Geld

Aus Katekars Versicherungen und Spareinlagen kamen alles in allem siebenundsechzigtausendsieben Rupien und vierundsiebzig zusammen. Zwar wurde umgehend eine staatliche Beihilfe in Höhe von zwei Lakhs zugesagt, doch der Scheck brauchte neuneinhalb Monate, um seinen Weg durch die gewundenen Flure von Mantralaya und über die Schreibtische zahlreicher übergenauer Beamter zu finden. Bis Shalini ihn einlösen konnte und das Geld ihrem Konto gutgeschrieben wurde, war seit dem Tod ihres Mannes fast auf den Tag genau ein Jahr vergangen. Sie hetzte nun durch sechs Haushalte, in denen sie als Putzfrau arbeitete, Wäsche wusch und Geschirr spülte und dafür jeweils tausend Rupien bekam. Für eine Frau mit zwei heranwachsenden Söhnen war das nicht annähernd genug, kein Vergleich zu der Zeit, als Katekar ganze Geldscheinbündel nach Hause gebracht hatte. Nun lagen die zwei Lakhs endlich auf ihrem Konto, und zwei Lakhs auf einmal schienen eine ganze Menge, doch Shalini wußte genau, daß ein plötzlicher Geldsegen nur eine Illusion von Wohlstand erzeugt. Das versuchte sie ihrer Schwester klar zu machen.

»Bharti«, sagte sie, »zwei Lakhs, das hört sich nach so viel an, aber wie viele Tage hat ein Leben? Wie lange werden die zwei Lakhs für drei Leben reichen? Meine Kinder sind noch jung. Ich muß die Schule für sie bezahlen, die ganzen Bücher. Und was kann nicht alles passieren! Wir könnten das Geld jederzeit brauchen.«

Bharti saß mit gekreuzten Beinen auf einem Kissen, das sie aus dem Regal genommen hatte. Der Tischventilator war direkt auf sie gerichtet. Sie wischte sich mit ihrem Pallu das Gesicht und zog den Kopf ein wie immer, wenn sie sich ärgerte. »Taai, wenn du's nicht ausgibst, liegt es doch nur auf der Bank herum. Wir brauchen es jetzt, und er sagt, er gibt dir einen höheren Zinssatz als die Bank.« Zwei Freunde von Vishnu Ghodke, Bhartis Mann, wollten ein Reisebüro eröffnen, und Vishnu sollte sich mit der kleinsten Einlage an der Firma beteiligen, doch selbst dafür brauchte er fünf Lakhs, und er hatte nicht einmal drei. Shalini aber besaß nun plötzlich mehr als zwei. Und so saß Bharti an diesem Donnerstagabend bei ihr, erhitzt und ärgerlich. »Es ist eine sichere Sache, sagt er. Die Leute reisen immer mehr. Seine beiden Partner haben Kontakte nach Bahrain und Saudi-Arabien, und da wollen Tausende hin. Abertausende.«

Shalini schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Crores und Abercrores nach Saudi-Arabien wollen - ich kann dir das Geld nicht geben. Ich bin allein. Ich bin allein, und ich muß für meine Jungen sorgen.«

Bharti schob beleidigt das Kinn vor. »Und wir? Du hast doch uns! Vertraust du uns nicht?«

»Es geht hier nicht um vertrauen oder nicht vertrauen.«

»Sondern?«

»Es kann doch alles mögliche passieren, Bharti.« Dem Leben selbst konnte man nicht trauen. Es zog einem den Boden unter den Füßen weg, man stürzte und war verloren.

»Aber dir kann doch gar nichts passieren, Taai. Er zahlt dir das Geld in monatlichen Raten zurück, es kommt also immer etwas herein. Zusätzlich zu dem, was du verdienst. Und du zahlst ja auch keine Miete. Du stehst dann viel besser da als jetzt.«

Shalini und Katekar hatten vor sieben Jahren sechs Lakhs für das Kholi bezahlt, in vier schmerzhaften Raten, alles in bar, alles aus Tausenden gespülter Teller und gewaschener Unterröcke, aus zahllosen Fünzig- und Hundert-Rupien-Bakschischs mühsam zusammengekratzt. Jetzt hatten Shalini und ihre Söhne wenigstens ein eigenes Dach über dem Kopf, ihre eigene Küche. Das hatte Katekar gewollt: ein Fleckchen Erde besitzen, das nicht Eigentum des Staates oder eines Vermieters war, die Sicherheit des eigenen Heims. Das hatte er ihnen gegeben. Und nun war er tot. Bei dem Gedanken, daß er nicht mehr da war, spürte Shalini, wie es jetzt öfter geschah, ein Stechen im Rücken, das sich bis in den Bauch zog. Sie atmete tief ein und aus und wieder ein. »Das kann ich nicht machen«, sagte sie. »Ich kann das Risiko nicht eingehen, Bharti. Denk doch mal nach.«

»Du bist diejenige, die dauernd denkt, Taai. Denken, denken, denken! Aber Leute wie wir hören auf ihr Herz. Und wir dachten, wir fragen dich mal. Wir dachten, du verstehst uns.« Bharti machte Anstalten aufzustehen; sie nahm ihre Handtasche und raffte ihren Sari.

»Bharti -«

»Nein, nein, du warst schon immer die Schlauere. Immer denkst du drei Schritte voraus. Immer bekommst du, was du willst, weil du nachdenkst. Wir sind da anders.«

Shalini wußte, daß jeder Widerspruch sofort eine alte, erbitterte Debatte auslösen würde: über eine goldene Kette, die ihre Mutter ihr und nicht Bharti hinterlassen hatte, über eine Hochzeit in der Verwandtschaft, bei der es Streit um die Verteilung der Geschenksaris gegeben hatte, und schließlich darüber, wieviel Geld genau für Shalinis Hochzeit aufgewendet worden war und wieviel für Bhartis. Beide kannten den Verlauf dieser Diskussion zur Genüge, und dennoch würde Bharti sich erhitzen und am Ende in selbstgerechtem Schmerz anfangen zu weinen, so daß ihr rundes Gesicht zerfloß und kindlich weiche Züge annahm. Shalini schaute ruhig zu, wie Bharti sich bückte, um die Riemen ihrer schicken grünen Sandalen zu befestigen, und sagte dann sehr sanft: »Bleib doch wenigstens, bis die Jungen kommen.«

»Ich hab die Kinder zu Mausi gebracht. Sie sind schon viel zu lange dort.«

Mit Mausi meinte sie Vishnu Ghodkes Mausi, die drei Häuser weiter wohnte. Sie war zuverlässig, aber cholerisch, und man konnte die Kinder nicht allzu lange ihrer harten Hand überlassen. Obwohl dem Jungen ein paar Klapse und Knuffe nicht schaden würden, dachte Shalini, aber es war nicht der Zeitpunkt, Bhartis Sohn zu kritisieren. Als Bharti zur Tür hinausging, berührte Shalini sie am Oberarm, ein leichtes Tätscheln, ihr üblicher schwesterlicher Willkommens- und Abschiedsgruß. Doch Bharti marschierte starr und hoch erhobenen Hauptes die Straße hinunter. Shalini ließ sich in der offenen Tür nieder. Fünf untätige Minuten gestattete sie sich, ein erschöpftes Hinabsinken in völlige Entspannung. Sie beobachtete die Passanten. Es war kurz vor halb acht, und die Straße war voll von Leuten, die nach Hause zurückkehrten. Die Schatten waren schon lang, die Tage wurden kürzer. Bald würde man nachts ein zweites Laken brauchen und eine Decke. Es wurde Herbst. Die Menschen gingen in stetem Strom vorüber, im hypnotischen Gleichmaß der Scherenbewegung von Beinen und Knöcheln, des Hinundherschwingens von Taschen voller Zwiebeln, Kartoffeln, Grießmehl, Seife und Kokosöl. Einige der Jüngeren trugen schicke Aktenkoffer und hatten einen schnelleren, zielstrebigeren Gang als andere. Und alle gingen vorüber.

Fünf Minuten. Shalini wußte, wann sie vorbei waren. Sie besaß ein untrügliches Zeitgefühl. Ohne je eine Uhr zu benötigen, konnte sie auf die Minute genau sagen, wie spät es war. Sie wachte ohne Wecker auf und war täglich genau sechs Minuten vor Ankunft ihres Zuges am Bahnhof. Und jetzt war ihre Pause vorbei. Einen Moment lang, nur ein paar Herzschläge lang, wollte ihr Körper noch in seiner Ruhe, diesem Luxus des Rastens auf Stein und Holz, verharren, doch dann raffte sie sich auf. »Ambabai«, sagte sie leise und warf der Gottheit auf dem Regal einen Blick zu. »Aufwachen, aufstehen. Wir haben zu tun.«

Als die Jungen kamen, war das Essen fertig. Rohit nahm einen halben Eimer Wasser und führte seinen jüngeren Bruder hinaus. Durch das Plätschern des Wassers hindurch hörte Shalini die beiden leise miteinander reden. Ihr Vater hatte darauf bestanden, daß sie sich, wenn sie vom Spielen kamen, erst Hände und Füße wuschen, bevor sie sich im Haus hinsetzten. Sie hatten dann jedesmal gemurrt, hatten es als unerträglichen väterlichen Druck empfunden, besonders Rohit, der sich, wenn sein Vater nicht da war, schlicht geweigert hatte. Jetzt, da dieser Vater für immer fort war, vollzog er die abendliche Waschung mit rituellem Ernst und beaufsichtigte seinen Bruder dabei, diszipliniert und unnachsichtig wie ein Polizist. Rohit war überhaupt sehr ernst geworden. Jeden Morgen besprach er mit Shalini, was einzukaufen war, und nachmittags ging er nach der Schule zum Bazaar. Das Wechselgeld, das er zurückbrachte, stimmte stets genau, und er legte Shalini ein Heft vor, in dem er über die Ausgaben Buch führte. Er hatte jetzt auch einen Hausschlüssel, den er an einer roten Schnur um den Hals trug und nur zum Schlafen ablegte. Beim Essen ließ er ihn über seinen gebeugten Rücken herabhängen.

»Sind die Hausaufgaben gemacht, Mohit?« fragte Shalini.

Mohit aß schnell mit seinen flinken kurzen Fingern, die Schale auf dem Schoß, den Kopf gesenkt. »Mmmm«, machte er, »mmmm.«

»Er hat am Freitag einen Mathe-Test«, sagte Rohit, »und er hat noch nicht mal angefangen, dafür zu lernen.«

»Am Freitag«, sagte Mohit mit vollem Mund.

Bis Freitag waren ja noch drei Tage Zeit, meinte er. Shalini verstand ihn. Er hatte bei den letzten Prüfungen ziemlich schlecht abgeschnitten, aber von einem kleinen Jungen, der zur Bestattung seines Vaters hatte gehen müssen, war das nicht anders zu erwarten. Wie jeder, der ihn kannte, hatte Shalini geglaubt, er würde sich daran gewöhnen, würde damit fertig werden und zu seiner ruhigen, stetigen Art zurückfinden. Aber er glitt weiter ab, er machte seine Hausaufgaben nicht und raste in irgendeiner geheimen Mission durchs Leben. Er versteckte sich hinter seinem Bett in einem Winkel voller Comic-Hefte, deren reißerische Umschläge schnauzbärtige, pistolenschwingende Abenteurer zeigten. In seinen Schulheften zeichnete er Gewehre an den Rand und Muskelmänner, die gigantische Kanonen abfeuerten. Er hatte jetzt ein Privatleben, eine innere Welt, in der Shalini ihn nicht mehr erreichte. Das war bei Kindern und besonders bei Söhnen zwar normal, aber nicht schon so früh. Sie klopfte sich das Mehl von den Händen und tätschelte ihm mit dem Unterarm den Kopf. »Fang morgen an zu lernen«, sagte sie. »Ja?«

»Ja«, erwiderte er.

