Begegnung mit der Schönheit

Zoya Mirza war eine schwierige Frau. Es war schwierig, sie zu finden, schwierig, sie ans Telefon zu kriegen, schwierig, sie zu treffen. Sartaj versuchte das Anjali Mathur zu erklären, die offenbar glaubte, daß ein Polizei-Inspektor, der mit der erhabenen Autorität des Gesetzes und belastenden Fotos bewaffnet war, sich problemlos in das glamouröse, internationale Leben eines Filmstars einschalten und ein Verhör durchführen konnte. »Das ginge vielleicht«, sagte Sartaj, »wenn die Sache offiziell wäre. Ist sie das inzwischen?«

»Nein, ich kann meinem Chef noch nichts vorlegen«, sagte Anjali. »Nur die vage Vermutung, daß es eine Verbindung zwischen einem Gangster und einem Filmstar gibt. Also nichts Besonderes.«

Dem konnte Sartaj kaum etwas entgegenhalten. Daß die Filmi-Leute oft Verbindungen zu Bhais hatten, wußte jedes Kind, noch im abgelegensten Dorf. Sollte die Information durchsickern, würde sie Zoya Mirzas makelloses Image, ihren unschuldigen Sexappeal ankratzen und vielleicht auch zu einem Knick in ihrer steilen Karriere führen. Aber es war immer noch nicht klar, warum Ganesh Gaitonde nach Mumbai zurückgekommen war, es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, warum er einen Betonkubus in Kailashpada gebaut hatte, warum er Jojo erschossen und sich dann selbst eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. »Sie wollen, daß ich weiter verdeckt ermittle. Also kann ich meinen Chef nicht bitten, Zoya Mirza auf die Wache einzubestellen. Sie wollen, daß ich privat mit ihr rede, daß ich einfach zu ihr gehe und sie belästige. Diese Filmstars haben oft Verbindungen auf höchster Ebene«, sagte Sartaj. »Wenn sie irgendeinen Minister anruft und dafür sorgt, daß ich vom Dienst suspendiert werde, können Sie das Ihrem Chef auch nicht vorlegen.«

»Das wird sie nicht tun. Sie haben doch die Fotos.«

»Es ist trotzdem ein Risiko.«

»Aber ein kleines.«

Das Risiko ist immer noch größer als jeder Gewinn, den ich aus diesen Ermittlungen ziehen kann, hätte Sartaj gern gesagt. Er hatte Anjali Mathur unter der Nummer in Delhi angerufen, die sie ihm gegeben hatte, und sie hatte gleich nach dem ersten Klingeln abgenommen. Sie war am Telefon ziemlich knapp, hatte sich seinen Bericht angehört und dann ruhig vorgeschlagen, er solle sich mal mit Zoya Mirza unterhalten. Sehr unkompliziert, sehr effizient. Sartaj holte tief Luft, atmete wieder aus. »Von Delhi aus erscheint vielleicht alles klein, Miss Anjali. Und ich bin in der Tat ein kleiner Mann. Für mich ist selbst ein kleines Risiko ein großes.«

Sie blieb ruhig. Sie war überhaupt eine ruhige Frau, in ihrem Kleidungsstil und in ihrer ganzen Art sehr zurückhaltend. Doch jetzt spürte Sartaj, daß sie im Begriff war, eine Entscheidung zu treffen, und als sie ihm antwortete, lag Nachdruck in ihrer Stimme. »Das vestehe ich, aber es gibt da ein paar Hintergrundinformationen, die Sie kennen sollten.«

»Ich brauche sämtliche Hintergrundinformationen. Man hat mir bisher schlichtweg gar nichts gesagt.«

»Das tue ich ja jetzt. Hören Sie zu. Das Haus, in dem Sie Gaitonde gefunden haben, war ein Atombunker.«

»Ein was?«

»Ein Bunker zum Schutz vor einer Atombombe. Er wurde nach einem Grundriß gebaut, den man im Internet finden kann.«

»Warum hat Gaitonde denn so was gebraucht? Hier?«

»Genau das will ich herausfinden.«

Der Telefonhörer an Sartajs Ohr war warm. Er saß hinten in einem kleinen Cafe in der Haupteinkaufsstraße von Kailashpada, und draußen strömte der morgendliche Verkehr vorbei. Ein Schulbus schwenkte nach rechts an den Bürgersteig, woraufhin die Mädchen in blauer Uniform, die dort in einer Schlange warteten, nach ihren schweren Schultaschen griffen. Eine Autorikscha quetschte sich an dem Bus vorbei. Ganz normales Leben an einem ganz normalen Morgen. Sartaj dachte an Gaitondes Kubus auf dem Grundstück zwei Straßen weiter und spürte, wie sich Angst in seiner Brust einnistete, einem kalten Wassertropfen gleich. Er hustete sich die Kehle frei. »Besteht eine ernsthafte Bedrohung?«

