morgen muß ich dich um einen Gefallen bitten.«

»Einen Gefallen? Was denn? Sag es mir doch gleich.« Er beugte sich zu mir, den Arm um meine Schultern gelegt. Auf seiner Stirn war ein großer roter Tikka-Fleck633, ich konnte die winzigen weißen Reiskörner darin sehen. »Sag es mir.«

»Nicht heute, Paritosh Shah. Morgen.«

»Na gut, dann morgen.« Er trat näher, zog mich in seine kissenweiche Umarmung und klopfte mir auf den Rücken. »Ich komme morgen früh zu dir.«

»Nein, ich komme zu dir.« Ich drückte seine Schulter und trat zurück. »Bitte.«

»Auch gut, wie du es möchtest, Yaar. Wann immer es dir paßt. Ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause.« Er war verwirrt. Diesen Ganesh Gaitonde war er nicht gewohnt. Um ehrlich zu sein, war es ein Ganesh Gaitonde, den auch ich kaum kannte. Ich hatte in letzter Zeit Mühe gehabt, Schlaf zu finden, aber jetzt war ich ins Schwimmen geraten, war in unbekannte, schwere See geworfen worden von dieser halben Portion, diesem schmächtigen Mädchen, dem ich nichts schuldig war.

»Bis morgen«, sagte ich mit erhobener Hand und fuhr nach Hause. In dieser Nacht war es mir egal, daß ich schwach gewirkt hatte, und ich spürte meine Scham nur wie eine vage Irritation. Ich nahm eine Calmpose und schlief, doch ich träumte von einem schwarzen Meer, das seine endlose Dünung gegen mich schleuderte, und es gab kein Leben, nichts Lebendiges unter dem flachen weißen Himmel, nur mich, und ich war allein.

Am nächsten Morgen kam Bipin Bhonsle mit Geschenken. Er brachte mir in vier Plastiktüten das Bargeld, das er mir schuldete, doch außerdem kam er mit einem nagelneuen Videorecorder von Sony und vier Videos, alles amerikanische Filme, sowie vier Schachteln Süßigkeiten. »Mein Vater hat gemeint: ›Bring ihm einen guten Scotch mit‹, aber ich habe ihm gesagt: ›Ganesh-bhai rührt das Zeug nicht an, und ich verstehe auch, warum. Deshalb ist er nämlich so effizient.‹« Er saß auf der Stuhlkante, ernst und zugleich enthusiastisch. »Und wissen Sie was, Ganesh-bhai? Ich habe einen Entschluß gefaßt. Ab heute ist es auch für mich vorbei mit dem Alkohol. Ich werde von Ihnen lernen. Es gibt viel zu tun, jetzt, wo wir gewonnen haben. Keine Zeit für Saufereien. Wir müssen weiter gewinnen.«

»Ja«, sagte ich. Ich war müder als zuvor aufgewacht, und meine Beine waren schwer, unbeweglich, als wäre das Blut darin zu einer festen Masse geronnen. Doch angesichts Bipin Bhonsles Eifers raffte ich mich auf. »Gut, Bipin, gut. Ein nüchterner Mann ist zielorientiert, wach und aufmerksam. Whisky, Rum, das ist alles nicht nötig. Das Leben selbst reicht völlig aus.« Es war eine Rede, die ich schon viele Male gehalten hatte. Für ihn war sie neu.

»Ja, Ganesh-bhai, Sie haben recht: Das Leben selbst reicht völlig aus. Aber hier, bitte - viel Spaß damit.« Er hielt mir die Videokassetten hin. »Es sind alles internationale Hits. Voller Action. Sie werden Ihnen gefallen.« Er war so dankbar, daß es eine Stunde dauerte, ihn wieder loszuwerden, und auch dann ging er nur, weil ich ihm sagte, daß ich eine Verabredung mit Paritosh Shah hätte und bereits zu spät kommen würde. Er ging unter lautstarken Beteuerungen seiner ewigen Loyalität, wenn ich irgend etwas brauchte, solle ich mich an ihn wenden, er sei natürlich nur ein kleiner Mann, aber wenn ich irgend etwas wolle, solle ich ihn anrufen, und in Sachen internationale Unterhaltung sei er ein echter Experte. »Heiße Videos, Elektronik, Zigarren, egal was, Ganesh-bhai, egal was«, sagte er, während er schon die Treppe hinunterging. Er trug ein orangefarbenes Hemd mit Blumenmuster, eine braune Gabardinehose und rotbraune Schuhe, schimmernd und mit goldenen Schnallen. Als er sich am Tor umdrehte und noch einmal winkte, glitzerte seine Halskette grell in der Sonne. Er war ein rundum glanzvoller Mann.

Wir fuhren in rasantem Tempo zu Paritosh Shah. Ich wäre lieber langsam gefahren, denn ich hatte immer noch keinen Plan, keine Überzeugungsstrategie entwickelt. Aber das konnte ich Chhota Badriya schlecht sagen - fahr langsam, fahr gar nicht, fahr nie mehr, denn ich bin hilflos. Schließlich war ich Ganesh Gaitonde. Ich hatte den Part übernommen, jetzt mußte ich ihn auch spielen. Also stieg ich heldenhaft aus, ging zu Paritosh Shahs Haustür, die mit ihren Blumen und Ranken noch immer Glück verhieß, und trat ein. Als ich schließlich barfuß im Hof stand, war es mit meinem Selbstbewußtsein und Stil vorbei. Ich betrat Paritosh Shahs Büro geradezu demütig. Er war am Telefon, eines seiner endlosen Geschäfte, er leitete Geld von hier nach da, kreuzte die Währungen miteinander und hielt dabei sorgsam und unauffällig eine Hand in den Strom. Das Geld sprang ihm zu, und er erfreute sich an seinen Mätzchen. Er legte die Hand über die Sprechmuschel, doch ich bedeutete ihm, weiterzutelefonieren, setzte mich und schaute ihm zu. Hinter ihm hing vor einer goldenen Wand ein goldgerahmtes Bild von Krishna mit seiner Flöte. Die Tischplatte von Paritosh Shahs Schreibtisch war ebenfalls golden, und es standen fünf Telefone darauf. Ich betrachtete Krishna, seine tänzerische Haltung und sein angedeutetes Lächeln, und ich haßte ihn. Du bist arrogant, Gott. Ich setzte mich woandershin, aber Krishnas Augen folgten mir. Ich konnte ihm nicht entrinnen.

Paritosh Shah legte auf, vom Kick des Geldes belebt. »Namaskar, mein Freund.« Er rieb sich die Hände, wippte auf seinem Stuhl nach hinten und war zufrieden mit der Welt. Und Krishna lächelte mich über seine Schulter hinweg an.

Jetzt erinnerte sich Paritosh Shah an unsere Unterhaltung vom Vorabend. »Also, Bhai, was ist los? Was kann ich für dich tun?«

In diesem Moment begriff ich, weswegen Krishna lächelte. Mir wurden die Grenzen meiner Macht bewußt. Und ich erzählte Paritosh Shah alles, was ich über Dipika und ihren Geliebten in Erfahrung gebracht hatte, daß er Prashant Haralkar hieß, daß sein Vater beim Amt für Stadtreinigung gearbeitet hatte, daß seine Mutter vor zwanzig Jahren ihre Kinder genommen und den Vater, einen Alkoholiker, verlassen hatte. Auch, daß Prashant Haralkar ein fleißiger Schüler gewesen war, im Licht der Straßenlampen gelernt und die Abendschule besucht hatte, daß er jetzt eine feste Stelle bei BMC hatte, in einem kleinen, aber ganz passablen Haus in Chembur lebte und seine Mutter und jüngeren Schwestern finanziell unterstützte.

Paritosh Shah bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Ich ging um den Schreibtisch herum und setzte mich auf die Couch neben ihm. Ich legte ihm die Hand aufs Knie, tätschelte es unbeholfen. Er zuckte vor der Berührung zurück. »Wer wird denn dann noch meine Kinder heiraten?« schluchzte er durch seine Finger.

Ich wußte keine Antwort. Ich hatte Dipika das Glück versprochen, aber was war mit Paritosh Shahs anderen beiden Töchtern und seinen zwei Söhnen, was sollten sie tun? Ich konnte Wahlen gewinnen, ich konnte Männer auf der steilen Leiter des Erfolgs nach oben befördern und sie im nächsten Moment töten, ich konnte Häuser niederbrennen, mir Land aneignen, mit einem willkürlich angesetzten Streik die halbe Stadt lahmlegen, wenn es mir beliebte. Aber wer würde der Reihe sanftmütiger Matronen entgegentreten, die bei der Hochzeit von Paritosh Shahs Tochter so sittsam dagesessen hatten, mit bedecktem Kopf? Wer würde ihre korpulenten Gatten der Aufklärung näherbringen? Paritosh Shahs Sippschaft würde bei Einladungen anderweitige Verpflichtungen vorschützen, man würde vergessen, ihn zu Familienfeiern einzuladen, und die Söhne und Töchter würden woanders verlobt und verheiratet werden, mochte er auch noch so viel Geld haben und mir noch so nahestehen. Und er würde jedesmal, wenn er einen Bekannten traf, jedesmal, wenn er auf die Straße ging, Scham empfinden. Während ich neben Paritosh Shah saß, durch seine Tränen erniedrigt und außerstande, ihn anzusehen, begriff ich, wie verzwickt die Situation war. Ich hätte all seine Verwandten verprügelt, mit meinen Schuhen auf sie eingeschlagen, diesen Wohlig-Selbstgefälligen den Schädel aufgebrochen, um moderne Luft hereinzulassen - wenn es denn irgendwas genützt hätte. Aber das Brauchtum wabert zwischen Männern und Frauen, es versteckt sich in den Bäuchen der Kinder und entweicht mit jedem Atemzug, breitet sich aus und verpufft, man kann es nicht beseitigen, man kann es nicht festhalten, man kann es nur hinnehmen.

»Hast du diesen verdammten Maderchod kennengelernt?« fragte Paritosh Shah, jetzt wütend.