»Noch Reis?«

»Ja.«

Nach dem Essen wusch Shalini ab, verstaute das Geschirr in dem Gestell an der Wand und hängte Töpfe und Pfannen an ihre Haken. Sie nahm ihr Zahnpulver und ein Glas Wasser und setzte sich in die Tür. Nur noch wenige Leute gingen auf der Gasse durch den Lichtschein, der aus den Türen fiel. In einer anderen Gasse, vor langer Zeit, hatte Katekar einmal gesagt, dieser vielfache Lichtschein sehe aus wie ein Wasserfall. Es war in der ersten Zeit ihrer Ehe gewesen. Ja, hatte sie geantwortet, wie der Wasserfall von Karla317 . Sie waren damals sehr arm gewesen, und die Fahrt zu den Höhlen von Karla ein Jahr nach ihrer Hochzeit war etwas ganz Besonderes für sie gewesen. Katekar war in den Höhlen umhergegangen und hatte die Reliefs an den Decken bewundert. Er hatte vor den Stupas602 gestanden, und ihm war ganz feierlich zumute gewesen, trotz seiner schon damals stark ausgeprägten, unerbittlichen Skepsis. Jetzt lief in der Gasse überall Sabse Bada Paisa im Fernsehen, aus allen Türen flimmerten dieselben Farben in den Schmutz, in jedem Fernseher stellte die Stimme des Moderators Riesengewinne in Aussicht. Es gab auch in Shalinis Haus ein Gerät, aber unter der Woche durfte so spät abends normalerweise nicht mehr ferngesehen werden. Das war eine Regel, die Katekar aufgestellt hatte. Lernt fleißig, hatte er zu seinen Söhnen gesagt, dann habt ihr später euer eigenes Haus und könnt fernsehen, wann immer ihr wollt. Nur für Kaun Banega Crorepati135 324 hatte er eine Ausnahme gemacht, weil es eine Wissensshow war. Wenn man die Fragen richtig beantwortete, konnte man gewinnen, konnte plötzlich ein Crore besitzen, einfach so. Wer genug wußte, konnte reich werden. Lernt, lernt, sagte er zu seinen Söhnen. Mit gekreuzten Beinen saßen sie nebeneinander vor dem Fernseher und riefen laut die Antworten. Shalini nannte sie »die drei Affen«, und sie schnitten ihr Affengrimassen. Jetzt verfolgte Rohit aufmerksam Sabse Bada Paisa, der blaue und grüne Schimmer huschte über sein Gesicht. Mohit saß wieder in seinem Winkel und erzählte sich leise seine geheimen Geschichten. Nach der Bestattung hatte er das Interesse an der Sendung verloren. Und Shalini saß in der Tür. Der Moderator fragte nach dem Namen des größten Bewässerungsprojekts, das es in Indien je gegeben hatte.

»Are, Shalu.«

Ihre Nachbarin Arpana kam auf dem Heimweg mit ihrem Mann Amritrao Pawar vorbei, beide in Ausgehkleidung. Offenbar herrschte an diesem Abend in ihrem lebenslangen Krieg gerade Waffenstillstand. Shalini machte auf der Stufe Platz für Arpana. »Noch so spät unterwegs?« fragte sie.

»Meine Nichte hatte heute ihr Kelvan. In Malad.«

»Sudhirs Tochter?«

»Ja. Die Hochzeit findet ganz in der Nähe seines Kholis statt.«

Arpana hatte zwei jüngere Brüder. Mit dem Jüngeren verstand sie sich gut, mit dem Älteren lag sie in einer Fehde unklaren Ursprungs. Shalini hatte die ganze Geschichte gehört, als sie eingezogen waren und die resolute Nachbarin kennengelernt hatten, aber die Einzelheiten hatte sie vergessen. Sie kannte Arpana seit vielen Jahren und hatte auch ihren Streit mit Amritrao Pawar mitbekommen, der nicht weit entfernt noch eine zweite Frau, eine zweite Familie hatte. Anfangs hatte Shalini Arpana geraten, sich von ihm zu trennen, ihn wegzuschicken, doch dann hatte sie gesehen, daß sich die Streitereien der beiden mit ewigen Schwüren und teuren Geschenken abwechselten, und eines Monsunabends - sie war schwanger - war sie noch spät zu Arpana hinübergegangen, um sich zwei Zwiebeln von ihr zu borgen. Als sie an ihre Tür kam, hatte sie gehört, wie die beiden sich versöhnten und einander in stöhnender Ekstase verziehen. Da hatte sie begriffen, weshalb die Frauen in der Straße lachten, wenn Arpana sich über die Gleichgültigkeit und Grausamkeit ihres Mannes beschwerte. Jetzt stand er vor ihnen, dieser Amritrao Pawar, die Hände in den Taschen, ein arrogantes, selbstzufriedenes Lächeln um den Mund. Shalini mochte es nicht, wenn er sie so ansah. Sollte er sich doch an seiner Arpana ergötzen. Sie wandte sich von ihm ab. »Wie ist der junge Mann?« fragte sie Arpana.

»Zu dünn. Er sieht aus wie das Abflußrohr da, nur nicht so schwarz. Aber die Familie ist in Ordnung. Er arbeitet am Flughafen.« Sie massierte sich die Füße und sah zu Amritrao Pawar auf. »Was stehst du denn da wie festgenagelt?«

Shalini fürchtete, sie könnten vor ihrer Haustür wieder anfangen zu streiten; manchmal genügte dafür schon ein bestimmter Blick. Doch Amritrao Pawar war gut gelaunt und lachte nur. »Ich warte auf dich, Rani526. Aber ich werde zu Hause warten.«

Sie sahen ihm nach, und Arpana schnaubte. »Die haben hinter dem Haus getrunken. Er glaubt, ich merk's nicht.« Beide nickten über die Dummheit der Männer, dann beugte sich Arpana vor. »War Bharti heute da?«

»Ja. Woher weißt du das?«

»Diese Chitra saß bei uns im Bus.« Chitra war eine andere Nachbarin, die zwei Häuser weiter wohnte. »Sie hat Bharti an der Bushaltestelle gesehen.«

Wieder andere Nachbarn hatten sie vermutlich an der Straßenecke, in der Gasse oder im Haus gesehen, hatten ihren Gesichtsausdruck bemerkt und sich ihr Teil gedacht. »Ja«, sagte Shalini, »sie war hier.«

»Mitten unter der Woche? Ist was passiert?«

»Nein, nein. Nur Geldprobleme.«

Arpana schien nicht recht überzeugt und mit einer so knappen Auskunft unzufrieden, aber Shalini wollte sich nicht auf das Thema einlassen und lenkte das Gespräch deshalb auf Amritrao Pawar. Da konnte Arpana nicht widerstehen, und sie begann seine jüngsten Sünden aufzuzählen: Er sei mit dieser Randi und ihrer ganzen Brut - einschließlich des Kaku der Randi - nach Mahabaleshwar gefahren und habe dafür mehr Geld ausgegeben, als er in zwei Monaten verdiene, er habe mit ihr, Arpana, Streit angefangen, als sie sich beschwert habe, als sie gesagt habe, er habe keinen Ehrgeiz und wolle keine Risiken eingehen, er klebe an seinem Botenjob wie ein Dummkopf, der Angst vor der Welt hat.

»Jobs liegen nicht einfach so auf der Straße«, sagte Shalini. »Laß ihm doch wenigstens seine Arbeit.«

»Die bringt aber nichts ein.« Außer seinem Lohn, meinte Arpana. »Die werden ihn nie befördern und auch nie seinen Lohn erhöhen. Das sind ja alles Muslime.«

»Ich dachte, sein Chef ist Brahmane. Heißt er nicht Baj-pai?«

»Doch, schon, aber die Firma gehört Muslimen. Und du weißt ja, wie die sind.«

Shalini nickte. Dazu konnte sie nichts sagen, aber sie zweifelte ebenfalls an Amritraos Aufstiegschancen. Arpana verfiel wieder in ihre Litanei. Sie war alles andere als hübsch; sie hatte harte, eckige Schultern, und in den letzten zehn Jahren waren ihre Wangen schlaff geworden. Dennoch fanden sie und Amritrao Pawar immer wieder zueinander und zerfleischten sich in Zorn und Leidenschaft. Das tragische war, daß Arpana nach alldem keine Kinder hatte. Deswegen konnte sie Amritrao Pawar letztlich nie ins Unrecht setzen, und deswegen hatte er eine andere Frau. So sehr und so schmerzhaft brauchten sie einander, so groß war ihr Zorn, und trotzdem hatten sie keine Kinder. Die Wege Ambabais waren unerforschlich. »Es wird Zeit, daß ich die Jungen ins Bett bringe«, sagte Shalini.

»Ja. Geht's ihnen gut?«

Die Frauen in der Gasse hatten ein Auge auf die beiden, und Arpana kümmerte sich nachmittags nach der Schule um Mohit. »Ja«, sagte Shalini, »alles in Ordnung.«

Sie standen auf, nickten einander zu und machten sich an die letzten Arbeiten des Tages. Shalini räumte ein wenig auf und scheuchte die Jungen ins Bett, bereitete ihr eigenes Lager und legte sich nieder. Dies war der schwierigste Moment des Tages. Ihre Glieder bewahrten die Erinnerung an Katekars Körper, und sie vermißte es, sich an seinen Bauch schmiegen zu können. Während sie auf den Schlaf wartete, irrten ihre Gedanken ab, blitzschnell und unerwartet. Seine Scherze und sein Lachen, kleine Demütigungen und Freuden ihrer Kindheit trafen aufeinander und vermischten sich, strahlend hell und schmerzhaft. Dieses obszöne Gedicht über Dev Anand und Mumtaz433 - Shalini mußte lächeln -, tausendmal hatte er es aufgesagt, immer mit demselben Vergnügen. Sie atmete tief ein, und dann kam der Schmerz. Sie wischte sich übers Gesicht. Wenigstens hatte sie seine Söhne. Seine Söhne schliefen nahe bei ihr. Ihre Gedanken schweiften wieder ab. So sind die Muslime. Sie haben meinen Mann getötet. Einer von ihnen hatte ihn getötet, und der Mörder war auch tot. Manchmal wünschte sie, er wäre noch am Leben und sie selbst könnte ihn töten. Doch Sartaj Singh hatte den Bihari erschossen. Sartaj Singh war selbst ein Möder. Alle waren Mörder, und sie hatten ihren Mann getötet. Die Wut fühlte sich an wie ein Eisen, das sich durch ihren Hals emporschob und gegen ihren erlahmenden Willen hervordrängte, mit einem tiefen Aufschrei, der an den Wänden kratzte und ihr angst machte. Sie lauschte, aber die Jungen schliefen fest, und von draußen hörte man durch die offene Tür nur fernes Gemurmel.

Shalini setzte sich auf, nahm leise ein Glas Wasser und benetzte sich Gesicht, Hände und Füße. Dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen vor Ambabai und Bhavani nieder. Du hast ihn im Stich gelassen, Bhavani. Tag für Tag habe ich gebetet, er möge wohlbehalten wiederkommen, aber du hast ihn im Stich gelassen. Ich werde dich nicht mehr beschimpfen, ich werde dich nicht mehr fragen, warum. Du nennst mir keine Gründe, und ich werde dein Schweigen akzeptieren. Aber schenk mir ein klein wenig Frieden, schenk mir Erlösung von diesem Tumult des Schmerzes. Ich muß Ruhe bewahren, um meiner Kinder willen. Hörst du mich, Ambabai? Gewähre mir diese Gnade. Bitte gib mir in meiner Trauer Kraft. Bhavani ist gleißendes blaues Licht, selbst ihr Erbarmen ist wie kühles Mondlicht, aber du, Ambabai, bist all dies: fruchtbare Felder und Wasser im Überfluß, reiche Erde, der Atem des Neugeborenen und großblütiger Lotos, du bist meine Mutter, Ambabai, hol mich zurück aus meiner Verbannung, laß mich wieder in deinem Schatten leben. Er war ein guter Mensch. Er ist nach Pandharpur472 gefahren, als ich ihn darum bat, obwohl er nicht daran glaubte, daß Frömmigkeit seinen Rücken heilen würde. Er hatte Schmerzen, ich sah, wie er am Ende des Tages die Hand in die Seite stemmte, um sich aufrecht zu halten, aber er hat für uns gesorgt, er hat seine Arbeit getan. Er war streng, aber nie hart, Rohit und Mohit haben sich nie vor ihm gefürchtet. Am Tag seiner ersten Beförderung hat er mir eine goldene Kette um den Hals gelegt, und sie blieb dort, auch in schlechten Zeiten. Nie hat er in Gelddingen Rechenschaft von mir verlangt. Nie hat er mich geschlagen, wenn wir Streit hatten, nur einmal hat er mich wütend am Ellbogen gepackt, so daß ein blauer Fleck entstand. Wir waren jung, Ambabai, er strich den Schmerz mit Alaun fort, er machte Kurkuma warm, und seine Sorge besänftigte mich. Damals roch er nach Kokoshaaröl und Shivaji-Zigarillos, später verzichtete er uns zuliebe auf jede Form von Tabak. Er ging zu anderen Frauen, das wußte ich, wir stritten uns deswegen, und er sagte, er hätte damit aufgehört, aber wirklich aufgehört hat er erst, als er begriff, was es heißt, Vater zu sein. Er hat mich verletzt, Ambabai, und ich ihn. Ich weiß, daß meine kühle Ruhe ihm manchmal schwer zugesetzt hat. Aber ich habe meine Pflicht als Ehefrau erfüllt, ich gab ihm die Umarmungen, die Männer wollen. Ich gab ihm zu essen, und er kam für mich auf. Wir waren Gefährten, Freunde, nicht ohne Streit, aber ohne Groll. Ich verdiene Geld, ich lebe so vor mich hin, aber nachts zerrt ein grober Strick an meinem Bauch und zieht mich auf seine Seite des Bettes. Ich sehe Dinge. Ich sehe ihn im Bett husten, er hat Fieber, ich bringe ihm die Zeitung, und er nimmt sie, seine Hand ist heiß, und mich überfällt Sorge. Ich sehe, wie er das Kholi betritt und Mohit ihm mit nasser Hose entgegenkrabbelt. Wie er mit gekreuzten Beinen dasitzt und Geld zählt. Wie ich Zwiebeln schneide, am Tag vor Shayani Ekadashi586. Wo bist du, Ambabai? Bhavani, bist du da? Ich spüre, daß du nahe bist, Ambabai, aber ich bin allein. Steh mir bei, Ambabai. Ich bin allein.

»Ma?«

Rohit stand hinter ihr. Sie ließ sich von ihm zu Bett bringen, lauschte den Worten, mit denen er sie zu trösten suchte, und schickte ihn wieder ins Bett, damit er sich selbst tröstete. Sie erinnerte sich, wie sie an jenem Abend zu Arpana gegangen war, um zwei Zwiebeln zu borgen, wie sie vor ihrem Haus gestanden, dicht an der Tür vor dem Regen Schutz gesucht und auf die bitteren und süßen Laute gehorcht hatte, die Arpana von sich gab. Entschlossen verbannte Shalini all diese Gedanken und Erinnerungen aus ihrem Kopf, aber es blieb ein dumpfer Schmerz, der sich mit jedem Atemzug regte. Sie ertrug ihn und flüsterte Ambabais Namen, wieder und wieder.

Anjali Mathur folgte der Spur des Geldes. Sie tat es in ihrer spärlichen Freizeit am Ende des Tages oder ganz früh am Morgen. Auch an diesem Dienstag saß sie schon früh im Büro und las in alten Akten. Sie hatte eine Recherche zum Thema Falschgeld aus Pakistan vorgenommen, und obwohl sie die Suche in der Datenbank auf die Zeit nach dem 1. Januar 1987 beschränkt hatte, umfaßte das Material über siebzig bedruckte Seiten. Seit vier Monaten ging Anjali nun die einzelnen Berichte durch. Es war eine langwierige Arbeit und obendrein vermutlich Zeitverschwendung, deshalb hatte sie niemandem von ihren Nachforschungen erzählt. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie suchte, abgesehen von Einzelheiten und einem Muster in diesen Einzelheiten. Über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg würde sich irgendwann ein Zusammenhang abzeichnen, eine Ursachenkette, die sich bis zum Anfang zurückverfolgen ließ. Nein, nicht bis zum Anfang, eher bis zu einem Schnittpunkt, an dem viele Vorgänge zusammenliefen, und irgendwo würde Ganesh Gaitondes Tod hineinpassen. Anjali wollte keine Erklärung, sie mißtraute Erklärungen. Jede Erklärung, jede Lösung ließ zuviel unberücksichtigt. Aber sie setzte auf Assoziationen, Korrelationen, Rhythmen und zeitliche Verdichtungen. Das war es, was K. D. Yadav ihnen hatte vermitteln wollen - ein Gespür dafür, wie der Feind denkt, welche Absichten er verfolgt -, das war es, was Vorhersagen ermöglichte. Und das war es auch, worauf all die Analysen und Querverweise, worauf Computerarbeit und mathematische Berechnungen hinausliefen: das Lesen alter Berichte, einen nach dem anderen. Letztlich kam es nur auf den Instinkt an. Und ihr Instinkt führte sie zu einer Frage, die Gaitondes Rückkehr nach Indien betraf, seinen Tod, seinen Bunker mitten in Kailashpada, die tote Frau. Nichts von alldem paßte zusammen, nichts sprach eine Sprache, die sie verstand. Anjali hatte gelernt, den besonderen Jargon der Berichte zu entschlüsseln, sich das Geschehen hinter dem abgehackten Telegrammstil vorzustellen. Der Bericht, den sie gerade las, war auf neutralem, unliniertem Papier geschrieben.

 


STRENG GEHEIM

Codenr. Informant ... 910-02-75P ... Einheit Jammu Alpha
Bericht Nr. ... 2/97 Datum ... 27. 1. 97


Merkmale Informant - Informant Rehmat Sani ist Bauer, Schmuggler, hat Verwandte beidseits der Grenze. Info stammt von Cousin Yasin Hafeez in pak. Armee

Kommunikation - persönliche Treffen

Glaubwürdigkeit - II

Treffen des Informanten mit Cousin in Dorf Bhanni, 13. 1.97.

Cousin ist Havaldar265 in 13. Bataillon, Punjab-Regiment in Mandi Chappar. War mit seinem Zug zu Geleitschutz für privaten Dreitonner von bekannter Falschgeldpresse in Shah Karnam Road 142 (s. Bericht 47/96) zu Lashkar-i-Azadi-Stützpunkt in Hafizganj abkommandiert. Lieferung - vier Kisten, 120x120x120 cm - wurde entgegengenommen v. Rashid Khan, stellv. Kommandant v. Lashkar. Informant hat keine weitere Info bez. Inhalt. Inhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit große Mengen Banknoten mittleren Nennwerts für Frühjahrsoffensive im Tal u. a. Informant zu weiterer Beobachtung aufgefordert.


Anjali kannte den Verfasser des Berichts, er war während der Ausbildung in ihrer Gruppe gewesen. Er hieß Gaurav Sharma und hatte schon mit Sechsundzwanzig keine Haare mehr auf dem Kopf gehabt. 1997 war er nach Jammu geschickt worden, und die »hohe Wahrscheinlichkeit« war ein kleiner Hinweis auf ihn. Während der Ausbildung hatte er sich für die Chaostheorie begeistert und den anderen bei Tee und Samosas die Wonnen von Fraktalen und seltsamen Attraktoren nahezubringen versucht. Seinen Bericht hatte er, wie sie es gelernt hatten, unpersönlich und objektiv gehalten. In dieser Form wurden Informationen nach oben weitergegeben. Der Informant war zweifellos ein verschwitzter Ganove, ein Grenzkrimineller, ein Schmuggler und Mörder, zum Fatalisten geworden durch die Artilleriegranaten, die in den letzten fünfzig Jahren über seinem Kopf abgefeuert worden waren, die in seinem Dorf und auf den Feldern Onkel und Tanten von ihm getötet hatten. Er war der Typ, der in Neumondnächten über die Grenze ging, der sich nichts dabei dachte, Niemandsland zu durchqueren, wo man jederzeit unter Beschuß geraten konnte. Er konnte stundenlang reglos unter sporadischem, ungezieltem Maschinengewehrfeuer in einem Weizenfeld liegen, er wußte, wann er vorwärts kriechen und wann er in Deckung verharren mußte. Zweifellos hatte er seinen Cousin in der pakistanischen Armee dazu verleitet, Informationen an ihn weiterzugeben, hatte ihm erst günstige Kredite für Hochzeiten und Traktoren in Aussicht gestellt und ihn dann mit Bargeld versorgt. Er bekam Geld von beiden Seiten, durch seinen Cousin und seinen Verbindungsoffizier. Und zweifellos hatte der Verbindungsoffizier ihm Kisten mit billigem Rum übergeben, von denen er jeweils drei über die Grenze in die rituell reinen Regionen Pakistans geschafft hatte. Der VO hatte sich Ende Januar '97 mit ihm getroffen, vielleicht in irgendeiner Kneipe, einer nach Bauernschnaps stinkenden Dhaba, und dann seinen Vorgesetzten in Jammu Bericht erstattet. Dort hatte Gaurav Sharma einen Bericht für die zuständige Stelle in Delhi geschrieben. Das war Grundlage für weitere Berichte nach oben gewesen, und vielleicht war schließlich ein leitender Beamter darauf aufmerksam gemacht worden, daß alle Daten auf Pläne des Feindes zu einer Frühjahrsoffensive hindeuteten. Vielleicht hatte der Premierminister Mittel freigegeben und einen zusätzlichen Titel im Haushalt beantragt. Auf jeder Stufe war die Information weiter konzentriert worden. Einzelheiten waren unter den Tisch gefallen, und hier, am Empfangspunkt in Delhi, gab es nur noch Namen und Orte, Lastwagen und Kisten, Rehmat und Yasin. Details wollte ganz oben niemand wissen. Zu Ihren Aufgaben, hatte K. D. Yadav gesagt, gehört es auch, dafür zu sorgen, daß die Leute an der Spitze nicht zuviel erfahren. Das wäre nicht gut. Sie müssen handlungsfähig bleiben und dürfen sich nicht verzetteln, um notfalls alles dementieren zu können. Lassen Sie also alles Überflüssige weg. Sagen Sie ihnen nur, was sie unbedingt wissen müssen. Bas.

Anjali legte den Bericht beiseite und wandte sich ihren täglichen Pflichten zu. Innerhalb der Organisation, im Kollegenkreis in Delhi, hatte man ihre Fahrt nach Bombay mit Kopfschütteln betrachtet. Dieser Gaitonde hatte sich, nachdem er zahllose andere abgeknallt hatte, selbst abgeknallt - na und? Solche Gangster waren von Haus aus labil, und bei Gaitonde waren immer wieder Alkohol, Frauen und vieles andere im Spiel gewesen. Das war bekannt. Er hatte sich in Bombay einen Bunker gebaut - na und? Der Mann war tot, er hatte sich umgebracht, das war das einzige Faktum von Gewicht. Wozu also ermitteln? Was für weitere Fakten hatte man gefunden? Keine. Auf Frauen im Außendienst war eben kein Verlaß. Und genau deswegen hatte man Kulkarni mit dem Fall Gaitonde betraut. Er hatte sein Handwerk in Punjab gelernt und Einsätze in Kaschmir geleitet. Man hatte ihn für robust genug und hinreichend in Maharashtra verwurzelt befunden, um es mit einem unflätigen Gangster aufzunehmen, und er hatte Anjali - in einem Anflug von Herablassung - den Gefallen getan, ihr Einsicht in seine Berichte zu gewähren. »Ich weiß, Sie interessieren sich für den Mann«, hatte er zu ihr gesagt und sie breit angelächelt. »Und eine gute Analytikerin kann man immer gebrauchen.« Und so hatte sie Gaitondes Geschichte zurückverfolgt, hatte sich darüber informiert, wie die Organisation ihn und wie er die Organisation benutzt hatte, wie er Mordanschlägen entgangen und einem wachsenden Verfolgungswahn verfallen war, wie er seinen Verbindungsmann belogen hatte, wie er sich zunehmend labil gezeigt hatte und schließlich verschwunden war. Und nachdem er als toter Mann wieder in seinem alten Revier aufgetaucht war, hatte ihr der lächelnde Kulkarni freundlicherweise gestattet, dort Ermittlungen durchzuführen.

Da sie nichts Brauchbares gefunden hatte, saß sie nun wieder an ihrer Analyse. Ihre Abteilung befaßte sich mit islamischem Fundamentalismus, und ihr Zuständigkeitsbereich war die ganze Welt. Im Moment folgte sie den Spuren eines Engländers, der 1971 unter dem Namen Malcolm Mourad Bruce als Sohn eines schottischen Schreiners und eines algerischen Zimmermädchens in Edinburgh zur Welt gekommen war. Der Vater hatte Frau und Kind verlassen, als Malcolm sieben war, er war gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen, und die Mutter war zu ihrem Bruder und seiner Familie nach Birmingham gezogen. Mit Siebzehn war aus Malcolm Mourad Chaker geworden, ein leidenschaftlicher Verfechter des einfachen Lebens und als »der junge Prediger mit den roten Haaren« eine Lokalberühmtheit in den Moscheen. Mit Zweiundzwanzig war er in Afghanistan aufgetaucht, wo er gegen die Sowjets gekämpft hatte und siebenmal verwundet worden war. Vier Jahre später hatte der rothaarige Mourad Berichten zufolge für die GIA230 in Algerien gekämpft und dort Journalisten, Bürokraten, Offiziere und Zivilisten getötet. Er erwarb sich einen Ruf als kompromißlosester der Salafisten-Führer549 und weigerte sich sogar, mit den Gemäßigten innerhalb seiner eigenen Gruppe zu sprechen. Für den radikalen Mourad, dessen Glaube in seinen Augen und seinem flammend roten Haar glühte, gab es nur eines: die islamische Weltrevolution. 1999 hatte der indische militärische Abschirmdienst von einer neuen Gruppe militanter Kräfte berichtet, die unter Führung eines gewissen rothaarigen Mourad im Kaschmirtal operierte. Es handelte sich natürlich um denselben Mann. Bedeutete sein Auftauchen im Tal, daß jetzt die GIA selbst in die Kämpfe eingriffen, daß sie Geld, Waffen und Männer schicken würden? Oder war Mourad allein, auf der Suche nach einem neuen Krieg, einer neuen Mission? Das war die Frage. Anjali las den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und suchte nach Verbindungen, nach den Geschichten von Männern und Frauen, ihren Ideen, ihren Zusammenschlüssen, ihren Grenzübertritten. Sie las interne Berichte aus dem Tal, Dokumente von Expertenkommissionen aus Washington, Informationen der CIA, drei Kapitel eines von einem deutschen Professor verfaßten Buches über die Unruhen in Algerien, Fotokopien von Artikeln aus algerischen Zeitungen und Zeitschriften mit Fotos der Toten in schlechten Schwarzweißkopien und Agentenberichte der Organisation in Marokko, Ägypten und Algerien über einen Zeitraum von zwei Jahren. Ihre Konzentration umschloß sie wie eine Taucherglocke, so daß sie weder das gelegentliche Geplauder der Kollegen auf dem Flur wahrnahm noch das zunehmende Sonnenlicht auf dem staubigen Fenster oder die Taube, die mit gekrümmten Krallen durch das Gitter stieg und sie ansah. Ab und zu setzte sie eine Wasserflasche seitlich an den Mund und trank daraus, ohne ihr Lesetempo zu vermindern. Während des Studiums hatte sie sich eine Notizentechnik angeeignet, bei der die Zeilen gleichmäßig und leserlich blieben, obwohl sie nur von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Block warf, und jetzt füllte sie Seite um Seite. Der Tag verging. Um halb zwei klopfte es leise, und Amit Sarkar streckte den Kopf durch die Tür.

»Kommen Sie rein«, sagte Anjali. »Sie können reinkommen, Amit.«

»Mittagessen, Madam?«

Amit Sarkar war frisch verheiratet, und die Kochkünste seiner Frau ließen ihn von Woche zu Woche wohlgenährter aussehen. Die Magerkeit des hungrigen Studenten aus der ersten Zeit seiner Ausbildung war verschwunden, und neuerdings brachte er einen dreistöckigen Tiffin632 mit Essen für sich und Anjali mit. Er war stets höflich, aber sie spürte, daß er ihre schlechten Eßgewohnheiten mißbilligte und ihr einsames Dasein einer geschiedenen Frau mit Sorge betrachtete. Manchmal ärgerte sie sich über seine Überheblichkeit und fuhr ihn an, ohne es zu wollen, aber heute war sie froh über die Unterbrechung. Es war erdrückend, sich ständig mit Drohung und Gegendrohung, mit Aggression und der Reaktion darauf zu befassen. Mit seinem Henkelmann trug Amit Sarkar einen Hauch von Normalität, von Heim und Küche in ihr Büro. »Was gibt's heute?«

»Chingri macher, Ma'am, Maithlis Spezialität.«

Maithli war klein und rund, und wenn sie mit vorgerecktem Kinn lächelte, verschwanden ihre Augen. Anjali war ihr zweimal begegnet; sie hatte sie recht konventionell gefunden und wenig mit ihr zu reden gewußt. Aber ihre Krabben waren köstlich. Anjali aß, und Amit erzählte von seinem derzeitigen Projekt. Sie hatte ihn beauftragt, Zahlungen aus dem Ausland, vor allem aus Saudi-Arabien und dem Sudan, an radikale islamische Organisationen in Indien zu verfolgen. Vor zwei Tagen erst hatte er eine Verbindung zwischen einer Studentengruppe in Trivandrum und einem Predigerseminar in Nagpur entdeckt, eine Spur, die von einem Studentenführer über einen Händler als Mittelsmann zu einem fanatischen Mullah führte. Er hatte gute Arbeit geleistet und berichtete nun ausführlich. Der Studentenführer hatte einen Bruder, der in Dubai arbeitete, und dieser Bruder fungierte möglicherweise als Kanal für Geld, Information und Ideologie. Anjali aß und hörte zu. Vielleicht hatte Amit das Zeug zu einem guten Analytiker: Er begeisterte sich fürs Detail und hatte seine Freude an Verknüpfungen. Zwar ging er in seinen Annahmen oft zu weit oder war so sehr auf die Stimmigkeit seiner Hypothesen fixiert, daß er seiner Phantasie die Zügel schießen ließ, aber das konnte man ihm abgewöhnen, und das war ihre Aufgabe. Die nötige Leidenschaft besaß er jedenfalls. Sie wartete, bis er aufgegessen hatte, dann holte sie ihn auf den Boden der Tatsachen zurück: der Bruder, Dubai, tägliche Telefonate. Mehr nicht. »Interessant, aber nicht genug, um so viel daraus zu schließen«, sagte sie. »Wir brauchen mehr.«

»Können wir einen Einsatz beantragen?«

Anjali mußte lächeln. Amit erinnerte sie manchmal an einen Welpen, der hinter seiner ersten Ratte herhechelt. »Beantragen können wir ihn schon«, sagte sie, »aber genehmigt wird er nicht. Es gibt zu viele höhere Prioritäten.« Er nickte weise und versuchte einen reifen Gleichmut an den Tag zu legen, aber Anjali sah, daß er seine Enttäuschung hinunterschlucken mußte. Jeder Trainee träumte davon, von der Analyse zur Tat zu schreiten, auf eine heiße Spur zu stoßen und eine Verschwörung aufzudecken, die so gefährlich war, daß es drastischer Maßnahmen, heldenhafter Männer und nächtlicher Schießereien bedurfte, um die Situation in den Griff zu bekommen. Mit diesem Traum traten die Trainees ihren Job an. Doch der Job bestand darin, endlos zu lesen, Bruchstücke von Geschichten zu sammeln und zu begreifen, daß es tödliche Gefahren gab, für deren Bekämpfung dennoch keine Mittel bereitgestellt wurden. Manches beobachtete man und mußte es dann geschehen lassen. Anjali versuchte Amit zu trösten. »Aber man weiß nie. Wir werden die Leute im Auge behalten. Vielleicht packt sie der Ehrgeiz, und sie wagen einen Vorstoß.«

Amit schien nicht besänftigt, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und nahm seinen Tiffin. Anjali dankte ihm und vertiefte sich wieder in ihre Papiere. Die Seiten rochen jetzt nach Kurkuma und Ingwer, und sie fragte sich, ob in vielen Jahren einmal ein anderer Mitarbeiter den kaum noch wahrnehmbaren Duft einatmen und plötzlich Sehnsucht nach zu Hause bekommen würde. Sie las weiter, doch Amits Stirnrunzeln ließ sie nicht los. Er wollte nicht immer nur in Delhi am Schreibtisch sitzen, er wollte sich die Hände schmutzig machen. Nun, er würde noch genug Action erleben. Irgend jemanden, irgendeinen Dushman, packte immer der Ehrgeiz, irgend jemand wagte immer einen Vorstoß. In einem kleinen Raum im Bauch des MEA zu sitzen und den ganzen Tag Berichte zu lesen hieß, vom ewigen Aufruhr der Menschheit umtost zu sein, dem niemals endenden Auf und Ab von Begierde, Neid und Haß. Niemand, so schien es, kein Mann und keine Frau, verharrte jemals still in einem Hort der Zufriedenheit. Immer wollte man irgendwohin, wollte jemanden besiegen, wollte etwas haben. Aber das verschaffte Anjali Arbeit, einen Weg im Leben. Sie las weiter.

Um sechs nahm sie ihre Aktenmappe und ihre Handtasche, steckte ihre Autoschlüssel ins Außenfach der Tasche und ging rasch in die Tiefgarage hinunter. Die beiden wachhabenden Polizisten mit ihren imposanten Schnauzbärten sahen sie gleichmütig an, als sie an ihnen vorbeifuhr, mit jenem undurchdringlichen, kampflustigen Blick, den eine alleinstehende Frau in Delhi nun einmal zu ertragen hatte. Es gefiel ihnen nicht, daß sie eine Frau war, daß sie allein war, daß sie ein Auto besaß und ein Gehalt bezog. In jüngeren Jahren hatte sie solche Blicke erwidert und gefragt: »Was schaut ihr so?« Geschäftsleute und Busfahrer hatte sie auf diese Weise herausgefordert, Studenten, Arbeiter und Polizisten. Polizisten waren die schlimmsten, sie waren durch ihre Autorität geschützt und trunken von einer täglichen Dosis Aggression und Gewalt. Doch auch ihnen hatte sie die Stirn geboten, angespornt von der Erinnerung an ihren Vater, der bewundernd gelacht hatte über ihre burschikose Art, ihren Mut, ihre Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie legte sich auch jetzt noch ins Zeug, aber irgendwann hatte sie gemerkt, daß sie zu müde war für solche Konfrontationen. Es lag nicht nur an ihrer Arbeitsbelastung. Sie fühlte sich ausgebrannt, als hätte eine Metallfeder in ihrem Innern ihre Spannung eingebüßt. Sollten die Jüngeren ihren Platz auf den Barrikaden einnehmen, die Mädchen, die bauchfrei und mit dem Handy am Ohr auf dem Campus der Colleges herumliefen. Die wettergegerbten alten Hasen hatten andere Schlachten zu schlagen.

Anjali fuhr in weitem Bogen auf den Boulevard, blinzelte in die untergehende Sonne und mußte schmunzeln. Wie zahm sie mit den Jahren geworden war! All der revolutionäre Schwung aufgerieben durch - ja, wodurch? Durch Überstunden, Rechnungen, den lärmenden Verkehr, die Luftverschmutzung, die einen schwarzen Film auf Gesicht und Armen hinterließ. Und durch berufliche Niederlagen, die Scheidung und den abrupten Verlust der Liebe, die Erkenntnis tief in ihrem Innern, daß die Zukunft kein unendlich weites Feld war, sondern ein schmales, von Nacht umschlossenes Tal. Wenn sie den krummbeinigen Gang ihrer Mutter betrachtete, die papierene Haut ihrer Hände, spürte Anjali den Druck der Sterblichkeit. Ihre Mutter würde sterben. K. D. Yadav würde sterben, bald schon. Nur ihr Vater war unsterblich, er schwebte irgendwo in der ewigen Jugend der Vermißten. Er war für tot erklärt worden, aber er lebte noch. Anjali spürte seine Gegenwart frühmorgens, wenn sie sanft aus den Sümpfen des Schlafes auftauchte. Dann kam er zu ihr mit seinem salzigen Geruch nach Schweiß und Brylcreme, seine Schulter so fest an ihrer Wange wie die wärmende Sonne, die durch das Eckfenster schien.

Ein silberner Lexus hielt dicht neben ihr, und dann kam der Verkehr zum Erliegen. Hinter den getönten Scheiben des Lexus saß ein Kaugummi kauender Teenager, ein Mädchen, das in einem Hochglanzmagazin blätterte. Sie wirkte gelangweilt, und sie war schön. Ihr Vater war Minister, Industriemagnat, ein berühmter Arzt oder einer jener Schieber, die an den Schnittpunkten der vielen Welten Delhis ihre Geschäfte machten. Sie lebte in einer Lexuswelt, weit weg von Anjali, einer Welt des Vasant Vihar654, der Senso- und Farm-house-Partys und der Teeny-Outfits. Sie spürte Anjalis Blick, schaute kurz auf und wandte sich dann gleichgültig wieder ihrem Magazin zu. Anjali sah sich selbst in der Scheibe des Lexus, verschwitzt und sehr mittelschichtmäßig in ihrem braun-roten Kamiz mit dem roten Chunni, eine Frau, die es sich nicht leisten konnte, die kaputte Klimaanlage ihres Wagens austauschen zu lassen. Der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung, und der Lexus glitt davon. Anjali wischte sich über das Kinn. Wie leicht kam Groll auf, der Wunsch, ein paar wütende Polizisten würden den Lexus stoppen, die Wagenpapiere verlangen, die Abgaswerte und die möglicherweise nicht zugelassenen getönten Scheiben beanstanden. Anjali tat den Gedanken mit einem Achselzucken ab, richtete sich gerade auf und zwang sich, zu den Fakten zurückzukehren, der Arbeit, die vor ihr lag. Groll war sinnlos, um so mehr als jeder mürrische, auf Schikane bedachte Polizist sich letztlich mit einem Schmiergeld von zwei- oder dreihundert Rupien zufriedengeben würde.

Im Krankenhaus spritzte sich Anjali Wasser ins Gesicht und über die Arme. Als sie aus dem Bad kam, lag Onkel K. D.s Kopf in genau derselben Neigung auf dem Kissen wie zuvor. Sein Profil hob sich dunkel gegen das helle Fenster ab, die vertraute, gewölbte hohe Stirn, der fast kahle Schädel, die vorspringende Nase. Seit fünf Wochen hatte er kein Wort mehr gesprochen. Er war ein gefügiger, pflegeleichter Patient, er ging auf und ab, wenn man ihn an der Hand führte, er setzte sich, wenn man ihn sanft in einen Sessel drückte. Doch er aß langsam und nur, wenn man ihn fütterte, und seine Lieblingsspeisen schienen ihn nicht mehr zu erfreuen. Nichts berührte ihn mehr. Er war weit fort. Anjali wußte das, sie erkannte es, wenn sie direkt vor ihm saß und mit ihm redete. Hinter dem langsamen Zwinkern verbarg sich weder Freude noch Traurigkeit. Er war nur fern. Er hatte Haß und Begierde weit hinter sich gelassen und konnte deshalb auch nicht mehr lieben. Dennoch saß Anjali bei ihm, sooft sie konnte. Die Schwestern drehten ihn im Lauf des Tages mehrmals um, sie brachten ihn ins Bad und in den Garten, und Anjali drehte ihn schließlich wieder dem Fenster und dem Sonnenuntergang zu. Schon als Kind hatte sie gemerkt, wie sehr er den Wechsel der Farben liebte. Er hatte die Berge und den Schnee geliebt. Er hatte ihr von Himalaja-Gipfeln erzählt, die sich bei Sonnenaufgang erst strahlend golden und später blau färbten.

Die Ärzte gaben ihm noch zwei Monate, vielleicht drei. Anjali hatte gesehen, wie angestrengt er sich bemüht hatte, zu ihr zurückzukehren, als sie ihm von dem Falschgeld erzählt hatte. Nach dieser kurzen Rückkehr aber hatte sie sich endgültig und ohne Hoffnung damit abgefunden, daß er nicht mehr da war. Hier lag nicht K. D. Yadav. Und trotzdem besuchte sie ihn abends. Sie würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen.

Sie ließ sich in dem Sessel neben dem Bett nieder, blätterte zu der markierten Stelle in ihren Papieren und las die Fotokopie eines Artikels mit dem Titel Eine Geschichte der Kriegerasketen in Indien. Daß Gaitonde drei Sadhus gesucht hatte, war eine Information, die zu nichts geführt hatte, und selbst Anjali glaubte jetzt, daß es sich um eine Fehlinterpretation, einen Scherz, eine Anspielung auf irgend etwas anderes oder gar um eine Lüge handelte. Doch ihre Lektüre über Sadhus hatte sie mitten in eine ihrer Obsessionen hineingeführt. Sie nannte sie ihre »Projekte«, für ihren Ex-Mann Arun waren es Manien gewesen: Irgendeine obskure Sache weckte ihr Interesse, ein dunkles Geschehen, das keine zwanzig Leute auf der Welt beschäftigte, und dann mußte sie alles darüber wissen. Zu ihren Projekten hatten Lebenszyklus und soziale Organisation der roten Ameise ebenso gehört wie die Geschichte der Terrakottaskulpturen auf dem Subkontinent, die Wirtschafts- und Organisationsstruktur der sowjetischen Gulags, die Frühgeschichte der Dampflokomotive und der Eisenbahn allgemein. Einmal hatte sie vier herrliche Monate lang in jeder freien Minute die Feldzüge Julius Cäsars studiert. Nichts von alldem war von praktischem Nutzen für sie. Das Schöne daran, so hatte sie Arun zu erklären versucht, lag im Detail, es machte ihr Spaß herauszufinden, wie eine Sache funktionierte, wie ihre Einzelelemente zusammenpaßten. In der ersten Zeit hatte Arun diese Projekte amüsant, ihre Abseitigkeit reizvoll gefunden. Er hatte Anjalis Neugier und ihr Gedächtnis bewundert. Später aber, nach der Heirat, war er ihres fortwährenden Lesens und Forschens überdrüssig geworden. Bei einem ihrer ersten Kräche hatte er gesagt, er finde sie langweilig. Daß sie verschieden waren, hatten sie immer gewußt, aber anfangs hatte es so ausgesehen, als würden sich seine Geselligkeit und ihre stille Ruhe ausgleichen. Später wandte er sich mehr und mehr seinem stetig wachsenden Freundeskreis zu, er trank gern Scotch und versäumte keine Übertragung eines Formel-eins-Rennens, auch nicht während seiner Probezeit in einem Provinznest in Madhya Pradesh; damals war er per Anhalter in einem Kohlenlaster zum nächsten größeren Fernseher gefahren. Einige Jahre später, wieder während eines Rennens, war er endgültig zu dem Schluß gekommen, daß Anjali langweilig sei. Noch jetzt glaubte sie, er hätte sie vielleicht weniger langweilig gefunden, wenn sie bereit gewesen wäre, ihre Karriere aufzugeben und ihm wie die anderen IAS-Frauen274 auf jeden neuen Posten zu folgen. Aber das alles war lange her, und es war vorbei. Anjali wandte sich wieder ihrem Artikel zu und las über die Sannyasi555-Rebellion556.

Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Es war schwer, Texte zu lesen, ohne mit Onkel K. D. darüber sprechen zu können, ohne Diskussion und Exegese. Sie hatte immer mit ihm zusammen gelesen, selbst wenn er auf der anderen Seite des Erdballs unterwegs war, und plötzlich war da nur noch diese Abwesenheit, diese erhabene Gleichgültigkeit. Sein Schweigen ließ einen Hohlraum in ihr entstehen und drohte jene andere, größere Leere freizulegen, die ihr Vater hinterlassen hatte. Panik stieg in ihr auf, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war schwer, so allein zu sein, es war unmöglich. Sie erhob sich und ging auf und ab, wanderte zwischen Tür und Fenster hin und her, um die Angst zu vertreiben. Sie war nicht allein. Sie hatte Ma, um die sie sich kümmerte, sie hatte viele Freunde, sie hatte gute Kollegen, und was das wichtigste war: Sie hatte ihre Arbeit. Sie wurde gebraucht. Und es gab - vielleicht - einen Mann, einen Soziologieprofessor, etwas jünger als sie, aber sehr liebenswert. Sie konnte noch auf Liebe hoffen oder wenigstens auf Kameradschaft und Mitgefühl, anders als der arme Onkel K. D., der fast wie ein Asket gelebt hatte. Sie hielt inne und straffte sich. Mach dich nicht lächerlich, gebot sie sich selbst. Es brach ihr das Herz, Onkel K. D. zu verlieren, aber ein Teil von ihm blieb, sie verdankte ihm zumindest ihre Ruhe, ihre Disziplin. Und so saß sie bei ihm und drückte sein Handgelenk, hielt sich daran fest und begann wieder zu lesen.

Seit Mary Mascarenas Frisuren machte, wußte sie um die Vergänglichkeit des Glücks. Hin und wieder kam es vor, daß sie bei einer Kundin einen gleißenden Moment der Vollendung erreichte, in dem Ehrgeiz, Physiologie und die jeweilige Mode zusammentrafen und Schönheit hervorbrachten, reine, atemberaubende Schönheit. Diese Momente, wenn das Haar aus Tüchern, Lockenwicklern und Wärme zum Vorschein kam, wenn die Kundin in die Spiegel ringsum sah, waren Momente der Freude, der Ekstase, so real wie Liebe, Mutterschaft oder Patriotismus. Doch die Zeit verging. Die Moden wechselten, die Kundin wurde älter, wurde alt, und das Haar wuchs und wuchs. Es wurde länger, es veränderte Struktur und Lockenfall, es ging aus, es ergraute und wurde dünn. Jedes Glück verging. Früher oder später wurde die einst so glückliche Kundin unruhig und wollte eine andere Frisur. Die Frisuren kamen und gingen, den Pony trug man in einem Jahr lang, im nächsten kurz und vier Jahre später wieder lang. Was in einer Saison Mode war, wollte in der nächsten keiner mehr haben. Blond kam und ging, auf zweckmäßig kurzes Haar folgte feminin langes. Mary war überzeugt, daß sich der allererste Friseur schon am Morgen nach der Erfindung dieses ältesten Berufs der Welt nach einem Stylisten umgesehen hatte. Mary war beliebt bei den Kundinnen im Pali-Hill-Salon, sie hatte daher einen sicheren Job und mit den Provisionen ein recht passables Einkommen, und sie erfuhr viel. Die Kundinnen redeten gern.

In diesem Augenblick redete Comilla Marwah, während Mary mit Yasaka-Schere und Kamm ihr Haar bearbeitete. »Sie können sich gar nicht vorstellen, Mary«, sagte sie, »wie die Frau hinter Rajeev her war. Macht ein Riesendrama, wie unglücklich sie in ihrer Ehe sei - alles im Restaurant Indigo, sie im kleinen Schwarzen. Da hat sich natürlich was angebahnt. Sie ist immer ins Oberoi, hat dem Chauffeur gesagt, sie will shoppen - gehen Sie schon mal essen, Chauffeur-ji, ich brauche hier meine zwei, drei Stunden. Dann ist sie zum Haupteingang rein, durch das Hotel durch und hinten wieder raus, hat sich ein Taxi zu Rajeev genommen, ist dort zum Seiteneingang rein und in seine Wohnung rauf. Eine nette Nachmittagsnummer, und dann mit dem Taxi zurück zum Oberoi, zehn Minuten einkaufen, wegen der Tüten, und ab nach Hause mit einer Miene wie eine Sati Savitri565. Zu Rajeev sagt sie, sie hätte einen furchtbaren Fehler gemacht, sie hätte ihn in London nie verlassen dürfen - der ganze Quatsch. Dann lernt sie Kamal kennen, der ist reich, Typ schwerreicher Industrieller -«

Comilla mußte sich unterbrechen, weil sich eine Stylistin mit ihrer Kundin vorbeischob. Raum war in Bombay so teuer, daß selbst in den besten Salons zu viele Stühle standen, zuviel Betrieb herrschte. Es gab eine Menge Geld in der Stadt, Comilla besaß nicht eben wenig davon, und sie wußte genau, wer wieviel hatte. »Sie lernt also Kamal kennen«, fuhr sie fort, »aber nebenher ist sie auch noch mit Rajeev zusammen, neben ihrem gräßlichen Mann, meine ich. Kamal ist steinreich, er hat Beziehungen noch und noch, er ist gesellschaftlicher Mittelpunkt. Und sie ist eine attraktive Frau, das muß man ihr lassen. Sie will sich also Kamal angeln. Und zwar direkt vor der Nase ihres Mannes, die verkehren ja alle in denselben Kreisen. Sie legt wieder die alte Platte auf - so unglücklich, haay-haay, ich bin ja so traurig und so weiter. Männer können da ja nicht widerstehen. Idiotisch. Und dann ist sie mit Kamal und Rajeev gleichzeitig zusammen, können Sie sich das vorstellen?«

Mary konnte es sich ohne weiteres vorstellen. Sie wußte von Comilla Marwahs eigenen Affären, die allerdings nicht simultan, sondern seriell stattfanden. Sie setzte eine gebührend schockierte Miene auf und fragte mit genau dem angemessenen Maß an Spannung: »Und dann?«

»Was schon? Dieser Kamal verliebt sich unsterblich in sie. Sie hat ja dieses unschuldige Püppchengesicht, Sie wissen schon. Und - sagt Rajeev - sie macht einen Wahnsinns-Blowjob. Kamal verläßt also Frau und drei Kinder und verlobt sich mit dem Miststück. Ihr armer Mann ist natürlich wie vor den Kopf geschlagen, aber stellen Sie sich mal vor, was Rajeev durchmacht. Eben ist er noch ihr Held und Lover, der sie aus ihrer furchtbaren Ehe herausholen will, und im nächsten Moment ist er abgemeldet.«

»Wann ist die Hochzeit?«

»Nächste Woche.«

»Da wird Rajeev wohl Trost brauchen.«

»Ja.« Comilla betrachtete sich mißmutig in dem beschlagenen Spiegel. »Allerdings.«

Mary tätschelte ihr die Schulter. »Sie haben abgenommen. Gehen Sie ins Fitneß-Studio?«

»Ja, fünfmal die Woche.« Doch nicht einmal das Kompliment konnte Comilla von ihrer Selbstprüfung abbringen. »Und wofür das alles? Männer. Dabei sind Männer so dumm. Wollen Sie wissen, was die Moral von der ganzen Geschichte ist?«

»Sagen Sie's mir.«

»Für den Blowjob einer Hure mit dem Gesicht einer Heiligen verläßt ein Mann seine Frau.« Comilla lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und brach in ein so ausgelassenes, schallendes Lachen aus, daß Mary mitlachen, die Schere weglegen und sich auf den Tisch stützen mußte. Bald lachte der ganze Salon, lachte über Comillas unbändiges Gelächter. Ihre Stimmung hatte sich beträchtlich gehoben, und sie gab Mary hundertfünfzig Rupien Trinkgeld. Mary hatte ihr eine schöne Frisur gemacht, die eng an ihrem zarten Kopf anlag und ihren langen Hals freigab. Sie sah phantastisch aus, nur würde sie auch nach hundert Jahren und tausend Haarschnitten nicht aussehen wie eine Heilige. Sie war eine elegante Frau Ende Dreißig, lustig, erfahren, von heiterer Neugier, eine Frau, die sich gut gehalten hatte und jenen Glanz ausstrahlte, den nur Geld hervorbringt. Mary wußte zuviel über sie, wie über viele ihrer Kundinnen, zum Beispiel, daß Comilla vor Jahren, mit Anfang Zwanzig, selbst die Verlassene gewesen war, daß ihr Marvari-Freund ein nettes Marvari-Mädchen geheiratet hatte, das seine Eltern für ihn ausgewählt hatten. Daß sie mit diesem Freund weiterhin Wochenenden in Goa verbracht hatte, auch als er schon zweifacher Familienvater war, daß er ihr viele Male ewige Liebe geschworen und erklärt hatte, ihm liege nichts an seiner dicken, langweiligen Frau. Daß er ihr immer wieder versprochen hatte, seine Frau zu verlassen, im nächsten Sommer, dann im Sommer darauf. Und daß es natürlich nie dazu gekommen war. Comilla hatte es schließlich geschafft, sich von dieser unglückseligen Liebe loszureißen, aber mit Dreißig hatte sie allein dagestanden, eine attraktive berufstätige Frau mit einem gutem Einkommen, aber furchtbar einsam. Es gab viele solcher Frauen in Bombay, zu viele. Einige Jahre hatte sie sich abgestrampelt, dann hatte sie sich mit viel Glück ihren Mann geangelt, einen Witwer, der neunzehn Jahre älter war als sie und seine Finger im Immobilien- und Tourismusgeschäft hatte. Er war ein angenehmer Mensch, den ihr Stil bezaubert hatte. Sie hatten zwei Kinder bekommen, und Comilla hatte ein stabiles, behütetes Zuhause gefunden, aber es gab natürlich auch Dinge, die sie unzufrieden machten. Nach der Geburt der Kinder hatte sie sich Liebhaber genommen. Das alles wußte Mary.

Die Abenddämmerung war die Zeit des Tages, die Mary am liebsten mochte, und nach der Arbeit ging sie oft an der Ufermauer in der Carter Road spazieren. Inmitten von Joggern, Scharen von Teenagern und rüstigen Großeltern in Turnschuhen, die ihren Abendbummel machten, schlenderte sie den Gehweg entlang. Der Himmel hatte an diesem Abend einen grünlichen Farbton mit Schattierungen von diffusem Türkis in der Höhe bis hin zu einem erstaunlichen Unterwasser-Jadegrün am Horizont. Das liebte Mary an dieser Stunde, wenn sich der Tag neigte: diese angenehme Mischung von Farben und Menschen. Darin allein zu sein hieß, in tausend fremden Menschen Gefährten zu finden. Sie hatte natürlich Freunde, und manchmal gingen sie auch zusammen an der Ufermauer spazieren, oft aber war gerade die Einsamkeit und Freiheit das Geschenk, das sie von Bombay wollte. In endlosen Nächten voller Angst und Sehnsucht hatte sie gelernt, allein zu sein, und jetzt schätzte sie ihre Freiheit. Eine gewisse maßvolle Ruhe lag darin, auf sich gestellt zu sein.

Doch es gab Frauen wie Comilla, die sich - trotz all ihrer Vorzüge - eine andere Art von Geborgenheit erkauften, ein Leben voller Lügen, voller Dramatik und halb bewußter, halb ausgesprochener Kompromisse. Wußte Comillas Mann von ihren Affären? Die halbe Welt wußte davon, oder zumindest die Welt, die im Salon ein und aus ging. Es gab genug Frauen, die untereinander oder mit Mary über Comillas Abenteuer redeten. Vielleicht wußte ihr Mann Bescheid. Vielleicht wußte er Bescheid und schaute weg, vielleicht verstand er sie. Mary glaubte selbst, sie ein wenig zu verstehen, aber sie verwechselte dieses Verständnis nicht mit Freundschaft. Comilla erzählte ihr alles mögliche, doch Mary wußte, daß sie es nur deshalb tat, weil eine zeitweilige Intimität entstand, wenn sie im Stuhl zurückgelehnt saß und ihren Kopf Marys Schere überließ, eine begrenzte Nähe, die nicht der Dunkelheit des Beichtstuhls bedurfte. Doch die fünfunddreißig- bis vierzigtausend Rupien, die Mary jeden Monat nach Hause brachte, machten sie noch nicht zu einem Mitglied von Comillas Gesellschaftskreisen, bei weitem nicht, auch wenn es mehr Geld war, als manche Büro-vaalas verdienten. Comilla hätte eher ihren Chauffeur zum Essen gebeten, als daß sie Mary zu einer ihrer Dinnerpartys eingeladen hätte. Mary war eine ausgezeichnete Friseuse, mehr nicht. Und Mary hatte keine Illusionen, keine Träume und Phantasien darüber, was sie war und was sie noch werden konnte. Sie hatte ihren Platz gefunden und ihren Frieden damit gemacht.

Drei zerlumpte Mädchen überholten Mary, patschten mit ihren nackten Füßen über den Asphalt und umringten einen hochgewachsenen blonden Ausländer. Mary ging an ihm vorbei und mußte lächeln, als die Mädchen ihm die Hände hinstreckten, vor seiner Adlernase auf und ab sprangen und ihn auf englisch bestürmten: »Wie geht's? Onkel, Onkel! Bitte, Onkel. Wie geht's? Bitte. Hunger, Hunger, Onkel. Essen, Onkel.« Der Mann wirkte gequält. So weit war er gereist, und nun sah er sich mit der sprichwörtlichen Armut Indiens konfrontiert, sogar auf englisch. Er schüttelte den Kopf, nein, nein, aber er war stehengeblieben, und bestimmt würde er im nächsten Moment in die Tasche greifen. Sofort lief auch noch eine Gruppe Betteljungen auf ihn zu. Gleich würde er sie alle im Schlepptau haben, so lange, bis er in ein Taxi stieg und flüchtete. Dieser wirbelnde Kometenschweif der Bedürftigen, diese kleine Nervenprobe war der Preis für das Privileg seiner weißen Haut und seines Geldes. Die Kinder an der Ufermauer waren hartnäckig und energisch, doch sie wußten längst, daß sie Mary gar nicht erst anzusprechen brauchten. Mary redete mit ihnen, aber sie gab ihnen kein Geld. Sie waren Profis, sie hatten zu arbeiten und keine Zeit für müßiges Geplauder in ihrer abendlichen Hauptgeschäftszeit.

Nach zwanzig Minuten war Mary am Ende der Ufermauer und fast an der Bushaltestelle beim Otter's Club angelangt: Es war Ebbe, und in der hereinbrechenden Nacht hatte sich das Wasser weit zurückgezogen und einen Wust von Fels und Müll freigelegt. Und dort, dem Meer zugewandt, saß Sartaj Singh. Mary bog nach links ab und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, daß er sie nicht gesehen hatte. Er starrte auf den letzten Schimmer am Horizont. Mary ging weiter zur Haltestelle, wo gerade ein Bus ankam. Die letzten Meter rannte sie fast. Erst als sie wohlbehalten im Bus stand, schaute sie noch einmal zurück. Durch das Rückfenster konnte sie Sartaj noch sehen, wie er allein dort saß und die Füße baumeln ließ. Sie setzte sich und hielt ihre kleine graue Handtasche fest auf dem Schoß. Ihr Herz raste, nicht nur weil sie vom Laufen außer Atem war, das wußte sie. Warum hatte sie ein Gespräch mit ihm um jeden Preis vermeiden wollen? Sie hatte nichts Unrechtes getan. Sie war keines Verbrechens schuldig. Aber er war Polizist, und Polizisten brachten Kummer, wie eine Infektion. Besser, man ging ihnen aus dem Weg.

Ihre Erleichterung hielt die ganze Heimfahrt über an, als sei sie der Begegnung mit etwas Dunklem, Aufwühlendem entronnen. Schon ein kurzer Blick auf ihn hatte genügt, um seine tiefe Traurigkeit zu spüren. Er hatte mit einer forschenden, gequälten Spannung in Schultern und Hals auf Meer und Himmel geblickt, als erwartete er von dort eine Antwort. Vor einem solchen Mann flüchtete man besser.

Mary sperrte ihre Tür ab und schob den Riegel vor. Sie machte nur eine einzige Lampe weit unten an der Wand an, die den Raum wie in heimeliges Kerzenlicht tauchte. Vom Abend zuvor war noch Fischcurry übrig, und sie machte sich schnell eine kleine Schale Reis. Zum Essen setzte sie sich aufs Bett und trank dazu Wasser aus einem großen Metallbecher, der auf ihrem Nachttisch stand. Auf Discovery lief eine Tiersendung - sie mochte Tiersendungen, den ewigen Kreislauf von Geburt, Wanderung und Aufzucht der Jungen. Unter dem hohen Himmel Afrikas schien es in Ordnung, wenn Hirsche oder Zebras von Löwen gerissen wurden, ein blutiges, aber notwendiges Element im allumfassenden harmonischen Geschehen. Marys Freundin Jana, die geradezu süchtig war nach den abendlichen Serien über Großfamilien und Ehemänner auf Abwegen, fand diese Vorliebe krankhaft und befremdend und bestand darauf, daß sie umschalteten, wenn sie bei Mary war. Doch das endlose Hin und Her von Sehnsucht und Verrat in den Serien widerte Mary an, es machte sie nervös und wütend. Haie waren wenigstens ehrlich in ihren Begierden und außerdem schön.

Mary wusch ihren Teller und die Töpfe ab und holte dann von hinten aus dem Kühlschrank ihre Schokolade hervor, eine kleine Schachtel Rumkugeln von Rustam's in Colaba, in prächtiger Goldfolie einzeln verpackt. Abends nach dem Essen gönnte sie sich eine davon, und nur sie selbst wußte, wieviel heroische Selbstbeherrschung sie aufbringen mußte, um nicht die ganze Schachtel auf einmal aufzuessen. Sie nahm die Kugel ganz links, ging zum Bett zurück und stellte den Ton lauter. Im Fernsehen schlich gerade ein Leopard durchs Unterholz. Mit den Fingerspitzen zog sie langsam die fein gefältelte, zart knisternde Folie ab. Goldener Kakaoduft stieg auf, und sie sog ihn tief ein und wandte einen Moment den Kopf ab, um ihn dann von neuem zu genießen. Sie knabberte immer erst nur an der Kugel, so daß ihr Gaumen von dem klaren, warmen Geschmack kribbelte. War diese erste Wonne verflogen, biß sie herzhafter zu. Und es war himmlisch. Der dunkle Geschmack des Rums wirbelte um ihre Zunge, und sie bedachte den Leoparden mit einem leisen, befriedigten Zischen.

Dann machte sie sich bettfertig. Da sie niemals Make-up auflegte, war es ein kurzes Ritual: eine schnelle Wäsche mit Neem-Seife, gründliches Zähnebürsten mit Meswak-Zahnpasta. Sie zog einen rosafarbenen, vom jahrelangen Waschen ausgebleichten und weich gewordenen Kaftan an und legte sich auf den Rücken, die Hände an den Seiten. Als Kind hatte Jojo sie wegen dieser Totenstellung aufgezogen. Jojo war selbst noch im Schlaf ein Wirbelwind gewesen und wachte oft mit den Füßen auf dem Kopfkissen auf. Sie trat und schlug um sich, wollte aber bei Mary liegen, und oft beklagte sich Mary beim Frühstück über den entgangenen Schlaf.

