Eine Frau in Not

Am Dienstagmorgen warteten fünf Nachrichten von einer gewissen Mrs. Kamala Pandey auf Sartaj. Er schloß die Augen und versuchte sich durch die glatte weiße Fläche seiner Kopfschmerzen hindurch zu erinnern, wer Kamala Pandey war. Es war ein Whisky-Kopfschmerz, stetig und hartnäckig. Die Morgengeräusche des Reviers malträtierten seinen Schädel: die debattierenden Polizisten draußen im Flur, auf Beton platschendes Wasser, das gleichmäßige Schaben eines Besens, das durchdringende Geschrei der Krähen, das gequälte Stöhnen eines Häftlings, der nach dem Verhör humpelnd in die Zelle zurückgeführt wurde. Am liebsten wäre Sartaj wieder nach Hause gefahren und hätte sich schlafen gelegt. Aber der Tag fing gerade erst an.

»Hat diese Kamala Pandey gesagt, was sie will?« fragte er Kamble.

Kamble kramte ungeduldig in seinen Schreibtischschubladen. Er hatte bereits mit seinem Kontaktmann beim Sondereinsatzkommando über eine freie Stelle dort gesprochen und benahm sich, als sei er bereits weit über das tägliche Einerlei, das übliche Chaos eines Vorstadtreviers erhaben. »Nein. Ich hab sie gefragt, aber sie hat gesagt, es sei privat. Sie hat auch nur eine Handynummer hinterlassen.« Er schaute grinsend auf. Für ein anzügliches Grinsen hatte Kamble immer Zeit. »Klang nach einer ganz heißen Braut, Boß. Tadelloser Klosterschulakzent. Ihre Freundin, oder was?«

»Nein, aber der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Kamble knallte die Schubladen zu. »Jedenfalls gibt's da Ärger, Boß«, sagte er und begann die Regale hinter seinem Schreibtisch abzusuchen. »Wenn eine Frau fünfmal am Tag anruft, ist sie entweder in einen verliebt, oder sie steckt in irgendeinem Schlamassel. Ich hab sie gefragt, ob ich ihr helfen kann, aber das wollte sie nicht. Nein, es muß Inspektor Sartaj Singh sein.« Er wandte sich um, in der Hand die Akte, die er gesucht hatte. »Dieses maderchod Revier ist die reinste bhenchod Müllhalde«, sagte er mit einem breiten, vergnügten Lächeln.

»Sie verlassen uns bald?« fragte Sartaj.

»Allerdings. Bald, bald.«

»Woran hängt's noch?«

»Der Preis ist gestiegen. Mir fehlt noch was. Nicht viel, aber genug.«

»Na, Sie werden sicher alles tun, um das reinzuholen.«

Kamble schüttelte die Akte zu Sartaj hin. »Ein bißchen was hier, ein bißchen was da. Ich muß zum Gericht.« Er schob die Akte in eine braune Kunstledermappe. »Gehen Sie heute abend mit mir aus, Boß? Ich mach Sie mit ein paar netten Mädchen bekannt.«

»Ich bin verabredet. Sie müssen allein gehen.« Kamble verbrachte seine Abende mit Barmädchen in wechselnder Besetzung. Es gab immer eine, die allmählich zu alt wurde, eine in den besten Jahren und eine, der er half, in dem Geschäft Fuß zu fassen. »Viel Spaß. Und seien Sie vorsichtig«, sagte Sartaj. Aber er wußte, daß Kamble kein bißchen vorsichtig sein würde. Er strotzte nur so vor Selbstbewußtsein und Draufgängertum. Die Methoden, mit denen er das Geld zusammenbekam, um in das Sondereinsatzkommando aufgenommen zu werden, gefielen ihm, und er freute sich schon auf jede Menge Action und Geld wie Heu. Er war jung, er fühlte sich stark, er hatte einen Revolver im Gürtel, und er war überzeugt, daß er das Leben seinem Willen unterwerfen konnte.

»Dann müssen Sie sich heute um sich selbst kümmern, Sardar-ji.« Kamble wirkte gesund und rosig in seinem Twillhemd und den neuen schwarzen Jeans. »Rufen Sie mich auf dem Handy an, wenn Sie sich's anders überlegen. Oder wenn Sie bei irgendwas Hilfe brauchen.« Und er stolzierte mit der Mappe unterm Arm davon.

Sartaj sank auf seinen Stuhl. Kambles Überheblichkeit störte ihn nicht weiter. Er gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, daß er verbraucht war, daß er den Zenit seiner Karriere erreicht hatte und es nicht viel weiter bringen würde als sein Vater. Er wußte, daß er in keinem Film der Held sein würde, nicht einmal im Film seines eigenen Lebens. Dabei war er einmal ein vielversprechender junger Aufsteiger gewesen. Daß er der einzige Sikh in einer Dienststelle voller Marathen war, hatte ihm Vorteile gebracht, war aber auch eine Belastung gewesen und hatte in jedem Fall Distanz geschaffen. Er fiel auf, er war weithin bekannt, Journalisten hatten gern über den gutaussehenden Inspektor berichtet. Doch mit den Jahren war der Glanz verblaßt, und er war nur noch einer unter vielen, die bei der Polizei ihre Zeit absaßen. Er hatte seine Tröstungen, und er trottete so durch den Tag. Vielleicht ließ ihn allmählich sogar sein Gedächtnis im Stich. So lagen die Dinge. Das war die Wahrheit, die Kamble zweifellos sah, während er sich weiter aufwärtsschwang. Das Sondereinsatzkommando war in letzter Zeit sehr erfolgreich gewesen. Die Männer hatten in den vergangenen drei Monaten nicht nur irgendwelche kleinen Taporis getötet, sondern vor allem auch Suleiman Isas Leute, Schlag auf Schlag. Einer nach dem anderen war ihren Kugeln zum Opfer gefallen, und wenn es sich um wichtige Killer oder namhafte Spitzenleute handelte, hatten die Zeitungen ihre Lebensgeschichte abgedruckt. Suleiman Isa, so hatte der Regierungschef erst letzte Woche stolz verkündet, befinde sich auf dem Rückzug. Kamble würde es bestimmt in das Sondereinsatzkommando schaffen, und er würde begeistert sein.

Sartajs Leben dehnte sich indes unentrinnbar vor ihm aus: die tägliche Plackerei, dieses chaotische Revier, wo sollte er auch sonst hin? Aber es gab zu tun. Auf seinem Ermittlungsplan standen drei Einbrüche, zwei vermißte Teenager, ein Fall von Unterschlagung und Betrug und ein Familienmord. Das übliche Elend. Und jetzt diese Anrufe von Mrs. Kamala Pandey. Wer war die Frau?

Er wählte die Nummer, und sie meldete sich sofort. Sie schien verängstigt. »Hallo?« sagte sie. »Hallo?«

»Mrs. Pandey?«

»Ja, wer ist da?«

»Inspektor Sartaj ...«

»Ah ja. Ich muß Sie sehen.«

»Was gibt es?«

»Hören Sie ... bitte ...« Sie unterbrach sich. »Ich muß Sie unbedingt sehen.«

Sie war es offenbar gewohnt, ihren Willen zu bekommen. Sartaj erinnerte sich jetzt wieder an sie. Ihr Mann hatte einen jungen Hund aus dem Fenster geworfen. Sartaj erinnerte sich auch an den Hund, ein armes kleines weißes Bündel auf dem Asphalt, mit aufgeplatztem Schädel. Mr. Pandey hatte Mrs. Pandey der Untreue verdächtigt und deshalb ihren Hund umgebracht. Mrs. Pandey hatte ihren Mann nicht anzeigen wollen, er wiederum hatte ihre Stock-und Messerattacken gegen ihn auf sich beruhen lassen. Sartaj hatte beide nicht gemocht, und Katekar hatte sie noch weniger gemocht. Katekar hätte sie am liebsten für ein, zwei Tage wegen Ruhestörung eingesperrt. Oder sie zumindest ein bißchen herumgeschubst, ihnen ein bißchen angst gemacht, diese verwöhnten reichen Säcke gelehrt, Ruhe zu halten. Einer von beiden muß irgendwann dran glauben, hatte er gesagt. Vielleicht hatte Mrs. Kamala Pandey deswegen angerufen, vielleicht lag der Mann bereits tot in einem Schlafzimmerschrank. Das hatte es alles schon gegeben. »Weswegen, Mrs. Pandey?« fragte Sartaj. »Was ist los?«

»Nicht am Telefon.«

»Gibt es ein Problem?«

Sie zögerte. »Ja«, sagte sie dann. »Ich kann nicht aufs Revier kommen.«

»Na gut. Kennen Sie das Restaurant Sindur?«

Auf dem Weg vom Revier zur Unterführung wurde Sartaj von Parulkar angehalten, der ihm in einem nagelneuen Dienstwagen mit Eskorte entgegenkam. Sartaj wendete und folgte ihm. An der nächsten freien Stelle am Straßenrand hielt der Konvoi. Parulkars Leibwächter sprangen von ihren Jeeps, postierten sich ringsum und hielten ihre furchteinflößenden Maschinengewehre im Anschlag. In den letzten zwei, drei Monaten, seit einer weiteren von Parulkars erstaunlichen Überlebenskampagnen, waren es immer mehr geworden. Der Streit mit der Rakshak-Regierung - worum er sich auch gedreht haben mochte - war beigelegt. Mit einemmal war Parulkar die graue Eminenz, mit der sich der Regierungschef und der Innenminister jeden zweiten Tag berieten. Die Feinde waren zu Verbündeten geworden, und beide Seiten profitierten. Das organisierte Verbrechen ging zurück, Bhais, Manager und Killer wurden in so rascher Folge erschossen, daß bald keine mehr zum Erschießen übrig sein würden, zumindest bis die nächste Generation auf den Plan trat. Parulkars Welt war wieder in Ordnung. Er hatte sein Ziel erreicht und wieder einmal alle in Erstaunen versetzt. Gerüchten zufolge hatte er zwanzig Crores allein an den Regierungschef und noch viel mehr an diverse andere Staatsdiener gezahlt.

»Komm, komm«, rief er. »Schnell!«

Sartaj glitt neben ihm auf den Sitz. Ein neuer, sehr zarter Duft hing in dem Wagen.

»Angenehm, nicht wahr?« sagte Parulkar. »Nennt sich Nektarfrische. Kommt von da, siehst du?«

Ein Aluminiumröhrchen mit Lamellen an einem der Lüftungsschlitze im Armaturenbrett blinkte rot, was vermutlich bedeutete, daß es in diesem Moment Nektarfrische verströmte. »Aus Amerika, Sir?« fragte Sartaj.

»Ja. Geht's dir gut, Sartaj?«

Parulkar war gerade von einem zweiwöchigen Aufenthalt in Buffalo zurück, wo seine Tochter als Wissenschaftlerin an einer Universität arbeitete. Er wirkte ausgeruht und zufrieden, fast wie der Parulkar von einst. »Sie sehen gesund aus, Sir«, sagte Sartaj.

»Das kommt von der sauberen Luft in Buffalo. Ein Morgenspaziergang dort wirkt ungeheuer belebend, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

»Nein, kann ich wirklich nicht.«

»Ich hab dir auch was mitgebracht, Sartaj, einen tragbaren DVD-Player. So klein« - er beschrieb mit Daumen und Zeigefingern ein Quadrat - »und ein absolut scharfes Bild. Den kann man überallhin mitnehmen. Ideal für einen Polizisten.«

»Das ist ja wunderbar, Sir. Aber das wäre doch nicht nötig -«

»Are, erzähl mir nichts von wegen nötig oder nicht nötig. Ich weiß, was du nötig hast. Komm zu mir nach Hause, morgen oder übermorgen, dann reden wir. Und du kannst auch gleich den Player mitnehmen.«

»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.«

Parulkar klopfte Sartaj auf die Schulter und entließ ihn. Sartaj dachte an den DVD-Player und machte sich Sorgen. Jetzt würde er sich DVDs kaufen oder wenigstens ausleihen müssen, denn Parulkar würde ihn garantiert danach fragen. Aber vielleicht war das ganz gut so. Parulkar wußte tatsächlich besser, was er brauchte, als er selbst. Ein bißchen Unterhaltung war möglicherweise genau die richtige Medizin für ihn, sie würde ihn beleben wie ein Morgenspaziergang in Buffalo. Wo in Amerika lag Buffalo eigentlich? Und warum hieß es Buffalo?

Sartaj saß bei einer Coca Cola in seiner gewohnten Nische im Sindur. Das Restaurant war vor kurzem renoviert worden und hatte neue, festlich wirkende rote Tische und eine neue Speisekarte, jetzt auch mit Gerichten aus Bengalen und Andhra Pradesh. Sartaj suchte sich gerade ein Bengali-Dessert aus, als Shambhu Shetty hereinkam. »Hallo, Saab«, sagte er und nahm Platz. Sie hatten sich vor einer Woche zuletzt gesehen, als Sartaj die monatliche Abgabe der Delite Dance Bar an das Revier kassiert hatte. Shambhu hatte sich wie immer über notwendige Razzien und steigende Preise beklagt und Sartaj von seiner traumhaften Trekkingtour durch die Wälder von Arunachal Pradesh erzählt. Heute kam er mit verheißungsvollen Neuigkeiten: Er hatte sich verlobt. Nachdem er von der breiten Palette weiblicher Reize gekostet hatte, die seine Bar ihm täglich bot, wollte er nun häuslich werden. »Das alles war nur der Vorspann, Yaar«, sagte er zu Sartaj. »Jetzt kommt der Hauptfilm.« Die Hauptdarstellerin in Shambhus Lebensfilm war ein nettes Mädchen, das seine Eltern für ihn ausgewählt hatten, natürlich aus ihrem Bekanntenkreis. Die beiden Familien hatten gemeinsame Freunde in Pune, über die sie jahrzehntelang miteinander in lockerem Kontakt geblieben waren. Das Mädchen hatte einen Bachelor in Pädagogik, war aber bereit, ihre Berufstätigkeit nach der Heirat aufzugeben. Daß sie Jungfrau war, verstand sich von selbst und bedurfte keiner weiteren Nachfrage.