»Nein. Hör mal, ich bin nicht seinetwegen hier. Er interessiert mich nicht im geringsten. Dipika hat sich an mich gewandt.«

»Bring ihn um«, sagte er. »Bring ihn einfach um.«

»Kein Problem«, sagte ich. »Ich gebe gleich die Order. In einer halben Stunde ist er erledigt, man wird nie eine Spur von ihm finden, keinen Fingernagel. Aber was dann? Er wird tot sein, und sie wird ihn ihr restliches Leben lang lieben. Und dich ihr Leben lang hassen.«

»Sie ist jung. Das sind nur Flausen. Sie wird eine Woche heulen, und dann wird sie ihn vergessen.«

»Kennst du deine Tochter so schlecht?« Seine Wangen glänzten naß, seine Kiefer mahlten. »Sie hat mir gesagt, sie würde sich umbringen, und ich habe ihr geglaubt. Verstehst du? Ich habe ihr geglaubt. Du wirst sie tot auffinden.«

»Was also dann?«

»Erlaube ihr, ihn zu heiraten«, sagte ich. »Verheirate die beiden in aller Stille, und schick sie dann weg. Nach Madras, nach Kalkutta. Oder Amsterdam, wenn du willst.«

»Das wird nichts ändern«, sagte er. »Auch dann werden es alle erfahren. Wenn sie plötzlich verschwindet, einfach weg ist, werden die Leute Fragen stellen, Geschichten erfinden. Die Leute erfahren immer alles. So etwas kann man nicht ewig geheimhalten. Ich bin ein bekannter Mann.« Das war er allerdings. »Bhai«, sagte er. »Was machen wir nur, Bhai?«

»Du willst sie nicht mit diesem Jungen verheiraten?«

»Nein. Ich kann es nicht. Das weißt du.«

Da saßen wir nun. Er steckte in einer Zwickmühle, und ich konnte nichts tun. »Verheirate sie noch heute mit jemand anderem«, sagte ich, »jetzt sofort. Finde einen Jungen für sie, laß einen Pandit473 kommen, und verheirate sie auf der Stelle. Und dann schick die beiden weg. Irgendwohin. Vielleicht bringt sie sich dann nicht um.«

Er atmete schwer. »Ja«, sagte er und griff nach dem Telefonhörer.

Ich verließ das Haus durch die Hintertür. Ich hatte Dipika verraten und konnte ihr nicht gegenübertreten. Sie wurde noch am selben Nachmittag verheiratet, mit einem Jungen, der aus Ahmedabad eingeflogen wurde. Am nächsten Morgen flogen Dipika und ihr Mann nach Ahmedabad zurück. Die Schwiegereltern berichteten Paritosh Shah später, nach ein paar schwermütigen Tagen habe sich Dipika offenbar eingelebt, sie habe angefangen zu lächeln, zu lachen. Paritosh Shah war überzeugt, daß die Realität der Ehe die alberne Illusion romantischer Liebe bereits ausgelöscht hatte. Die Eltern des Jungen erzählten ihm am Telefon, Dipika unterhalte sich viel mit den jüngeren Mädchen der Familie und sei zweimal mit ihrem Mann und dessen jüngeren Brüdern samt Ehefrauen im Kino gewesen. Und so schickte man Dipika und ihren Mann zwei Monate später auf Hochzeitsreise in die Schweiz. In der fünften Nacht der Reise verließ sie die Hotelsuite in Bern, während ihr Mann schlief. Sie ging aus dem Foyer hinaus durch das Tor auf die Straße. Sie wurde von einem Auto, das schnell um die Kurve kam, überfahren. Der Fahrer sagte später, sie sei genau in der Mitte der Straße gegangen, auf der durchbrochenen Linie, und er habe keinerlei Möglichkeit gehabt auszuweichen, er habe nicht einmal gewußt, was er da überfahren habe, bis er zum Stehen gekommen sei und zurückgesetzt habe. Dipika war sofort tot. Ihr Mann sagte, sie habe glücklich gewirkt, und ihr Intimleben sei freudenreich gewesen, wie bei jedem frisch verheirateten Paar. In der Schweiz ging die Sache als Unfall in die Akten ein.

Drei Monate nach Dipikas Tod kam Paritosh Shah zu mir, als ich gerade einen von Bipin Bhonsles amerikanischen Filmen anschaute. Ich war die ganze Nacht wach gewesen, so entsetzlich wach, daß ich das Knarren der arbeitenden Deckenbalken hörte und die auf dem Asphalt aufsetzenden Krallen eines draußen vorbeilaufenden Hundes. Ich sah zu, wie der rote Minutenzeiger mit sanfter Sensenbewegung seinen ewigen Kreis beschrieb, und spürte, wie er an etwas in meinem Kopf zerrte. Also schob ich eine von Bipin Bhonsles Videokassetten in den Recorder, schaltete den Fernseher an und drückte ein paar Tasten auf der Fernbedienung. Wo zuvor dunkles Geriesel gewesen war, erschien nun ein Löwe und riß sein Maul zu einem gelbzahnigen Gähnen auf. Ich schaute den Film an, und beim ersten Mal verstand ich nur sehr wenig. Aber ich spulte mehrmals zurück, und als der Tag anbrach, hatte ich die Geschichte schließlich verstanden - wer was wollte, was im Weg stand, wer umgebracht werden mußte. Die Geschichte war gut, aber für mich lag das Vergnügen in der Sprache. Ich spulte eine Szene mehrmals zurück, so daß der Held unter feinen weißen Linien rückwärts rannte, mit abgehackten, clownschnellen Bewegungen, sein Mund sich verzerrte und wutglitzernde Laute ausstieß. Ich spulte das Band zurück und ließ es laufen, spulte zurück und ließ es laufen, und die Silben fielen mir wie prasselnde Tropfen in die Ohren, bis ich plötzlich ihren Sinn erkannte. Er fragte: »Wo ist er hingegangen?« Er hatte die Pistole gezückt und fragte: »Wo ist er hingegangen?« Helle Freude erfüllte mich. »Da«, rief ich dem Helden auf Englisch zu. »Er ist dahin gegangen.«

Als der Film vorbei war, legte ich einen anderen ein und lernte weiter. Paritosh Shah kam um neun, setzte sich aufs Bett und schaute mit zu, wie ein anderer Held und seine Männer, bis zur Brust im Wasser, in einem Urwaldfluß vorwärts wateten, die Gesichter geschwärzt. »Das sind Spezialeinheiten«, sagte ich. »Die Geheimwaffe ihres Landes ist von einem Bösewicht gestohlen worden. Sie wollen sie sich aus seiner Dschungelbasis zurückholen.«

Paritosh Shah lächelte. »Eine Dschungelbasis? Das muß aber ganz schön teuer sein - der Unterhalt und die Versorgung. Wie wollen sie denn das ganze Öl, das Griesmehl und die Zwiebeln für die vielen Handlanger dorthin befördern?«

Ich schaltete das Video aus. »Du bist einfach durch und durch ein Bania«, sagte ich, »deshalb weißt du eine gute Geschichte nicht zu würdigen.«

»Ich verstehe diese ausländischen Filme einfach nicht.«

»Das merke ich. Zu Hause alles in Ordnung?«

Nach Dipikas Tod war seine Frau an Palpitation erkrankt. Sie war immer noch schwach und bekam gelegentliche Weinkrämpfe. »Wir kommen zurecht«, sagte er. »Und du? Hast du geschlafen?«

Er wußte, daß ich nachts wach lag, in den grauen Morgenstunden fernsah, bei längeren Autofahrten in unruhigen Schlaf fiel. Ich schüttelte den Kopf. »Ich nehme heute abend eine Tablette.«

Er machte eine ausladende Armbewegung, als putzte er eine Scheibe. »Darüber wollte ich mit dir reden.«

»Über Schlaftabletten? Hat dein Ved-Maharaj ein paar neue Rezepte?« Ich hatte die Pillen dieses Dhanvantari166 probiert, hatte Verdauungsstörungen und Blähungen bekommen, aber nicht geschlafen, und war schließlich wieder zu dem allopathischen Arzt und dessen stärksten Medikamenten zurückgekehrt.

»Nein. Nicht darüber«, sagte er sehr ernst. »Hör zu, Bhai. Ich finde, du solltest heiraten.«

»Ich?«

»Schau dir doch an, wie du dastehst. Du bist nicht glücklich. Du kannst nicht schlafen. Du bist ruhelos. Ein Mann muß irgendwann zur Ruhe kommen. Du hast alles, jetzt mußt du ein Grihastha244 werden, eine Familie gründen - alles hat seine Zeit.«

»Das Heiraten macht nicht jeden glücklich.«

»Du meinst Dipika. Bhai, sie war meine Tochter. Es war nicht die Heirat, die verkehrt war. Sie hatte alle Grenzen überschritten, wie hätte sie da noch glücklich werden können? Aber du mußt heiraten. In allen heiligen Schriften steht, daß das Leben verschiedene Stadien hat. Erst ist man Schüler, dann Hausvater. Aber du, du lebst, als hättest du der Welt schon entsagt. Sieh dich doch nur mal um.« Er meinte das Zimmer, die kahlen Wände, die weißen Laken, den auf dem Boden stehenden Teller mit angetrockneten Essensresten. »Chhota Badriya und die Jungs sind ja schön und gut, aber sie können nicht dein ganzes Leben ausmachen. Du brauchst eine Frau, sie wird dir ein Nest bauen.«

»Wer wird mich denn heiraten, Paritosh Shah? Welches anständige Mädchen?«

»Du machst dir zu viele Sorgen, Bhai«, sagte er. »Wir haben Geld. Alles ist möglich.«

Alles ist möglich. Ja, er und ich hatten Möglichkeiten geschaffen, wir hatten Träume aus der Luft gegriffen und mit einem Fingerschnipsen in Realität verwandelt. Alles war möglich. Und doch waren Kanta Bai und Dipika gestorben. Als ich Paritosh Shah ansah, mußte ich an das Lächeln Krishnas über seiner Schulter denken, an den blauen Zauberer, der mich mit seinen schläfrigen Augen betrachtet hatte. Auch er hatte eine Familie gehabt, viele Familien. Jetzt versuchte er, mich in eine hineinzumanövrieren. Die meisten unserer Jungs hatten eine Freundin, und manchmal wurde aus der Freundin eine Ehefrau. Bisweilen hatten die Eltern etwas dagegen, machten ein Gewese wegen des Berufs des Jungen, aber letzten Endes willigten sie immer ein: Schließlich verdiente der Junge Geld, und zwar gutes Geld. »Ja«, sagte ich mürrisch. »Zu einer Braut kann Geld einem verhelfen. Das zumindest kann es.«

»Kommt jemand für eine Liebesheirat in Frage?« erkundigte sich Paritosh Shah mit der Zufriedenheit eines Schachspielers, der kurz davor ist, den Gegner matt zu setzen.