»Es gibt ein allgemeines Schreckensszenario, nämlich daß eine militante Gruppe in einer städtischen Gegend eine tragbare Nuklearwaffe einsetzen könnte. Eine der Gruppen aus Kaschmir. Oder aus dem Nordosten. Aber eine konkrete Information liegt uns nicht vor, nein.«

Es hatte da mal einen Film gegeben - Sartaj hatte ihn sich nicht angeschaut, doch er hatte die Vorschau im Fernsehen gesehen. Eine militante Gruppe hatte in Delhi eine Atombombe postiert. Der Held hatte die Katastrophe im allerletzten Moment abwenden können, hatte die neongrüne Uhr des Zeitzünders in dem Moment angehalten, wo sie auf Null gesprungen wäre. Das war nur ein Film gewesen, Gaitondes Kubus hingegen war echt. Sartaj hatte ihn mit eigenen Händen angefaßt. Er setzte sich auf, lockerte seine Schultern, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Madam«, sagte er. »Madam. Wenn Gaitonde von einer Bedrohung wußte, warum hat er Ihrer Abteilung dann nichts davon gesagt? Unseres Wissens gab es da doch eine Verbindung.«

»Es gab keine Verbindung.« Das kam unmittelbar und schroff. Sartaj begriff, daß er seine Befugnisse überschritten hatte, daß sie weder zugeben konnte noch würde - schon gar nicht über eine öffentliche Telefonleitung -, Gaitonde als V-Mann eingesetzt zu haben. »Wir haben seine Operationen beobachtet«, sagte sie. »Wir haben herausgefunden, daß er Waffen importiert hat. Dann haben wir ihn aus den Augen verloren. Bis er in Mumbai wieder aufgetaucht ist.«

»In diesem Gebäude?«

»Ja, als er mit Ihnen geredet hat. Vielleicht wollte er Ihnen etwas über die Bedrohung sagen, bevor Sie eingedrungen sind.«

Vielleicht war er also schuld, wenn es in seiner Stadt eine echte Bombe gab. Eine echte Bombe in dieser echten Stadt. War es das, was Gaitonde ihm zum Schluß hatte sagen wollen, als Sartaj weggegangen war und den Bulldozer losgeschickt hatte? Sartaj hatte Gaitonde das Wort abgeschnitten, hatte mitten im Satz seine Geschichte abgewürgt, und dann hatte er ihn tot vorgefunden. Doch es war sehr heiß gewesen, und Gaitonde hatte, dort hinter seiner Stahltür, eine gehörige Arroganz an den Tag gelegt. »Aber das ist jetzt schon Monate her«, sagte Sartaj. »Und es ist nichts passiert. Und Sie haben ja auch gesagt, daß es keine konkrete Bedrohung gibt.«

»Trotzdem wüßte ich gern, was ihn getrieben hat. Warum er dieses Haus gebaut hat.«

Sartaj wurde es plötzlich seltsam kalt. »Ich werde mit Zoya Mirza reden«, sagte er. »Zumindest werde ich es versuchen.«

»Gut. Es wird Ihnen sicher gelingen. Übrigens gibt es noch einen weiteres interessantes Detail.«

»Und zwar?«

»Das Geld, das Sie in Jojos Wohnung gefunden haben, ist gefälscht.«

»Die Banknoten? Alle?«

»Ja. Es handelt sich um sehr gute Fälschungen. Sie werden jenseits der Grenze produziert, in Pakistan, und sind im Laufe der letzten acht bis zehn Jahre in beträchtlichen Mengen eingeführt worden. Sie werden oft zur Finanzierung von Operationen der anderen Seite hier im Land benutzt. Und sie sind weit verbreitet.«

»Jojo hatte ganze Stapel davon. Noch verpackt.«

»Richtig. Was an sich schon interessant ist. Aber wir haben außerdem festgestellt, daß Tinte und Papier bei den neueren Scheinen sehr viel besser sind. Jojos Scheine gehören alle zu dieser neueren Generation, die noch nicht so verbreitet ist. Eine der wenigen anderen Gelegenheiten, bei denen eine größere Menge dieser neuen Banknoten gefunden wurde, war eine gemeinsame Razzia des IB und der Polizei von Meerut im Zusammenhang mit Waffenschmuggel. Damals war kurz vor Meerut ein Matador-Kleinbus mit einem Überlandbus zusammengestoßen. Der Fahrer des Kleinbusses kam ums Leben, ein zweiter Fahrzeuginsasse überlebte, und hinten im Wagen unter der Bodenabdeckung fand die Polizei dreiundzwanzig Sturmgewehre. Als der überlebende Insasse am nächsten Tag verhört wurde, erklärte er, er wisse nicht, für wen er arbeite, er habe einfach nur den Kleinbus von Delhi nach Meerut bringen sollen. Sonst wisse er gar nichts. Aber er konnte der Polizei sagen, wo die Männer zu finden waren, die ihn in Delhi für diesen Job angeheuert hatten. