Alter Schmerz

Mary Mascarenas war bereit zu reden. Sartaj wartete auf sie, allein, gegenüber dem Pali-Hill-Salon, wo sie arbeitete. Auf der abschüssigen Straße herrschte ein Kommen und Gehen teuer gekleideter Teenager, Jungen rasten in schnittigen Autos vorbei, die ihnen ihre reichen Väter gekauft hatten, Mädchen wirbelten in Dreier- und Vierergrüppchen vorüber. Sartaj stand neben einer Zigarettenbude, an der Dienstboten und Chauffeure rauchend ihren Abendplausch hielten. Er hatte Mary am Morgen angerufen und ihr freundlich gesagt, daß er sie sprechen wolle. Nach der Arbeit, hatte sie erwidert, und es hatte nicht mehr zornig geklungen, nur noch resigniert. Sartaj war zuversichtlich, daß er diesmal mehr von ihr erfahren würde. Sie würde selbst wissen wollen, was passiert war und warum. Er war etwas zu früh dran. Die Chauffeure unterhielten sich über Aktienkurse und Gewinnaussichten der Konzerne. Chauffeure wußten mehr als irgend jemand sonst, sie hörten die Gespräche der Saabs und Memsahibs im Auto mit, sie kannten deren Wege, sie brachten Dokumente und Bargeld hierhin und dorthin. Sartaj beobachtete die flirtenden Jungen und Mädchen und versuchte dem Börsengespräch zu folgen, um Katekar davon berichten zu können. Katekar spekulierte nicht, aber er beharrte darauf, daß der Kapitalmarkt logischen Prinzipien unterliege, man müsse nur die Regeln kennen, dann könne man ganz groß herauskommen. Alles, was man brauche, seien Information und Bildung. Sartaj hörte also zu, doch die Chauffeure wußten mehr als er, und er vermochte ihrer lebhaften Diskussion nicht zu folgen. Wenn eine ihrer Memsahibs aufgestylt aus dem Salon kam, rückte die kleine Schar zusammen, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Sie rauchten Zigaretten und aßen aus kleinen Päckchen geröstete Nüsse und Bohnen. Sie waren gut bezahlt, diese Chauffeure, und gut angezogen, dem Status ihrer Arbeitgeber entsprechend.

Es war kurz nach sieben, als Mary aus der blauen Glastür des Salons trat. Sie trug ein schwarzes T-Shirt, einen knielangen, engen schwarzen Rock und flache schwarze Schuhe. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und Sartaj staunte, wie elegant sie war. Sie wirkte vollkommen ruhig, und wenn man sie neben die Teenager-Prinzeßchen gestellt hätte, die an ihr vorbeistolzierten, wäre sie nicht aufgefallen. Es sei denn, man hätte auf ihre gerade Haltung geachtet, ihre ebenmäßigen Schultern und ihre Hände, die auf einer schwarzen Handtasche ruhten. Als sie Sartaj sah, winkte sie ihm zu.

Er ging über die Straße, auf die Seite der glitzernden Nobelläden: Gurlz, Expressions, Emotions. »Tut mir leid, daß es so spät geworden ist«, sagte sie. »Im Taj612 ist heute abend eine große Party, da hatte ich noch drei Extratermine.«

»Klar, für eine Party im Taj braucht man ja auch besonders schicke Frisuren.«

»Ich weiß nicht, ich war nie dort. Aber die Frisuren kann ich machen.«

Sie sprach Hindi mit Akzent, fließend und verständlich, aber improvisiert, ein Hindi, das die Klippen der Grammatik vertrauensvoll umschiffte. Sartaj war überzeugt, daß ihr Englisch besser war, aber sein eigenes war eingerostet. Sie würden sich mit einer bunten Mixtur, einem Bombay-Mischmasch, behelfen. »Mein Wagen steht da drüben«, sagte er. Am Telefon hatte sie ihn gebeten, nicht an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen, und er hatte ihr versichert, daß er weder in Uniform noch im Polizei-Jeep und außerdem allein kommen werde. Unter den Augen der Chauffeure fuhr er rückwärts auf die Straße hinaus und ließ Mary dann einsteigen. »Wir fahren in die Carter Road«, sagte er, und sie nickte. Sie würde auch nicht wollen, daß ihre Nachbarn sich über Polizisten oder seltsame Sikhs in ihrer Begleitung wunderten.

Weit hinten an der Kaimauer fand er in einer Biegung einen Kiesstreifen, auf dem nicht allzu viele Straßenhändler, flanierende Liebespaare und Bettler unterwegs waren. »Das Schiff ist inzwischen völlig verschwunden«, sagte er. »Kein Fitzelchen mehr davon übrig. Wie hieß es noch mal?«

Ein ausländischer Frachter war in einem Monsunsturm mit Maschinenschaden auf Grund gelaufen, und der weit aus dem Wasser ragende Rumpf war zu einer Art Touristenattraktion geworden. Sartaj hatte einmal spätnachts gegenüber dem Schiff auf einer Bank gesessen und Megha geküßt. Nicht lange danach hatten sie sich getrennt.

»Das war die Zhen Don«, sagte Mary. »Die ist verschrottet worden, Vorjahren schon.«

»Ich dachte, man wollte ein schwimmendes Hotel daraus machen.«

»Als Schrott war sie mehr wert.« Der Himmel war seit zwei Tagen von einem verwaschenen Grau, und darunter zogen Schiffe schemenhaft über den Horizont. Mary wandte sich Sartaj zu. »In der Zeitung stand, daß eine Polizistin dabeisein muß, wenn eine Frau verhört wird.«

»Das ist kein Verhör. Sie sind keine Verdächtige. Es gibt keine Verdächtigen. Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist und warum Ihre Schwester in dem Haus war. Und ich dachte, Sie würden nicht vor so vielen Leuten reden wollen. Das hier ist so etwas wie ein Privatgespräch. Was Sie mir sagen, behalte ich für mich.«

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Sie haben nichts über Ihre Schwester zu sagen?«

»Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen. Ich ... ich hatte Jahre nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Warum? Hatten Sie Streit?«

»Ja.«

»Worüber?«

»Wieso müssen Sie das wissen?«

»Es könnte mir Aufschluß darüber geben, was für eine Frau sie war.«

»Und dann wissen Sie, wie sie in dieses Haus gekommen ist?«

»Vielleicht.«

»Sie war kein schlechter Mensch.«

Mary war angespannt und rückte auf dem schmutzigen blauen Sitz so weit von Sartaj ab wie nur irgend möglich. Ihre kleine schwarze Tasche lag zwischen ihnen, und ihm wurde klar, daß sie Angst vor ihm hatte, Angst, weil sie hier an der Ufermauer parkten, Angst vor dem, was er womöglich von ihr verlangen würde. Deshalb hatte sie nach der Polizistin gefragt. Daß die Leute vor seiner Uniform Angst hatten, war er gewohnt, doch der Gedanke, diese Frau könnte glauben, er wolle sie vergewaltigen, war ihm schrecklich. Er drehte den Zündschlüssel, legte mit metallischem Knirschen den Gang ein und fuhr schnell die Straße hinunter. An einer Stelle, an der sich die Abendspaziergänger drängten, brachte er den Wagen zum Stehen, direkt neben einigen übermütigen, Eis schleckenden Teenagern. Mary sah ihn aus großen Augen an.

»Ich brauche eine Narial pani«, sagte er. »Und damit das klar ist: Ich will Ihnen nichts tun. Ich will nur mit Ihnen reden. In Ordnung?«

Sie nickte und beobachtete ihn aufmerksam, als er einen Straßenhändler heranwinkte und zwei Kokosnüsse kaufte. Sie nahm ihre in beide Hände und trank sie in langen durstigen Zügen ganz aus. Sartaj hielt ihr seine hin. »Noch mehr?«

»Nein.« Sie war erleichtert, noch nicht ganz entspannt zwar, aber sie bog sich nicht mehr von ihm weg.

Sartaj trank aus seiner Narial, sah sie an und wartete.

»Meine Schwester war fünfzehn, als sie nach Bombay kam«, sagte Mary. Sie schaute aus dem Fenster auf das sacht wogende Meer. »Ich wohnte damals mit meinem Mann in Colaba, und sie zog bei uns ein. Jojo und ich sind auf der Farm meiner Mutter bei Mangalore aufgewachsen. Unser Vater starb, als ich elf war. Nach meiner Heirat ging ich nach Bombay, und so kam Jojo zu John und mir. Sie war noch sehr jung, aber sie wollte unbedingt Krankenschwester werden und Englisch lernen, und zu Hause gab es nur eine Dorfschule. Unsere Wohnung war winzig, aber sie schlief auf dem Sofa, sie war ja meine kleine Schwester. Sie war damals noch so klein und dünn. Drei Pferdeschwänzchen machte sie sich immer. Ich fand, sie sah zuviel fern. Tag und Nacht saß sie im Schneidersitz vor dem Apparat. Aber John meinte, das sei gut für sie, sie müsse Englisch und Hindi lernen. Er zog sie oft auf und brachte sie zum Lachen. Sie würde nur die Werbung kennen, sagte er, und könne von nichts anderem reden als von Zahnpasta und Haarshampoo. Doch Jojo war sehr intelligent. Von Tag zu Tag nahm sie mehr von der Sprache auf. Nach einer Weile hatte sie keine Angst mehr und konnte alle unsere Einkäufe erledigen. Das war eine große Hilfe für mich, denn ich hatte eine Vollzeitstelle als Verkäuferin in einem Lederwarengeschäft. Sie war plötzlich so selbstbewußt. Sie hörte auf, diese Druckröcke zu tragen und legte sich eine neue Frisur und einen forscheren Gang zu. Nach einem halben Jahr war sie ein anderer Mensch. Ein Bombay-Girl. Irgendwann fing sie dann an, von Schauspielerei zu reden. Sie imitierte Film- und Fernsehschauspielerinnen und VJs. Das kann ich auch, sagte sie. Erst lachte ich und vergaß es wieder, aber sie fing immer wieder davon an, und schließlich wurde John aufmerksam. Warum nicht? sagte er. Schau sie dir an, sie ist so gut wie irgendeine von denen, besser sogar. Warum sollte sie das nicht können? Und er hatte recht. Sie war eine strahlende Erscheinung. Ich hatte es nicht bemerkt, weil sie ja meine kleine Schwester war, aber ohne ihre Pferdeschwänze war sie ein Star. Immer wieder stellte sie sich vor den Spiegel oder besah sich in den Fensterscheiben. Plötzlich bemerkte ich auch, daß die Nachbarn ihr nachschauten, wenn sie morgens die Treppe hinunterrannte, um Brot zu holen. Die Jungen auf der Straße warteten abends auf sie, nur um sie vorbeigehen zu sehen. Ich fing ebenfalls an, daran zu glauben. Schließlich ist jede Filmschauspielerin von irgendwoher gekommen. Niemand wird im Rampenlicht geboren. Die eine kam aus Bangalore, die andere aus Lucknow, viele stammten aus ganz normalen Familien. Und jetzt hatten sie Geld, jetzt waren sie berühmt. Warum also nicht auch Jojo? Warum nicht meine Schwester? Wir alle verfingen uns in dieser Phantasie. John hatte einen Freund, der bei MTV arbeitete, wenn auch nur als Buchhalter. Aber dieser Buchhalter kannte wieder andere Leute beim Sender, und so nahm sich John eines Tages den Nachmittag frei und fuhr mit Jojo nach Andheri East zu MTV, erst mit dem Zug, dann mit einer Autorikscha. Ganz aufgeregt kamen sie zurück. Ein leitender Angestellter bei MTV, ein Engländer, hatte gesagt, sie sei charmant und schön. Stellen Sie sich das vor: Einen Job bekam sie nicht, aber es begeisterte uns allein schon, daß sie ein Gespräch mit einem so wichtigen Mann gehabt hatte. Diese Riesenstrecke von unserer kleinen Wohnung bis zu MTV - und sie waren an einem einzigen Nachmittag hin- und zurückgefahren. Das Unmögliche war möglich geworden. Dann war der Sommer vorbei, und Jojo fing mit der Schule an, aber das war alles nicht mehr so wichtig. Sie nahm Tanz-und Schauspielunterricht. Sie redete mit Produzenten und Regisseuren. Immer öfter fuhr John mit ihr zu diesen Terminen in Bandra, in Juhu, in Film City. Auf seiner Arbeitsstelle wurde man allmählich unruhig, und schließlich flog er raus. Ich machte mir Sorgen. Aber er meinte, um Großes zu erreichen, müsse man große Risiken eingehen, wir müßten vorausschauen und dürften keine Angst haben. Hab keine Angst. Und ich versuchte keine Angst zu haben. Aber ich hatte Angst. Ich hatte Angst um Jojo. Ich sah, wie fest sie an ihre Zukunft glaubte. Jeder kämpft, sagte sie. Man muß kämpfen. Aishwarya hat gekämpft, sogar Madhubala hat gekämpft. Also muß ich auch kämpfen. Aber am Ende werde ich siegen, sagte sie. Ganz bestimmt.«

Eine frische Brise vom Meer her blähte den Sari einer Passantin, ließ ihn lila aufleuchten und wehte Mary das Haar in die Augen. Doch sie war weit weg und schien eher mit sich selbst zu reden als mit Sartaj.

»Und wir alle haben gekämpft. Ich sparte Geld für Jojos Unterricht, und John telefonierte ständig mit seinen neuen MTV-Freunden, um Kontakt zu halten. Und es war ein ganz neuer John. So aufgekratzt hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Ein paarmal fuhr ich mit ihm und Jojo zu diesen Filmi- und Fernsehpartys. Partys mit den berühmten Gesichtern aus dem Fernsehen. Archana Puran Singh hier, Vijayendra Ghatge dort. John schüttelte Hände und lachte, umarmte Leute und klopfte ihnen auf den Rücken. Abends im Bett nahm er mich in die Arme und erklärte mir alles. So funktioniert das in dem Geschäft. So bekommt man Jobs. Beziehungen sind alles. So läuft das. Wir verbrachten dieses Jahr an der Schwelle von etwas Großem, das dachten wir jedenfalls. Jojo bekam einen Modeljob und dann noch einen. Der erste war ein kurzer Werbespot für Dabur-Schuhe, in dem sie mit zwei anderen Mädchen auf der Mittelplanke einer Autobahn tanzte. An einem Dienstagabend sollte der Spot gesendet werden, und wir saßen vor dem Fernseher und warteten. Das gab ein Geschrei, als sie plötzlich auf dem Bildschirm erschien! Jojo tanzend im Fernsehen! Wir tanzten auch, John ließ den Korken einer kleinen Flasche Airline-Champagner knallen, die er von seinem Buchhalterfreund bekommen hatte. Nach diesem Tanz auf der Autobahn waren wir uns völlig sicher. Nichts konnte uns mehr aufhalten. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Das sagte John ständig: nur eine Frage der Zeit. Aber es tat sich nichts. Immer neue Termine spannten Jojo auf die Folter - »Kommen Sie noch mal vorbei, wir überlegen es uns noch‹ -, und jedesmal bekam ein anderes Mädchen den Job. Sie dachte unentwegt darüber nach und redete von nichts anderem mehr: Warum nicht ich? Sie und John unterhielten sich über Kleider, Make-up, Auftreten, nächstes Mal machen wir dies und jenes, nächstes Mal wird es so und so sein. Sie planten und planten. Nächstes Mal. Und dann hab ich sie erwischt.«

Sie brach ab und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie sah ihn nicht an, aber sie war plötzlich wieder ganz da, nicht mehr in ihren Erinnerungen versunken.

»Erwischt?« fragte Sartaj ganz ruhig.

Sie räusperte sich. »Eines Tages wurde mir bei der Arbeit furchtbar schlecht, und ich fühlte mich ganz schwach. Damals ging eine Virusinfektion um. Jeder bekam sie. Meine Stirn fühlte sich heiß an, und der Ladenbesitzer sagte, geh nach Hause. Also ging ich nach Hause. Und da lagen sie, in meinem Bett.«

Es war immer ein gefährlicher Moment, wenn der Befragte seine Demütigung offenbarte. Reagierte man zu heftig, und sei es nur aus Mitgefühl, entglitt er einem, krümmte sich um seinen bloßgelegten Schmerz, verschloß sich wieder und gab keine wesentlichen Details mehr preis. »Ich verstehe«, sagte Sartaj. »Vermutlich hat er gesagt, es sei alles in Ordnung, nichts habe sich geändert.«

Bei seinen Worten erschrak sie ein wenig, als hätte er sie ertappt, und er sah, daß ihre Augen feucht geworden waren. »Ja.«, sagte sie. »Irgendwie hat er sich wohl vorgestellt, wir könnten alle drei glücklich zusammen leben. Ich würde weiter arbeiten und das Geld verdienen, von dem sie sich ihre Kleider kaufen und zu ihren Terminen fahren konnten.«

»Und Jojo?«

»Jojo ... Sie war böse auf mich. Als hätte ich ihr etwas angetan. ›Ich liebe ihn‹, sagte sie. Und sie sagte es immer wieder. Ich liebe ihn. Als ob ich ihn nicht auch geliebt hätte. Das sagte ich ihr schließlich auch. Er ist mein Mann, sagte ich. Und sie sagte, du liebst ihn nicht. Du kannst ihn gar nicht lieben. Sie schrie. Und ich war so wütend. Weil meine Schwester das sagte. Weil meine Schwester und mein Mann das getan hatten. Raus, sagte ich zu ihr. Geh.«

»Und dann?«

»Er ging mit ihr. Zwei Tage später kam er noch einmal zurück, um ihre und seine Sachen zu holen.«

»Ja.«

»Dann wurden wir geschieden. Es war alles sehr schwierig. Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen. Ich versuchte in einem Frauenwohnheim unterzukommen, aber da war kein Platz. Eine Zeitlang wohnte ich bei der YWCA678, dann mußte ich in einen Slum, in Bandra East. Ich habe alle möglichen Unterkünfte kennengelernt.«

»Nach Hause zurück wollten Sie nicht?«

»Zu meiner Mutter? In das Haus, in dem ich aufgewachsen war, mit Jojo? Nein, da konnte ich nicht mehr leben. Ich konnte nicht zurück.«

Selbst ein Slum war besser gewesen als das Zuhause, das sie so weit hinter sich gelassen hatte. »Sie haben jetzt eine schöne Wohnung«, sagte Sartaj.

»Das hat lange gedauert. Am Anfang habe ich in dem Salon die Haare aufgefegt und Scheren und Kämme gesäubert.«

»Haben Sie Jojo noch einmal wiedergesehen?«

»Zwei-, dreimal. Man muß zu einer Beratung, bevor man geschieden wird. Sie hat ihn dort abgeholt. Ich habe nicht mit ihr geredet. Das nächste Mal habe ich sie gesehen, als der Richter die Scheidung ausgesprochen hat.«

»Und danach?«

»Ein paarmal habe ich noch von den beiden gehört, über Verwandte und Freunde. Sie wohnten in Goregaon und versuchten immer noch, Jojo beim Film oder sonstwo unterzubringen. Einmal habe ich sie im Fernsehen gesehen, in einer Sariwerbung. Das war alles.«

»Sie haben nie mehr mit ihr geredet?«

»Nein. Meine Mutter war auch sehr böse auf sie. Ma war krank, und Jojo wollte Kontakt mit ihr aufnehmen, aber Ma sagte nein, sie wolle nicht mit ihr sprechen, Jojo sei ein sündiges, schamloses Mädchen. Sie starb, ohne noch einmal mit Jojo geredet zu haben. Und ich wollte eigentlich auch nichts mehr von Jojo wissen.«

»Dann haben Sie nie mehr irgend etwas von ihr gehört?«

»Doch, einmal. Vor zwei oder drei Jahren. Ich habe eine Tante in Bangalore, eine Schwester meiner Mutter. Die hatte Jojo am Flughafen gesehen.«

»Hat sie mit ihr gesprochen?«

»Nein. Sie wußte, was Jojo getan hatte.«

»Ist Jojo irgendwohin geflogen?«

»Ja. Anscheinend hatte sie Geld. Woher, weiß ich nicht. Ich weiß nichts von ihr. Keine Ahnung, was mit ihr passiert ist.«

Was mit ihr passiert war. Wie ein ehrgeiziger, liebeskranker Teenager zur Mädchenhändlerin wurde, wie sie dann endete, ermordet von einem selbstmörderischen Bhai. Sartaj konnte ihn sich vorstellen, den Abstieg von den Filmi-Partys in alle möglichen Unterwelten. »Wir haben auch nur wenige Informationen über sie«, sagte er. »Sie hat fürs Fernsehen gearbeitet, hat Shows produziert. Und es gab noch andere Aktivitäten.«

»Was für Aktivitäten?«

»Da ermitteln wir noch. Wenn wir mehr wissen, gebe ich Ihnen Bescheid. Und wenn Sie selbst irgend etwas hören, egal was, rufen Sie mich bitte an.« Das wird sie auch tun, dachte Sartaj. Sie setzte jetzt gewisse Hoffnungen auf ihn. Vielleicht konnte sie aus diesen Splittern, diesen Fragmenten ihre Schwester rekonstruieren und ihr und auch sich selbst vergeben. »Ich bin froh, daß Sie mit mir geredet haben«, sagte er.

»Sie war ein liebes Mädchen«, sagte Mary. »Als wir klein waren, hatte sie Angst vor Gewittern. Sie kroch spätnachts im Bett zu mir herüber, drückte ihren Kopf in meinen Bauch und schlief wieder ein.«

Sartaj nickte. Daß Jojo auch das ängstliche kleine Mädchen gewesen war, das sich an seine Schwester klammerte, war gut zu wissen. Er fuhr Mary nach Hause. Vom Auto aus sah er ihr nach, wie sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg. Das Licht ging an, und er fuhr rückwärts wieder auf die Hauptstraße hinaus. Auf der Heimfahrt, als er nach links zum Chowpatty abbog, fing es an zu regnen.

Als Sartaj gerade sein Abendessen - Afghan chicken und Tandoori roti - verzehrte, das er sich bei dem Sardar in seiner Straße geholt hatte, rief Iffat-bibi an. »Ich hab die Antwort, Saab.«

»Und zwar?«

»Bunty ist von zwei Killern umgebracht worden.«

»In wessen Auftrag?«

»In niemandes Auftrag. Es war eine persönliche Sache. Bunty hat einem von ihnen vor drei, vier Jahren die Freundin ausgespannt.«

»Ausgespannt?«

»Buntys Geld war ihr wichtiger als der Killer.«

Also war Bunty wegen einer Frau gestorben. Es war weder um Land oder Gold gegangen noch um irgend etwas, das mit Ganesh Gaitonde zusammenhing. »Okay«, sagte Sartaj. Bunty hatte einen Liebenden gekränkt, und der Liebende hatte seinen Groll genährt und geduldig gewartet, bis es mit Bunty steil bergab ging. »Okay.«

»Wollen Sie sie haben?«

»Wen?«

»Die Killer. Wir wissen, wo sie im Moment sind, wo sie die Nacht verbringen werden. Wo sie morgen sein werden.«

»Sie wollen sie mir überlassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Betrachten Sie's als ein Geschenk unter Freunden.« Sie sprach ein makelloses Urdu, und ihre Stimme konnte ganz sanft und weich klingen.

Sartaj stand auf, reckte sich und ging auf den Balkon hinaus. Er lehnte sich über die Brüstung und schaute zu, wie die Baumwipfel im feuchten Wind schwankten. Die Lampen warfen Blätterschatten auf die glatten Flächen der Autos.

»Saab?«

»Ich bin so ein Geschenk nicht wert, Iffat-bibi. Sie haben doch eine alte Beziehung zu Parulkar-saab. Warum geben Sie's nicht ihm? Ich habe mit diesen Bhai- und Company- und Killersachen gar nichts zu tun.«

»Ist das Ihr Ernst? Oder meinen Sie, ich bin es nicht wert, Ihnen etwas zu schenken?«

»Are, nein, Bibi, ich habe nur Angst, ich kann mich nicht gebührend revanchieren, wenn es einmal soweit ist. Ich bin nur ein kleines Licht.«

Sie schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Wie der Vater, so der Sohn. Schon gut, schon gut.«

»Ich wollte Sie nicht kränken, Bibi.«

»Ich weiß. Aber im Ernst, ich hab das auch immer zu Sardar-saab gesagt: Wie wollen Sie's zu etwas bringen, wenn Sie nicht die großen Deals machen? Und er hat immer gesagt: Iffat-bibi, ich fliege so hoch hinauf, wie ich kann. Vielleicht bringt mein Sohn es ja einmal weiter.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja, er hat oft von Ihnen gesprochen. Ich weiß noch, wie er an Ihrem zwölften Geburtstag Süßigkeiten verteilt hat. Pedas und Burfis.«

Sartaj erinnerte sich an die Pedas, an ihren Safrangeschmack, der die ganze Zukunft barg. »Vielleicht bin ich ja wie er. Parulkar-saab hat es weiter gebracht.«

»Ja, und alles mit Sardar-saabs Hilfe. Parulkar war schon immer ein ganz Schlauer. Permanent am Denken. Da gab es mal so einen Fall mit einer Diebesbande auf den Docks ...«

Und sie erzählte Sartaj von dieser Bande am Hafen, die alles habe mitgehen lassen, was ein bißchen Geld bringt - Waren, Geräte, Benzin, alles. Parulkar habe sie hochgehen lassen, zum großen Teil mit Sardar-saabs Hilfe, seinen Beziehungen und Informanten, und Sardar-saab habe ihm gern geholfen. Doch als es dann an die Verhaftungen ging, habe Parulkar einen Oberinspektor die Apradhis einbuchten und die ganzen Lorbeeren ernten lassen. »Für Parulkar wäre es eine große Sache gewesen, aber er hat vorausgeschaut, verstehen Sie? Heute ein paar spektakuläre Festnahmen sausen lassen, und dafür später absahnen.«

»Ja, er ist da sehr geschickt.«

»Sie ahnen gar nicht, wie geschickt. Aber Sie haben nicht viel von ihm gelernt.« Er wußte, daß sie lächelte, und lächelte unwillkürlich zurück.

»Was kann man machen, Bibi? Wir sind nun mal, wie wir sind.«

»Ja, wir sind, wie Allah uns gemacht hat.«

Sie verabschiedeten sich, und Sartaj wandte sich wieder seinem Brathuhn zu. Er verspürte plötzlich einen Heißhunger auf Pedas, aber es war spät, und er war müde. Er tröstete sich mit einem weiteren Schuß Whisky und versprach sich selbst zwei Pedas zum Mittagessen am nächsten Tag. Und es würde ein guter Tag werden, das hatte er im Gefühl.

Am darauffolgenden Morgen hatte sich der Regen zum typischen Monsun-Dauerregen gewandelt, man konnte meinen, der Himmel bräche unter dem Gewicht des Wassers ein. Sartaj legte die Strecke vom Auto zum Revier im Laufschritt zurück, und trotzdem waren seine Schultern durchweicht, als er ankam, und in seinen Schuhen quatschte das Wasser.

»Ihre Freundin wartet auf Sie, Sartaj-saab«, sagte Kamble. Er saß im ersten Stock auf der Balustrade und beugte sich vor, eine Zigarette in der Hand, den Kopf nahe dem Wasserfall, der gleichmäßig vom Dach rauschte.

»Kamble, mein Freund«, sagte Sartaj. »Sie strotzen nur so von schlechten Angewohnheiten und schlechten Überzeugungen.« Er mußte laut sprechen, um das Trommeln des Regens auf die Ziegel zu übertönen. Kamble grinste ihn an; er schien sich in seiner Schlechtigkeit sehr wohl zu fühlen. Bis Sartaj die Treppe hinauf war, zündete er sich schon die nächste Zigarette an und hatte eine Antwort parat.

»Manchmal wird so ein schlechter Kerl wie ich gebraucht, Sartaj-saab«, sagte er. »Für all die Drecksarbeit, die auf dieser Welt getan werden muß.«

»Seit wann sind Sie unter die Philosophen gegangen, Chutiya? Sie haben bisher nie Ausreden gebraucht, also geben Sie jetzt nicht der Welt die Schuld. Wer wartet auf mich?«

»Ihre CBI-Freundin, Boß. Haben Sie so viele Freundinnen, daß Sie schon nicht mehr wissen, welche Sie besuchen kommt?«

Anjali Mathur war auf dem Revier. »Wo?« fragte Sartaj.

»In Parulkar-saabs Büro.«

»Ist Parulkar-saab da?«

»Nein, er hat einen Anruf bekommen und mußte schnell weg, zu einer Besprechung mit dem CM im Juhu Centaur.«

»Mit dem CM? Wie beeindruckend.«

»Ja, unser Parulkar-saab ist ein sehr beeindruckender Mann. Aber Ihre Chawi scheint er nicht besonders zu mögen, Sartaj-saab. Er hatte so einen Blick ... Vielleicht ist er selbst scharf auf sie.«

Sartaj klopfte Kamble auf die Schulter. »Sie haben eine schmutzige Phantasie. Mal sehen, was es gibt.« Er ging den Flur hinunter. Kamble war in der Tat schmutzig, aber vielleicht hatte er an dem Schmutz, in dem alle schwammen, einfach mehr Spaß. Auf jeden Fall kannte er sich in der Politik des Hauses aus, und nichts, was dort vorging, blieb ihm verborgen. Sartaj nickte Sardesai zu, Parulkars Assistenten, der ihn hereinwinkte. Sartaj klopfte an und betrat das Büro seines Vorgesetzten. Anjali Mathur saß allein auf dem Sofa hinten im Raum.

»Namaste, Madam«, sagte Sartaj.

»Namaste. Bitte nehmen Sie Platz.«

Sartaj setzte sich und berichtete ihr, was er von Mary erfahren hatte - herzlich wenig. Wie immer hörte sie ihn an und saß dann vollkommen still da. Sie dachte nach. Diesmal trug sie ein dunkelrotes Salvar-kamiz. Weinfarben, dachte Sartaj. Ein interessanter Farbton auf ihrer dunkelbraunen Haut, im Gegensatz zu dem weiten Schnitt, der nichts Individuelles hatte. Ebenso unzugänglich wirkte ihr Gesicht. Nicht feindselig, nur zurückhaltend, verschlossen.

»Shabash«, sagte sie. »Jedes Detail ist wichtig, das wissen Sie ja. Man weiß nie, wodurch sich ein Fall erschließt. Also, ich habe Ihnen zwei Dinge zu sagen. Erstens: Delhi hat beschlossen, die Ermittlungen einzustellen. Was uns interessiert hat, war Ganesh Gaitondes Rückkehr nach Mumbai. Was wollte er hier? Die bisherigen Erkenntnisse reichen allerdings nicht aus, um weitere Nachforschungen zu rechtfertigen, meint man in Delhi. Gaitonde ist tot, und damit ist der Fall erledigt.«

»Aber Sie glauben nicht, daß er erledigt ist.«

»Ich verstehe nicht, warum er hier war, warum er sich umgebracht hat, wonach er gesucht hat. Nach wem er gesucht hat. Aber man hat mich nach Delhi zurückbeordert. Man ist der Meinung, es gebe Wichtigeres zu tun.«

»Auf nationaler Ebene.«

»Ja. Auf nationaler Ebene. Ich würde es trotzdem sehr begrüßen, wenn Sie die Sache weiter im Auge behielten. Ich weiß Ihren Einsatz sehr zu schätzen. Und wenn Sie weitermachen, bekommen wir vielleicht doch ein paar Antworten auf unsere Fragen.«

»Warum interessiert Ganesh Gaitonde Sie so? Er war ein ganz normaler Gangster. Und er ist tot.«

Sie überlegte einen Moment, erwog ihre Möglichkeiten. »Ich darf Ihnen nicht viel sagen. Aber vielleicht soviel: Gaitonde hatte Verbindungen zu äußerst wichtigen Leuten, und was immer ihn hierher zurückgeführt haben mag, es könnte Auswirkungen auf künftige Ereignisse haben.«

Und ich soll meinen Kopf riskieren, dachte Sartaj. Ich soll mich mit Angelegenheiten des Research and Analysis Wing befassen. Internationale Machenschaften, verwegene Operationen in anderen Ländern. Der James Bond vom Lande. Ihm erschien dieser ganze finstere Spionagekram völlig unwahrscheinlich und sehr weit vom normalen Leben entfernt. Aber nun saß die ernste kleine Anjali Mathur in ihrem dunkelroten Salvar-kamiz vor ihm auf dem Sofa. Und sie interessierte sich für das Leben und Sterben Ganesh Gaitondes.

Die nächste Frage lag auf der Hand, doch Sartaj hütete sich, sie zu stellen: Warum interessiert sich der RAW überhaupt für unseren Freund Ganesh Gaitonde? Vielleicht waren einige der wichtigen Leute, zu denen Gaitonde Verbindungen gehabt hatte, Mitglieder des RAW vielleicht hatten zwischen der Organisation und Gaitonde irgendwelche Geschäfte stattgefunden - Sartaj wollte es gar nicht wissen. Er wollte nicht mehr mit der schweigenden Anjali Mathur in diesem Raum sitzen. Er wollte in sein eigenes Leben zurück. »Ja«, sagte er, »durchaus möglich.« Er verstummte. Er hatte keine Fragen, er wollte keine Antworten. Für ihn war der Fall erledigt.

»Ich muß zurück«, sagte Anjali Mathur schließlich. »Nach Delhi. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie weiter ermitteln würden. Das wäre nur logisch, jeder würde es erwarten. Wenn Sie etwas erfahren - hier ist meine Nummer in Delhi. Bitte rufen Sie mich an.«

Er nahm die Karte und erhob sich. »Gut«, sagte er.

Sie nickte, aber er wußte, daß sie seine Nervosität bemerkte, seinen Wunsch, den Raum auf der Stelle zu verlassen. Draußen saß Kamble auf der Besucherbank, die Beine bequem übereinandergeschlagen.

»Also, was ist passiert, Boß?« fragte er mit seinem üblichen anzüglichen Grinsen.

»Nichts«, sagte Sartaj. »Gar nichts. Nichts ist passiert. Und es wird auch nichts passieren.«

Das normale Leben hatte seine eigenen schmackhaften Freuden. Sartaj aß gerade mit Kamble ein extrem scharfes Chicken Hyderabadi, als sein Handy klingelte und langsam über die Tischplatte zu wandern begann. Wasim Zafar Ali Ahmads Nummer erschien auf dem Display.

»Are, eine Papierserviette!« rief er dem Kellner zu und griff nach dem Handy. »Bleiben Sie dran«, konnte er gerade noch sagen, dann bekam er einen Hustenanfall.

»Trinken Sie einen Schluck Wasser, Saab«, sagte Kamble väterlich, als Sartaj endlich das Handy am Ohr hatte.

»Was wollen Sie?«

»Sie essen gerade, Saab. Ich hab das Dessert für Sie.«

»Den Bihari und die Jungen?«

»Ja.«

»Wo? Wann?«

»Sie holen heute nach Mitternacht Geld von einem Hehler.«

»Wann nach Mitternacht?«

»Ich weiß nur, daß sie sich nach Mitternacht treffen, Saab. Sie scheinen vorsichtig zu sein. Aber ich habe die genaue Adresse.«

Sartaj notierte die Straße, den Weg dorthin und den Namen des Hehlers. Wasim war äußerst präzise. »Auf der Seite der Bahnlinie stehen viele Kholis, Saab, da sind immer Leute unterwegs, auch spätnachts. Sie müssen vorsichtig sein, sonst gibt es Probleme.«

»Wir haben schon tausendmal Leute festgenommen, Chutiya. Das wird diesmal auch nichts Besonderes sein.«

»Ja, Saab, Sie haben so was natürlich im Griff. Ich wollte nicht -«

»Wichtig ist nur, daß die Information stimmt. Sie stimmt doch?«

»Hundertprozentig, Saab. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich dafür durchgemacht habe.«

»Sagen Sie's mir nicht. Lassen Sie Ihr Handy heute nacht eingeschaltet.«

»In Ordnung, Saab.«

Sartaj legte auf. »Was haben Sie heute abend vor?« fragte er Kamble.

Sartaj und Katekar warteten. Sie hatten sich verkleidet: zerlumpte Banians, schmutzige Hosen und alte Turnschuhe. Sartaj hatte sich einen alten Patka locker um den Kopf gewickelt und hinter die Ohren geklemmt; er fand, er sah aus wie ein lässig-verwegener Thelavaala. Sie saßen zurückgelehnt unter einem auf den Gehsteig geschobenen Karren, gegenüber einem eisernen Zaun, der auf der anderen Straßenseite am Bahndamm entlanglief. Katekar klagte über die überfüllten Züge. »Dieses Land ist einfach hoffnungslos«, sagte er. »Die Leute kriegen so hirnlos Kinder, wie irgendwelche Straßenköter Junge kriegen. Deswegen funktioniert hier nichts, jeder Fortschritt wird von neuen Mäulern, die gestopft werden müssen, zunichte gemacht. Wie soll es da vorwärtsgehen?« Das war eines seiner Lieblingsthemen. Gleich würde er für eine technokratische Diktatur plädieren, für die Registrierung aller Bürger, für Personalausweise, eine strikte Politik der Geburtenkontrolle. Ein fast leerer Zug ratterte vorüber, und sie verstummten. Tagsüber klammerten sich die Leute mit Fingerspitzen und Zehen an die Türen, ganze Menschentrauben, die über die Gleise hinausquollen. »Fast eine Stunde seit dem letzten Zug«, sagte Katekar. Es war kurz vor halb drei. »Ein Wolkenbruch, und die Züge fahren gar nicht mehr. Diese verrottete Hauptlinie - wenn da zehn Jungs nebeneinander auf die Gleise pinkeln, bricht alles zusammen.«

Sartaj nickte. Katekar hatte in allem recht, und es war erholsam, unter einem Thela628 zu liegen und zu schimpfen. Sie hatten sich schon über die Stadtverwaltung beschwert, über die Strafversetzung ehrlicher Beamter und Polizisten, überteuerte Mangos, den Verkehr, die ausufernde Bautätigkeit, eingestürzte Gebäude, verstopfte Abflüsse, das widerspenstige, unzivilisierte Parlament, Erpressung von Seiten der Rakshaks, schlechte Filme, das uninteressante Fernsehprogramm, die amerikanische Einmischung in Angelegenheiten des Subkontinents, die Tatsache, daß es an den Limonadenständen kein Rimzim mehr gab, Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten wegen des Wassers der Flüsse, das Fehlen englischsprachiger Schulen für Kinder, deren Eltern nicht gerade Geld wie Heu hatten, die Darstellung der Polizei im Film, unbezahlte Überstunden, die Arbeit und noch einmal die Arbeit. Wenn man mit allem anderen durch war, gab es immer noch die Arbeit: die unsäglichen Arbeitszeiten, die Monotonie, die politischen Komplikationen, der Undank, die Erschöpfung.

Sartaj gähnte. An dem Metallzaun stand eine Reihe Kholis mit Blechdächern. Einige hatten zwei Etagen; in den ersten Stock gelangte man über eine angelehnte Leiter - nicht viel mehr als ein Pfahl mit Querzapfen. Weiter hinten befand sich ein stabil wirkendes Haus aus Backstein noch im Bau, in einem anderen brannte hinter einem mit Zeitungspapier verhängten Fenster Licht. Hierher sollten die Apradhis kommen. Nicht weit von dem erleuchteten Fenster lagen PSI Kamble und vier Polizisten in Tücher gehüllt auf dem Gehsteig und versuchten, wie tief und fest schlafende Arbeiter auszusehen. An einer Ziegelmauer in ihrer Nähe türmte sich mehr als mannshoch ein Abfallhaufen. Sartaj war in den letzten Jahren viele Male an diesem übelriechenden Berg vorbeigekommen, der bald weiter angewachsen, bald geschrumpft, aber nie ganz verschwunden war. Von weitem sah man die neonblauen, -grünen und -gelben Plastiktüten aus ihren archäologischen Schichten hervorleuchten. Als Einsatzleiter genoß Sartaj das Privileg, sich von dem überwältigenden Gestank fernhalten zu können. Kamble und seine Leute dagegen bekamen ihn direkt in die Nase, und Sartaj wußte, daß sie ihn verfluchten. Bei der Vorstellung, wie sich Kamble ein parfümiertes Taschentuch an die Nase hielt, mußte er lächeln.

Katekar hielt mitten in seiner Schimpftirade inne. Zwei Männer kamen wankend die Straße herauf. »Betrunkene«, sagte Katekar, und so war es auch. Sie waren nur zu zweit, und die Apradhis würden wohl kaum betrunken zu einem Hehler torkeln, um Geld bei ihm abzuholen. Trotzdem ließ Sartaj die beiden nicht aus den Augen. Kichernd gingen sie vorbei. An der dritten Seitengasse links lag eine Country-Bar und daneben eine Spielhölle. Die beiden Betrunkenen waren bester Laune; sie würden erst nach dem Aufwachen am Morgen merken, wieviel Geld sie verloren hatten. Sartaj schaute ihnen nach, und schon jetzt kroch ein warmes Kribbeln der Befriedigung seine Schultern hinauf. Er würde die Apradhis fassen, er würde die Dreckskerle festnehmen und danach gut schlafen. Er hatte Wasim Zafar Ali Ahmad einen Gefallen getan, und jetzt war er an der Reihe.

Katekar war der Stoff zum Nörgeln für den Moment ausgegangen, und so erzählte er eine Polizeistory. Früher, sagte er, ganz zu Beginn seiner Laufbahn, habe er einen in Ehren ergrauten Inspektor namens Talpade gekannt. Knorrig und verhutzelt sei dieser Talpade gewesen und seine Weste voller Flecke, nicht nur von dem Paan, das er ständig kaute, sondern auch von den vier Korruptionsskandalen, die er unbeschadet überstanden hatte. Man erzählte sich - und glaubte es im allgemeinen auch -, er habe in seiner Laufbahn über ein Dutzend Unschuldige bei Unruhen oder in Feuergefechten erschossen. Einmal hatte er einen Apradhi im Gefängnis totgeprügelt und war daraufhin elf Monate lang vom Dienst suspendiert gewesen, bis es ihm gelang, sich aus der Affäre zu ziehen, hauptsächlich indem er Geld die Hierarchie hinauf und hinunter verstreute, so daß selbst seine glühendsten Bewunderer und erbittertsten Feinde staunten.

Zwei Jahre vor seiner Pensionierung verliebte sich Talpade in eine Tänzerin. Es hatte etwas Bewundernswertes, daß ein Mann seines Alters noch zu solcher Leidenschaft fähig war. Aber natürlich machte er sich lächerlich: Er ließ sich neue Kleider schneidern, sein Haar war plötzlich wieder pechschwarz, und seine Zähne schimmerten geradezu gespenstisch weiß. Doch seine Hingabe verdiente Anerkennung und Respekt. Nacht für Nacht lag er seiner Angebeteten zu Füßen, er fuhr sie von der Bar, in der sie arbeitete, nach Hause und überbrachte ihr Nachrichten ihrer Liebhaber. Ja, sie hatte andere Männer, jüngere, schönere, doch Talpade nahm diesen Schmerz als Preis für ihre Nähe hin und ertrug ihn in dankbarer Demut. Er war wie verwandelt. Etwas Neues regte sich unter den uralten Falten, den bitteren Furchen in seinem Gesicht, und man brauchte nur eine Minute mit ihm zusammen zu sein, um zu wissen, daß es Freude war.

Seine Kollegen lachten über ihn, nicht etwa über seinen gockelhaften Gang und auch nicht über seine protzige dunkle Sonnenbrille. Das Problem war, daß Kukoo ein Mann war. Jedem, der sich die Zeit nahm, ihm zuzuhören, erzählte Talpade, daß Kukoo schön sei wie ein Kashmiri-Apfel, daß niemand den zarten, verhängnisvollen Zauber ihrer Nakrahs leugnen könne. Kukoo behauptete, sie sei neunzehn, aber sie hatte während der vergangenen fünf Jahre in verschiedenen Bars getanzt, also war sie bestimmt fünfundzwanzig, mindestens aber zweiundzwanzig. Ihr dichtes glattes, golden schimmerndes Haar fiel ihr weit über den Rücken herab, ihr keckes Hinterteil war staunenswert gerundet, und ihre üppigen Lippen waren ein Gedicht wert. Doch es bestand nicht der geringste Zweifel, daß Kukoo ein Mann war, und sie versuchte es auch gar nicht zu verbergen. Sie hatte einen schmalen, langen Brustkorb, und ihre Stimme klang rauh. Dennoch wuchs ihre Anhängerschaft, während sie von Bar zu Bar zog, ebenso wie ihr Einkommen.

Warum also machte sich Talpade für Kukoo zum Narren? War er - ungeachtet seiner langjährigen Ehe und seiner drei Kinder - doch ein Gaandu, im wahrsten Sinne des Wortes? Die meisten seiner Kollegen und Kolleginnen waren davon überzeugt. Seine Freunde aber und jene, die Kukoo nahestanden, wußten, daß er sie nicht anrührte. Nicht, daß sie etwas dagegen gehabt hätte, nein, Kukoo hatte ein feines Gespür dafür, wie weit man einen Mann reizen konnte, und vor allem war sie praktisch veranlagt. Sie wußte, wann sie schüchtern und wann sie forsch sein mußte. Talpade aber hatte gar nicht den Wunsch, sie zu packen, sie an sich zu drücken und zu besitzen, er war es zufrieden, an seinem gewohnten Tisch links von der Tanzfläche zu sitzen und sie anzuschauen. Und sie war in der Tat sehenswert, wie sie auf der silberglitzernden Fläche über der wirbelnden Lotosblüte ihres langen Faltenrocks schwebte. In dem raffinierten schwarz-roten Licht war sie schöner als jedes andere Mädchen in der Bar, anmutiger als irgendeine Frau auf der Straße. Talpade trank Old Monk und schaute ihr zu. Geld gab er ihr erst, kurz bevor er ging, nie rief er sie wie andere Männer an seinen Tisch, damit sie es sich holte, nie erwartete er mehr von ihr als ab und zu einen Blick und ein Lächeln. Er unterhielt sich gern mit Freunden, die in den Club kamen, er scherzte mit den Kellnern, seine Fixierung auf Kukoo war nicht so zwanghaft, daß sie beängstigend gewesen wäre, aber es war offenkundig, daß nur Kukoo ihm etwas bedeutete.

Sein bester Freund David ergriff einmal, als er ziemlich betrunken war, Talpades Hand und sagte: »Los, du Idiot, faß das Ding zwischen ihren Beinen an, dann weißt du, was sie ist.«

Talpade sagte: »Ich weiß, daß sie keine Frau ist.«

»Und?«

»Ich schau sie gern an.«

»Und warum?«

»Das ist einfach schön.«

Mehr sagte er nicht. David beschimpfte ihn, weil er sich in aller Öffentlichkeit lächerlich mache, weil er Geld ausgebe und nichts dafür bekomme, weil er einfach dumm sei. Talpade lächelte nur und wandte seinen Blick wieder Kukoo zu.

Zwei Monate später rief Kukoo David an und erzählte ihm, daß Talpade neuerdings weine, während er ihr zuschaue. Drei Abende gehe das nun schon so, er sitze wie immer stundenlang da, bis er schließlich anfange zu weinen, lautlos und ohne unglücklich zu wirken. »Jetzt ist er vollends verrückt geworden«, sagte Kukoo. Sie wollte, daß David ihr Talpade vom Hals schaffte, er deprimiere sie mit seinen großen Augen voller Tränen und störe die anderen Gäste, die ja kämen, um sich zu amüsieren, und nicht, um zu trauern.

Diesmal fragte David den Freund ganz sanft »Warum?«, und Talpade antwortete: »Sie erinnert mich an meine Kindheit.«

Man führte ihn hinaus und brachte ihn nach Hause, zu Bett. Seine Familie zog Ärzte zu Rate, wachte sorgsam über ihn, tröstete ihn und achtete darauf, daß er die verordnete Ruhe hielt. Am zweiten darauffolgenden Montag ging er wieder zur Arbeit, und noch am selben Abend saß er im Golden Palace, wo Kukoo inzwischen tanzte. Als er von neuem mit seinem Tamasha anfing, ließ sie ihn von den Türstehern hinauswerfen, folgte ihm auf die Straße und schrie ihn an: »Laß mich in Ruhe!« Früher hatte sie Angst vor ihm gehabt, jetzt sagte sie nur: »Mach hier kein Theater wegen nichts, du Idiot. Ich will dich nicht mehr sehen.«

Talpade gehorchte. Er versuchte nie wieder, sie zu sehen. Er lebte sein Leben weiter, aber er hatte all seine ungestüme Kraft und Energie verloren. Vier Monate später starb er friedlich im Schlaf.

Sartaj seufzte. Die Geschichte war zu Ende. Wie alle Polizeigeschichten, die Katekar so gern erzählte, hörte auch diese abrupt auf und blieb rätselhaft, ohne eine Moral oder auch nur einen Sinn. Sartaj hatte sie schon einmal gehört, von anderen, und er glaubte sie im großen und ganzen auch, obwohl sie während des Weitererzählens zweifellos ausgeschmückt und verändert worden war.

»Da sind sie«, sagte Sartaj. Drei Gestalten warfen ihre Schatten auf den Gehsteig, Weit entfernt, zu weit, um sie zu erkennen, aber Sartaj wußte, daß es Männer waren und daß es Mörder waren. Er spürte es in seinen Nüstern und in seinen Zähnen. Er hatte sich gespannt aufgerichtet und zwang sich nun, zu seiner vorgetäuschten Schlafhaltung zurückzukehren. Er wartete.

»Wie heißen sie noch mal?« flüsterte er.

»Bazil Chaudhary, Faraj Ali und Reyaz-bhai.«

In einiger Entfernung bog ein Auto um die Ecke, ganz schwach war das Summen einer Straßenlaterne zu hören, und von den Gleisen her ertönte ein metallisches Klirren -die Stille in der Stadt. Die drei Männer passierten Kambles Standort und dann das erleuchtete Fenster. Katekar stöhnte. Doch plötzlich blieben sie stehen und machten kehrt. Einer reckte den Arm hoch und rüttelte unten an der Tür im ersten Stock. »Okay«, sagte Sartaj. Katekar glitt unter dem Karren hervor und hielt sich rechts, Sartaj links.

»Polizei!« rief Sartaj. »Hände hoch! Keine Bewegung!« Irgendwo am Rand von Sartajs Gesichtsfeld regten sich Kambles Leute. Die drei Apradhis klammerten sich aneinander und erstarrten, ein Bild wie eine Karikatur, dann liefen sie nach rechts und links los. Einer rannte die Straße hinauf, und Sartaj ließ ihn laufen. Er konzentrierte sich auf den Mittleren, der erst nach vorn und dann wieder zurück gerannt war und jetzt hin und her jagte. In seiner Hand glitzerte etwas. »Laß das fallen, Maderchod! Laß das fallen! Hände hoch, oder ich reiß dir den Kopf ab!« Etwas fiel klappernd auf die Straße, Hände fuhren hoch, und Sartaj riskierte einen Blick nach rechts. Katekar zielte in eine schmale Lücke zwischen den Hütten, einen Spalt, der zu dem Zaun führte.

»Raus damit, Bhenchod«, rief er. »Wirf das raus!«

Eine rechteckige Klinge wirbelte ins Licht. Ein Hackmesser, dachte Sartaj. Diese Idioten laufen immer noch mit ihren Hackmessern herum. Das Hochgefühl des Sieges pulsierte noch in seiner Kehle, als plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Spalt hervorbrach und gegen Katekar prallte. Sartaj hörte ein Zischen, und dann saß Katekar am Boden und der Apradhi rannte davon. Sartaj trat zwei Schritte zurück, legte an, visierte über Kimme und Korn und schoß zwei-, drei-, viermal auf die vorbeifliegende Silhouette des Apradhis. Der Apradhi sackte zusammen. Nach und nach klärte sich die Szene vor Sartajs geblendeten Augen. Katekar saß noch immer am Boden.

Sartaj kniete neben ihm nieder. Dunkles Naß spritzte gleichmäßig pulsierend aus Katekars Hals.

»Die Schlagader«, sagte Kamble irgendwo neben Sartaj.

»Den Gypsy!« rief Sartaj. »Holt den Gypsy!« Er tastete nach seinem Taschentuch und drückte es auf die Wunde. Das Blut quoll glatt durch seine Finger und lief ihm übers Handgelenk.

»Hier«, sagte Katekar ruhig, »hier.«

Zu dritt hoben sie ihn in den Wagen. Während Sartaj seine Beine verstaute, flüsterte ihm Kamble ins Ohr, so nahe, daß Sartaj seine Lippen an seinem Bart spürte: »Die Apradhis sind alle drei bei der Schießerei umgekommen, klar?«

Die leise Stimme drang durch Sartajs dröhnende Panik. Er schüttelte den Kopf, lief um den Wagen herum und hievte sich in den Sitz. Kamble schlug auf der anderen Seite die Tür zu. Das Licht fiel von oben auf sein Gesicht und teilte es in schwarze und goldene Dreiecke. »Alle drei«, wiederholte er. »Alle drei erledigt.«

Doch zum Reden war keine Zeit. Sie rasten an dem verschwimmenden Zaun entlang, und Sartaj preßte die Hand auf Katekars Wunde und versuchte ihn ruhig zu halten. Erst jetzt begriff er, was Kamble gesagt hatte. Der Jeep legte sich in eine Linkskurve, und Sartaj hörte die Schüsse, ein mehrfaches Knallen, schnell hintereinander.

In der Jivnani-Privatklinik wurde Ganpatrao Popat Katekar um zwei Uhr fünfundvierzig für tot bei Einlieferung erklärt.

Sartaj fühlte sich alt. Er hatte in den Papieren gesehen und sich dann auch wieder erinnert, daß Katekar fünf Jahre älter gewesen war als er. Aber er war ihm immer jünger erschienen, jung. Katekar hatte ständig irgend etwas zu klagen gehabt, er hatte seine alten Marathi-Lieder gesungen, seine obskuren wissenschaftlichen Fakten zum besten gegeben und seine endlosen Geschichten über das kurze Leben harter Männer. Er hatte seinen dickbäuchigen Spaß daran gehabt, sich die gereifte und fermentierte Schlechtigkeit der Stadt einzuverleiben, ihre pikanten Skandale, ihre schmerzlichen Zusammenbrüche, ihre grausame, dumpfe Ungerechtigkeit; ihr prächtiges faulendes Fleisch war gefundenes Fressen für ihn gewesen. Und nun mußte Sartaj ein Formular ausfüllen: »Todesursache: -« Er formte die Buchstaben mit Sorgfalt, überzeugt, eine schöne Schrift auf einem amtlichen Formular sei eine Art Ehrenbezeigung für den Verstorbenen. Er schrieb mit Tinte, langsam, vollendete eine Eintragung, dann begannen seine Hände zu zittern. Es war ein Zittern, das von den Ellbogen ausging, ein Schmerz, der aus den Knochen kam und in die Hände ausstrahlte. Sartaj legte seine Hände unter dem Tisch auf die Schenkel und wartete darauf, daß das Zittern aufhörte. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Das Zittern kam und ging. Er schaute sich um. Vor der Tür saßen zwei Polizisten, von denen er nur die Schuhe sah. Apte, der diensthabende Inspektor, war aus Rücksicht und Mitgefühl in das Büro links gegenüber gegangen, damit Sartaj allein sein konnte. Sartaj holte tief Luft und schob langsam seinen Stuhl zurück. Seine Hände lagen zitternd auf dem schmutzigen weißen Stoff seiner Hose. Das war das richtige Wort: zitternd. Kein Zucken, kein Schlottern, nur ein leichtes Zittern, das unter der Haut hervorbrach. Wie melodramatisch, dachte er. Er dachte es auf englisch: melodramatic. Er erinnerte sich an das Wort. Er riß sich zusammen und unterdrückte das Zittern. Behutsam, aber entschlossen griff er nach dem Formular. Er nahm den Füller, setzte die Feder auf und mußte ihn wieder weglegen. Hände sind etwas Seltsames. Die glatten Polster der Handfläche, der mit feinem Pelz überzogene Rücken. Sartaj bog auf der hölzernen Tischplatte einen Finger zurück. Wenn er genügend Druck ausübte, würde der Finger brechen. Der Schmerz stach aus seiner Benommenheit hervor wie blaues Licht aus einer Nebelwand. Sartaj wußte, wie es klang, wenn ein Finger brach. Er hatte es Katekar einmal tun lassen, hatte ihn den Finger eines Apradhis brechen lassen, eines Kidnappers, der das Lösegeld für ein Kind kassieren wollte, die Tochter eines Geschäftsmannes, die er aus der Vorschule entführt hatte. Es war der kleine Finger der rechten Hand gewesen. Sie hatten das Mädchen schließlich aus einem Hotel in Bhandup geholt. Es macht kein lautes Geräusch, wenn ein Finger bricht, eher ein trockenes, durchdringender, als man erwarten würde. Ein kurzes Knacken, wie wenn ein kleiner Knallkörper explodiert. Katekar hatte es getan, von Sartaj dazu aufgefordert, um des Mädchens willen. Sartaj dachte an Katekars breite Hände, nahm den Druck von seinem Finger und stand auf. Die Hände, die Erinnerungen, das Formular - er ließ sich gehen. Er wollte nicht daran denken, was als nächstes zu tun war, was er bis zum Morgen hinausschob: den Gang zu Katekars Familie. Lassen wir sie schlafen, hatte er zu Apte gesagt. Wozu sie mitten in der Nacht wecken?

Doch irgendwann wurde es hell. Zeit, die Uniform wieder anzuziehen.

Katekars Frau wußte sofort Bescheid, als sie die Tür öffnete. Sartaj sah es an ihrem Gesicht. Er hatte leicht an dem hoch oben angebrachten Türhaken gerüttelt, sie hatte, noch taumelnd und mit verquollenen Augen, aufgemacht, und der Satz, den er sich zurechtgelegt hatte - »Bhabhi, bitte verzeihen Sie mir« -, war in dem furchtbaren Wissen um seine Verantwortung untergegangen. Sie schloß die Tür hinter ihm und verschränkte die Arme über dem bogenförmigen Spitzenbesatz ihres weiten Nachthemds. Es hatte ein Rosenmuster, das Nachthemd, mit Dornen und grünen Stielen. Sartaj hatte sie bisher nur bei offiziellen Anlässen in dezent glitzernden Saris gesehen. Drei- oder viermal vielleicht in all den Jahren. Sie schloß einen langen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder. Plötzlich war sie verändert. Sie schob ihr knochiges Gesicht vor und berührte ihn am Arm. Da merkte er, daß er wieder zitterte.