»Nein.« Ich hatte jede Menge Frauen - Barmädchen, Huren, Möchtegern-Schauspielerinnen. Aber gewiß niemanden zum Heiraten.

»Weis mich nicht ab, Bhai«, sagte er. »Du bist damals zu mir gekommen und hast mich um etwas gebeten. Und ich konnte dir nicht geben, was du wolltest. Aber sag heute nicht nein zu mir. Ich bitte dich um etwas. Sag ja, Bhai.«

Ich erkannte in diesem Moment, daß wir zeitlebens in den Beziehungen gefangen sind, die uns, so unsichtbar und unentrinnbar wie die Schwerkraft, umstricken und aneinander-binden. Aus diesem Netz gibt es kein Entrinnen. Ich war allein in diese Stadt gekommen, um allein zu sein, aber mein Alleinsein war eine Illusion, eine Geschichte, die ich mir selbst erzählt hatte, um mich von meiner Stärke zu überzeugen. Ich hatte eine Familie gefunden, eine Familie hatte mich gefunden. Paritosh Shah war mein Freund, und er war meine Familie. All die anderen, Chhota Badriya und Kanta Bai und meine Jungs, waren meine Familie. Ich gehörte dieser Familie an, und nun wollten die anderen, daß ich heiratete. Ich konnte nicht gegen sie ankämpfen. Ich war besiegt. Ich nickte. »Na gut, ich werde tun, was du willst.«

Während wir nach einem Mädchen Ausschau hielten, gerieten wir in einen Krieg. Paritosh Shah wollte mein Horoskop haben, er wollte Informationen über meine Eltern, über meinen Gotra242, über mein Dorf - »Nur wenn man die Vergangenheit eines Mannes kennt«, sagte er, »kann man seine Zukunft regeln.« Worauf ich erwiderte: »Vergiß das alles. Ich habe nichts von alldem. Was ich habe, ist Geld. Die Vergangenheit ist vorbei. Die Zukunft ist die Zukunft, und nur um die geht es.« Ich glaubte damals, alles, was man will, sei möglich: jede beliebige Zukunft - ohne Vergangenheit. Aber Paritosh Shah, dieser Fettsack, dieser aalglatte, intrigante Gujarati, dieser treue Freund, sah mich an, als wäre ich verrückt, und dann erfand er mir eine Vergangenheit. Er ließ ein Horoskop für mich anfertigen, eine lange Schriftrolle, die sich über die ganze Breite des Zimmers erstreckte, mit Sternen, verborgenen Verheißungen, zinnoberrotem Sanskrit und allem, was das Herz begehrt. »Perfekt darf es allerdings nicht sein«, sagte er. »Sonst glaubt das kein Papa.« Deshalb hatte ich, Paritosh Shah zufolge, in meiner frühen Jugend schlechte Zeiten erlebt, Armut und Gefahr, und wegen eines Saturntransits wäre ich fast gestorben, doch ich war dieser unvermeidlichen Unbill Herr geworden, hatte durch meinen starken Willen und meinen unbeirrbaren Glauben an Krishna-Maharaji das Schicksal bezwungen, durch die Energie meiner unzähligen Gebete meine Geschicke gewendet. Auch das erfand er, das alles, meine täglichen gottesfürchtigen Pujas, meinen Tempelbau, meine Liebe zu Krishna. »Das ist gute Publicity, Bhai«, sagte er. »Also gib deine gottlose Lebensweise auf, so was gefällt niemandem. Die Leute werden dich für einen Kommunisten halten - und deine Kinder werden eh in einem ordentlichen, gottesfürchtigen Haushalt aufwachsen müssen.« Sein speziell für mich bestelltes Horoskop prophezeite mir viele Söhne und ein oder zwei Töchter sowie ein langes Leben mit einem ständigen Zuwachs an Macht, Bedeutung und Stabilität. Nur ein oder zwei Krankheitsphasen wurden vorausgesehen, wie Schönheitsflecke auf einem perfekten Gesicht, und selbst die würden durch das Tragen der richtigen Steine leicht überwunden werden. Paritosh Shah rollte das Horoskop geübt mit einer schnellen Bewegung von Zeigefingern und Daumen zusammen, so daß seine Unterarme schwabbelten, und lächelte mich an. »Du bist ein sehr begehrenswerter Mann. Wart's nur ab, die Kandidatinnen werden Schlange stehen.«

Ich hatte da meine Zweifel. Wir mochten die Planeten dazu gebracht haben, meine Zukunft in ein goldenes Licht zu tauchen, aber es war eine unumstößliche Tatsache, daß Menschen von meiner Hand gestorben waren. Die Presse nannte mich »Gangsterboß Gaitonde«. Ich wurde gehaßt und gefürchtet. Das wußte ich. Und dennoch gingen wenig später unzählige Fotos ein. Über Mittelsmänner und Ehestifter schickten die Papas Bilder von ihren Töchtern. Paritosh Shah fächerte einen ganzen Stapel Fotos auf seinem Schreibtisch aus, wie Spielkarten. »Such dir eine aus«, sagte er.

Ich griff nach dem ersten Bild. Sie saß in einem seidigen grünen Sari mit goldenem Dupatta vor einem roten Hintergrund, das glatte Haar von der hohen Stirn straff zurückgebunden. »Die sieht aus wie eine Lehrerin«, sagte ich.

»Also die nicht. Nimm ein paar in die engere Auswahl. Bei denen werfen wir einen genaueren Blick auf den familiären Hintergund, Bildung, Naturell und Horoskop, und dann tun wir den nächsten Schritt.«

»Den nächsten Schritt?«

»Die Mädchen besuchen, natürlich.«

»Wir gehen zu ihnen nach Hause? Und sie serviert uns dann Tee, während die Eltern zusehen?«

»Ja, natürlich. Was sonst?«

Ich schnipste das Bild wieder auf den Tisch, wo es sanft zwischen die anderen glitt. »Das ist doch völliger Wahnsinn«, sagte ich.

»Was, Heiraten ist Wahnsinn? Bhai, die ganze Welt tut es. Premierminister tun es. Götter tun es. Was willst du denn sonst mit deinem Leben anfangen? Wofür ist der Mensch denn geboren?«

Wofür ist der Mensch geboren? Darauf wußte ich keine Antwort, also nahm ich die Fotos mit nach Hause und legte sie in Zehnerreihen auf den Boden. Sie flatterten im Luftzug der Klimaanlage, diese glattgepuderten, von Hoffnung schimmernden Gesichter. Es war April, und ohne diese eisige Luft schwitzte ich in meine Matratze und hinterließ feuchte Flecken auf dem Stuhl, selbst wenn der Ventilator auf die höchste Stufe gestellt war. Mein Blut war heiß und brauchte Winterluft, kältere als diese Stadt sie je verströmen konnte. Draußen in der Sonne klebte mir die Hose an den Schenkeln und versetzte mich in wütende Unruhe, und meine Schuhe hinterließen rote Ringe an den Knöcheln. In dieser Stimmung neigte ich zu Unbeherrschtheit und Rücksichtslosigkeit, deshalb hatten meine Jungs zusätzliche Stromkabel verlegen und eine neue Fensteröffnung in die Wand schlagen lassen, in der die Klimaanlage Platz fand, und nun hatte ich meine Kühlung. Trotzdem sahen die Gesichter auf dem Boden alle gleich aus. Sie waren durchaus hübsch, nicht sexy - wer wollte das schon bei seiner Ehefrau -, doch sie sahen ansprechend aus, freundlich und zurückhaltend. Sie waren hinlänglich kultiviert und gebildet, konnten zweifellos alle kochen und sticken, sie kamen alle in Frage, warum sollte ich also diese und nicht jene wählen? Ich wartete auf ein Zeichen von einer von ihnen, ein Augenzwinkern, während sie im kalten Luftzug flatterten. Da saß ich, Ganesh Gaitonde, Boß einer eigenen Company, Herr über Tausende von Leben, Todesbringer und großzügiger Wohltäter, vollkommen unfähig, eine Entscheidung zu treffen.

»Bhai, es gibt Ärger.« Chhota Badriya klopfte heftig an die Tür. »Sehr großen Ärger.« Ich rief ihn herein.

»Was ist denn?«

»Die Lieferung von heute abend, Bhai. Die Polizei hat sie in die Finger gekriegt. Sie haben in Golghat auf der Lauer gelegen. Oberhalb des Strandes, hinter der Baumreihe. Sie haben gewartet, bis das Maal381 von den Booten in die Laster verladen war, dann sind sie hervorgekommen, haben alle verhaftet und die ganze Lieferung beschlagnahmt.«

»Die ganze Lieferung« hieß: Computerchips, Vitamin-B-Komplex-Tabletten und Videokameras im Wert von vierzig Lakhs.

»Die haben Bescheid gewußt«, sagte ich. »Das hat ihnen jemand gesteckt.«

»Ja«, sagte Chhota Badriya.

»War es nur die Polizei? Keine Zollbeamten?«

»Nein, nur die Polizei.«

»Und wer?«

»Ein paar vom Bezirk 13. Kamath, Bhatia, Majid Khan, diese Truppe. Parulkars Jungs.«

Wir wußten beide, was das bedeuten konnte. Entweder hatte die Polizei den Tip von eigenen Informanten bekommen, oder einer unserer Konkurrenten hatten ihnen unser Maal zugespielt. Es gab damals vier andere große Companys in Bombay, die Pathan-Company rund um die Grant Road, die Truppe von Suleiman Isa in Dongri, Jogeshwari und Dubai, die Prakash-Brüder und ihre Company in den nordöstlichen Vororten und die Ahir-Company in Byculla. Jede dieser vier Gangs, fünf, wenn man die Rakshaks dazuzählte, mochte uns als einen Schwarm winziger Fische betrachten, an denen man sich leicht gütlich tun konnte. Die Pathans waren es wahrscheinlich nicht gewesen, die waren geschwächt von ihrem langen Krieg gegen Suleiman Isa, den sie nur um Haaresbreite überlebt hatten. Doch die anderen kamen alle in Frage, sie alle mußten uns für einen leckeren kleinen Snack halten, denn wir waren mit Abstand die jüngste und unerfahrenste Company und nur dürftig mit Beziehungen, Waffen und Geldmitteln ausgestattet. Welche war es gewesen?

Parulkar war gerade als Additional Commissioner of Police in Bezirk 13 angetreten und hatte angeblich enge Beziehungen zu Suleiman Isa. Suleiman Isa und seine Brüder führten die größte, bestbewaffnete Gang mit den besten politischen Verbindungen an, die es in Bombay je gegeben hatte. Vielleicht betrachteten sie uns als wachsende Bedrohung, vielleicht wollten sie uns vernichten.

»Mehr wissen wir nicht?« fragte ich.

»Das ist alles, Bhai.«

Ich hatte eine solche Wut, daß ich sie als Schmerz in meinen Gelenken spürte, als unregelmäßiges Pochen im Magen. Ich hätte am liebsten jemanden umgebracht. Aber gemach, gemach. Suleiman Isa war stark. Ich mußte meiner Sache sicher sein. »Ruf Samant an. Finde ihn, egal, wo er ist. Ich muß mit ihm reden.«

Wer machte Jagd auf uns? Samant ermittelte innerhalb der Abteilung, ging Gerüchten nach, ließ hier ein bißchen Bargeld, dort eine Flasche Black Label springen. Er hatte überall Freunde, Polizisten aller Dienstgrade, und irgendeiner würde das Geheimnis schließlich durchsickern lassen. Aber es dauerte zu lange. Es gab einen Spion in meiner Company, jemanden, der mir relativ nah war, irgendeinen Chutiya, der das Geheimnis meiner Schiffslieferungen verkauft hatte, und die Gefahr wurde mit jeder Minute größer, ein langsam kippender Felsbrocken. Ich mußte ihn aus dem Weg räumen, sonst würde er umstürzen und mich unter sich begraben. Ich wußte, daß ich ihn stemmen konnte. Aber zuerst mußte ich die Schlange in meinem Haus finden, ihren Kopf zertrümmern. In meinem klimatisierten Zimmer schob ich die Fotos der Mädchen zu Mustern und Formationen zusammen und dachte nach.

Am letzten Tag im Mai ging ich zu Paritosh Shah. »Ich will irgendwas tun!« schrie ich ihn an. »Ich sitze hier rum wie ein Chutiya und lasse mich von einem Haufen Bhenchods auslachen. Sogar meine Jungs lachen mich aus.«

»Niemand lacht dich aus«, sagte er. »Hab Geduld. Das ist eine große Sache, so was erledigt man nicht an einem Tag.«

Ich wollte gerade erneut meinem Ärger Luft machen, da klopfte es an die Tür. Bada Badriya linste herein und ließ dann einen schüchternen kleinen Schneider vortreten. Er sollte bei Paritosh Shah Maß für neue Safari-Anzüge nehmen. Der Schneider wand sein Zentimetermaß um Paritosh Shah, während dieser von seinem schnurlosen Telefon aus eine rasche Abfolge von Gesprächen tätigte. Ich saß daneben und schaute zu. Er war in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen, denn er lancierte gerade seine neue Fluggesellschaft. Mein fetter Freund wollte fliegen. Er hatte Dutzende von Geschäften laufen, war stolz auf seine Bauunternehmen und Restaurants, seine Mietobjekte und Plastikfabriken, seine Textilfabrik in der Nähe von Ahmedabad, doch er träumte davon, sich in die Lüfte zu erheben, und so war er nunmehr häufig in der Presse zu sehen, ein Bild strahlender Eleganz, vom glänzenden Haar über die Goldkette mit Krishna-Medaillon bis hin zur goldenen Rolex, die all die Monatssteine an seinen Fingern erst richtig zur Geltung brachte. Es hatte etwas Tröstliches, mir vorzustellen, daß er hoch über Bombays Gebäuden, dem braunen Tiefland der Bastis dahinflog, über alldem schwebte wie ein glatter, runder Ballon, daß er die lange, gezahnte Silhouette der Stadt in den gütigen Schatten seines blauen Safari-Anzugs tauchte, ein herrlicheres Blau als das des sonnengebleichten Himmels. Vielleicht würde sein Schatten eines Tages nach Westen und Norden fallen, bis nach Delhi und weiter. Er besaß die nötige Intelligenz und den Ehrgeiz und einen kalten klaren Blick. Fürs erste allerdings würde die Fluggesellschaft von Bombay nach Ahmedabad und Baroda fliegen. Er organisierte gerade die Feierlichkeiten und Formalitäten rund um den Jungfernflug.

»Hören Sie mal«, sagte er, »jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe diese Randi schon gekannt, als sie einem für fünftausend Rupien die ganze Nacht den Lauda gelutscht hat. Und plötzlich ist sie so ein großer Star, daß sie drei Lakhs will, um eine Stunde in einem Flugzeug zu sitzen? Und ein Band durchzuschneiden? Sie machen wohl Witze.« Er verhandelte mit Sonam Bhandaris Sekretär wegen eines Werbeauftritts. Er hörte zu, dann verfiel er in seinen sachlichen Verhandlungston. »Ich kann einen Lakh bezahlen. Ich habe eine Fluggesellschaft gegründet, keinen Fonds für abgewirtschaftete Starlets. Einen Lakh.« Der Schneider maß jetzt von der Taille zum Boden. »Wieviel? Okay, hundertfünfzig. Abgemacht. Und fünfzigtausend schicke ich Ihnen heute. Okay.« Er legte das Telefon ab. »Alles klar«, sagte er. »Ein Filmstar kommt zum Jungfernflug. Wir werden im Fernsehen sein.«

»Sei du mal schön im Fernsehen«, sagte ich. »Ich werde mich nicht mal in die Nähe deines Flugzeugs begeben.«

»Auch nicht, wenn Sonam Bhandari drinsitzt?« fragte er. »Wenn du siehst, wie sie ihre Kokosnüsse schaukeln läßt, wirst du die Sache mit deiner Lieferung vergessen.«

»Keine Frau hat solche Kokosnüsse, daß ich das vergessen könnte.«

Er schwieg, bis der Schneider seine Notizen und Stoffproben zusammengesammelt hatte und gegangen war. »Du hast getan, was du tun konntest«, sagte er. »Jetzt mußt du einfach abwarten.«

Und warten und warten und warten. Abwarten war eine Qual für mich. »Hör zu«, sagte ich, »ich will nicht mehr warten. Wir müssen etwas unternehmen.«

»In solchen Zeiten braucht man Hilfe«, sagte er mit listigem Blick. »Wie wär's mit einer Puja?«

»Gut.«

»Wie bitte? Meinst du das ernst?« Es war nur zu verständlich, daß er erstaunt war - in all unseren gemeinsamen Jahren hatte ich nie ein Gebet gesprochen, nie die Gunst der Götter erfleht, hatte Prasad nur als kleinen Imbiß zwischendurch gegessen. Er bohrte indes nicht nach, sondern wollte nur möglichst rasch diese unerwartete Chance nutzen. Er griff bereits nach dem Hörer eines seiner Telefone. »Wir halten eine Satyanarayan568 Katha320 ab. Ich weiß genau den richtigen Pandit dafür. Du wirst sehen, seine Kathas tragen immer Früchte, ganz sicher. Mach dir keine Sorgen. Eh du dich's versiehst, haben wir die Sache im Griff.« Er lächelte mich höchst wohlwollend an. Ich konnte mir nur zu gut die Geschichte vorstellen, die er im Kopf hatte, konnte die Katha, die er selbst erzählen würde, so deutlich hören, als schallte sie mir über Lautsprecher in die Ohren: Bhai ist nach Hause gekommen, würde er den Jungs erzählen, er hat zu Gott gefunden, ist durch die Gnade Gottes erweckt worden, und der Glaube ist in seinem Herzen entflammt. In Wirklichkeit fühlte ich mich keineswegs entflammt, sondern einfach kraftlos. Ich hatte das Gefühl, langsam zu ertrinken, und während das Wasser schon über meine Wangen leckte, streckte ich die Hand hoch, um zu packen, was zufällig vorübertrieb. Diese Puja war ein Strohhalm, und ich griff danach.

Ich sah das schwere Boot, reglos lag es auf der silbrig bewegten Oberfläche des unermeßlichen Meers. Paritosh Shah hatte für seine Puja einen Pandit aus dem Norden kommen lassen, so daß ich seine Katha auf Hindi problemlos verstehen konnte. Dieser Pandit war ein sehr engagierter Geschichtenerzähler, und er gestaltete das Ritual sehr ausdrucksvoll, mit verschiedenen Stimmen für die einzelnen Personen und perfekter Dilip-Kumar-Mimik. Wir waren gerade bei der Stelle angelangt, wo der Händler und sein Schwiegersohn in einem schwer beladenen Boot voll Gold, Perlen, Parfüm und Elfenbein, dem Ertrag einer langen, verschlungenen Reise durch die Fremde, auf dem Heimweg sind. Da erscheint ein Dandi-Swami147 am Ufer - der listige alte Vishnu in Verkleidung - und stellt die einfache Frage: »Bachcha, was ist in deinem Boot?« Und der Kaufmann, der befürchtet, ein Almosen geben zu müssen, dieser gierige, kurzsichtige Mistkerl, sagt: »Ach, nichts, Swami-ji, nur ein bißchen Lata-Pata370.« Woraufhin der Dandi-Swami nickt und sagt: »Tathaasthu.«623 Und tatsächlich hüpft das Boot plötzlich wie ein Korken auf den Wellen, denn es ist nur noch mit luftigem Heu und weichem Gras beladen. Der Dandi-Swami versinkt in eine tiefe meditative Trance, und in diesem Moment, bevor wir zur wohlverdienten Strafe und schließlich der Reue des Kaufmanns kamen, klopfte mir Chhota Badriya auf die Schulter und flüsterte: »Kommen Sie mal, Bhai.«

Draußen drückte er mir ein Telefon in die Hand. Ich nahm den Anruf unter den Augen von Paritosh Shah, Chhota Badriya und seinem Bruder Bada Badriya entgegen. Es war der Durchbruch. Einer unserer Anlandungs-Organisatoren aus Golghat hatte die vorige Nacht mit einem Mädchen namens Simky in Colaba verbracht. Dieser Organisator, ein gewisser Ashok Khot aus Konkan, arbeitete seit vier Jahren für uns. Er war am Abend zuvor nach Bombay gekommen, um seine Frau in den Zug nach Delhi zu setzen, wo sie zur Hochzeit ihrer Nichte eingeladen war. Nachdem sie im Rajdhani516 abgefahren war, mit ihren beiden Söhnen bequem im Salonwagen untergebracht, hatte Khot beschlossen, die Freuden der Stadt zu genießen. Er hatte Simky direkt vom Bahnhof aus angerufen und sie eine Stunde später vor der Lido-Bar in der Nähe des Regal Cinema abgeholt. Khot war gut bei Kasse. Er hatte ein klimatisiertes Privattaxi mit verdunkelten Scheiben bestellt, ging im Khyber edel mit ihr essen, und dann fuhren sie am Marine Drive spazieren. Beim Essen trank er die ganze Zeit Johnny Walker Black und erzählte ihr Geschichten über Männer, die er hereingelegt, Geld, das er verdient, und hohe Beamte, die er ruiniert hatte, und während er später im Auto ihre Mausambis massierte und über Witze lachte, die er nie fertig erzählte, trank er immer wieder aus einem silbernen, mit einer Silberkette an einem Flachmann befestigten Becher. Sie lehnte sich im Sitz zurück, hörte ihm zu und summte die Lieder von der Kassette mit. Am Chowpatty aßen sie ein Eis, er wankte ans Wasser und versuchte ein Lied zu singen, erbrach sich ins Meer und trank daraufhin gleich noch einen, um ihr zu beweisen, daß er ein echter Mann war. Auf der Rückfahrt ließ er den Fahrer Makhmali andhera laut aufdrehen, öffnete ihre Choli ganz, schmiegte mit kleinen Schlabberlauten den Kopf an sie und brabbelte leise vor sich hin, und da hörte sie es, unter der Musik: »Saali, du solltest nett zu mir sein - weißt du, wer ich bin? In dieser Stadt darf mir keiner blöd kommen. Masood Metha persönlich verkehrt in meinem Haus.« Im Hotelzimmer in Colaba schaute Khot sie dumpf an, während er an ihrem Rock herumgrabschte, dann sank er langsam zur Seite und schlief ein. Simky zog ihm Schuhe und Socken aus, seine Hose und seine Jockey-Unterhose. In seinen diversen Taschen fand sie insgesamt vierundzwanzigtausend Rupien in Fünfhundert-Rupien-Scheinen, von denen sie fünftausend Rupien abzählte und in der Tiefe ihrer roten Handtasche versenkte. Aus ebendieser Handtasche holte sie dann vorsichtig ein Papiertütchen hervor, entnahm eine sorgsam bemessene Dosis Brown Sugar und zog es in die Nase ein, woraufhin ein wollüstiger Schauer über ihre Brüste lief. Dann legte sie sich hin und schlief. Als Khot am nächsten Morgen aufwachte und sich streckte, blieb sie trotz seines widerlichen Mundgeruchs still liegen. Doch als er versuchte, auf sie zu klettern, zuckte sie zurück, wandte den Kopf ab und sagte mit Kleinmädchenstimme: »Raj, ich kann nicht mehr, wirklich - du hast mich gestern abend wund gevögelt.« Er lachte stolz und ließ sie großmütig gehen. Am nächsten Tag aß sie mit einem unserer Jungs, Bunty Arora, zu Mittag. Als Simky frisch aus Chandigarh gekommen war, hatte sich Bunty um sie gekümmert, sie war sein Mädchen gewesen. Jetzt rührte er sie nicht mehr an, ihre Drogenabhängigkeit war ihm zuwider, doch als seine ehemalige Mashuq mochte er sie immer noch, und gelegentlich, wenn er in der Nähe unterwegs war, traf er sich mit ihr. Sie erzählte ihm von ihrer Nacht mit Khot. Nun war es so, daß Bunty selbst sie Khot vorgestellt hatte. Er meinte: »Dieser alte Säufer, der ist wirklich unerträglich, wenn er getrunken hat.« Sie erwiderte: »Ja, er redet und redet und findet überhaupt kein Ende! Ich bin dies, ich bin das, keiner sollte es wagen, mir blöd zu kommen, Masood Meetha kommt zu mir nach Hause. Ich hätte ihm am liebsten eins mit dem Kricketschläger übergezogen.« Sie warf die Haare zurück, und einen Moment lang hatte sie das Feuer der alten Simky. Bunty verzog keine Miene, führte die Unterhaltung fort, redete über Filme und Stars und dies und das, und als sie fertig gegessen hatten, verabschiedete er sich von ihr, ging zum nächsten Laden und tätigte einen Anruf. Genau wie Dandi-Swami es gesagt hatte: »Tathaasthu.«

Da hatten wir es also. Masood Meetha war Suleiman Isas Nummer eins in der Stadt, seit Suleiman nach Dubai gegangen war. Der Feind, der unsere Ware gestohlen hatte, war Suleiman Isa - er und seine miesen Brüder. Ich beendete das Gespräch und ließ Paritosh Shah und die beiden Badriyas wissen: »Es war Suleiman.«

»Sind Sie sicher?« fragte Chhota Badriya.

»Natürlich. Ich war es schon vorher, aber jetzt haben wir den Beweis. Dieser Bhenchod Parulkar und Suleiman sind schon ewig dicke miteinander.« Parulkar und Suleiman waren zusammen aufgestiegen oder zumindest zeitgleich. Viele von Parulkars berühmten Festnahmen gingen auf Informationen von Suleiman zurück, und die Männer, die im Gefängnis gelandet oder in irgendeiner Gasse verblutet waren, waren alle Feinde von Suleiman gewesen, seine Rivalen oder einfach Männer, die stark genug geworden waren, um von ihm als Konkurrenten betrachtet zu werden. Er und sein Clan hatten viele in dieser Stadt geschluckt, waren dadurch dick und fett geworden und zogen entsprechend selbstbewußt durch die Straßen. Suleiman Isa und seine vielen Brüder, die Navabs von Bombay. »Ich bring sie alle um«, sagte ich.

Über uns lief, schräg gestellt und auf der höchsten Stufe, der Ventilator und gab ein gelegentliches Quietschen von sich. Es war das einzige Geräusch. Die Lage war sehr ernst. Die Pathans hatten Krieg gegen Suleiman geführt, hatten einen seiner Brüder und viele seiner Jungs getötet, aber er hatte zurückgeschlagen und die Company ausgeblutet. Schließlich war ein Waffenstillstand ausgerufen worden, und die Schießereien hatten aufgehört, keine Pistolen ballerten mehr in Restaurants los, keine AK-47 an Tankstellen, die Pathans waren kampfunfähig gemacht worden. Es wäre purer Wahnsinn gewesen, an Suleimans Willenskraft, seiner Intelligenz, seinem Reichtum oder seinen Verbindungen zu Polizei und Ministerien zu zweifeln. Daher schwiegen meine Freunde. Schließlich sagte Paritosh Shah: »Es gibt keine Alternative.«

Der Krieg ereilt uns Menschen. Auf verschlungenen Wegen werden wir zum Schlachtfeld geführt. Man kann versuchen auszuweichen, doch dann stellt man fest, daß einen die letzte blumengesäumte Abzweigung, die man genommen hat, direkt in eine blutgetränkte Arena führt. Hier waren wir nun also. »Gut«, sagte ich. »Fangen wir an.«

Zunächst waren wir siegreich. Wir hatten den Vorteil des Überraschungsmoments. Gleich an diesem ersten Tag ließ ich Khot dingfest machen. Seine Frau war immer noch in Delhi, so daß ein paar meiner Jungs einfach nachts zu ihm gingen, ihn aus dem Bett holten und zu mir brachten. Ich wollte ihn nicht im Haus haben, deshalb nahmen wir uns seiner draußen an, hinter dem Haus. Zuerst versuchte er mir weiszumachen, er wisse nichts über Suleiman Isa - wie ich denn auf die Idee komme, er könne auch nur versuchen, etwas so Schäbiges und Verrücktes zu tun, jeder wisse doch, daß er Ganesh-bhai schon seit vielen Jahren treu diene, er schwöre es beim Leben seiner Kinder. Schließlich versuchte es dieser schamlose Bhenchod auf die religiöse Tour.

»Warum sollte ich mich denn mit diesem miesen Kattu323 einlassen?« fragte er. »Ganesh-bhai, denken Sie doch mal nach. Ich bin ein gottesfürchtiger Mann wie Sie. Ich spende jeden Monat für den Tempel. Das ist doch nur ein islamisches Komplott, um unsere Freundschaft zu zerstören.«

Ich schlug so fest zu, daß ich mir einen Fingerknöchel aufschürfte. »Hör zu, du Scheißkerl«, sagte ich, und dann sah ich rot. »Schlagt ihn zusammen«, mehr brachte ich nicht mehr über die Lippen. »Schlagt ihn zusammen«, und dann wandte ich mich ab.

Er gab hustende, keuchende Laute von sich und rief nach seinem Vater. »Papa, Papa«, jammerte er. Das war interessant. Fast alle Männer werden durch Schmerzen zu Babys, aber normalerweise rufen sie nach ihrer Mutter. Vielleicht hatte Khot keine Mutter. Ich ging zurück, schaute zu und rieb mir dabei die Hand. Als ich auf den zweiten Fingerknöchel der rechten Hand drückte, strahlte ein heißer Schmerz in meine Hand aus. Ich drückte fester. Jetzt war es ein kaltes Reißen, schnell und stechend, bis ins Handgelenk. Ein schlüpfriger, scharfer Zahn direkt unter der Haut. Khot wand sich unter dem Hagel von Fußtritten auf dem Boden. Ich drückte fester. Doch sein Widerstand war schon gebrochen.

Er erzählte uns alles. Viel war es allerdings nicht. Er und Masood Meetha kannten sich schon seit ihrer Jugend. Ihre Familien stammten aus benachbarten Dörfern nahe der Küste. Masood hatte sich vor anderthalb Jahren in Bombay an ihn gewandt, er hatte ihn angerufen und zum Tee in sein Büro in Dongri eingeladen. Khot hatte ein Treffen in Dongri abgelehnt, also waren sie auf einen Chai in ein billiges Restaurant in Ghatkopar gegangen. Bei diesem ersten Mal hatten sie sich nur über Ortschaften in Konkan und das Essen dort unterhalten und was eigentlich aus Soundso geworden sei, dessen Vater Briefträger gewesen war. Etwa vier Wochen später war Masood dann eines späten Abends bei Khot, der in der Nähe von Golghat wohnte, vorbeigekommen - ganz spontan, er sei zufällig in der Gegend gewesen - und hatte sich zum Abendessen eingeladen; er hatte um all die traditionellen Gerichte aus Konkan gebeten, die Khots Frau kochen konnte, und dann genußvoll festgestellt, daß sie genau wie bei seiner Mutter schmeckten. Diesem Abendessen waren Anrufe und Geschenke gefolgt, Uhren und Whisky, aber kein persönlicher Kontakt mehr. Khot war nicht naiv, er wußte schon seit dem ersten Schluck Tee bei ihrem ersten Treffen, was gespielt wurde, warum sich Masood Meetha nach all den Jahren plötzlich an ihn erinnert hatte. Und als dann die Organisation meiner Lieferung anstand, meiner Vierzig-Lakh-Lieferung, griff Khot selbst zum Telefon und rief Masood Meetha an: »Bhai, wollen wir etwas essen gehen?« Er erzählte uns das alles unter Tränen.

»Bringt ihn um«, befahl ich. Ich wandte mich ab und ging, und noch bevor ich die Treppe zur Hintertür erreicht hatte, war es erledigt. Zwei dumpfe Schläge, und Khot war hinüber. Chhota Badriya folgte mir ins Haus, und ich hörte das Klicken des Sicherungshebels, bevor er sich die Glock wieder unters Hemd schob. »Schafft die Leiche noch nicht weg«, sagte ich. »Wir lassen sie morgen Suleiman zukommen. Danach.«

»Danach«, wiederholte er grinsend. Also machten wir uns an die Arbeit. Wir hatten schon Vorbereitungen getroffen. Wir hatten unsere Listen, unsere handgezeichneten Karten, unsere Informationen. Und so gingen wir in Stellung. Am nächsten Tag zwischen acht Uhr morgens und vier Uhr nachmittags töteten wir Vinay Shukla, Salim Sheikh, Syed Munir, Munna, Zahed Mechanic und Praful Bidaye. Am Abend brachte Samant dann Azam Lamboo und Pankaj Kamath zur Strecke, was ihm eine ausführliche Berichterstattung in der Presse - »Schrecken der Unterwelt erschießt Suleimans beste Scharfschützen« - sowie drei Lakhs von mir einbrachte. Und in der folgenden Nacht, genauer gesagt, morgens um halb fünf, hielt ein Auto an einer Straßenecke beim Imperial Hotel in Dongri, und Khot glitt auf den Bürgersteig, den Kopf mit einem verkrusteten Handtuch umwickelt. So zeigten wir ihnen, wer wir waren. Wir schrieben unsere Antwort mit Blut.

Ich wollte Suleimans Kopf, wollte ihn herumkicken wie einen Fußball. Aber Suleiman lebte im sicheren Dubai, seit die Pathans seinen Bruder umgebracht hatten und er viele von ihnen getötet hatte. Bombay war ein zu gefährliches Pflaster für ihn geworden, also war er geflohen, der Bhadve, aber über Masood Meetha und andere führte er in der Stadt immer noch seine Operationen durch. Wir waren auf ihren Angriff gefaßt - wir warteten einen Tag, und dann kam er. Drei von unseren Jungs wurden überfallen, als sie in Malad das Haus von Verwandten verließen. Sie waren tot, bevor sie die Pistole hätten ziehen können. Ajay Kumble, Noble Lobo, Amir Kenkda. Am nächsten Tag lauerten uns Parulkars Inspektoren auf dem Darya Mahal Bazaar auf, wo die Händler schon ihr wöchentliches Schutzgeld für uns parat hielten. Die Polizisten, von Majid, dem Muchchad, angeführt, waren als Arbeiter verkleidet. Ohne Vorwarnung gaben sie vierunddreißig Schüsse ab. Vinay Karmarkar, Shailendra Pawar, Ziauddin Qazalbash.

Und so kämpften wir den ganzen Sommer und in den Monsunregen hinein gegen Suleiman Isa. Wenn wir unsere Leichen aus dem Leichenschauhaus abholten und sie durch die weißen Sturzbäche trugen, schien es, als hätten wir schon immer gekämpft, als hätte es diesen Krieg seit jeher gegeben. Sie schadeten uns, aber sie konnten uns nicht vernichten. Und wir zerfraßen sie, bluteten sie mit jedem Tag weiter aus. Unterdessen hatten Paritosh Shahs Rajhans Airlines den Flugbetrieb aufgenommen, und er ließ sich Haar implantieren, weil er fand, daß er im Fernsehen zu alt aussah, und hielt mir jeden Tag Vorträge über die Macht von Dandi-Swami. »Du hast doch gesehen, wie er auf deine Not reagiert hat. Du hast gebeten, und er hat gegeben. Wie kannst du da nicht glauben?« Ich war durchaus versucht zu glauben. Aber ich hatte schon früh in meinem Leben erkannt, daß der Glaube eine innere Fäulnis war, die einen Mann aushöhlt und zum Eunuchen macht. Ich wußte, daß der Glaube eine willkommene Krücke für Schwächlinge und Angsthasen war. Nein, diese Krankheit wollte ich nicht in mir haben.

Also widerstand ich, erklärte mir alles mit dem Zufall - daß wir die entscheidende Information während der Puja erhalten hatten, war offenkundig das Ergebnis zusammenhangloser Bewegungen, die sich auf eine allein mir sinnvoll erscheinende Weise umeinander gruppierten, zielloser Partikel, die aufeinanderprallten und die Illusion einer Gestalt ergaben. Denn was war mit den Tausenden von Momenten in jeder Minute, zwischen denen keinerlei Zusammenhang bestand, die nicht durch glitzernde Bedeutungsfäden miteinander verknüpft waren? Paritosh Shah sah Dandi-Swami hinter jeder einzelnen aufleuchtenden Sekunde, er bat ihn mit Geschenken und Bhajans um Hilfe, übte mit Steinen, Amuletten und geheimen Mantras Druck auf ihn aus, und gelegentlich stritt er auch mit ihm. Danach entschuldigte er sich immer bei Dandi-Swami und flog auf den Schwingen von dessen Segnungen. Er war davon überzeugt, daß ich nur meinen Widerstand aufgeben und mich in die Ehe sinken lassen müßte, dann würde sich der Glaube ganz von selbst einstellen. »Wenn du erst mal unter der Haube bist«, sagte er, »wird sich dieser ganze Quatsch von selbst regeln. Das ist eins-zwei-drei passiert.« Und er schnalzte mit den Fingern, eins-zwei-drei. Jeden Tag fragte er mich, welche Mädchen ich in die engere Auswahl genommen hätte.

Und so schritt das Jahr voran. September, Oktober. Anfang November rief Samant an. Wir waren während der blutigen Fehde mit Suleiman stets miteinander im Geschäft gewesen und hatten beide davon profitiert. Er in Form von Bargeld, ich in Form von Leichen. Doch es war schwieriger für uns geworden, uns persönlich zu treffen, da in der Presse über uns beide berichtet worden war. Wir waren Opfer unseres Ruhms. Bislang nur eines bombayweiten, nicht landesweiten Ruhms, doch er reichte, um uns zu größter Vorsicht anzuhalten. Also telefonierten wir, mit wöchentlich wechselnden Nummern.

Was Samant diesmal zu sagen hatte, war simpel. Einen Monat nach der Beschlagnahme meiner Lieferung hatte die Stadtverwaltung Gelder in Höhe von fast einem Viertel des Lieferungswertes an verschiedene Beamte sowie einen anonymen Informanten gezahlt. Wir wußten, daß dieser namenlose Mistkerl nicht Khot oder einer seiner Hinterbliebenen gewesen war - letztere hatten wir sorgfältig im Auge behalten. Wer war also dieser Gaandu, der mir mein Eigentum genommen hatte? Jetzt konnte mir Samant einen Namen nennen: »Kishorilal Ganpat«. Ich kannte diesen Namen. Ganz Bombay kannte ihn. Kishorilal Ganpat war ein Bauunternehmer, der seit zehn Jahren im Osten der Stadt im großen Stil baute. Von der Schnellstraße aus konnte man seine Gebäude aus dem Grün emporragen sehen, über die Dörfer und die alten Siedlungen hinaus. Er war stark. Es hatte Gerede über sein Verhältnis zu Suleiman Isa gegeben, doch ihre Kontakte waren von der üblichen, notwendigen Sorte, so wie sie jeder Bauunternehmer mit Suleiman Isa gehabt hätte. Weder besonders eng noch ungewöhnlich. Wir hatten selbst schon mit Kishorilal Ganpat geredet, als er Hilfe brauchte, um vier für Wohnungsbau ausgewiesene Areale in Andheri von Slums zu befreien. Doch wenn er mein Geld genommen, wenn er von mir gestohlen hatte, dann stand er Suleiman Isa näher, als es irgend jemand gewußt hatte. Es bedeutete, daß er einer der Finanziers von Suleiman war, vom selben Teller aß wie dieser Maderchod. Ich dankte Samant und legte auf. Seine Belohnung würde er später erhalten, und sonst gab es nichts zu bereden. Ich stand vor der Alternative, diese Neuigkeit stumm zu schlucken, zu vergessen, daß ich sie erfahren hatte, oder aber zu handeln. Ich behielt die Information für mich, ich wollte in Ruhe darüber nachdenken.