»Sehr gut, Shambhu«, sagte Sartaj. »Wann ist es soweit?«

»Im Mai. Die Karten werden Ende des Monats gedruckt, ich schicke Ihnen dann eine.«

Es war halb fünf, und das Restaurant war fast leer. Shambhu wirkte entspannt, aber energiegeladen. Er hatte Heiratspläne und außerdem Pläne für eine zweite Bar in Borivili East. Die neue Location sollte unter ein Film-Motto gestellt werden, mit Bildern von Filmstars an allen Wänden. Es würde dort verschiedene Räume für die Tänzerinnen geben, jeder mit einem anderen Dekor, zum Beispiel einen Mughalel-Azam- und einen DDLJ-Raum154. »Sie sollten Teilhaber werden«, sagte Shambhu. »Ich garantiere eine gute Rendite. Das wäre eine Investition für Ihre Zukunft.«

»Ich bin ein armer Mann, Shambhu«, sagte Sartaj. »An Investoren, die mit fünfhundert Rupien daherkommen, sind Sie bestimmt nicht interessiert.«

»Ein armer Mann, Sie? Obwohl Sie Gaitonde erledigt haben?«

»Ich hab ihn nicht erledigt, Shambhu. Der Mann hat sich selbst erschossen.«

»Ja, ja.« Shambhu lächelte wissend. Er kannte die Polizei. »Und wie haben Sie ihn gefunden?«

»Ein anonymer Anruf. Ein Tip.«

»Wenn Sie einen Tip in Sachen Bargeld kriegen, dann kommen Sie zu mir. Der Zeitpunkt für Investitionen ist günstig.« Shambhu wand sich aus der Nische heraus. »Ich erwarte eine Bierlieferung«, sagte er.

Sie gaben sich die Hand, und Shambhu ging rasch zur Tür. Dort trat er zur Seite, um Mrs. Pandey vorbeizulassen. Sie blieb stehen, nahm ihre schicke dunkle Sonnenbrille ab und marschierte dann geradewegs auf Sartaj zu.

»Hallo«, sagte er, stand auf und zeigte auf einen kleinen Tisch hinter einer Trennwand nahe der Küchentür. Dort würden sie ungestört sein.

Mrs. Pandey wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Nase. Sie wirkte mitgenommen, aber gepflegt. Ihr glänzendes Haar fiel weich auf die Schultern herab, und sie trug weiße Jeans und ein weißes Top, das einen schmalen Streifen ihrer geschmeidigen Taille freiließ. Sie war kleiner, als Sartaj sie in Erinnerung hatte, aber sie hatte einen atemberaubenden Busen, der das weiße Top wunderbar ausfüllte. Es war nicht unbedingt ein Outfit, wie Sartaj es für ein privates Treffen mit einem schäbigen Polizisten in einem bürgerlichen Vorstadtrestaurant empfohlen hätte, aber Frauen hatten so ihre Gründe. Vielleicht gab ihr das ganze Jhatak292 und Matak Sicherheit. Vielleicht mochte sie es, wenn Männer hinschauten.

»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte sie. Ihr Hindi war eine Spur unbeholfen, weil sich ihr Leben größtenteils auf englisch abspielte. »Pani«, sagte sie in scharfem Ton zu dem Kellner, der an den Tisch getreten war. »Bisleri Pani.«

Sartaj wartete, bis der Kellner das Mineralwasser eingeschenkt hatte und wieder gegangen war. Mrs. Pandeys Fingernägel waren farblos lackiert. Auch Megha hatte manchmal solchen Nagellack benutzt. Sie hätte Mrs. Pandey als »heiße Braut« bezeichnet und Sartaj von ihr weggelotst. Doch er empfand kein Verlangen, nur Neugier. »Das ist meine Pflicht«, sagte er. »Also, wo liegt das Problem?«

Sie nickte. »Das Problem.« Ihre Augen waren das Schönste an ihr: groß und mandelförmig, von der Farbe eines guten Scotch mit ein paar Eiswürfeln darin. Megha hätte gesagt, sie sei keine klassische Schönheit, aber attraktiv, sie habe das Beste aus ihrem Typ gemacht. Sie schien in großen Schwierigkeiten, und es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen.

»Sie sind Stewardeß?« fragte Sartaj.

»Ja.«

»Bei?«

»Lufthansa.«

»Eine gute Fluggesellschaft.«

»Ja.«

»Gute Bezahlung.«

»Ja.«

»Ist Ihrem Mann etwas zugestoßen?«

»Nein, nein.« Sie krümmte sich innerlich unter der plötzlichen Frage und verschränkte die Arme. »Nichts dergleichen.«

Aber es hatte etwas mit ihrem Mann zu tun, soviel schien sicher. »Was dann?« fragte er behutsam. Er schwieg und trank von seinem Wasser. Er konnte warten.

Sie sammelte sich und stieß dann hervor: »Ich werde erpreßt.«

»Erpreßt. Und von wem?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie nimmt derjenige Kontakt mit Ihnen auf?«

»Er ruft mich auf dem Handy an.«

»Immer derselbe?«

»Ja. Aber manchmal höre ich ihn mit jemand anderem reden.«

»Einem Mann?«

»Ja.«

»Und womit werden Sie erpreßt?«

Ihr Kinn hob sich. Sie gab sich einen Ruck.

»Mit einem Mann«, sagte sie.

»Der nicht Ihr Ehemann ist?«

»Ja.«

»Erzählen Sie.« Es war ihr höchst unangenehm, sich erklären, sich rechtfertigen zu müssen. »Madam«, sagte Sartaj, »wenn ich Ihnen helfen soll, muß ich Näheres wissen. Alles.« Er schenkte sich Wasser nach. »Ich bin schon sehr lange Polizist, und es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Nichts, was Sie mir sagen, kann mich schockieren. In diesem Land ist alles möglich, man spricht nur nicht darüber. Sie müssen mir schon sagen, was los ist.«

Da redete sie endlich. Ihr Ehemann hatte sie nicht ganz zu Unrecht verdächtigt, im Gegenteil: Es hatte einen anderen Mann gegeben, ja, und er war auch Pilot gewesen, nur flog er nicht für die Lufthansa, und man hatte sich nicht bei Zwischenstops in London amüsiert. Kamala Pandeys Pilot flog für die Sahara Airlines, er hieß Umesh Bindal, er war Single, und sie hatte ihn vor drei Jahren auf einer Party in Versova kennengelernt. Ein Jahr danach hatte die Affäre angefangen, und vor einem halben Jahr hatte Kamala Pandey sie beendet. Sie hatten sich immer nur in Bombay, Pune oder Khandala getroffen. Vor sechs Wochen hatten die Erpresser zum ersten Mal angerufen.

»Was haben sie in der Hand?« fragte Sartaj.

»Sie kennen viele Details. Und wissen, wann ich in einem bestimmten Hotel war.«

»Das genügt nicht. Sie müssen noch mehr haben.«

Sie wand sich. »Videos«, sagte sie schließlich.

»Wovon?«

»Von uns. » Die Videos waren offenbar mit versteckter Kamera in einer Pension in Khandala aufgenommen worden. Die beiden waren regelmäßig dort gewesen, und das Personal hatte sie für ein Ehepaar gehalten, das gern öfter einmal einen Kurzurlaub in den Bergen verbrachte. Die Videos zeigten sie, wie sie in ihr Zimmer gingen und aus dem Zimmer herauskamen und auch, wie sie Händchen haltend und sich küssend und umarmend im Hof der Pension auf und ab gingen. Die Erpresser hatten das Video in einem braunen Umschlag auf dem Fahrersitz von Kamala Pandeys Wagen hinterlegt. Dann hatten sie angerufen.

»Wieviel haben Sie ihnen gezahlt?« fragte Sartaj.

Ein Anflug von Verwirrung huschte über ihre glatten Wangen. Sartaj lachte. »Das ist nichts Ungewöhnliches, Madam. Jeder zahlt erst mal. Die Erpresser schicken ein Video oder Fotos oder sonst etwas, und ein paar Wochen später schieben sie neues Material nach. Also, wie hoch war die Summe?«

»Ein Lakh fünfzigtausend. Sie wollten zwei Lakhs, aber Umesh hat sie heruntergehandelt. Und jetzt haben sie wieder ein Video geschickt.«

»Wieviel wollen sie diesmal?«

»Zwei Lakhs.«

»Und wo ist das Band?«

»Ich hab's verbrannt.«

»Beide Videos? Alles, was Sie bekommen haben?«

»Ja.«

»Das ist schlecht, Madam. Die Bänder hätten uns einigen Aufschluß geben können. Sogar die Umschläge.«

Sie nickte. Wahrscheinlich hatten die Bänder sie zu sehr geängstigt. Schon vom Reden darüber war sie unter der glatten Oberfläche ein wenig blaß, ein wenig zittrig geworden. Doch jetzt bewies sie Nerven. Sie faßte in ihre silberne Handtasche und holte einen zusammengefalteten Zettel hervor. Sie öffnete ihn und strich ihn auf dem Tisch glatt. »Ich habe jedesmal, wenn sie angerufen haben, ihre Telefonnummern aufgeschrieben. Und auch die Zeit.«

»Gut«, sagte Sartaj. »Sehr gut. Wenn das nächste Mal etwas kommt, behalten Sie's. Und fassen Sie's möglichst wenig an.«

»Wegen der Fingerabdrücke?«

»Ja. Sie müssen uns helfen, damit wir Ihnen helfen können. Wo ist Umesh im Moment?«

»Er fliegt. Er wäre gern mitgekommen, aber Sie haben ja erst heute auf meine Anrufe reagiert.«

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Ich gebe Ihnen seine Nummern.« Sie schrieb sie auf den Zettel. »Er wollte gleich beim ersten Mal zur Polizei, aber ich wollte nicht mit.«

»Aber Sie wollten doch, daß das aufhört.«

»Ja.«

»Solche Leute hören nie auf. Bis wir sie stoppen.«

»Das hat Umesh auch gesagt. Aber da mochte ich es noch niemandem sagen.«

»Warum haben Sie mit Umesh Schluß gemacht?«

»Weil ich gemerkt habe, daß er sich nicht wirklich für mich interessiert. Er ist ein netter Mensch, aber er hat zu viele Freundinnen. Er wollte nur seinen Spaß haben, und den hatte er mit mir. Aber irgendwann war's für mich eben kein Spaß mehr.«

»Und er sieht sehr gut aus? Wie ein Filmstar?«

»Allerdings.« Sein gutes Aussehen wühlte sie noch jetzt auf und hinterließ einen traurigen Nachgeschmack. »Allerdings.«

»Wann haben die Erpresser zuletzt angerufen?«

»Gestern.«

»Dann werden sie heute wieder anrufen. Hören Sie gut zu, ich will genau wissen, was sie sagen. Machen Sie sich Notizen. Achten Sie auf Hintergrundgeräusche. Überhaupt auf alles. Sie müssen anfangen, wie ein Polizei-vaala zu denken. Eine Polizei-vaali.«

Sie schien ein wenig belustigt bei der Vorstellung, sie könnte jemals eine einfache Polizei-vaali sein. »Eine Polizei-vaali«, sagte sie. »Ich werd's versuchen.«

»Sagen Sie ihnen, Sie brauchen Zeit, um das Geld zusammenzukriegen. Wie hat die Übergabe beim ersten Mal stattgefunden?«

»Ich hab's in eine Tragetasche getan und bin abends um sechs zum Apsara Theatre in Goregaon. Die Nachmittagsvorstellung war gerade zu Ende, und es kamen Scharen von Leuten raus. Ich sollte gegenüber dem Eingang auf der anderen Straßenseite parken. Sie haben mich angerufen und mir gesagt, daß ein Chokra122 in einem roten T-Shirt kommt, und im nächsten Moment hat er auch schon an die Scheibe geklopft. Ich hab das Fenster runtergelassen, er hat nach einem Päckchen gefragt, dann hat er das Geld genommen und ist weggerannt und in der Menge verschwunden. Das war's.«

Eine belebte Gegend, ein Straßenjunge, der das Geld holt -die übliche Vorgehens weise des Durchschnittserpressers. »Umesh war nicht dabei?«

»Nein, die wissen nicht, daß er Bescheid weiß. Sie haben gesagt, ich soll niemandem etwas sagen, keiner Menschenseele. Sonst würden sie mir etwas antun.«

Daß Erpresser mit Gewalt drohten, war ungewöhnlich. Wenn man Fotos hatte, war Gewalt überflüssig. »Und der Chokra, wie sah der aus?«

Die Frage verwirrte Kamala Pandey. »Der Junge? Ich weiß nicht. Irgendein Straßenkind eben.« Ein barfüßiger, verwilderterjunge, davon gab es in Mumbai an jeder Ecke ein Dutzend.

»Versuchen Sie's, Madam. Können Sie sich an irgend etwas erinnern? Es ist sehr wichtig.«

»Ja. Ja ...« Sie überlegte. »Sein T-Shirt. Es war ein DKNY-Shirt mit rundem Halsausschnitt. Und Logo darauf.«

»Deka NY?« Sartaj schrieb es in sein Notizbuch.

»Nein«, sagte sie geduldig und leicht belustigt, wie jemand, der mit einem weit unter ihm Stehenden spricht. »In einem Wort und alles in Großbuchstaben. So.« Sie nahm seinen Kugelschreiber und schrieb in großen Lettern DKNY auf den Zettel. »Die Buchstaben waren stark ausgebleicht.«

Zeugen mußten für jede Kleinigkeit gelobt und zu weiteren Gedächtnisleistungen angespornt werden. »Sehr gut, Madam«, sagte Sartaj. »Das hilft uns ein großes Stück weiter. Sonst noch etwas? Bitte, denken Sie scharf nach. Die kleinste Einzelheit kann zur Aufklärung des Falles führen.«

Sie zog einen angewiderten kleinen Schmollmund und berührte einen Zahn neben ihrem vollkommenen rechten Eckzahn. »Sein Zahn, der hier. Der sah so schmutzig aus. Schwarz und grau statt weiß.«

»Hervorragend. Auf dieser Seite?«

»Ja.«

»Okay. Gut, daß Sie die Nummern der Anrufer notiert haben. Wahrscheinlich haben sie von einer öffentlichen Kabine aus angerufen. Sobald Sie Anzeige erstattet haben, lassen wir einige beobachten.«

»Das kann ich nicht.«

»Was können Sie nicht?«

»Anzeige erstatten.«

»Madam, wie soll ich ohne Anzeige etwas unternehmen?«

»Bitte verstehen Sie mich. Sobald etwas Schriftliches vorliegt, spricht sich die Sache herum.«

»Ich verstehe ja, daß Sie fürchten, Ihr Mann könnte etwas erfahren, Madam. Aber verstehen Sie bitte auch, daß die Polizei ohne Anzeige nicht aktiv werden kann. Wir haben dann keinerlei Handhabe.«

»Bitte.« Sie beugte sich über den Tisch, die Hände an den Wangen - eine routinierte Schauspielerin.

»Ich kann nichts tun, Madam.« Sartaj reckte den Hals und lockerte seine verspannten Schultern. Er ärgerte sich über sie, schon eine ganze Weile. Es war ein Brennen in der Brust, das er sich nicht erklären konnte.

»Bitte«, wiederholte sie. »Stellen Sie sich doch vor - ich würde alles verlieren.«

»Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen, meinen Sie nicht?«

Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Ja.«

Sie bedeckte ihre Augen, und als sie die Hände wieder wegnahm, standen Tränen darin. Eine Minute verging, dann noch eine. Sie tupfte sich die Tränen ab. Sartaj war sich sicher, daß ein sachkundig ausgeübter leichter Druck auf die Lider sie hervorgebracht hatte. Doch nun schien Kamala Pandey wirklich traurig. Er nahm eine Mattheit an ihr wahr, die er kannte, jene Erschöpfung, die sich einstellt, wenn man etwas verliert, was man sich über Jahre aufgebaut hat. Vielleicht hatte man es kaum geschätzt, vielleicht war es so vertraut gewesen, daß man es vernachlässigt, daß man Schindluder damit getrieben hatte. Und dann merkte man, daß dieses Etwas, diese Verbindung, dieses hinfällige Gebilde seine Wurzeln tief unter die Haut getrieben hatte, bis in die Knochen.

Kamala Pandey faßte sich wieder. Sie straffte die Schultern und richtete sich ein wenig auf, bereit zum Angriff. Sartaj mußte an den Spazierstock denken, den sie auf dem Rücken ihres Mannes zerschlagen hatte, und er fragte sich, ob Mr. Pandey wohl gelernt hatte, die Vorzeichen zu erkennen und sich in acht zu nehmen.

»Hören Sie«, sagte sie, »ich werde Sie bezahlen.«

Sartaj erwiderte nichts. Sie griff tief in ihre Tasche und brachte ein längliches weißes Kuvert zum Vorschein. Schweigend wartete sie auf seine Reaktion. Sartaj sagte nichts. Sie schob das Kuvert über den Tisch und ließ es neben seinem Glas liegen, nahe bei seiner Hand.

Sartaj schnippte mit dem Zeigefinger die Lasche hoch. Hundert-Rupien-Scheine. Zwei Bündel. Zwanzigtausend Rupien.

Jetzt war er ernsthaft wütend. Er drückte das Kuvert zu, so heftig, daß sein Fingernagel erst weiß und dann rot anlief. »Hören Sie zu«, sagte er heiser. »Das genügt nicht.«

»Jaja, ich weiß. Das ist auch nur symbolisch. Aber ich bezahle lieber Sie als die. Nur helfen Sie mir. Sorgen Sie dafür, daß das aufhört.«

»Haben Sie so viel eigenes Geld?«

»Ich arbeite, und meine Eltern helfen mir ab und zu aus.«

Sie hatte ein eigenes Konto und liebevolle Eltern. »Wohnen Ihre Eltern in Bombay?«

»Ja, in Juhu.«

»Geschwister?«

»Nein.«

Sie war das verwöhnte Einzelkind wohlhabender Eltern, das plötzlich in große Schwierigkeiten geraten war. Und sie war fest davon überzeugt, daß ihre Privilegien ihr zustanden. Es würde ein Vergnügen sein, Geld von ihr zu nehmen. Aber Sartaj war wütend. »Ohne Anzeige kann ich Ihnen nicht helfen, Madam.«

»Wieviel wollen Sie?«

Er schob das Kuvert zurück. »Ich kann Sie auf der Stelle verhaften, wegen versuchter Bestechung eines Polizeibeamten.«

Das brachte sie zum Schweigen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und fing an zu weinen. Und diesmal waren ihre Tränen echt. Sartaj stand auf und ging.

Warum war er so wütend auf Kamala Pandey gewesen? Er war es schließlich gewohnt, Geld zu nehmen, gekauft zu werden. In dieser Stadt wurden täglich Dinge und Menschen ge- und verkauft. Sartaj fuhr mit dem Motorrad zu Katekars Familie. Er hielt sich nach Möglichkeit in der Mitte der holprigen Straße, denn die Rinnsteine waren verstopft, und da und dort hatten die Gezeiten des Mülls tiefe Löcher in den Asphalt gegraben. In dem Wechsel von Hell und Dunkel kamen die Schlaglöcher unverhofft und konnten einen zu Fall bringen. Sartaj hatte noch immer einen Nachgeschmack der Empörung im Mund, er hegte einen bitteren Groll, der nichts damit zu tun hatte, was für ein verwöhntes, entnervendes Gör Kamala Pandey war. Kam dieses Gefühl nur daher, daß sie ihren Mann betrog, daß sie etwas getan hatte, was eine Frau nicht tun sollte? Männer taten es ständig, das wußte Sartaj. Und manchmal taten es eben auch Frauen. Auch das wußte er. Die Folgen bekam er oft zu sehen, so wie heute. Er hatte zerbrochene Ehen und zerbrochene Körper gesehen, hatte schmerzerfülltes Schluchzen und Schreien gehört. Das alles war ihm nicht neu. Warum also war er so wütend gewesen?

Sartaj rollte die letzten Meter bis zur Ecke von Katekars Gasse, die sich verengte und dann nach links abbog. Er stellte das Motorrad ab, klappte den Soziussitz hoch und nahm seine Päckchen aus dem Stauraum. Auch auf den Gepäckträger hatte er eine Plastiktüte geschnallt. Er schüttelte seinen Ärger und die Frage, die ihn beschäftigte, ab und marschierte die Gasse hinunter, schob sich seitlich an Gruppen von Fußgängern vorbei. Einige nickten ihm zu. Er kam seit ein paar Monaten regelmäßig hierher, und inzwischen kannte man ihn. Manche gaben ihm zweifellos noch immer die Schuld an Katekars Tod, aber die meisten waren freundlich.

Katekars Söhne saßen am Eingang des Kholis und lernten. Das Neonlicht von drinnen ließ ihre Silhouetten hervortreten. Rohit saß wie immer links von der Tür, den Rücken flach an der Wand, ein Buch vor sich in den Händen. Mohit dagegen war ständig in Bewegung, und sein Kopf hüpfte sogar beim Schreiben auf und ab. Jetzt richtete er sich auf die Knie auf und beugte sich tief über sein Heft. Die Seite war voller blauer Tintenflecke.

»Hallo, Rohit, hallo, Mohit«, sagte Sartaj.

»Hallo!« Rohit grinste, doch Mohits Kopf blieb gesenkt. Er schrieb wie wild quer über die Zeichnungen, die sich über die ganze Breite seines Heftes zogen.

Sartaj ging in die Hocke, den Rücken am Türpfosten. »Wo ist eure Ma?« fragte er.

»Bei ihrer Versammlung.«

»Bei was für einer Versammlung?«

»Von der Familienfürsorge. Sie arbeitet da ehrenamtlich mit und muß einmal in der Woche hin.«

Das war neu. Sartaj war vor etwas über zwei Wochen zuletzt hier gewesen, und nun hatte Shalini diesen neuen regelmäßigen Termin. Das Leben ging weiter. »Und was macht sie da?«

»Sie redet mit Frauen hier aus der Gegend.«

»Über Gesundheit?«

»Ja. Und über Geldsparen, glaube ich. Und über Sauberkeit. Sie wollen die Gassen säubern. Wir haben irgendwo Faltblätter, falls Sie sie sehen wollen.«

»Nein, nein.« Sartaj kannte derlei Gruppen und die NGOs, mit denen sie zusammenarbeiteten. Meist wurden sie aus öffentlichen Mitteln oder von der Weltbank finanziert, und für den einen oder anderen - die NGOs, die Regierung oder die Bank - waren sie ein einträgliches Geschäft, aber sie taten auch manches Gute. Und Katekar war stets für Sauberkeit eingetreten, so daß Shalini ihm mit ihrer Arbeit alle Ehre machte. »Hier.« Sartaj gab ihnen die Päckchen, die er mitgebracht hatte.

»Danke«, sagte Rohit auf Englisch. Er hatte in letzter Zeit hart an seinem Englisch gearbeitet und wollte in ein paar Wochen, gleich nach den Prüfungen, einen Computerkurs für Anfänger machen. Sartaj hatte ihm einen Platz in den Prabhat Computer Classes besorgt, die den besten Ruf in der Gegend genossen. »Computer- und Internetkurse für nur 999 Rs.« verkündeten die bunten Plakate, die an jeder zweiten Hauswand klebten. Rohit packte die Tüten aus und legte die Plastikbeutel mit Hülsenfrüchten, Grießmehl und Reis beiseite. »He, Tapori«, sagte er zu Mohit und warf ihm zwei Comic-Hefte zu. »Der neueste Spiderman. Sag danke.«

Mohit wollte die Hefte gar nicht wieder loslassen, aber danke sagte er nicht. Sartaj fragte sich, was die Nachbarn ihm über den Tod seines Vaters erzählt hatten, wem er die Schuld gab. Ein seltsames Kind. Er war zu einem finsteren kleinen Bengel geworden, sehr verschlossen, sehr sprunghaft und immer unter Hochspannung.

»Unser Mohit mag Spiderman«, sagte Sartaj, »aber er ist auch ein patriotischer Inder. Er will nicht dauernd ›thank you, thankyou‹ sagen wie die Amerikaner.«

Rohit lachte. »Ja, Unhöflichkeit ist unser angestammtes Recht.« Er zog seinen Bruder an der Nase, und Mohit machte ein Geräusch, als würde er ausspucken, und rannte hinter den Vorhang ins Zimmer der Jungen. »Dabei wäre er so gern Spiderman. Jetzt nimmt er die Hefte sogar abends mit ins Bett.« Rohit tippte sich an die Stirn.

Sartaj knöpfte seine Brusttasche auf und zog einen Umschlag hervor. »Zehntausend«, sagte er. Er gab ihn Rohit und kratzte sich den Bart. Es wurde heiß, die brütende Stille und die gedrückte Stimmung der Vormonsunzeit breiteten sich aus. Sein Kragen war schweißgetränkt.

Diesmal bedankte sich Rohit nicht. Er stand auf, den Umschlag an die Brust gedrückt, dann hörte Sartaj das metallische Quietschen einer Schranktür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Rohit kam mit einem Glas Wasser zurück, und Sartaj trank. Rohit war ein guter Junge, und er war zu jung, um Geld in Schränke zu legen und sich darüber Gedanken zu machen, wie er seinen kleinen Bruder erziehen sollte. Andererseits gab es an jeder Straßenecke auf dem Weg nach Colaba Sechsjährige, die sich dort ihren Lebensunterhalt verdienten.

Sie unterhielten sich eine Weile über Computer, den Nahen Osten und die Frage, ob Kajol305 noch weitere Filme drehen würde. Für Rohit war Kajol die beste Filmschauspielerin seit Madhubala. Sartaj hatte lange keinen Film mehr mit ihr gesehen, aber er stimmte gern zu, denn wenn Rohit von Kajol redete, wurde er froh und lebhaft und beschrieb heftig gestikulierend ihre Vorzüge. Kajol sei nicht nur eine gute Schauspielerin, sie sei auch eine gute Ehefrau und Mutter, meinte er. Sartaj mußte lächeln und freute sich, zuhören und Rohit beipflichten zu können.

Am nächsten Morgen traf sich Sartaj mit Mary in der Wohnung ihrer Schwester. Wie erwartet, hatte es mehrere Wochen gedauert, bis Jojos Wohnung an Mary als einzige lebende Verwandte übergeben werden konnte. Doch endlich hatte er sie anrufen und ihr sagen können, daß alles geregelt sei und er die Schlüssel habe. Der Dienstag war Marys freier Tag, und er hatte sich gleich am Morgen mit ihr verabredet, bevor er aufs Revier fuhr. Er war früh aufgestanden, hatte sich unter die Dusche geschleppt und stand nun pünktlich um halb sieben vor dem Haus. Sie wartete wie vereinbart am Lift auf ihn. Neben ihr stand eine sehr große, sehr dünne Frau, die ihm leicht belustigt entgegensah.

»Das ist meine Freundin Jana«, sagte Mary.

Sartaj hatte keine Freundin Jana erwartet, aber es war nur verständlich, daß Mary nicht allein kam. »Namaskar, Jana-ji«, sagte er.

Jana registrierte den sarkastischen Unterton und schaute noch belustigter drein. »Namaskar, Sartaj-ji«, sagte sie.

Sartaj grinste, und Mary lächelte unvermittelt. Ihr Kinn schob sich ein wenig vor, und ihre Augen verengten sich, so daß ihr ganzes Gesicht verändert wirkte. Der lastende Ernst verschwand daraus. Sartaj wußte nicht recht, was genau sie so lustig fand, aber es war eine Erleichterung und eine Offenbarung, zu sehen, daß sie auch heiter sein konnte. »Fahren wir rauf?« fragte er und zeigte auf den Lift.

»Ja«, sagte Mary. »Jana paßt auf mich auf.«

Als Sartaj dicht neben den beiden im Aufzug stand, stellte er fest, daß Jana in der Tat sehr kompetent wirkte. Sie hatte einen Sindur-Streifen im sorgfältig gescheitelten Haar und trug eine mattrote Kurta über einer schwarzen Salvar, dazu praktisches Schuhwerk und eine große eckige Umhängetasche. Darin steckte eine Plastikflasche mit zweifellos abgekochtem Wasser. Es war die Tasche einer Mutter, hübsch, aber geräumig und robust, geeignet für Imbisse, Schokolade, Medikamente, Gemüse und Schulbücher. Eine vertrauenerweckende Tasche.

Das Schloß von Jojos Wohnungstür war mit Textilklebeband versiegelt und mit rotem Wachs und dem Amtszeichen der Polizei von Mumbai gesichert. Sartaj reichte Mary den Schlüssel und holte eine große schwarze Schere aus seiner Sporttasche. Er war gut vorbereitet. Er riß das Siegel ab und schaute zu, wie sich Mary mit dem Schlüssel abmühte. »Darf ich mal?« fragte er, aber Mary schüttelte energisch den Kopf, straffte sich und probierte es weiter. Jana warf Sartaj über ihren Kopf hinweg einen resigniert-entschuldigenden Blick zu: Lassen Sie sie, so ist sie nun mal. Sie warteten. Dann endlich sprang das Schloß geräuschvoll auf.

Jana öffnete sofort die Fenster, und nach und nach wurde das Wohnzimmer sichtbar. Mary war an der Tür stehengeblieben. Sartaj fuhr mit der Hand über die Lichtschalter hinter ihr. Nichts, kein Strom. »Yaar, ist das eine schöne Wohnung!« rief Jana aus der Küche, überrascht, aber auch hörbar entrüstet.

Frauen sind immer entrüstet, dachte Sartaj, wenn andere Frauen, die als Schlampen gelten, Geld verdienen, Geschmack haben und ein bißchen Glück genießen. Was Mary empfand, war nicht zu erkennen. Sie ging durch die Wohnung, blieb in jedem Zimmer stehen, betrachtete es und sagte kein Wort. Janas Kommentare dagegen nahmen kein Ende. Nur im Schlafzimmer ließ Jojos verschwenderische Schuhsammlung sie einen Moment fassungslos verstummen, dann folgte eine lange, gründliche Inventur. Mary stand in der Tür.

Sartaj öffnete ein Fenster. »Hier waren auch Fotoalben«, sagte er. »Irgendwo müssen sie noch sein.« Ein heilloses Durcheinander herrschte in dem Raum, und die überall verstreuten Schuhe, Kleider und Magazine waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. »Da sind sie ja.« Sartaj ging um das Bett herum zur Frisierkommode. Er nahm das oberste Album und klopfte auf den Umschlag. Eine feine Staubwolke stob auf, und Sartaj merkte plötzlich, wie laut und triumphierend seine Stimme geklungen hatte. Mary stand außerhalb des Lichtscheins, der durchs Fenster fiel, und er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. »Sie müssen zum BSES und den Strom wieder anstellen lassen«, sagte er und legte das Album auf die Kommode zurück. »Da sind wahrscheinlich noch Rechnungen offen. Okay, ich muß los.« Er nickte und wandte sich zum Gehen.

Mary trat in den Flur hinaus, um ihn vorbeizulassen. Sartaj winkte Jana zu, und sie nickte ebenfalls, sah dabei aber Mary an. Sartaj war schon fast an der Wohnungstür, da sagte Mary: »Danke.«

»Schon gut«, erwiderte Sartaj. »Keine Ursache.«

»Ich hab's nicht vergessen.«

»Was?«

»Ihre Ermittlungen zu Ganesh Gaitonde. Ich hab versucht, über Jojo nachzudenken und mich zu erinnern.«

»Danke.«

Sie lächelte wieder, auch diesmal ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Dann hob sie die Hand zu einem seltsamen kleinen Winken aus dem Handgelenk heraus. Sartaj nickte noch einmal und schloß die Tür.

Nachdem er sich anderthalb Stunden hin und her gewälzt hatte, war Sartaj erschöpft und noch wacher als zuvor. Er hatte lange geduscht und war kurz nach Mitternacht zu Bett gegangen, ganz stolz, daß er es so früh geschafft hatte. Jetzt aber regte sich eine leichte, anhaltende Unruhe unter seiner Haut. Er hatte drei Whisky-Soda getrunken und fand trotzdem keinen Schlaf. Er setzte sich auf. Schatten von Stromleitungen schwankten über die Fensterscheibe. Der Name des Hundes fiel ihm nicht mehr ein, des kleinen weißen Hundes, den Kamala Pandeys Mann aus dem Fenster geworfen hatte. Er erinnerte sich, wie das Tier mit gespreizten Gliedmaßen auf dem Asphalt gelegen hatte, aber er kam nicht mehr auf den verdammten Namen. Er hatte noch Kamala Pandeys Nummer. Er konnte anrufen und fragen, wie hieß der Hund noch mal, den Ihr Mann umgebracht hat, den Sie beide mit Ihren schmutzigen Spielchen umgebracht haben?

Er schwang die Füße auf den Boden und rieb sich die Augen. Unmöglich, das konnte er nicht machen, das wäre Polizeischikane gewesen. Aber er wußte, wer um zwei Uhr nachts noch wach sein würde. Er wählte die Nummer, drückte mit zitterndem Finger die beleuchteten Tasten. Er horchte auf das Läuten und wartete mit erhobener Hand. Er war sehr angespannt. Ich muß meinen Blutdruck kontrollieren lassen, dachte er. Hoher Blutdruck lag in der Familie; sein Vater hatte sein Leben lang damit zu kämpfen gehabt, ebenso mit einem erhöhten Cholesterinspiegel. Er hatte einen Herzinfarkt überlebt und war neun Jahre danach friedlich im Schlaf gestorben, nach Auskunft der Ärzte eines natürlichen Todes.

»Peri pauna, Ma«, sagte Sartaj.

»Jite raho, Beta. Bist du gerade nach Hause gekommen?«

»Ja, ich hatte noch zu tun.« Arbeit war ein akzeptabler Grund für einen so späten Anruf. Hätte er ihr gesagt, daß er nicht schlafen konnte, hätte sie sich sofort eingehend nach seinen Eßgewohnheiten, seinem Alkoholkonsum und seiner Gesundheit erkundigt, und das wollte er nicht riskieren. »Du bist so heiser, Ma«, sagte er. »Bist du erkältet?«

»Erkältet, ich? Ich erkälte mich nie. Dein Vater, der war dauernd erkältet. Er hatte dieses dünne Bombay-Blut. Aber wir sind in einem guten Klima aufgewachsen, wir waren kalte Winter gewohnt.« Das war ein altes Thema von ihr: Der Sardar des Nordwestens war robuster als der Bombay-Sardar. Die Schwestern waren die robustesten von allen, besonders Navneet-bhenji, die Älteste. Und nun kam sie, die Geschichte der abgehärteten, vor langer Zeit verschwundenen Tante. »Navneet-bhenji hat morgens immer kalt gebadet, sogar im Januar. Um halb sieben schon, weil sie ins College mußte. Selbst Papa-ji hat gesagt, sie soll ein bißchen heißes Wasser dazutun, aber sie hat nicht auf ihn gehört. Und dabei war sie so zart und schön! Sie hat Literatur studiert und sah aus, als müßte sie eher in einem Palast Perlen zählen, aber sie war stark wie eine Bäuerin. Sie hat auch sehr gut gemalt. Ländliche Szenen, mit Feldern, Häusern und Kühen. Von unserem neuen Haus hat sie auch einmal ein Bild gemalt, wunderschön.«

Ma verstummte, und auch diese Unterbrechung war Sartaj wohlbekannt - Ma trauerte um die tote Schwester. Navneet-mausi war während der Teilung umgebracht worden, und Ma redete von ihr, seit Sartaj denken konnte. Sie war tot, und doch war sie in seinem Leben immer dagewesen. Alle Kinder und Enkelkinder der Familie kannten sie gut, diese abwesende Tante. Sie waren mit ihr aufgewachsen, mit den Geschichten über sie, der Starre, die sich auf die Gesichter der Erwachsenen legte, wenn sie von ihr erzählten. Sartaj hatte von Zeit zu Zeit versucht, diese Anspannung von Muskeln und Nerven, dieses Einfrieren des Gefühls zu durchbrechen und zu erfahren, was genau in jenen blutigen Jahren geschehen war. Aber Ma hatte immer nur gesagt: »Es war eine schlimme Zeit, eine sehr schlimme Zeit.« Und so redeten sie alle, Onkel und Tanten und Großeltern. Manchmal schimpften sie auf die Muslime: »Du hast ja keine Ahnung, Beta. Schlechte Menschen sind das, sehr schlechte Menschen.«

In dieser Nacht aber war Ma nicht zornig oder verbittert wegen der alten Wunden, diesmal schwieg sie. Schließlich sagte Sartaj: »Ich weiß gar nicht, wie du dich an all das erinnern kannst, an wunderschöne gemalte Bilder und so, das ist doch so lange her. Ich kann mich nicht mal an den Namen eines Hundes erinnern.«

»Eines Hundes?«

Da erzählte Sartaj ihr die Geschichte von dem Mann, seiner Frau und dem Hund, der aus dem Fenster geflogen war.

»Was für ein Scheusal!« rief Ma. Sie mochte Hunde, und die Hunde mochten sie. »Hast du ihn verhaftet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Die Frau wollte ihn nicht anzeigen.«

»Are, das war doch Mißhandlung eines unschuldigen Tieres.«

»Sie wollte nicht mal sagen, daß er den Hund aus dem Fenster geworfen hat.«

»Vielleicht hatte sie Angst vor ihm.«

»Sie selber ist auch nicht so unschuldig.«

»Wieso? Hast du sie noch mal gesehen?« Ma hatte sich jahrzehntelang mit einem Polizisten, mit zwei Polizisten herumgeschlagen, und sie hatte gelernt, Nuancen wahrzunehmen, Unausgesprochenes herauszuhören. »Was ist denn mit ihr?«

Es war eine häßliche Geschichte für die Ohren seiner Mutter so spät in der Nacht, aber Sartaj erzählte sie trotzdem, lieferte einen Kurzbericht über die Frau, den Piloten und die Erpressung. Das Geld, das ihm Kamala Pandey angeboten hatte, und ihr enges weißes Top ließ er weg. Ma hatte strenge Ansichten, was Schamlosigkeit in jeder Form betraf, und er wollte sie nicht allzusehr gegen Kamala Pandey einnehmen. Sie würde die Frau auf Abwegen ohnehin verurteilen. »Ich hab ihr natürlich gesagt, daß ich ohne Anzeige nichts machen kann«, sagte er. »Sie ist so dumm. Sie glaubt, sie bekommt, was sie will, und sie kann tun und lassen, was sie will.«

»Ja. Wahrscheinlich hat ihr Vater ihr jeden Wunsch erfüllt und ihr keine Disziplin beigebracht. Die Kinder werden heutzutage viel zu sehr verwöhnt.«

Sartaj mußte laut lachen. Das war der Grund, warum er seine Mutter mitten in der Nacht anrief: diese unvermittelten einfachen Erkenntnisse, diese Bestätigung seiner eigenen Ahnungen. »Ja, sie ist ein verzogenes Gör. Nervtötend.« Er setzte sich im Bett auf und nahm einen tiefen Schluck Wasser. Er fühlte sich schon besser, als er so der Stimme seiner Mutter lauschte »Hat Papa-ji oft mit dir über seine Fälle gesprochen?«

»Nein, über die Arbeit hat er nicht gern geredet. Als Polizist kommt man sowieso erst um Mitternacht von der Arbeit weg, hat er gemeint, und wenn man dann immer noch daran denkt und darüber spricht, wird man verrückt. Wir haben uns über andere Dinge unterhalten, und dabei konnte er sich entspannen. Das hat er jedenfalls gesagt.« Es klang leicht belustigt. Sartaj sah sie vor sich, wie sie den Kopf schräg legte. »In Wirklichkeit war er einfach altmodisch. Er dachte, die Morde und all die anderen schmutzigen Dinge, mit denen er zu tun hatte, würden mich ängstigen. Er fand, Frauen sollte man von solchen Dingen fernhalten.«

»Und das hast du mitgemacht?« Sie sah sich gern Actionfilme an und hatte in den letzten Jahren eine unerklärliche Vorliebe für die besonders üblen, blutrünstigen Kettensägen-Horrorserien im Fernsehen entwickelt. Morgens las sie mit Genuß den Polizeibericht in der Zeitung, sie gab ihre Kommentare dazu ab und erklärte immer wieder, wie schlimm es um die Welt stehe und daß es immer schlimmer werde.

»Ach, man paßt sich an, Beta. Man paßt sich an! Er wollte nicht über die Arbeit reden, also wollte ich's auch nicht. So sieht das Mitmachen aus. Aber das versteht diese heutige Generation nicht.«

Damit meinte sie Sartajs und Meghas Generation. Sie wußte, daß Megha wieder verheiratet und damit für Sartaj vollends unerreichbar geworden war, aber hin und wieder sprach sie noch darüber, was geschehen war, was hätte geschehen sollen, was Sartaj hätte tun sollen. Sartaj hatte es längst aufgegeben, mit ihr darüber zu diskutieren oder auch nur etwas anderes dazu zu sagen als ein gelegentliches »Ja«. Er legte sich zurück und hörte zu. Sie war seine Mutter, und er paßte sich an.

»Geh jetzt schlafen«, sagte sie schließlich, »sonst kommst du morgen so müde zur Arbeit.«

»Ja, Ma.« Sie verabschiedeten sich, und er drehte sich zum Fenster, um den Luftzug auf seinem Gesicht zu spüren. Bald war er eingeschlafen und träumte von einer weiten Ebene, einem wolkenlosen Himmel und einer endlosen Kolonne dahinwandernder Gestalten. Plötzlich fuhr er hoch. Das Telefon klingelte.

Es war noch vor sieben, das wußte er, ohne die Augen zu öffnen. In der morgendlichen Stille draußen zwitscherte ein einzelner Vogel. Er wartete, doch das Klingeln hörte nicht auf, und schließlich nahm er ab.

»Sartaj«, sagte seine Mutter, »du mußt der Frau helfen.«

»Was?«

»Der Frau von heute nacht, von der du mir erzählt hast. Du solltest ihr helfen.«

»Ma, hast du überhaupt geschlafen?«

»Wo soll sie denn sonst hin? Was soll sie tun? Sie ist ganz allein.«

»Ma, Ma, so hör doch! Ist alles in Ordnung bei dir?«

»Natürlich, was soll denn nicht in Ordnung sein?«

»Gut. Aber was beschäftigst du dich denn mit dieser dämlichen Frau?«

»Ich hab noch mal über sie nachgedacht. Du solltest ihr helfen.«

Sartaj rieb sich die Augen und lauschte auf das Zwitschern. Frauen waren rätselhaft, und Mütter waren noch rätselhafter. Ma schwieg jetzt, aber es war ihr strenges Schweigen, eine Stille, die keinen Widerspruch duldete. Er wollte unbedingt weiterschlafen. »Ja, ist gut. Okay.«

»Ich mein's ernst, Sartaj.«

»Ich auch. Wirklich, ich werde ihr helfen.«

»Sie ist ganz allein.«

Das ist jeder auf der Welt, hätte Sartaj am liebsten geantwortet, aber er zwang sich, brav zu sein. »Schon gut, Ma. Ich helfe ihr. Versprochen.«

»Ich gehe jetzt in den Gurudwara.«

Was das damit zu tun hatte, daß sie ihn aus dem tiefsten Schlaf riß, war ihm schleierhaft, doch er flüsterte »Ja, Ma« und legte auf. Sein Bettzeug hatte sich seinem Körper angepaßt, der Vogel sang nicht allzu laut, der stumme Ventilator wehte die kühle Morgenluft herein, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Er verfluchte Kamala Pandey. Saali Kamala Pandey, eine Kutiya356 ist sie, sagte er zu dem Vogel, eine verdammte Randi. Dann stand er auf.

Sartaj verbrachte den Vormittag mit den immer gleichen Berichten über kleine Einbrüche, die flüchtig untersucht und nie aufgeklärt wurden. Der Nachmittag verrann zwischen zwei Richtern und drei Verhandlungen bei Gericht. Um fünf trank er in dem Restaurant gegenüber eine Tasse Tee und aß ein fetttriefendes Omelett. Das Restaurant hieß Shiraz und war voll besetzt mit schwatzenden Anwälten. Sartaj suchte sich einen Platz ganz hinten in dem klimatisierten Nebenraum im ersten Stock und wich den Blicken der Anwälte aus, die an ihm vorbei zum Waschbecken gingen. Er trank ein großes Glas Chaas101 in einem Zug aus, wischte sich den Schnurrbart und fühlte sich dann allmählich besser. Er schaffte es, den Raum zu durchqueren und die Treppe hinunterzugehen, ohne mit jemandem reden zu müssen, doch als er schon fast zur Tür hinaus war, hielt ihn ein spindeldürrer, pockennarbiger Mann auf.

»Sind Sie Sartaj Singh?«

Er war kein Anwalt. Sein graues Hemd hatte Schweißflecke, und er zeigte die verschlagene Unterwürfigkeit eines Menschen, der es gewohnt ist, daß man einen Bogen um ihn macht. Sein dröhnender Baß aber wog seine schmächtige Gestalt auf.

»Wer sind Sie?« fragte Sartaj ihn.

»Sie werden sich nicht an mich erinnern. Wir haben uns bei der Bestattung gesehen und vorher auch schon ein paarmal.«

Natürlich. Diese Stimme. »Sie sind Katekars ... Der Mann von Shalinis Schwester.«

»Vishnu Ghodke, Saab.«

»Vishnu Ghodke, stimmt.« Sartaj erinnerte sich jetzt, ihn zumindest bei der Bestattung gesehen zu haben. Ghodke hatte sich damals geschäftig um alles gekümmert. »Geht's gut, Vishnu?«

Vishnu Ghodke legte die Hand auf die Brust. »Ja, zum Glück, Saab. Obwohl ...«

Sartaj nickte. »Ja. Katekar war ein guter Mensch.« Er wartete darauf, daß Ghodke beiseite trat. »Man sieht sich.«

Aber Ghodke war noch nicht fertig. Er drehte sich zur Seite, um Sartaj vorbeizulassen, und folgte ihm auf den Bürgersteig hinaus. »Haben Sie Dadas Jungen in letzter Zeit gesehen?« fragte er von hinten.

Sartaj merkte plötzlich, daß er Vishnu Ghodke nicht besonders mochte. Er wußte nicht, warum, aber am liebsten hätte er ihm die Hand aufs Gesicht gedrückt und ihn rückwärts an die Wand gestoßen. »Ja, gestern erst, gestern abend. Ist was mit ihnen?«

»Nein, nein, Saab, alles in Ordnung.«

»Aber?«

»War ihre Mutter da?«

»Nein.«

Vishnu Ghodke schaute zu der abendlichen Autoschlange hinüber, die sich auf das Gerichtsgebäude zubewegte. Über ihm leuchtete rot das Schild des Shiraz mit seiner kunstvoll angeordneten Aufschrift in vier Sprachen. »Was soll das, Saab?« Er wandte sich wieder Sartaj zu. »Was soll das? Eine Frau hat zu Hause zu bleiben, eine Frau hat bei ihrer Familie zu sein.«

»Shalini muß arbeiten, Vishnu.«

»Das ist doch keine Arbeit, wenn man abends unterwegs ist und die Kinder hungrig zu Hause sitzen läßt.« Er vollführte ausgreifende Gesten zur Straße und zum Gerichtsgebäude hin, als würde sich Shalini zwischen schwarzen Roben und den schmutzigen steinernen Bögen herumtreiben.

Sartaj zog die Schultern hoch. Es juckte ihn in den Fingern. Maderchod. Mußte dieser Bastard genau jetzt hier aufkreuzen, ausgerechnet heute?

»Den Jungs geht es gut, sie bekommen genug zu essen, und das Haus ist sauber«, sagte er. »Was kitzelt denn Ihren Gaand?« Vishnu Ghodke wand sich, trat zurück und lehnte sich an die Hauswand. »Reden Sie schon.«

»Ich wollte nur sagen, Saab -«

»Was?«

»Sie geht neuerdings zu diesen Versammlungen.« Vishnu versuchte jetzt ruhig und vertraulich zu sprechen, vernünftig, von Mann zu Mann.

»Bei denen über Gesundheit geredet wird. Und?«

»Gesundheit ist das eine, Saab. Das andere sind diese ganzen unsittlichen Geschichten. Das ist nichts für eine anständige Frau. Und die Frauen sollen das Zeug den jungen Mädchen weitersagen und es in der ganzen Gegend verbreiten. Wieso muß ein unverheiratetes Mädchen über Schwangerschaft und Nirodh457 und all so was Bescheid wissen? Ich habe Töchter, ich bin Vater, und ich sage Ihnen, es wird immer schwieriger. Man weiß doch nie, was im Fernsehen kommt, und zwar mitten am Tag. Man kann als Familie schon gar nicht mehr gemeinsam fernsehen. Und dann kommen auch noch solche Leute daher, gebildete Leute, die sich Frauen wie Shalini schnappen und ihnen den Kopf verdrehen.«

Sartaj dachte daran, diesem Verteidiger der Kultur eine runterzuhauen, links und rechts, aber das würde ihn auch nicht zur Vernunft bringen, er würde sich nur noch radikaler zum Beschützer seiner Töchter aufwerfen. »Machen Sie sich mal keine Sorgen um Shalinis Kopf«, sagte er. »Sie spricht doch gar nicht mit Ihren Töchtern über diese Dinge. Und wenn sie es doch tun sollte und es Ihnen nicht paßt, dann sagen Sie ihr, sie soll das lassen.«

»Die Frau hört doch auf niemanden, Saab. Ihr Mann ist tot, und jetzt meint sie, sie kann machen, was sie will.«

»Aha, sie hört nicht auf Sie. Sind Sie deshalb so wütend?«

Vishnu wischte seine Schulter ab, an der die Hauswand abgefärbt hatte. Das Reden hatte ihn selbstsicherer und furchtloser gemacht. »Es geht mir nicht um mich, Saab, ich denke nur an die Jungen und ihr Zuhause. Das wird darunter leiden. Gharala paya rashtrala baya, wie man bei uns sagt.«

Sartaj legte Vishnu die Hand auf die Schulter und lächelte. Auf die Passanten mußten sie wie freundlich plaudernde Freunde wirken, doch Vishnu wand sich bereits unter dem Druck von Sartajs Daumen unterhalb seines Schlüsselbeins. »Sie machen sich also auch Sorgen um unser Land?« sagte Sartaj. »Jetzt hören Sie mal gut zu, Vishnu. Es gefällt mir nicht, daß Sie hier wegen Shalini Ärger machen. Sie halten sich wohl für einen bhenchod Heiligen! Laufen hier herum und verbreiten verdammte Lügen.«

»Aber das ist alles wahr, Saab!«

Sartaj drückte fester zu, und Vishnu bekam Angst. »Wahr ist, daß Shalini für ihre Söhne sorgt. Und Gutes tut. Sie sind ein kleiner Mann, Vishnu. Ihr Gehirn ist klein, Ihr Herz ist klein, und wie Sie über andere denken, das ist auch klein. Sie sind ein mieser kleiner Drecksack, Vishnu. Ich mag Sie nicht. Also halten Sie den Mund. Kein Wort mehr, verstanden?«

In Vishnus Augen glitzerten Tränen. Er zog an Sartajs Handgelenk, wurde den Schmerz aber nicht los.

»Verstanden?«

»Ja.« Doch er besaß die Hartnäckigkeit einer in die Enge getriebenen Ratte, dieser Vishnu. Er wandte den Blick ab und flüsterte: »Aber ich bin nicht der einzige, der so redet. Andere sagen das auch.«

Sartaj ließ ihn los und beugte sich nahe zu ihm. »Ja, andere Maderchods wie Sie reden immer gern dies und jenes über eine alleinstehende Frau. Besonders wenn sie einen sauberen Schwager hat, der die Gerüchte selbst in die Welt setzt. Sie halten also besser den Mund.« Vishnu nickte mit gesenktem Blick. Er würde natürlich nicht aufhören. Er würde weitermachen und seine Geschichte noch ausschmücken. »Wenn ich höre, daß Sie Ärger machen, kriegen Sie's mit mir zu tun, Vishnu. Shalini braucht jetzt Ihre Hilfe. Behandeln Sie sie, wie es sich unter Verwandten gehört. Helfen Sie ihr, dieses Zuhause zu stärken, machen Sie's nicht mit ihrem Gerede kaputt.«

Vishnus Kiefer mahlten, aber er hielt den Blick gesenkt und den Mund folgsam geschlossen. Doch zweifellos würde er ihn, sobald er sich sicher fühlte, wieder aufmachen. Sartaj tätschelte ihm die Wange. »Ich werde ein Auge auf Sie haben«, sagte er und ging davon.

Gharala paya rashtrala baya. Wenn also Stabilität und Wohlstand eines Hauses von seinen Fundamenten abhingen und die eines Landes von seinen Frauen, was sollte Sartaj dann mit der aalglatten, unberechenbaren Kamala Pandey machen? Er hatte unmißverständliche Anweisungen von Ma, und trotz seines Alters pflegte er sich ihrem Willen zu beugen. Meistens jedenfalls. Aber sie war ein Gefühlsmensch, sie wollte ein gefallenes Mädchen retten. Sie gehörte einer anderen Generation an und wußte nicht, was für Probleme jemand wie Kamala Pandey machte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie sehr Kamala Pandey ihn auf die Palme brachte. Du mußt der Frau helfen - das sagte sich so leicht. Das Weibsstück überhaupt zu ertragen war schon schwierig genug.

Drei Tage lag die Frage Sartaj im Magen. Er ging seiner Arbeit nach, er ermittelte, verhaftete, schrieb Berichte, trank und schlief, aber er bekam Kamala Pandey nicht aus dem Kopf. Es war eine angenehme Vorstellung, daß sie in Schwierigkeiten war, daß sie sich krümmte unter der Flut obszöner Worte, die aus ihrem Handy drang, daß man ihr Geld abnahm. Ja, sie mußte lernen, daß die Welt nicht zu ihrem Vergnügen da war, daß sie nicht immer haben konnte, was sie wollte. Am vierten Tag ließ dieses angenehme Gefühl nach, und ein nagendes Verantwortungsbewußtsein trat an seine Stelle.

»Was ist los, Sartaj?« fragte Majid Khan.

Sie standen auf Majids Balkon und warteten auf das Abendessen. Sartaj trank sein zweites Glas Black Label. Majid trug rote Shorts, er trank frisch gepreßten Limonensaft und sprach mit der ruhigen Autorität des alten Freundes, der sofort gemerkt hatte, daß Sartaj mißmutiger war als sonst. Er ließ nicht locker, bis Sartaj ihm die ganze Kamala-Pandey-Geschichte erzählte. »Attraktive Frau«, sagte Sartaj. »Prahlt mit ihrem Geld. Und jetzt nehmen ein paar Jungs ihr was davon weg.«

Majid strich sich mit Daumen und Zeigefinger die Schnurrbartenden hoch, wie immer, wenn er sich konzentrierte. »Sehr interessant«, sagte er. »Ich glaube aber nicht, daß es da wirklich ein Problem gibt.« Damit meinte er, daß es nicht weiter schwierig oder ungewöhnlich sein würde, die Sache aus den Unterlagen des Reviers herauszuhalten. Sie versprach gutes Geld, also war Diskretion möglich. Majid hob sein Glas. »Und wenn sie wirklich so heiß ist, Sartaj, dann könnte es doch Spaß machen, in dem Fall zu ermitteln.«

»Are, Majid, ich bin nicht an ihr interessiert.«

Majid straffte sich und wandte sich Sartaj zu. »Sie sagen doch, sie ist sexy, Yaar. Und sie geizt nicht mit ihren Reizen. Sie mag das. Also, was hat das damit zu tun, ob Sie sich für sie interessieren oder nicht? Nehmen Sie sich was davon.«

Das war von unbestreitbarer Logik: Ging eine Frau erst einmal fremd, war sie auf jeden Fall zu haben. Erpresser nutzten ihr Wissen um eine Affäre manchmal dazu, sich selbst zu bedienen, sich ein Stück von dem Kuchen abzuschneiden. Kamala Pandeys Erpresser hatten es noch nicht versucht, aber wenn ihr das Geld ausging, würden sie es vielleicht tun. So funktionierte das Geschäft - es gab verschiedene Zahlungsarten. Sartaj spuckte über die Brüstung. »Ma meint, ich soll ihr helfen«, sagte er.

»Das ist ja klar.«

»Aber ...«

»Sie haben kein Interesse an dem Geld, Sie haben kein Interesse an der Frau.« Majid zuckte die Schultern. »Dann helfen Sie ihr nicht.«

»Ja, aber was ist mit diesen Erpresserschweinen?«

Majid grinste. Er kannte Sartaj nur zu gut. Egal, was sein jüngerer Kollege von Kamala Pandey hielt - die Erpresser haßte er wie die Pest. Es gefiel ihm nicht, daß sie in seinem Bezirk aktiv waren, in seiner Gegend, seinem Umfeld, seinem Mohalla. Maderchods, Bhenchods, am liebsten hätte er ihnen die Golis gequetscht und sich an ihrem Geschrei ergötzt. Majid kratzte sich unter seinen Shorts den Schenkel. Er empfand genauso, das sah Sartaj ihm an. Er vertrat die Theorie, daß alle wirklich guten Cops Söhne starker Frauen seien. Er hatte Sartajs Mutter einmal kennengelernt, und seine eigene Ammi019 war ein winziger, verhutzelter Drache, der die Schwiegertöchter terrorisierte und für die Enkel noch immer Ehen arrangierte, ohne irgend jemanden zu fragen. Majid war der Meinung, eine Mutter, die ihr Haus in Ordnung hielt, die für Sauberkeit sorgte und klare Regeln darüber aufstellte, was richtig und was falsch war - eine solche Mutter erzog ihre Söhne zu guten Polizisten. Er verwies gern auf Kollegen, die er bewunderte, und erzählte von ihren Müttern. Majids Theorie hatte etwas für sich, fand Sartaj. Katekars Mutter beispielsweise war eine robuste, breithüftige Matriarchin gewesen. Noch Jahre nach ihrem Tod hatte Katekar voll Ehrfurcht von ihrem Zorn gesprochen.

Majid beugte sich vor, und sie stießen an. »Inspektor Sartaj Singh«, sagte er, »ich finde, wenn Ihre Ma es sagt, dann müssen Sie die Erpresser aus dem Verkehr ziehen.«

Sartaj mußte ihm recht geben. »Okay, ich rufe diese Pandey an«, sagte er. »Nach dem Essen.«

Bei Tisch beobachtete Sartaj Majids und Rehanas Geplänkel. Sie stritten sich darüber, ob seine oder ihre Eltern exzentrischer seien. Farah und Imtiaz kicherten. Die Geschichten, die Majid von Rehanas Mutter erzählte, kannte Sartaj schon, aber er lachte trotzdem darüber. Rehana ging zärtlich mit ihren Kindern um, und Sartaj konnte sich nicht vorstellen, daß aus Farah und Imtiaz jemals gute Polizisten werden würden. Rehana war zweifellos eine gute, liebevolle Mutter, aber sie beanspruchte nicht den altmodischen Platz im Leben ihrer Kinder, von dem Majid redete. Sie war ihre Freundin. Und die beiden waren viel zu ehrgeizig, um eine Karriere bei der Polizei anzustreben, die solche kaputten Typen hervorbrachte wie diesen Sardar-Freund ihres Vaters.

Sartaj fuhr nach Hause, die ganze Strecke über laut rülpsend. Er merkte, daß er betrunken war, und fuhr deshalb sehr langsam. Ein vollkommen runder Mond hing hinter den Häusern und leuchtete zwischen Reklametafeln hervor, die Shahrukh Khans578 neuen Film ankündigten, eine große Liebesgeschichte. Die Plakate, dachte Sartaj, während er vorsichtig um einen Kreisverkehr fuhr, glänzten viel stärker als die handgemalten, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte; Dharmendra hatte darauf ausgesehen wie ein Außerirdischer mit einem Wasserkopf. Die Liebe glänzte heutzutage überhaupt stärker, zumindest nach außen hin. Kamala Pandey aber merkte jetzt, wie schmutzig sie auch sein konnte, wie kahl und trostlos ein Hotelzimmer durch das Objektiv einer Kamera wirkte. Als er an einer Ampel halten mußte, unter einem anderen Shahrukh-Plakat, überlegte Sartaj, was er von Kamala Pandey bekommen konnte. Wollte er sie? Würde er es tun? Wohl kaum. Sie war egozentrisch, verwöhnt. Sex mit ihr würde zu aufreibend sein, würde eine Willens- und Kraftanstrengung erfordern, die alles andere als angenehm wäre. Nein, wenn er ihr half, dann einzig und allein des Geldes wegen.

Zu Hause zog Sartaj Schuhe und Socken aus und wählte Kamala Pandeys Nummer. Sie hob beim ersten Läuten ab, und er hörte die Panik in ihrer Stimme. »Hallo?«

»Hier Inspektor Sartaj Singh«, sagte er. Sie stöhnte, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube versetzt.

»Ja«, sagte sie. »Ja.« Im Hintergrund hörte man Stimmen und Musik. Dicht neben ihr redete ein Mann. Sie saßen in einem Restaurant, diese erfolgreichen jungen Leute.

»Ich möchte Sie noch mal sehen. Im selben Lokal, um vier.« Sie schwieg. »Hören Sie mich?«

»Ja.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen helfen.«

»Okay. Danke.« Sie bemühte sich angestrengt um einen beiläufigen Ton, so als spräche sie mit einer Freundin über einen Friseurtermin.

»Haben sie wieder angerufen? Sagen Sie einfach ja oder nein.«

»Ja.«

»Wir reden morgen darüber. Beruhigen Sie sich. Bringen Sie die Liste der Telefonnummern mit. Vier Uhr, selbes Lokal.«

»Okay, gut.«

Sartaj legte auf. Er legte die Füße auf den Couchtisch und lockerte seinen Gürtel. Wenn bei der Sache Geld heraussprang, würde er vielleicht mit Ma nach Amritsar fahren. Er würde sie in den Harmandir Sahib begleiten und ihr beim Beten zuschauen. Es war tröstlich, ihre tiefe Frömmigkeit zu spüren, die vertraute Wärme, die ihn dabei durchströmte. War das deshalb so, weil er damit aufgewachsen war, daß immer irgendwo in der Nähe das Murmeln ihrer Gebete zu hören war, oder gab es tief in seinem Innern noch einen vergessenen Rest Glauben, den ihr Summen und Singen wieder ein wenig zum Leben erweckte? Er wußte es nicht. Auf jeden Fall würde er mit ihr nach Amritsar fahren und ihre leichtfertigen Äußerungen, diese Reise sei ihre letzte, ignorieren. Wenn Ma wollte, daß er Kamala Pandey half, dann sollte sie auch davon profitieren. Das war nur angemessen und gerecht.

Am nächsten Tag im Sindur trug Kamala Pandey Schwarz. Sie saß an dem Tisch nahe der Küchentür, als Sartaj kurz nach vier kam. Vor ihr stand eine Flasche Mineralwasser, daneben lag ein winziges Handy. Ihr Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und sie war mit ihrer schwarzen Bluse zwar leger gekleidet, sah aber immer noch so schick aus, daß sie im Fernsehen hätte auftreten können, in einem Musiksender.

»Hallo«, sagte sie. »Vielen Dank.« Sie hatte so eine Art, den Kopf zu senken, wenn sie lächelte, und aus weit geöffneten Augen zu ihrem Gegenüber aufzuschauen.

»Haben Sie das Geld dabei?« fragte Sartaj. Er wollte das Gespräch kurz halten und auf berufliche Belange beschränken. Sie kramte in ihrer Tasche, einer anderen als beim letzten Mal - ein schwarzes Dreieck aus schillerndem Material. »Und die Nummern?«

»Es ist mehr als neulich«, sagte sie.

In dem Umschlag waren dreißigtausend. Sartaj nickte. »Haben die Erpresser gestern nachmittag angerufen?«

»Ja, um fünf vor halb zwei. Ich hab ihnen gesagt, daß ich Zeit brauche, um das Geld zusammenzukriegen, so wie Sie's mir gesagt haben. Die machen Druck.«

»Haben sie Sie beschimpft?«

»Sie haben ziemlich schlimme Dinge gesagt.«

Sie hatte eine schwungvolle Schrift voller Schnörkel, aber Datum und Uhrzeit der Anrufe waren in sauberen, mit Überschriften versehenen Spalten genau notiert. »Wann war die erste Zahlung?« fragte Sartaj und schrieb die Antwort auf das Blatt. »Und als sie angerufen haben, war da irgend etwas Besonderes zu hören?«

»Nein. Ich hab darauf geachtet. Ab und zu ist ein Auto oder ein Motorroller vorbeigefahren. Aber sonst nichts.«

»Achten Sie weiter darauf. Die werden sehr unflätig werden und Sie bedrohen. Halten Sie sie hin. Ich brauche eine Weile, um mir das anzuschauen. Ich rufe Sie bald wieder an.« Sartaj nahm den Umschlag und schob seinen Stuhl zurück.

»Warten Sie!« Sie hob gebieterisch die Hand und senkte sie unter Sartajs Blick wieder. »Bitte. Sie wollten doch mit Umesh sprechen. Er kommt.«

»Hierher?«

»Ja. Er wollte um vier dasein. Sorry.« Jetzt wirkte sie respektvoll und zurückhaltend.

»Okay.« Sartaj schaute auf die Uhr und nahm wieder Platz. Er wußte nichts mit ihr zu reden. Sie spielte mit ihrem Handy, drückte Tasten, las eine SMS. Dann legte sie es wieder hin und kramte in ihrer Tasche. Sie warf Sartaj, der sich strikt neutral verhielt, einen Blick zu und kramte weiter. Sie wurde zusehends nervöser, eine Frau, die es nicht gewohnt war, daß Männer in ihrer Gegenwart schwiegen. Sartaj begann sich zu amüsieren. Es war grausam, aber er gab keinen Mucks von sich, und die Minuten verstrichen.

Schließlich saß Kamala Pandey schlaff und mit so verlorener Miene da, daß sie ihm leid tat. »Kommt Umesh immer zu spät?« fragte er.

Sie belebte sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Im Beruf ist er pünktlich, in allem anderen nicht. Er braucht länger als ich, um sich fertigzumachen. Sie sollten mal sein Bad sehen - die reinste Drogerie. Er hat mehr Shampoos und Pflegespülungen und Duftwässerchen als ich und Ihre Frau und noch fünf andere Frauen zusammen.«

Sartaj ignorierte den kleinen Köder, was seine Frau betraf. »Und jedesmal ruft er an und sagt, er ist schon unterwegs, er sitzt im Auto, er beeilt sich, er ist in einer Viertelstunde da?« fragte er.

»Ja, genau. Zwei Stunden später kreuzt er dann mit irgendeiner Ausrede auf. Das hat mich wahnsinnig gemacht.«

Es klang trotz allem etwas wehmütig. Sartaj konnte es ihr nachfühlen: Dramatik und Verrücktheit taten weh, aber man konnte sie sowenig entbehren wie Essen und Trinken. Bis man sich in jener tödlichen Ruhe einrichtete, in der es weder Hoffnung noch Enttäuschung gab. Kamala Pandey aber sprach noch gern von den Sünden ihres Ex, es munterte sie auf. »Vielleicht hatte er unterwegs noch was zu erledigen«, sagte Sartaj.

Sie mußte laut lachen. »Umesh hat immer mehrere Eisen im Feuer. Das hält er nicht mal groß geheim. Er gibt einem das Gefühl, er hätte noch nicht die Richtige gefunden und vielleicht sei man selbst diejenige, bei der die Suche endet. Er ist so ehrlich, daß man ihm glaubt.«

»Aber am Ende haben Sie ihn durchschaut.«

»Ich hab lange genug dazu gebraucht.«

Doch trotz allem vermochte sie die Sehnsucht nach ihm nicht abzustellen, das sah Sartaj, als Umesh kam. Er begrüßte Sartaj mit einem festen Händedruck und berührte Kamala Pandeys nackten Arm. Sie blieb vollkommen starr. Sartaj mußte plötzlich daran denken, wie er gegen den Schauder angekämpft hatte, der seinen Arm hinauflief, wenn Megha ihn nach der Trennung leicht am Handgelenk berührt, wenn sie sich zu ihm geneigt hatte. Er hatte dann Schultern und Rücken angespannt, um sich nicht seinerseits zu ihr zu beugen. Und jetzt stieg unwillkürlich ein warmes Mitgefühl für diese Frau in ihm auf.

»Hallo«, sagte Umesh. »Ich könnte jetzt was von einem Stau erzählen, in den ich geraten bin, aber ich hab, ehrlich gesagt, einfach zuviel Zeit vertrödelt. Tut mir leid.«

Er sah blendend aus. Er trug dunkelrote Jeans, und unter seinem engen weißen T-Shirt zeichneten sich mächtige Schultern ab. Die Jeans waren grotesk, aber an Umesh sahen sie fabelhaft aus. Er schimmerte golden, von den langen Armen bis hinauf zu den hellbraunen Augen, die Kamalas ganz ähnlich waren. Sie mußte hineingeblickt und sich selbst darin gesehen haben. »Setzen Sie sich«, sagte Sartaj. Der Mann hatte einen freimütigen, heiteren Charme, doch Sartaj war entschlossen, sich nicht einwickeln zu lassen.

»Ich muß mal eben verschwinden, bin gleich wieder da«, sagte Umesh. »Es war eine lange Fahrt.« Er legte sein Handy und einen Schlüsselbund auf den Tisch und eilte davon. Das Handy war genau das gleiche wie Kamalas, seidig glänzend und klein. Die Schlüssel hingen an einem Automodell, irgend etwas Flaches, Schnelles.

»Das ist ein Porsche«, sagte Kamala. »Umesh liebt Autos.«

»Und er fährt zu schnell, nicht wahr?« Sie nickte. So waren sie vermutlich zu der Pension gefahren, dachte Sartaj, hatten sich viel zu schnell durch den Verkehr geschlängelt, berauscht von der Geschwindigkeit. »Was fährt er?«

»Einen Cielo.«

»Einen roten?«

»Nein, rot sind nur seine Hosen. Ich hab ihm gesagt, Rot ist nicht seine Farbe, aber er fällt nun mal gern auf. Der Wagen ist schwarz.«

Umesh kam zurück und setzte sich Sartaj gegenüber. Er war groß, einsfünfundachtzig ungefähr, und er hatte die schmälste Taille, die Sartaj seit langem bei einem Mann gesehen hatte. Sein Rumpf verjüngte sich von den durchtrainierten Schultern zu dem flachen Bauch und den Hüften hinab wie ein Dreieck, so daß er aussah wie eine Karikatur. Aber Kamala liebte diesen Supermann. Sie hatte sich wieder gestrafft.

»So, Inspektor-saab«, sagte Umesh. »Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Ich kenne die Geschichte im wesentlichen«, sagte Sartaj, »aber ich möchte mehr über diese Pension wissen. Wie heißt sie?«

»Cozy Nook Guesthouse. Auf dem Frichley Hill, nicht weit von dem großen Fariyas Resort. Ein kleines Haus, nicht zu voll, schöner Blick. Eigentlich mehr ein Landhaus, das die Besitzer vermieten.«

»Cosy Nook Guesthouse« schrieb Sartaj in sein Notizbuch. »C-o-z-y«, buchstabierte Umesh freundlich lächelnd, und da es um die unergründliche englische Sprache ging, konnte man ihm unmöglich böse sein. Er war alles in allem zu schön, aber ein netter Kerl. Sartaj konnte sich vorstellen, wie er die Damen bezauberte, wie er sie über seine Fehler aufklärte, wie er lächelte und ihnen mit seinen sonnenhellen Augen aufmerksam zuhörte. Man mußte einfach von ihm fasziniert sein. »Okay«, sagte Sartaj. »Wie sind Sie auf die Pension gekommen?«

»Ein Freund von mir hat in der Nähe ein Haus, und wir sind immer dran vorbeigefahren. Es ist ein altes Gebäude.«

»Gab es dort neue Kellner? Irgendeinen Personalwechsel?«

»Nicht, daß ich wüßte. Ich hab nicht weiter darauf geachtet, aber wenn ich mich nicht irre, waren es immer dieselben Leute.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer die Videos aufgenommen haben könnte?«

»Nein, Sir. Das Personal ... oder andere Gäste ... Aber ich erinnere mich an niemand Bestimmten.«

»Haben Sie einmal andere Gäste wiedererkannt?«

»Nein, nie. Das wüßte ich.«

»Wann genau wurden die Videos gemacht?«

»Das ist nicht zu erkennen. Ich hab mir auch nicht aufgeschrieben, wann wir dort waren.«

»Wie oft waren Sie überhaupt in diesem Cozy Nook?«

»In all den Monaten? Ich weiß nicht, vielleicht sechs-, siebenmal?«

»Eher elfmal, vielleicht zwölfmal, würde ich sagen«, schaltete sich Kamala ein. »Das letzte Mal Anfang Mai.«

»Ich dachte, Sie haben sich vor einem halben Jahr getrennt«, sagte Sartaj.

»Das hatten wir auch.«

Also waren sie trotz der Trennung die ganze Strecke bis zum Cozy Nook gefahren, um Sex zu haben. Wahrscheinlich hatten sie auf der Hinfahrt gestritten, und auf der Rückfahrt geschwiegen. Der bittere Zug um Kamalas Mund ließ darauf schließen, daß auch jetzt ein Streit bevorstand. Und vielleicht würden sie auch danach wieder Sex haben, was Sartaj um Kamalas willen nicht hoffte. So etwas brachte wenig Trost, schon gar nicht bei einem Mann wie Umesh. Netter Mensch, aber unbeständig. Ganz anders als der gar nicht gutaussehende, aber verläßliche Mr. Pandey.

Sartaj wandte sich an Mrs. Pandey. »Wer haßt Sie?«

»Wie bitte?« Kamala sank in sich zusammen und neigte sich ein wenig Umesh zu.

»Wer sind Ihre Feinde?« fragte Sartaj gelassen.

»Kamala ist so ein lieber Mensch«, sagte Umesh. Sein Arm ruhte auf Kamalas Stuhllehne, seine Fingerspitzen auf ihrer Schulter. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie Feinde hat.«

»Nein«, sagte Kamala. »Ich meine, ich streite mich schon mal mit jemandem, aber Feinde?«

»Jeder hat Feinde«, sagte Sartaj. »Und es ist besser, man weiß, wer sie sind.«

Das ließ die beiden einen Moment verstummen. Sie überlegten, welcher ihrer Freunde oder Bekannten sie insgeheim so verabscheuen mochte, daß er regelrecht als Feind gelten konnte. »Sie meinen, das Ganze ist eine persönliche Sache?« fragte Umesh.

»Bei Erpressung geht es normalerweise um Geld, aber man sollte trotzdem auch an Freunde und Feinde denken. Jemand, der etwas weiß und der sich über irgend etwas geärgert hat oder dringend Geld braucht.«

Umesh war erschrocken. »Sogar aus meinem Bekanntenkreis? Hätte er sich dann nicht auch an mich gewandt?«

»Sie sind nicht verheiratet. Und Sie sind ein Mann.«

»Und ich unterstütze meine Eltern und Geschwister. Da bleibt nicht viel übrig. Also haben die sich das leichtere Ziel ausgesucht.«

»Wer käme da in Frage?«

Beide Männer sahen Kamala an. Ihre Wangen waren rot und gespannt, und Sartaj fragte sich, ob sie anfangen würde zu weinen. Diesmal würde er ihr vielleicht glauben. Doch sie faßte sich wieder und nannte ihre Feindin. »Ich habe eine Freundin namens Rachel.«

»Hatten Sie Streit mit ihr?« fragte Sartaj.

»Ja.«

»Worüber?«

Kamala mußte über seine Begriffsstutzigkeit lachen. »Worüber wohl?«

Natürlich, über Umesh. Zwischen den beiden Frauen hatte schwesterliche Liebe geherrscht, über Jahre vielleicht, dann war der schöne Umesh zwischen sie getreten. »War Rachel Ihre beste Freundin?«

»Ja.«

»Und dann?«

»Wir haben Umesh zusammen kennengelernt. Auf dieser Party damals.«

»Und Rachel hat er auch gefallen?«

»Are, Yaar«, warf Umesh ein und faßte über den Tisch. »Ich hatte nichts mit der Frau, ich hab sie nur ein paarmal mit Kamala zusammen getroffen. Anscheinend hat sie sich wer weiß was eingebildet.«

Was Umesh dachte, spielte in Anbetracht der Umstände keine Rolle. »Wie stand Rachel zu ihm?« fragte Sartaj Kamala.

»Sie mochte ihn.«

»Von Anfang an?«

»Ja. Wir haben uns nach der Party über ihn unterhalten, und sie hat immer wieder gesagt, was für ein toller Mann er sei. Männlich, aber sensibel.« Kamala verdrehte die Augen.

»Und dann?«

»Es kam, wie es kommen mußte.«

»Wann haben Sie's Rachel gesagt?«

Das wußte Kamala noch genau. »An einem Sonntag, zwei Monate später. Ich kam von einem Flug zurück und bin sofort zu ihr. Ich hab's einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Und?«

»Sie hat mich rausgeschmissen. Und nie wieder mit mir geredet.«

»So wütend war sie?«

»Sie war zwei Jahre zuvor geschieden worden. Seitdem hatte ihr kein Mann mehr gefallen.«

»Bis Umesh kam.«

»Bis Umesh kam.«

Zu Umeshs Ehrenrettung mußte man sagen, daß er sich nichts auf seinen fatalen Charme einbildete, der Frauen dazu brachte, einander zu hassen. Er schien besorgt, ungläubig. »Trotzdem«, sagte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand wie Rachel so tief sinken kann. Erpressung ...«

»Sie ist die einzige, die von uns weiß«, sagte Kamala trübsinnig.

Ja, Kamala wußte mehr über Wut, über die faulenden Reste einer Freundschaft ganz hinten im Schrank - alte Fotos, geschenkte T-Shirts, Mitbringsel aus den Winterferien im schönen Singapur, alles zu einer schwarzen, Tag und Nacht brennenden Bitterkeit geronnen, so daß letztlich nur die Erpressung Erleichterung bot. Nicht des Geldes wegen, sondern weil sie Demütigung und Schmerz verursachte. Das Geld war gut, Heilung und Frieden aber würden von woanders kommen. Ja, Kamala wußte Bescheid. Es gab ein Motiv, und es gab die Gelegenheit. Nicht genug für eine Anzeige, aber auf jeden Fall genug für Ermittlungen.

»Geben Sie mir bitte Rachels Daten.«

Kamala schrieb schnell, in ihrer schwungvollen Schrift, alles aus dem Gedächtnis.

»Gut«, sagte Sartaj. »Ich werde ermitteln. Ihre Handynummer bitte, Mr. Umesh?«

»Ist das alles?«

»Für heute genügt es.«

»Ich dachte, Sie würden eine ganze Menge wissen wollen.«

»Wenn ich Fragen habe, rufe ich Sie an. Die Nummer?« Sartaj notierte sie und klappte sein Notizbuch zu. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Hören Sie zu, hören Sie einfach nur zu. Und haben Sie keine Angst. Die geben sich brutal, aber sie brauchen Sie. Sie hören von mir.«

»Sie gehen jetzt also diesen Anrufen nach?« fragte Umesh. Obwohl er direkt betroffen war, fand er es aufregend, daß nun ermittelt wurde, daß die Sache spannend und unterhaltsam zu werden versprach.

»So ähnlich. Mögen Sie Krimis?«

»Nur Hollywood-Krimis. Unsere indischen sind so schlecht gemacht.«

Das war nicht zu leugnen. »Stimmt«, sagte Sartaj. »Aber ein paar Ausnahmen gibt es.«

Umesh war offensichtlich anderer Meinung, aber er sagte nichts dazu. »Warum kann Kamala nicht einfach sagen, sie zahlt, und dann verhaften Sie die Kerle bei der Geldübergabe?«

»Weil sie das erwarten und es jetzt schon vermeiden. Deswegen haben sie beim ersten Mal den Jungen vorgeschickt. Die gehen kein Risiko ein. Man sollte sie nicht warnen.«

»So gut sind die?«

»Gut ja, aber nicht gut genug«, sagte Sartaj. »Die erwischen wir schon. Also, an die Arbeit.« Umesh schaute skeptisch drein. Sartaj hob zum Abschied die Hand und ließ die beiden allein. Sie saßen unbehaglich nebeneinander, aber sie paßten gut zusammen.

Die Nachmittagssonne stand tief, und Sartaj setzte seine dunkle Sonnenbrille auf. Sie war völlig aus der Mode, stellte er plötzlich fest, seit zwei Jahren schon, womöglich noch länger. Vielleicht sollte er sich eine neue kaufen. Aber er hing an dem ramponierten alten Stück. Es hatte viel mitgemacht, und das Vertraute, Bequeme hatte manches für sich. Mode bedeutete harte Arbeit und war obendrein teuer. Er war mittlerweile zu alt und zu arm dafür. Sartaj grinste in sich hinein - was für ein langweiliger alter Buddha ist aus dir geworden - und fuhr weiter.

Kamala Pandey hatte ein gutes Gedächtnis für Details, aber die Erpresser waren vorsichtig gewesen. Die Anrufe verteilten sich über die gesamten nördlichen Vororte, und jede Nummer war nur einmal benutzt worden. Das einzige erkennbare Muster bestand darin, daß die Anrufe entweder morgens zwischen acht und zehn erfolgt waren oder abends nach sechs. Offenbar waren die Anrufer irgendwo angestellt und verdienten sich durch Erpressung etwas dazu.

»Das sind alles Nummern aus Telefonkabinen«, sagte Kamble. »Mit Sicherheit.«

»Ich weiß.« Sartaj hatte Kamble noch am selben Abend in die Ermittlungen einbezogen, nachdem er sich klargemacht hatte, wieviel Lauferei damit verbunden sein würde. Und Kamble machte gern mit - gegen einen Anteil von vierzig Prozent. Mit Kamble zusammenzuarbeiten bedeutete aber auch, daß Sartaj in der Delite Dance Bar mit ihm trinken und als Alibi für seine Freundinnen herhalten mußte. Er hatte bereits zwei Tänzerinnen darüber belogen, wo Kamble etwas früher an dem Abend gewesen war. »Es ist immer nur ein Anruf pro Nummer, also werden sich die Betreiber der Telefonkabinen nicht an die Leute erinnern. Aber wir sehen sie uns trotzdem an, erst mal die von den letzten Anrufen. Was ist Ihnen lieber, Westen oder Osten?«

»Westen, Boß.« Kambles hungriger Blick war auf die drei jungen Tänzerinnen gerichtet, die sich auf der Tanzfläche träge zu Gufaon me aaja drehten. Ihre paillettenbesetzten blauen, rosaroten und grünen Ghagras waren prachtvoll, das mußte Sartaj zugeben. Dabei war das Delite noch fast leer, und die Tänzerinnen ließen ihre Reize noch nicht mit vollem Einsatz spielen. Kamble sah aus, als wollte er sie mit allen notwendigen Mitteln auf Trab bringen. Und das würde er zweifellos auch tun.

»Okay«, sagte Sartaj. »Dann nehme ich den Osten. Bis morgen.«

»Are, bleiben Sie doch noch.«

»Ich muß morgen früh raus.«

»Das muß man jeden Tag. Trinken Sie noch einen mit mir.«

»Bin schon am Limit.« Sartaj stand auf.

»Sie brauchen mal wieder Sex, Boß.«

»Mit wem?«

»Mit irgendeiner von denen.«

»Keine Chance.«

»Wieso? Meinen Sie, die mögen Sie nicht? Keine Sorge, Boß, die werden Sie verschlingen.«

»Eben.«

»Zu einfach? Dann nehmen Sie eine, die nichts von Ihnen wissen will. Auf jeden Fall müssen Sie wieder einsteigen, Mr. Singh.«

»So? Warum?«

»Was hat man denn sonst schon?«

In der Tat. Was hatte man sonst schon? Ruhestand, Rückzug? Ma hatte ihre Religion, aber erst nach einem langen Leben mit Papa-ji. Konnte man in jüngeren Jahren aussteigen wie ein Sanyasi, der allem entsagte und sich in die Berge aufmachte? Nein, das war nichts für ihn, das wußte Sartaj. Aber jetzt würde er erst einmal das Delite verlassen. Er war hundemüde und wollte einfach nur nach Hause. Er trank sein Glas aus. »Danke«, sagte er. »Bis morgen dann.«

Kamble war nicht zufrieden, aber er insistierte nicht weiter. »Bis morgen«, sagte er mit seinem breiten Lächeln. »Dann sehen wir weiter.«

Bevor Sartaj schlafen ging, rief er Iffat-bibi an. Sie hatte ihm kurz nach Katekars Tod telefonisch ihr Beileid ausgesprochen. Sie wußte, daß er lange mit Katekar zusammengearbeitet hatte, und sie wußte auch von Katekars Kindern und hatte eine nicht geringe Summe angeboten, um die Familie zu unterstützen. Sartaj hatte abgelehnt, doch seitdem hatten sie oft miteinander telefoniert. Iffat-bibi war clever und lustig und wußte endlose Geschichten von Apradhis und Polizisten früherer Zeiten zu erzählen. Sie lieferte ihm Informationen, gab Gerüchte, Orte und Namen an ihn weiter und verlangte dafür nicht mehr, als daß er Mitgliedern der Company, die im Revier einsaßen, die Kontakte zu ihren Familien erleichterte. Ihre Informationen waren präzise und nützlich, betrafen aber nie große Fälle oder berüchtigte Apradhis. Es war alles angenehm unbedeutend, und Sartaj empfand es als ein faires Geschäft, das auf keiner Seite Verpflichtungen schuf. Und es war irgendwie entspannend, wenn Iffat-bibi von Papa-ji erzählte. Anscheinend hatte Papa-ji über alle seine Fälle mit ihr gesprochen, und allmählich kristallisierte sich ein Bild des alten Mannes heraus, das Sartaj nirgendwo sonst hätte finden können. Papa-ji war offenbar gar nicht so eitel gewesen, wie es bei seiner Leidenschaft für zweireihige Jacketts und maßgefertigte Schuhe den Anschein haben mochte. Zumindest hatte sich das nicht auf seine Arbeit ausgewirkt. Er kannte seinen Bezirk und hatte ein Gespür dafür, was sowohl der Apradhi als auch das Opfer als nächstes tun würden. Seine Verhaftungen waren nicht spektakulär, aber sie waren häufig, sie waren stetig und real, und er hatte es nicht nötig, sie auszuschmücken, um einen Jahresbericht aufzubauschen. Er wurde respektiert, trotz seiner extravaganten Kleidung. Und seine Eitelkeit war wohl auch der Grund dafür, daß er weitgehend ehrlich blieb, zumindest insoweit es für seine Karriere von Bedeutung war. Die Vorstellung, man könnte Sardar Tejpal Singh kaufen wie einen Laib Brot im Regal, wie eine Schachtel Zigaretten, war ihm unerträglich. Sein Stolz hinderte ihn auch daran, sich seinen Vorgesetzten gegenüber unterwürfig zu verhalten: Er konnte um einen Gefallen bitten, mehr nicht; Überredung, Beschwatzen, Betteln oder Bestechung waren ihm unmöglich.