»Was ist passiert?« fragte sie.

Am nächsten Tag um zwei brachten sie den Leichnam nach Hause. Sie legten Katekar auf sein Bett und nahmen das Tuch fort, in das man ihn nach der Obduktion gehüllt hatte. Dann setzten sie ihn auf einen Stuhl und wuschen ihn. Die Wunde weit unten an der linken Halsseite war genäht worden. Sie schien zu klein, um einen Mann mit einem so imposanten Bauch und so breiten Schultern töten zu können. Der lange Obduktionsschnitt war mit dickem schwarzem Faden zugenäht worden. Katekars Haut erinnerte in Farbe und Struktur an Pappe, die nach einem starken Monsunregen schnell wieder getrocknet ist, und Sartaj vermied es, ihn anzuschauen. Er drückte sich in eine Ecke, wandte den Blick ab von den Männern und Frauen, die zur Tür hereindrängten, und versuchte die Aufkleber auf den Kassetten zu lesen, die sich neben dem Recorder am anderen Ende des Raumes stapelten. Er hörte Katekars Frau mit einem Nachbarn beratschlagen, wieviel Petroleum man brauchen würde, wieviel Kuhdung, wieviel Holz. Man zog Katekar frische Sachen an und legte ihm seine schwere Stahlarmbanduhr um. Seine Frau kniete nieder und streifte ihm mühsam seine Chappals über. Sie hielt die Ferse fest, schob die Sandale über den Fuß und spreizte sanft den großen Zeh ab, um ihn durch die Lederschlaufe führen zu können. Dann strich sie ihm Gulal auf die Stirn und tupfte ein rotes Tikka darauf, den Kopf schräg gelegt, die Züge ernst und konzentriert. Eine andere Frau brachte ihr eine kleine flache Metallschale, ein Zündholz zischte und beschrieb einen aufflammenden Bogen, und Sartaj nahm den Geruch von Räucherstäbchen und brennendem Ol wahr. Die Frau ließ die Schale langsam um Katekars Kopf und Schultern kreisen. Sie weinte.

Sie gingen zum Shamshan Ghat222, dem Verbrennungsplatz. Ein anderer Polizist trug einen Tonkrug mit Wasser, das bei jedem Schritt rhythmisch gluckste. Dicht hinter ihm folgte ein weiterer Polizist und streute Körner und Gulal auf den Weg. Sie betraten den Shamshan durch ein schwarzes Eisentor. Als Sartaj unter dem hohen Wellblechdach stand, hörte er von jenseits der Mauern Verkehrsrauschen und Stimmen, lärmende Schulkinder, die schrillen Rufe eines Gemüse-vaalas. Über der Mauer sah man durch herabhängende Äste die Schilder auf der anderen Straßenseite und ein hohes Bürogebäude. Katekar wurde auf das Holz gelegt. Ein Mann trat vor, den Sartaj kannte: Potdukhe, ein älterer Polizist, der im vergangenen Jahr pensioniert worden war. Er hielt eine Rasierklinge in der Hand. Er faßte Katekars weißen Ärmel und schlitzte den Stoff mit einer schnellen Bewegung von der Schulter bis zum Handgelenk auf. Sartaj zog die Schultern hoch: Das Zischen der Klinge drang durch alle Straßengeräusche zu ihm durch. Er mußte schlucken und regte sich nicht. Potdukhe schlitzte den anderen Ärmel auf und öffnete dann Katekars Hosenknöpfe - die Seele durfte durch nichts behindert werden.

Draußen näherten sich Autos, und gleich darauf betrat Parulkar den Shamshan Ghat. Er schritt geradewegs auf Katekar zu und blieb einen Moment bei ihm stehen. Dann trat er zurück, stellte sich neben Sartaj und drückte ihm das Handgelenk. Sie warteten.

Die Frauen standen auf der anderen Seite des Platzes an der Mauer. Uniformierte Polizisten waren in einer Reihe angetreten und drehten sich nun um, stampften auf, hoben das Gewehr an die Schulter und zielten auf irgend etwas hoch in der Luft. Katekars Söhne, die noch bei den Frauen standen, zuckten zusammen, als die Schüsse knallten. Dann wurden sie nach vorn geführt, zwischen den Männern hindurch, die um die Bahre standen. Potdukhe legte dem Älteren die Hand auf die Schulter und führte ihn im Kreis um seinen Vater herum. Der Sohn - wie hieß er noch? Wie hieß er? - trug den Tonkrug, aus dem das Wasser durch ein Loch auf den Boden spritzte. Ein Priester im Dhoti169 trat vor, in der Hand einen Holzspan, an dessen Ende Flammen züngelten. Plötzlich wollte Sartaj Katekars Gesicht sehen. Er trat nach links, aber der Holzstoß war so hoch, daß er nur ein Stück weißes Tuch, das Kinn und die Nase erkennen konnte. Er ging langsam nach rechts. Er wollte Katekar unbedingt ganz sehen, nicht nur in Ausschnitten, aber es war zu spät. Der Priester hatte den Sohn an der Hand gefaßt und zeigte ihm, wie er mit einem Stock an den Kopf seines Vaters tippen mußte. Es war eine leichte symbolische Berührung, doch gleich darauf würde der eigentliche Schlag von der Hand des Priesters den Schädel spalten. Sartaj schluckte. An diesem Punkt einer Bestattung wurde ihm jedesmal übel. Es war notwendig, sagte er sich immer wieder, sonst explodierte der Schädel im Feuer, aber er merkte, wie es in seinem Magen zu rumoren begann. Jemand - Parulkar - faßte ihn am Arm, und er trat mit den anderen Männern drei, vier, fünf Schritte zurück. Dennoch vernahm er das Krachen des aufbrechenden Schädels, und nun war Katekar zum Himmel hin offen, vollständig offen. Sein Sohn beugte sich mit dem brennenden Span in der Hand vor. Etwas regte sich in dem Scheiterhaufen, eine Serie schneller kleiner Erschütterungen. Zarter Duft nach Ghee225 stieg auf, dieser Kindheitsgeruch von Hochzeiten und anderen Festen. Dann erfaßte das Feuer fauchend das Holz, den Leichnam, Katekar. Und dann war alles in Bewegung, alles sprang und hüpfte, und die Hitze strich Sartaj übers Gesicht. Er schaute ins Feuer und wandte den Blick nicht ab.

Nachdem Verwandte und Freunde gegangen waren, nachdem die Asche abgekühlt war, nachdem man sie eingesammelt, nach Hause gebracht und in einem tönernen Gefäß neben die Tür gehängt hatte, nach alldem ging Sartaj nach Hause. Es war Whisky da, eine fast volle Flasche, und Sartaj holte sie und stellte sie mit einer Flasche Wasser auf den Couchtisch, doch als er sich eingeschenkt hatte, mußte er von dem Geruch würgen. Er schloß die Augen und legte sich aufs Sofa. Katekar war tot, der Mörder war tot, die Freunde des Mörders waren tot, alles war vorbei. Nichts mehr zu machen, niemand mehr zu verfolgen. Katekars Tod war ein Mord, ein Unfall, ein Schicksalsschlag. Es war eine simple Geschichte, wie Katekar und andere sie erzählt hätten: drei Apradhis in die Enge getrieben, wir hätten sofort schießen müssen, aber es war Sartajs Einsatz, Katekar war zu nahe dran, und deswegen starb er. Fall abgeschlossen. So was kommt vor in diesem Job. Trotzdem konnte sich Sartaj nicht damit abfinden, wie die Sache gelaufen war, mit ihrer Eindeutigkeit, ihrer Schnelligkeit, ihrem Ende. Fragen bedrängten ihn: Wo liegt Bangladesh, was ist es? Wo liegt Bihar? Wie können drei Männer Tausende von Kilometern in eine Stadt reisen, in eine bestimmte Straße, zu einem Polizisten, der unter einem Karren auf sie wartet? Wir sind Trümmer, dachte Sartaj, wahllos umhergeworfen, aufeinanderprallend, so daß einer des anderen Leben zerschmettert. Sartaj öffnete die Augen. Das Zimmer war noch dasselbe, er kannte das Dunkel draußen, kannte es aus tausend Nächten. Dies war sein Winkel der Welt, sicher und vertraut.

Warum mußte Katekar sterben?