Kurz vor Tagesanbruch klingelte das Telefon erneut. Wieder war einer von uns ermordet worden. Diesmal war es ein Junge aus Gopalmath, ein Junge, den ich in den von mir gebauten Straßen hatte aufwachsen sehen. Er hieß Ravi Rathore und war mit dem Bus aus Aurangabad036 gekommen, wo er Verwandte hatte. Suleiman Isas Schweinehunde hatten ihn am Busbahnhof in Dadar abgefangen. Einem Kulfivaala war ein kurzes Geschubse aufgefallen. In der Nähe war ein schwarzer Lieferwagen geparkt gewesen. Und um ein Uhr morgens hatte dann jemand in der Nähe der Schnellstraße in Goregaon East auf einem stinkenden Abfallhaufen eine Leiche entdeckt und sie mit einem anonymen Anruf bei der Polizei gemeldet. Ravi Rathore hatte einen Einschuß in beiden Oberschenkeln und einen in der Stirn. Wir brachten seine Leiche am späten Nachmittag zu seinem Kholi zurück. Er hatte keine Verwandten in Bombay, also zündete ich seinen Scheiterhaufen an. Unter dem Holz und den züngelnden Flammen sah die Leiche in dem weißen Leichentuch winzig aus. Ravi Rathore war sehr mager gewesen, und sein Lieblingsgürtel mit der schweren Silberschnalle hatte fast zweimal um seine Taille gereicht. Wenn die Jungs sonntags auf dem ansteigenden Spielfeld in der Nähe des Hügels Kricket spielten, hatte Ravi Rathore bei den Spurts zwischen den Wickets immer heftig gekeucht. Jetzt war er tot. Wir verbrannten ihn und gingen nach Hause. Ich setzte mich auf meinen Stuhl auf der Terrasse und sah zu, wie es wieder Nacht wurde. Dieses Tal, in dem wir leben, ist ein Tal von Licht und Schatten. Wir flackern darin auf und verlöschen wieder. Wie schnell hatte Ravi Rathore seinen Platz darin aufgegeben. Ich lehnte Tee und Abendessen ab, erinnerte mich an einen Monsun vor vielen Jahren, als Ravi Rathore mit seinen aus Shorts ragenden dünnen Beinen in einer überschwemmten Ecke zwischen zwei gewundenen Gassen herumplantschte. So kannte ich ihn, so und mit seinem Gürtel und seiner keuchenden Begeisterung fürs Kricket.

»Woran denken Sie, Bhai?« fragte Chhota Badriya. Er saß am anderen Ende der Terrasse auf dem Boden.

»Bachcha, was ist in dem Boot?«

»Was?«

»Ich denke an den Dandi-Swami.«

Chhota Badriya senkte den Kopf, rieb sich die Fußknöchel. Er versuchte zu erkennen, in was für einer Laune ich war, ob er eine weitere Frage riskieren konnte. Er stand auf, pulte am Dach herum, hob mit dem Fingernagel etwas abgeblätterten Putz an.

»Laß mein Haus ganz«, sagte ich. »Weißt du, was wir tun werden? Wir werden ein Schiff versenken.«

Kishorilal Ganpat war ein großer Shiva-Verehrer. Er dankte Bolenath094 jeden Morgen für all die Millionen, die er erschwindelt, und all die Schmiergelder, die er gezahlt hatte, für mit Sand versetzten Zement und minderwertige elektrische Leitungen, die aus roh verputzten Hauswänden quollen, für amtlich nicht zugelassene Gebäude, zusätzliche Stockwerke, die weit über die zugelassene Geschoßflächenzahl emporragten, für betuchte Mittelschichtler, die unbedingt ein Eigenheim wollten, für hungernde Arbeiter, für schwertschwingende harte Jungs, für Suleiman Isa. Kishorilal Ganpat ließ in diesen schweren Zeiten die angemessene Vorsicht walten, er hatte zwei sehnige Leibwächter, die so muskulös waren, daß sie mit gespreizten Beinen gingen, als hätte ihnen jemand Gummibänder um die Eier gespannt. Kishorilal Ganpat legte Wert auf ein tadelloses Erscheinungsbild, deshalb trug der Fahrer seines Mercedes einen weißen Anzug mit weißer Mütze, und die beiden Leibwächter hatten graue Safari-Anzüge an. Außerdem hortete Kishorilal Ganpat Zeit. Er sammelte Abkürzungen, die ihm im nervtötenden Dauerstau der Stadt zwei oder drei Minuten einsparten, er hielt seinen Angestellten Vorträge über die japanische Pünktlichkeit, er besuchte den Shiva-Tempel in der Satyagrahi Jamunanath Lane jeden Dienstagmorgen exakt um halb neun, »punkt-punkt halb neun«, wie er jedem, der es hören wollte, gern erklärte. Das alles machte die Sache für uns zum Kinderspiel. Wir hielten uns bereit. Sechs Jungs, sechs Star-Pistolen. Wir wußten, wo Shiva auf seinem Podest saß, wir kannten die Treppe, die zu der von Häusern und fliegenden Händlern gesäumten Gasse hinunterführte, wir wußten, wo der Mercedes auf seinen Herrn warten würde, wir wußten, wo die Leibwächter postiert sein würden. Und es flutschte nur so, wie ein geölter Lauda in einer feuchten Chut. Kishorilal Ganpat kam die Treppe herunter, eine große Silberschale mit Prasad in die Höhe haltend. Er hatte seine Schuhe mit den Spitzen nach vorn an den Fuß der Treppe gestellt, so daß er sehr effizient hineinschlüpfen konnte und gute drei Sekunden sparte. Die Leibwächter standen noch gebückt und zogen sich mit dem Rücken zu ihrem Boß die Sandalen an, während Kishorilal Ganpat schon mit Storchenschritt über eine Pfütze stieg, da stellte sich mein Bunty ihm von der Seite in den Weg. Kishorilal Ganpat schaute ihn an, und Bunty hob den rechten Arm und schoß Kishorilal Ganpat das linke Auge aus. Der eine Leibwächter griff unter sein Hemd und wurde umgeblasen. Der andere setzte sich auf die Treppe des Tempels und nahm die Hände nicht mehr vom Stein, umklammerte die Stufe mit weißgedrückten Fingernägeln. Unterdessen taumelte Kishorilal Ganpat die Gasse entlang, von Tür zu Tür, auf der Suche nach einem Ausweg, egal, was für einem. Bunty ging ihm nach und jagte ihm liebevoll eine Kugel nach der anderen in Rücken und Hintern. Schließlich sank Kishorilal Ganpat vor einer zinnoberroten Tür unter einem elegant gezeichneten weißen Om auf die Knie, mit blutdurchtränkten Kleidern, hängendem Kopf und hochgerecktem Gaand, mausetot.

Bunty und die Jungs machten sich aus dem Staub, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Der Rückzug verlief genauso reibungslos wie der Job an sich, sie stiegen in zwei Autos und fuhren weg. In Malad ließen sie die beiden Autos an einer Straßenecke stehen und stiegen in einen Transporter um. Binnen drei Stunden hatten sie alle die Stadt verlassen. Und wir, die wir zurückblieben, mußten nun sehr vorsichtig sein. Wir wußten, daß der Konflikt durch unser Zutun weiter eskaliert war, und wappneten uns. Ich wohnte jetzt in drei verschiedenen Häusern, zwischen denen ich in unregelmäßigen Abständen wechselte. Paritosh Shah träumte davon, in einem massigen Mercedes mit Panzerplatten und kugelfesten Scheiben zu fliehen. Chhota Badriya ließ einige Jungs durch abgelegene Gassen patrouillieren und unsere Interessen verteidigen. Kishorilal Ganpats Tod wanderte von den Titelseiten auf die hinteren Seiten mit den kleineren Meldungen, dann verschwand er ganz aus der Zeitung. Abgesehen davon, daß wir in zwei Schießereien mit Parulkars Leuten drei Männer verloren, ging unser Leben weiter wie zuvor. Werdet nicht bequem, warnte ich meine Jungs. Schlaft nicht ein. Die anderen schlafen garantiert nicht, sie planen etwas. Und es wird kommen: die Axt, die Kugel, der Fall. Es muß kommen. Wir führen Krieg gegen Suleiman Isa. Suleiman Isa.

Ganesh Gaitonde: Der Name hatte eine gewisse Schwere, eine Robustheit. Er hielt stand, gab nicht nach, ein starker Name. Geschrieben wies er eine Art symmetrische Stabilität auf, und er klang einem in den Ohren wie ein doppelter Paukenschlag. Die Leute trauten ihm, und sie fürchteten ihn. Doch dann: Suleiman Isa. In den Zischlauten klang Gerissenheit an. Eine verschlagene, rattenhafte Gerissenheit. Die uns eines Morgens Ende November ereilte. Wenige Minuten nachdem es geschehen war, rief man mich an. Paritosh Shah hatte das Büro von Rajhans Airlines in seinem uneinnehmbaren Mercedes verlassen. Wachleute schlössen das Tor hinter dem Wagen, der auf der Zufahrt panzergleich beschleunigte. Vorne saßen der Fahrer, ein langjähriger bewährter Angestellter, und ein Leibwächter, nicht Bada Badriya, der für eine Woche in sein Dorf in UP gefahren war, sondern ein Ersatzmann namens Patkar. Paritosh Shah hatte es sich auf der Rückbank bequem gemacht und tippte Namen in einen eigens in Singapur bestellten elektronischen Organizer ein, den er am selben Morgen bekommen hatte. Er wollte auch vom Auto aus Geschäfte machen können, wollte noch mehr Geld verdienen. Die Zufahrt zu Rajhans Airlines mündete links in die Ambedkar Road. Kurz vor der Einmündung erschien ein Transporter hinter dem Mercedes und fuhr dicht auf. Zugleich donnerte ein Laster quer auf die Straße und blockierte sie von vorn. Der Transporter krachte gegen die Stoßstange und schob den Mercedes in die Seite des Lasters. Die Hinterreifen des Mercedes zerplatzten unter Schüssen. Dann schlugen plötzlich zwei Männer mit Vorschlaghämmern auf das linke hintere Fenster ein, das, obwohl kugelsicher, spinnwebartige Sprünge bekam und sich nach innen bog. Patkar hatte seine Pistole gezogen, doch vor dem Fenster stand ein Mann mit einer AK-47. Um Paritosh Shah zu verteidigen, hätte der Leibwächter das Fenster öffnen müssen, wodurch er wiederum der AK-47 den Weg freigemacht hätte. Also richtete er seine Pistole auf den Mann, ließ das Fenster aber oben. Unterdessen traktierten die Vorschlaghämmer weiter die Fensterscheibe. Paritosh Shah saß zappelnd auf dem Rücksitz und tippte mit fahrigen Fingern auf seinem Handy herum. Und dann entstand in der Scheibe oberhalb einer großen Einbeulung bröckelnd ein kleines Loch, etwa so groß wie eine Rupienmünze. Groß genug für die Mündung einer Schußwaffe, einer AK-47. Ein komplettes Magazin wurde ins Auto gefeuert. Patkar versuchte das Feuer zu erwidern, gegen den knatternden Kugelhagel anzuschießen, der ins Innere des Mercedes drang, aber seine Schüsse bewirkten nichts, ja womöglich prallten die Kugeln sogar an den Innenwänden des Wagens ab.