»Ein Sturkopf war er«, sagte Iffat-bibi, »aber er hat seine Prinzipien nie verraten. Nicht daß ihm das viel gebracht hätte.«

»Na ja, Bibi«, sagte Sartaj, »es will ja nicht jeder einen Umsatz machen wie ihre Bhais. Wie hoch ist der denn?«

»Achttausend Crores, stand gestern in der Zeitung.«

»Das sagt die Zeitung. Und Sie?«

Sie schnaubte. »Bachcha, ich bin eine alte Frau, ich führe nicht Buch. Aber es reicht.«

»Wofür? Was fängt ein Mensch mit achttausend Crores an?«

»Jeder braucht doch ein bißchen was nebenbei. Nicht nur das Nötige. Für besondere Wünsche. Sogar Ihr Sardar-saab.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Are, nichts. Das war nur so dahingesagt.«

Ein unbehaglicher Schauder lief Sartaj über die Schultern. Er setzte sich auf. »Das stimmt nicht. Sagen Sie mir, was Sie gemeint haben.«

»Gar nichts.«

»Doch, sagen Sie's mir. Machen Sie mir nichts vor, Iffat-bibi. Was meinen Sie?«

»Sie machen viel Lärm um nichts, Beta. Ich hab ihm versprochen, es niemandem zu sagen.«

»Ging's um eine Frau? Um Frauen?«

»Was für eine schmutzige Phantasie Sie haben. Nein!«

»Worum dann? Sagen Sie's mir.«

»Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten.«

»Sagen Sie's mir.«

»Er hat gewettet.«

»Gewettet?«

»Ja. Er liebte Pferde. Er hat bei den Pferderennen Wetten abgeschlossen.«

»Er ist zu Pferderennen gegangen?«

»Nein, nie, da hätte ihn ja jemand sehen und es Ihrer Mutter sagen können. Einer von meinen Jungs hat die Wetten für ihn plaziert.«

Ja, Ma-ji mit ihrer Flüchtlings-Sparsamkeit hätte nie zugelassen, daß in ihrem Haushalt gewettet wurde. Sie kaufte auch keine Lotterielose, das sei eine einzige Geldverschwendung, meinte sie, wer glaube, er könne für eine Rupie ein Crore bekommen, der sei total verrückt. Und nun entpuppte sich Papa-ji als ein geldverschwendender, wettender Narr. Aber er hatte Pferde geliebt. Er hatte zutiefst bedauert, daß er nie reiten gelernt hatte. Beim Frühstück hatte er mit großer Sorgfalt die Sportseite der Zeitung auf dem Tisch glattgestrichen und auf ein Foto von einem Pferd gezeigt. »Seht mal, wie schön«, hatte er gesagt, aber Sartaj und Ma hatten nicht geantwortet oder gar nicht hingehört, denn er sagte das ständig. So hatte er außerhalb der Familie ein geheimes Leben geführt oder zumindest seine Geheimnisse gehabt. Sartaj hustete einen Kloß im Hals fort und sagte: »Hat er viel verloren?«

»Verloren? Nein, er hat gar nicht erst um viel gewettet. Er hatte ein Limit von fünfzig Rupien, das er später auf hundert erhöht hat. Aber er kannte sich mit den Rennprogrammen aus. Er hat mehr gewonnen, als er verloren hat. Viel mehr.«

Papa-ji hatte gewonnen. In dieser anderen Welt mit ihren eigenen Regeln, ihren Tragödien und Triumphen war er ein Sieger gewesen. Er hatte die Gesetze der Wahrscheinlichkeit überlistet, sie außer Kraft gesetzt. Liebe, Heimweh und Bedauern strömten bittersüß in Sartajs Mund, Nase und Augen, und er mußte das Telefon ein Stück weghalten, damit Iffat-bibi nichts von dieser Gefühlsaufwallung mitbekam.

»Sartaj?«

»Ja, Bibi. Unglaublich, der alte Mann!«

»Bemerkenswert. Aber sagen Sie's nicht Ihrer Mutter, ja?«

»Nein.«

Später fragte sich Sartaj, ob Ma es nicht schon wußte. Sie und Papa-ji hatten ihre Schwierigkeiten miteinander gehabt, ihre Schweigepausen, die Sartaj nicht hatte deuten können. Er hatte laute Stimmen hinter verschlossenen Türen gehört, und einmal hatte der Streit drei Tage gedauert, aber warum er angefangen hatte und wie er endete, hatte Sartaj nie erfahren. Doch das gab es in jeder Ehe, und die beiden waren einander mehr als vierzig Jahre lang treu ergeben gewesen. Vielleicht hatte Ma von Papa-jis Pferden gewußt, es aber nicht wissen wollen. Vielleicht hatten sie nur so miteinander glücklich sein können. Ob Ma sich gewundert hatte damals an Sartajs Geburtstag, als Papa-ji ihm den größten und teuersten Metallbaukasten mitbrachte, den es je gegeben hatte? Papa-ji hatte Sartaj auf die Schultern gehoben, und Sartaj hatte ihm nachgeplappert, als er unter den Gästen die Runde machte und jedem sein Hallo-ji sagte, und alle hatten fröhlich gelacht. Vielleicht hatte eines seiner Pferde an dem Tag gewonnen. Er und Sartaj hatten am Abend noch lange zusammengesessen und ein rot-grünes Haus mit einer hohen Mauer darum gebaut, und Ma hatte neben ihnen gekauert und ihnen gezeigt, wo der Hof und der Haupteingang hin sollten. Papa-ji wollte eine Fahnenstange aufs Dach setzen, aber Ma meinte, dann würde das Haus wie ein Regierungsgebäude aussehen. Papa-ji und Sartaj arbeiteten konzentriert, sie fügten zum Schluß sogar noch ein Schwingtor und eine Hütte für den Chowkidar hinzu, und Sartaj durfte aufbleiben, bis alles fertig war.

Am nächsten Morgen wartete auf dem Revier eine Nachricht von Mary auf Sartaj: »Kommen Sie morgen abend in die Wohnung in der Yari Road.« Das war alles. Sartaj drehte den Zettel befremdet um, faltete ihn dann sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. Er war froh, daß Kamble ihn nicht gesehen hatte, sonst hätte er mindestens einen halben Tag lang sein anzügliches Grinsen und seine Witze über Ghochi und merry Mary und private Verabredungen ertragen müssen.

Den ganzen Nachmittag fuhr Sartaj von einem Telefonkabinenbetreiber zum nächsten und erntete wie erwartet nur verständnislose und erstaunte Blicke. Die Besitzerin eines Ladens in der Nähe von Film City, eine Frau in den Sechzigern mit orangefarbenem Haar, schob sich ein Paan in den Mund und redete Klartext: »Ja, der Anruf war erst vorgestern, Baba, aber Sie sehen ja, wie viele Leute hier telefonieren. Ich schau mir doch nicht die Gesichter an. Die Leute kommen rein, telefonieren und zahlen. Bas. Ich erinnere mich nicht mal mehr an die von heute.« Sie beugte sich vor und spähte auf den elektronischen Zähler auf der Theke. »Hundertdreißig Anrufe waren's heute schon. Dabei ist abends am meisten los.« Sie sah schrecklich aus, aber sie sagte die Wahrheit.

»Einen guten Umsatz machen Sie«, sagte Sartaj.

»Nach Hause telefonieren muß jeder.«

Eine kleine Schlange wartete vor ihren beiden Telefonen, Handwerker, kräftige, stoppelbärtige Punjabis. Sie waren von dem Laden drei Türen weiter, wo sie Regale bauten, herübergekommen und taten so, als würden sie nicht zuhören. Daß ein Sikh Polizist in Bombay war, interessierte sie, aber sie hatten zuviel Angst vor einem Polizei-Inspektor, um ihn anzusprechen. Ihre Familien lebten vermutlich in Gurdaspur oder Amritsar, und sie hatten gelernt, vorsichtig zu sein.

Insgesamt klapperte Sartaj neunzehn Telefonkabinenbetreiber ab, und überall telefonierten Männer und Frauen quer durch die Stadt und durch das Land. Keiner konnte sich an zwei Männer unter den Tausenden erinnern. Um sieben machte Sartaj Schluß und fuhr in die Yari Road. Es herrschte dichter Verkehr, und bis er auf der anderen Seite der Unterführung war, verblaßte das grandiose Farbenspiel der Dämmerung bereits. Das Licht im Aufzug ging nicht, und Sartaj mußte nach den Knöpfen tasten. Doch bei Mary brannte Licht. Sie öffnete die Tür zu einem hell erleuchteten Wohnzimmer und strahlte Sartaj an. Sie hielt einen Staubwedel in der Hand und hatte sich einen Chunni um den Kopf gebunden, so daß sie ein wenig aussah wie die Rani von Jhansi. »Hallo«, sagte sie, »kommen Sie rein.«

»Hallo«, sagte Sartaj. Das Wohnzimmer war mit Pappkartons vollgestellt, aber blitzsauber. Mary mußte den ganzen Tag geschuftet haben, doch sie wirkte entspannt und munter. »Sie haben ja wieder Strom.«

»Jana hat einen Freund beim BSES. Ich habe die letzten Rechnungen bezahlt, und der Freund hat den Strom wieder anstellen lassen.«

Jana war der praktische Typ Frau; natürlich hatte sie einen Freund beim BSES, der dafür sorgen konnte, daß man schon nach wenigen Tagen Strom hatte und nicht erst nach einem oder zwei Monaten. Laute Filmi-Musik tönte aus dem Schlafzimmer in den Flur hinaus. »Jana ist mit den Schuhen zugange?«

Mary nickte und zwinkerte Sartaj zu. »Und mit den Kleidern. Alle zwei Minuten regt sie sich furchtbar auf, weil Jojos Sachen ihr zu klein sind. Kommen Sie.« Sie ging an Sartaj vorbei und rief: »Jana! Jana!«

Jana schien völlig in ihr Tun vertieft. Sie begrüßte Sartaj mit einem knappen Nicken und einem »Hallo« und führte ihn dann ins Arbeitszimmer. »Hier haben wir als erstes saubergemacht«, sagte sie, »weil wir die ganzen Papiere und Akten wegwerfen wollten.«

»Wir hatten schon damit angefangen«, sagte Mary, »aber dann hat Jana was gefunden.«

Sie waren hochzufrieden mit sich, weil sie Sartaj davon berichten konnten, aber sie freuten sich auch über den Fund selbst. »Was denn?« fragte Sartaj mit genau dem richtigen Maß an Spannung.

Jana nahm einen Umschlag vom Aktenschrank, holte ein Foto heraus und hielt es mit einer schwungvollen Bewegung hoch. »Das hier.« Ein Foto. »Und das.« Noch ein Foto.

Sartaj hielt ihre Hand fest. Ein Mädchen. Ein Mädchen in Modelpose, Blick über die Schulter. Nicht übermäßig attraktiv.

»Das war in der untersten Schublade von Jojos Schreibtisch«, sagte Mary. »Unter ein paar Rechnungen.«

»Hm.« Sartaj versuchte sich zu erinnern, ob er die Bilder gesehen hatte, als er mit Katekar das Büro durchsucht hatte. Das Mädchen hatte nichts Besonderes an sich, nichts, was man im Gedächtnis behalten hätte. »Und?«

Jana wunderte sich. »Erkennen Sie sie nicht?« Sie hielt das andere Foto hoch.

Sartaj griff danach. Es war eine Porträtaufnahme des Mädchens, mit offenem Haar und sehnsüchtigem Blick. Er drehte es um. Auf der Rückseite stand in sauberer Schrift der Name: Jamila Mirza. Er sagte Sartaj nichts. »Wer ist das?«

Jana und Mary sahen ihn mit jener mütterlich-duldsamen Miene an, die Frauen angesichts männlicher Dummheit aufzusetzen pflegen. Jana hielt ein Blatt Papier hoch. »Hier ist eine Liste mit Geldbeträgen, Zahlungen wahrscheinlich, über Monate und Jahre. Und Kopien von einem Paß, hier, dasselbe Mädchen. Außerdem Kopien von Flugtickets nach Singapur. Sie war oft dort, zum Teil jeden Monat. Das war nicht irgendein Mädchen. Das war eine feste Freundin.«

»Daß Jojo Gaitonde Mädchen geschickt hat, wissen wir. Sie wird eine davon gewesen sein.«

»Aber wissen Sie, wer sie ist?« fragte Jana.

»Jamila Mirza?«

»Das war sie mal. Dann wurde sie Zoya Mirza.«

»Die Miss India? Die Filmschauspielerin?«

»Genau die.«

Sartaj sah die Ähnlichkeit, aber er blieb skeptisch. Er zeigte auf Jamila Mirzas Taille. »Die ist zu dick.«

»Fettabsaugung«, sagte Jana. »Vielleicht wurden auch die untersten Rippen herausgenommen.«

Mary strich mit dem Finger über das Porträt. »Auf jeden Fall hat sie sich die Nase richten lassen. Und der Haaransatz ist korrigiert worden.«

»Am Kinn ist auch was gemacht worden«, sagte Jana. » Auf dem anderen Bild ist es länger. Und der Kiefer ist schmaler geworden. Also, wir haben die frühere Zoya gefunden, und jetzt bekommen Sie sie. Sie müssen uns aber sagen, was weiter mit ihr passiert, okay? Sie müssen uns alles sagen, was Sie herausfinden. Versprochen?« Sie war mit Sicherheit eine langjährige treue Stardust-Leserin, diese Jana, gierig nach pikantem Starklatsch.

»Sind Sie sicher, daß das Zoya Mirza ist?«

»Ja«, antworteten beide gleichzeitig.

Sie sprachen mit der Gewißheit der Expertinnen. Auf dem Gebiet kannten sie sich aus, und Sartaj mußte ihnen glauben. »Erstaunlich«, sagte er. »Ich hätte das nicht gemerkt.«

Mary lachte und berührte ihn am Handgelenk. »Schon gut«, sagte sie. »Männer sehen so was nicht.«