Mary stand auf, ging ins Bad und legte sich wieder hin. Sie versuchte tief und gleichmäßig zu atmen, doch ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Du mußt schlafen, flüsterte sie. Morgen ist ein langer Tag. Und, und. Und Jojo hatte die Rumkugeln von Rustam's geliebt, aber sie hatten sie sich höchstens einmal im Monat leisten können. Und heute dann dieser Sartaj Singh, der wie eine Schildkröte auf ihrer Ufermauer gehockt hatte. Das letzte Mal hatte sie in seinem Wagen mit ihm gesprochen und ihm von John und Jojo erzählt. Sie hatte sehr schlecht geschlafen, nachdem er ihr die Nachricht von Jojos Tod überbracht hatte; vier Wochen lang war sie mit taumelndem Herzen wie betäubt herumgelaufen. Dann hatte sich dieses Wissen allmählich gesetzt und war Teil der neuen Welt geworden: Deine Schwester ist tot. So war es, wenn man mit etwas Unmöglichem konfrontiert wurde - dein Mann schläft mit deiner Schwester -, als erstes kam der Ekel, der Verlust jeglicher Orientierung. Die eigenen vier Wände wurden zu Feindesland. Und eines Tages erkannte man, daß man in diesem rauhen Ödland, in diesem fremden, grellen Licht zu Hause war. Man mußte nur genug Geduld und Willenskraft aufbringen, um die ersten Schrecken zu überstehen.

Mary setzte sich auf, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und schaltete den Fernseher wieder an. Sie fand einen Dokumentarfilm über Raumstationen, stellte den Ton leise und betrachtete die spinnenartigen weißen Gebilde vor dem Hintergrund der Sterne. Sie waren von Menschenhand geschaffen, aber sie wirkten beruhigend. Jojo war.die Gläubige von ihnen beiden gewesen, als Elfjährige hatte sie stets mit einem Kreuz unter dem Kissen geschlafen, und in der Kirche hatte sie mit strahlenden Augen zum Altar aufgeblickt. Später hatte sie ihre Liebe auf den Ruhm gerichtet, hatte diesen Gral mit demselben tiefen Glauben gesucht. Mary kam dem erhabenen Gefühl, von dem Jojo ihr erzählt hatte, am nächsten, wenn sie ein Gnu durch ein Tal streifen sah oder Weltraumaufnahmen der Jupiterringe betrachtete. Seit drei Jahren und fünf Monaten sparte sie auf einen Safari-Urlaub in Afrika.

»Du könntest schon morgen nach Afrika, Chutiya, wenn du einfordern würdest, was dir zusteht«, hatte Jana gesagt, glühend vor Gier nach Jojos Eigentumswohnung, die sie nie gesehen hatte. »Wir reden hier von einer Wohnung in der Yari Road und nicht von einem stinkenden Kholi.«

»Sie gehört mir nicht.«

»Dann gehört sie wohl mir, oder was? Vielen Dank.« Und auf englisch und mit einer Verbeugung wiederholte sie: »Vielen Dank.«

»Du kannst sie haben.«

»Als ob die sie mir geben würden. Hör zu, das sind die Fakten: Sie war deine Schwester. Sie ist tot. Es gibt keine anderen nahen Verwandten. Also fällt alles an dich. Die Wohnung, das Bankguthaben, alles.«

Jana hatte ein Gaali198 für jede Gelegenheit und jeden zweiten Satz, und sie war eine ausgezeichnete Maniküre, eine Expertin für schicke Fingernägel. Marys Skrupel betrachtete sie mit geringschätziger Verblüffung. »Hör zu, deine Schwester war eine Randi. Okay, daher stammt das Geld zum Teil. Aber sie hat auch Fernsehsendungen gemacht, oder nicht? Also nimm das Geld und denk dir, es kommt vom Fernsehen. Was macht das schon? Schließlich hat sie dir deinen Mann weggenommen, oder nicht?«

Das war Gerechtigkeit in Janas Augen - gutes Geld gegen einen Ehemann. So wäre es fair gewesen. Mary konnte ihr einfach nicht begreiflich machen, daß sie genau das nicht wollte: sich bezahlen lassen. Sie wollte Jojos schmutziges Geld nicht, Geld, das aus schmierigen Abenteuern schmieriger Männer in schmierigen Hotelbetten stammte, sie wollte kein Geld als Entschädigung für einen Ehemann, für Glück, für eine Kindheit. Mary hatte zwar nie aus tiefster Seele an Gott geglaubt, aber sie war einmal ganz selbstverständlich davon überzeugt gewesen, daß das Leben auf Erden gut sei, daß sie eine lange, freundliche Zukunft mit Mann, Kindern und Enkeln vor sich habe, leicht getrübt nur durch aufgeschürfte Knie und Fiebernächte, aber immer voller Liebe. Daran hatte sie geglaubt. Obwohl ihr Vater so früh gestorben war, hatte sie geglaubt, daß sie die Erfüllung finden würde, die ihrer Mutter versagt geblieben war. Jojo hatte sie für immer aus diesem Paradies der Unschuld vertrieben.

Sie schaltete die Raumschiffe ab und legte sich wieder zurück. Sie atmete ein und langsam wieder aus, versuchte einen leichten, gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Doch in dieser Nacht suchte Jojo sie heim und hielt sie wach, wie sie es früher, wenn sie im Schlaf um sich geschlagen und getreten hatte, nie getan hatte. Nicht einmal nach ihrem Tod, in jener ersten Woche des Schocks, hatte Mary so lange wach gelegen. In letzter Zeit hatte sie manchmal tagelang nicht mehr an Jojo gedacht und schon geglaubt, sie sei endlich frei von ihr. Aber da war noch die ungeklärte Frage der Wohnung und des Geldes, und Unerledigtes mochte Mary nicht. Sie war immer die Verantwortungsbewußtere der beiden Schwestern gewesen. Deshalb wäre sie auch eine so gute Mutter geworden. Wieder spürte sie diesen stechenden Ärger in der Brust. Vergiß es. Laß es los. Atme, atme. Laß los.

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, wachte Mary mit müdem Kopf auf, spürte die große Erschöpfung, als sie die Füße auf den Boden setzte. Vier oder fünf Stunden Schlaf waren nicht annähernd genug - normalerweise schlief sie neun Stunden aber der Tag fing nun einmal an, und sie mußte zur Arbeit. Und sie ging zur Arbeit. Jana merkte es sofort. In einer Pause zwischen zwei Kundinnen flüsterte sie ihr zu: »Also hast du jetzt endlich einen Freund, du verschlafener Jaan?«

Mary schüttelte den Kopf, aber Jana grinste und bewegte das Becken vor und zurück. Mary schaute schnell weg und trat auf die andere Seite ihrer Kundin, um Jana nicht zu weiteren Schandtaten zu provozieren. Es grenzte an ein Wunder, daß sie nicht längst gefeuert worden war. In der Mittagspause, als sie draußen vor dem Salon den Inhalt ihrer Tiffins verzehrten, versuchte Mary ihr klarzumachen, daß sie nur eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, aber Jana glaubte ihr nicht.

»Du schläfst doch wie ein Stein, du würdest nicht mal aufwachen, wenn das Nachbarhaus abgerissen würde. Andere kannst du zum Narren halten, mich nicht. Da ist doch was im Busch.«

So war es auch, aber Mary konnte Jana nichts von Jojos ärgerlicher nächtlicher Wiederkehr erzählen. Sie kannte Janas Standpunkt zu diesem Thema nur zu gut und wollte ihn nicht noch einmal hören. »Ich hab einfach schlecht geschlafen, Jana«, sagte sie, »weiter nichts. Wie geht's Naresh und Suresh?« Naresh war Janas zweijähriger Sohn, und Suresh war ihr Mann, den sie gegen den Widerstand ihrer Eltern und Schwiegereltern geheiratet hatte. Sie nannte Vater und Sohn »meine Bachchas« und erzählte gern lange Geschichten, die von ihrer liebevollen Geduld, ihrer weiblichen Klugheit und mütterlichen Strenge zeugten. Suresh war fünf Jahre jünger als sie, aber von einer Nachsicht und Gelassenheit gegenüber ihrem Temperament, die Mary schon immer wahrhaft heroisch gefunden hatte. Die beiden ergänzten sich gut, der eine ruhig, die andere laut.

»Versuch nicht, dich aus der Affäre zu ziehen«, sagte Jana, zeigte mit dem Finger auf Mary und schnippte ihr dabei versehentlich ein Stück Mango-Pickle auf den Rock. »Erzähl.«

»Da gibt's nichts zu erzählen, du dumme Gans.« Mary wehrte Janas Versuch, das Öl wegzuwischen, ab. »Überhaupt nichts. Ich schwör's.«

Doch dieses Nichts hielt Mary die ganze Woche über wach, so daß sie jeden Morgen noch unausgeschlafener aufwachte. Am Freitag sagte sie einen Frauenabend mit Kino und Essen ab, ging nach Hause und nahm ein Schlafmittel. Erst stellte sich ein angenehm schweres Gefühl in den Armen ein, und sie kuschelte den Kopf ins Kissen und freute sich auf den Schlaf wie auf ein Stück Schokolade. Doch dann brach ihr der Schweiß in den Achselhöhlen aus, und sie mußte sich aufrichten und den Ventilator auf die höchste Stufe stellen. Sie lag im Luftstrom, und die Zeit verging. Sie versuchte an schöne Dinge zu denken, an Matheran im Regen, an Kaho Na Pyaar503 Hai und den Song auf der Yacht, an zufriedene Kundinnen. Sie schaute auf die Uhr. Eine Stunde war vergangen. Sie tastete nach den Tabletten auf dem Tisch und schob sich noch ein Calmpose in den Mund. Das mußte wirken - sie nahm sonst nie Tabletten. Wieder wartete sie. Eine Auto-Rikscha tuckerte die Hauptstraße entlang und bog mit knirschendem Getriebe in die Gasse ein. Ein schrecklicher Lärm. Sie hielt ganz in der Nähe, der Taxameter ratterte, dann sprang der Motor wieder an. Mary hatte all diese nächtlichen Geräusche nie zuvor bemerkt. Sie drehte sich auf die Seite und legte sich ein Kissen über den Kopf. In ihrem Bauch sammelte sich die Wut wie ein schwerer Klumpen. Hör auf, sonst steigt dein Blutdruck. Entspann dich, entspann dich. Aber sie war nun einmal da, diese aufgestaute Wut.

Mary stand die Nacht durch. Beim ersten Tagesgrauen erhob sie sich, in kalten Schweiß gebadet, und duschte, aber in ihrem Kopf blieb ein blechernes Summen zurück, das auch Tee und Toast nicht vertreiben konnten. Sie wartete bis halb zehn, dann wählte sie die Nummer, die Sartaj Singh ihr vor Monaten gegeben hatte.

»Der ist nicht da«, wurde sie barsch beschieden.

»Hat seine Schicht noch nicht angefangen?«

»Die fängt um acht an. Ich sagte doch, er ist nicht da.«

Um zehn war Singh noch immer nicht da und um elf auch nicht. »Are, der ist irgendwo unterwegs«, sagte eine andere Stimme mit genau dem gleichen aggressiven und gelangweilten Unterton. Sie mußte ganz langsam ihren Namen buchstabieren, aber wahrscheinlich landete der Zettel sofort im Papierkorb.

Natürlich kam kein Rückruf, nicht bis zwölf und auch nicht bis eins. Wie löste die Polizei in diesem Land je irgendwelche Fälle? dachte sie zunehmend erbittert. Sie fühlte sich jetzt frischer, neu belebt. Sie rief Jana an und traf sich mit ihr am Bahnhof Santa Cruz zum Einkaufen. Jana erstand Shorts mit aufgestickten blauen Ankern und drei T-Shirts für ihren Sohn und für sich selbst ein Paar Slipper. Sie feilschte mit den Thelavaalas, was das Zeug hielt, und handelte die Preise Rupie um Rupie herunter. Mary war zerstreut, sie hakte sich bei Jana ein, und sie schoben sich weiter durch die Menge. Jana warf ihr den altbekannten wissenden Seitenblick zu. »Weißt du, was du brauchst?« fragte sie.