Meine Jungs versuchten mich davon abzuhalten, dorthin zu fahren, zu meinem Freund. Ich schob sie weg und setzte mich selbst ans Steuer. Ich traf nur ein paar Minuten nach der Polizei ein, und wenigstens die versuchte nicht, mich von irgend etwas abzuhalten. Heckscheibe und Rückfenster waren von unzähligen Sprüngen getrübt und auf der Innenseite von einer dunklen, gallertartigen Masse verschmiert. Die linke Vordertür stand offen. Der Fahrer hatte überlebt und war über den toten Leibwächter geklettert, als das Krachen der Schüsse aufgehört hatte. Ich beugte mich ins Auto, stützte eine Hand auf das seidige Leder der Kopfstütze und schaute in den Fußraum vor der Rückbank. Kein Paritosh Shah war zu sehen. Ich sah einen Klumpen in sich zusammengefallenen Fleisches, durchlöchert, durchbohrt, zerrissen. Kein Gesicht. Unter einer breiten Stirn ein geborstenes Gefäß mit einer rohen Masse voll scharfer weißer Knochensplitter. Kein Paritosh Shah. Er hätte niemals in diesen schmalen Graben zwischen den Sitzen gepaßt, nicht Paritosh Shah, mein fetter Freund. Aber dort war eine Hand mit Ringen, mit glänzenden, beschützenden Steinen. Und hier ein Fuß, noch in dem neuen, mit Troddeln besetzten burgunderroten Slipper. Er hatte mir dieses Wort eingeschärft, mit nachsichtiger Geduld: »Nicht einfach rot, Bhai, das ist burgunderrot. Bur-gun-der-rot.« Und hier war ein frisierter Haarschopf. Aber wo war Paritosh Shah?

Ich ging zu ihm nach Hause, wo die Frauen nichts zu mir sagten. Und doch spürte ich ihren Haß. Er war meinetwegen gestorben. Er war für mich gestorben. Ich hatte ihn umgebracht. Niemand wagte es auszusprechen, doch es mußte nicht ausgesprochen werden. Als seine Leiche im Hof aufgebahrt war, von Kopf bis Fuß in weiße Tücher gehüllt, und seine Töchter wehklagten, sagte es keiner. In der Hitze des brennenden Scheiterhaufens sagte es keiner. Ich kehrte nach Gopalmath zurück, ohne es jemanden sagen zu hören, doch es schwang in jedem meiner Atemzüge mit, im Pochen meines Pulses. Ich trank Whisky. Ich sagte meinen Jungs, sie sollten mir irgendwas bringen, egal was, solange ich es nur gleich hier hätte, jetzt sofort. Sofort. Meine Kehle brannte vom Whisky, und ich sah mich sterben. Ich wurde erstochen, niedergesäbelt, erschossen, erhängt. Mein Körper erlosch. Und erlosch abermals. Schüsse zerteilten meine Ellbogen, halbierten meinen Rumpf. Ich begrüßte jedes Erlöschen. Wo war der Tod? Dieses Leben war ein eiserner Reif um meinen Kopf. Paritosh Shahs üppiges Fleisch, völlig ausgeblutet. Wie das Leben doch endet. Wie es versickert. Macht dieses Versiegen ein Geräusch? Oder war nur das Krachen der Schüsse zu hören? Ich hob die Hand, hielt sie dicht vor meine Augen, preßte das Gesicht in die federnden Härchen auf dem Unterarm, spürte das Leben darin. Jeder Follikel war lebendig. Mit einer Drehung meines anderen Handgelenks zerschmetterte ich das Whiskyglas am Bettpfosten. Dann schnitt ich mit einer halbmondförmigen Scherbe in den Muskelstrang unterhalb meiner Faust. Schnitt durch die dichte Behaarung hindurch, und das Blut sickerte lautlos. Ich drehte den Arm um und sah am Handgelenk meinen rhythmisch klopfenden Puls. Leicht, ihn zu stoppen, ihn zu durchtrennen. So leicht.

Und dann war ich von mir selbst angewidert. Paritosh Shah hatte gelebt. Er hatte mit jeder Faser gelebt, hatte seine Frauen, seine Kinder, seine Hunderte von Angestellten ernährt. Er hatte alles gegeben, und selbst im Sterben hatte er gekämpft, um noch zu telefonieren, noch etwas zu sagen. Er hatte versucht, mich anzurufen. Das wußte ich. Nicht seine Frau, nicht seine Kinder, sondern mich. Was hätte er wohl gesagt aus der durch Funkwellen so wundersam überbrückten Distanz? Der Tod hatte ihn schon in den Klauen, ich hätte ihn nicht retten können. Das muß er gewußt haben. Was hätte er gesagt an seinem Ende? Zu mir, seinem Freund? Ich schaute in die gebogene, mit meinem Blut besprenkelte Glasscherbe und wußte es. Ich kroch zum anderen Ende des Betts, fand den Stapel Fotografien. Ohne hinzuschauen, nur nach Gefühl, zog ich eines aus der Mitte heraus. Und dann rief ich die Jungs herbei.

»Diese hier will ich«, sagte ich zu Chhota Badriya, der mit einem halben Dutzend anderer zusammensaß und seine Pistole reinigte. Sie waren alle verblüfft. Sie hatten einen Kriegsrat erwartet. Jedesmal wenn wir in diesem Kampf jemanden verloren hatten, waren wir nach der Bestattung zusammengekommen, um unsere Ziele für den nächsten Tag, die nächste Woche zu bestimmen. Wen wir töten würden und wie, darüber redeten wir. Doch jetzt wollte ich eine Frau.

Chhota Badriya nahm das Foto vom Tisch, auf den ich es hatte fallen lassen. »Jetzt, Bhai?«

»Nein, nicht so.« Er dachte, ich wolle eine kleine Mitternachtsnummer, doch das Mädchen sah anständig aus, und das verwirrte ihn. Ich klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Nicht das, Vella659. Paritosh-bhai wollte es. Und der Dandi-Swami. Ich will sie heiraten.«

Sie hieß Subhadra Devalekar, und ich heiratete sie vier Tage später. Zuerst fand ihr Vater es herzlos, daß ich so bald nach dem Tod meines Freundes heiraten wollte. Ich wußte, daß auch die meisten meiner Jungs das fanden. Doch ich erklärte, es sei der letzte Wunsch meines Freundes gewesen, und dann erinnerten sie sich alle wieder an seine Predigten, an die immer wieder verlangte engere Auswahl, an sein Drängen. Ein Gerücht tauchte aus dem Nichts auf und verfestigte sich zur Gewißheit, nämlich daß er mich tatsächlich noch vom Mercedes aus angerufen hatte, während die Hammerschläge sein Leben zertrümmerten, und es geschafft hatte, mir zu sagen: »Du mußt heiraten.« Als wir dann schließlich um das Feuer schritten, Subhadra und ich, war unsere Heirat zur Erfüllung des letzten Wunsches eines verstorbenen Freundes geworden. Die Jungs kamen zu Dutzenden und Aberdutzenden aus der ganzen Stadt und wohnten unserer kargen Zeremonie mit feuchten Augen, gezückten Pistolen und grimmiger Loyalität bei.

Nach der Trauung saßen wir vor dem Haus, und die Menschen aus Gopalmath kamen, um mir ihre Aufwartung zu machen. Subhadras Vater nahm Umschläge entgegen. Er war ehemaliger Busschaffner der Linie 523, jetzt aber im Ruhestand, und hatte vier Töchter. Zuerst hatte er gezögert, als Chhota Badriya zu ihm gekommen war, immerhin waren in den Nachmittagszeitungen immer noch Fotos des »Todes-Mercedes« abgedruckt, aber ein Stapel gebündelter Fünf-hundert-Rupien-Scheine auf seinem Teetablett hatte ihn überzeugt. Töchter sind eine Verantwortung. Jetzt stand der Busschaffner zu meiner Rechten und nahm die Geschenkumschläge der Schlange stehenden Gratulanten in Empfang. Bada Badriya trat mit einem dicken roten Umschlag vor. Er war eiligst aus seinem Dorf gekommen, sobald wir ihn kontaktiert hatten, und schämte sich immer noch, daß er seinen Boß allein gelassen hatte, das merkte ich. Aber er war seit fünf Jahren nicht mehr in seinem Dorf gewesen und trug keine Schuld an dem, was geschehen war. Ich sagte ihm das und umarmte ihn.

Und dann saß ich auf einem von Rosenblüten übersäten Bett. Irgendwo erklang ein Lied, und eine Flöte wob ihre Melodie hinein. Auf einer Ecke des Betts umhüllte gleich einem kleinen roten Zelt ein Sari einen zitternden, schmächtigen Körper. Meine Frau. Ich war verheiratet. Ich fühlte mich leicht benommen, als wäre ich gerade aus einem langen Traum erwacht. Ich fragte: Wie ist das geschehen? Es kam keine Antwort.