»Fang bloß nicht wieder damit an, daß ich einen Freund brauche, Jana.«

»Wieso, Yaar, du glaubst wohl, ich hab nichts anderes im Kopf als Jungs. Ich wollte sagen, du brauchst mal eine Auszeit, du mußt mal raus aus der Stadt. Als du noch deine Mummy besucht hast, bist du immer so frisch und ausgeruht zurückgekommen. Der Ragda510 macht einen fertig, wenn man zu lange hier ist.«

Mary umklammerte Janas Arm und nickte. Der Ragda rührte von den Straßen her, den Geschäften, dem Lärm, der schlechten Luft. Mit einer Freundin shoppen zu gehen wurde zur Strapaze: Man mußte sich durch dahinhastende Menschenmassen schlängeln, man mußte ständig Autos ausweichen, die von allen Seiten auf einen zurasten, und mit jedem Atemzug nahm man eine Dosis Gift auf. Doch es gab keine Mummy mehr, keine Farm, zu der Mary hätte fahren können. Sie hatte - trotz allem - gewußt, daß es kein Entrinnen gab aus diesem Labyrinth von Hütten und Häusern, diesem Straßengewirr. Sie konnte nicht mehr zurück, nicht, um dort zu leben. Nach Mummys Tod hatte sie das Haus mitsamt dem Inventar und die Farm mit allen Maschinen und Geräten verkauft. Von dem Geld hatte sie die Einzimmerwohnung in der Stadt erworben, den Rest hatte sie auf der Bank deponiert. Im Testament war sie als Alleinerbin eingesetzt, die andere Tochter war ausdrücklich von der Familie und dem Erbe ausgeschlossen worden. »Und wohin?« fragte Mary. »Möchtest du nach Matherab? Oder nach Ooty?«

»Ooty wäre schön,« sagte Jana sehnsüchtig. »Die blauen Berge ...«

»Also«, sagte Mary, »laß uns hinfahren.«

Doch schon im nächsten Augenblick mußte Jana einen Rückzieher machen. »Nein, Yaar. Wie soll das gehen?« Jana hatte viele Wünsche, für deren Erfüllung sie sparen mußte, das wußten beide, und es bedurfte keiner weiteren Debatte. Aber es war schön, an die blauen Berge zu denken.

Während sie mit der Autorikscha nach Hause fuhr, war Mary in Gedanken noch immer dort. Auch auf Mummys Farm hatte es Hügel gegeben, nicht so hoch wie die blauen Berge, aber immerhin. Und weiter im Westen, auf Alwyn Rodriguez' Farm, hatte es einen Wasserfall gegeben. Es war kaum mehr als ein Bach, der über schwarze Felsen herabfiel, aber er bildete einen sonnenglitzernden Bogen, und sie und Jojo hatten als kleine Mädchen darunter getanzt. Auch später noch, als frischgebackene Klosterschülerinnen, hatten sie am Ufer gesessen und zugeschaut, wie das Wasser über den Fels, der sich so glatt und rund an ihre Fußsohlen schmiegte, in die Tiefe rauschte. Damals hatten sie das Dorf schrecklich gefunden, eng und erdrückend mit Alwyn Rodriguez' ewigen Fehden und den mörderischen, endlosen Nachmittagen, an denen All-India-Radio nicht empfangen werden konnte und es absolut nichts zu tun gab. Mary zog sich ihren Chunni enger um den Kopf, um sich vor Wind und Abgasen zu schützen, und drückte sich auf dem Sitz in die Ecke.

Die Autorikscha bog um die letzte Kurve. Auf den Stufen zu Marys Haustür saß Sartaj Singh, ein wenig vorgebeugt, wie damals auf der Ufermauer. Mary stieg aus und zahlte. Ihre Hände zitterten, ein Zehn-Rupien-Schein fiel zu Boden, und sie mußte sich bücken, um ihn aufzuheben. Sie war wütend. Sie hatte doch nur bei ihm angerufen - wie konnte er es wagen, einfach hier aufzukreuzen? Diese Leute glaubten, sie könnten sich alles erlauben, nur weil sie Polizisten waren. Sie nahm das Wechselgeld und drehte sich um, entschlossen, ihm mit scharfen Worten klarzumachen, daß sie schließlich sein Gehalt zahle und ihre Rechte sehr wohl kenne. Er war aufgestanden. Er wirkte gealtert; im schrägen Licht der Lampe sah Mary weiße Strähnen in seinem Bart. Er war ein gutaussehender Mann gewesen, doch jetzt schien es, als wäre ringsum ein wenig von ihm abgebröckelt. Früher hatte er nur so gestrotzt vor Energie und Selbstbewußtsein, jetzt hatte sich alle Schärfe in einer milden Erschöpfung aufgelöst. Er trug Zivil. Seine blaue Hose hatte keine Spur einer Bügelfalte mehr, und er hatte zugenommen.

»Hallo, Miss Mary«, sagte er.

»Wie lange sind Sie schon hier?« Mary zeigte mit dem Kinn auf die Stufe.

»Eine Stunde.« Auch seine Stimme klang anders. Der ganze Mann wirkte irgendwie verschwommen.

»Die Nachbarn«, sagte Mary schroff. »Sie hätten doch anrufen können.«

»Hab ich auch, aber Sie waren nicht da.«

»Trotzdem.«

»Ja. Tut mir leid. Aber ich dachte, es ist vielleicht dringend. Wegen Ihrer Schwester. Sony.«

Er wirkte zu unsicher, als daß sie mit ihm hätte streiten können. Sie schüttelte den Kopf. »Kommen Sie.« In ihrer Wohnung blieb er an der Tür stehen, bis sie auf einen Stuhl zeigte. Sie hatte zwar keine Angst mehr vor ihm, vor seiner Autorität oder seinen Absichten, ließ die Tür aber angelehnt. Er nahm Platz. Seine ungenierte Polizistenneugier hatte er offensichtlich nicht eingebüßt, denn er musterte das Zimmer systematisch, von links nach rechts, dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. »Wasser?« fragte sie.

»Gern.«

»Kaltes?«

»Ja.«

Sie ging zum Kühlschrank, goß Wasser in ein Glas und brachte es ihm. Er betrachtete sie genauso ungeniert wie ihre Wohnung, und sie spürte, daß er, obwohl er verändert war, obwohl er müde und irgendwie angeschlagen wirkte, durch und durch Polizist war. Als sie sich vorbeugte, um ihm das Glas zu reichen, nahm sie einen Moment lang sauren Schweißgeruch wahr, den Geruch von Zügen, Menschenmassen und Hitze.

»Danke«, sagte er auf Englisch und setzte das Glas an den Mund. Er trank es ganz aus und blickte dann mit abwesender Miene hinein. »Ich hatte solchen Durst.«

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Mary. Ihre Stimme klang höher als beabsichtigt, schrill geradezu. Sie war es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten.

»Ja. Worum geht es?«

»Die Sachen von meiner Schwester - Sie haben gesagt, Sie würden mir helfen.«

»Sie wollen sie in Besitz nehmen?«

»Ja.«

»Es gibt keine anderen nahen Verwandten?«

»Nein.«

»Dann dürfte es nicht weiter schwierig sein. Sie müssen dem Gericht beweisen, daß Sie wirklich die Schwester sind, aber auch das dürfte kein Problem sein, auch wenn Sie keinen Kontakt mehr hatten. Wir geben Ihnen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Polizei, eine Bestätigung, daß unser Fall davon unberührt bleibt. Ich werde Parulkar-saab, meinen Oberboß, bitten, die Sache zu beschleunigen. Bas, das genügt. Es geht den Rechtsweg, deswegen kann es eine Weile dauern. Für die Papiere werden Sie einen Anwalt brauchen.«

»Ich kenne eine Anwältin.«

»Von Ihrer Scheidung her?«

»Ja.«

»In Bombay sagt man ja, daß man einen Politiker, einen Rechtsanwalt und einen Polizisten in seinem Freundeskreis haben sollte.«

»Die Anwältin ist meine Freundin geworden, Politiker oder Polizisten kenne ich keine.«

»Sie kennen doch mich.«

Er lächelte. Mary wußte, daß sie jetzt hätte protestieren und ihm sagen müssen, daß er nicht ihr Freund sei, worauf er erklären würde, daß er das sehr wohl sei. Aber sie sagte nur: »Ich werde meine Anwältin bitten, sich um die Papiere zu kümmern. Wann kann ich diese Bescheinigung bei Ihnen abholen?«

Sein Lächeln verschwand. »Sie brauchen nicht eigens zu kommen«, sagte er. »Ich bringe sie Ihnen vorbei. Kein Problem.«

»Das macht mir aber nichts aus.«

»Da müßten Sie doch den weiten Weg zum Revier machen. Das ist nicht nötig.«

Eine Polizeistation ist kein Ort für eine Frau, meinte er damit. »Hören Sie«, sagte Mary, »ich kenne mich in dieser Stadt aus. Ich kann ohne weiteres auf Ihr Revier kommen. Sagen Sie mir nur, wann.«

»Okay.« Er schwieg einen Moment. »Und ... Und gibt es noch etwas über Ihre Schwester?« fragte er dann ernst.

»Ich habe Ihnen alles gesagt.«

»Ja. Trotzdem. Vielleicht ist Ihnen in all den Monaten ja noch etwas eingefallen.«

»Nein, nichts.«

»Irgendeine Kleinigkeit. Etwas, das Ihnen unwichtig erscheinen mag, uns aber weiterhelfen könnte. Bitte denken Sie noch mal nach.«

Sie hatte die ganzen langen Wochen, die ganzen Monate nachgedacht. Wie geringfügig konnte so eine Kleinigkeit sein? Wie konnte Jojos unerklärliche Liebe zu dem dicken Rishi Kapoor534 und seiner dennoch leichtfüßigen Tanzerei ihm weiterhelfen? Es gab alles und nichts zu erzählen. »Wenn ich etwas wüßte, würde ich's Ihnen sagen. Ich weiß ja nicht mal, was Sie wissen wollen.«

Er nickte und schien einen Entschluß zu fassen. »Das ist gerade das Problem: Wir wissen selbst nicht genau, wonach wir suchen. Wir ermitteln nach wie vor, was Ganesh Gaitondes Tod betrifft. Wir wissen noch immer kaum etwas darüber, weshalb er nach Indien zurückgekommen ist, weshalb er sich umgebracht hat. Deshalb brauchen wir jede Information, die irgendwie mit ihm zusammenhängt. Wir wissen, daß Ihre Schwester ihm nahegestanden hat. Wir wissen, daß sie ihm Mädchen geschickt hat. Viele Mädchen, über einen langen Zeitraum, nach Bangkok, nach Singapur und so weiter. Wenn wir also mehr über Ihre Schwester wüßten - wo sie sich überall aufgehalten hat, mit wem sie Kontakt hatte könnte uns das auch Informationen über Gaitonde liefern. Deswegen frage ich immer wieder.«

»Ja«, sagte Mary. »Okay.«

Er stemmte sich hoch, und sie sah, daß es ihm Mühe machte. »Okay«, sagte er. »Ich rufe Sie an.« Er nickte.

Mary wurde plötzlich bewußt, wie schroff sie gewesen war. »Danke«, brachte sie hervor. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache.« Er schloß leise die Tür, und Mary hörte ihn die Treppe hinuntergehen.

Keine Ursache - don't mention. Als Mary Englisch lernte, hatte sie jahrelang »mention not« gesagt, bis Jojo sie verbessert hatte. Jojo hatte die Sprache sehr schnell gelernt, sie hatte flüssiger, selbstverständlicher und korrekter Englisch gesprochen, und sie hatte die richtigen Fehler gemacht. Sartaj Singhs Englisch war ehrgeizig, aber er stolperte hin und wieder darüber. Wahrscheinlich hielt er es für besser, als es tatsächlich war. Soviel Arroganz besaß er noch.

Mary tat diese Gedanken mit einem Achselzucken ab. Sie ging unter die Dusche und ließ lange Zeit das Wasser auf ihren Rücken prasseln. Sie liebte kaltes Wasser, liebte den Schauder, selbst im Winter. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, hatte sie zu dem staunenden John gesagt. Wir hatten kein fließendes warmes Wasser wie ihr in der Stadt. Wenn man welches wollte, mußte man es heranschleppen.

Die Erinnerungen kamen wieder, doch sie belasteten Mary nicht, nicht an diesem Abend. Sie lag im Bett und ließ sie fließen. Nachdem sie mit Sartaj Singh gesprochen hatte, fühlte sie sich erleichtert. Was immer sie Jojo noch schuldete - sie würde es tun. Jawohl. Sie mußte an eine Sendung über afrikanische Elefanten denken, die sie einmal gesehen hatte, und mit dem Bild junger Elefanten, die hinter ihren Müttern hertaumelten, schlief sie ein.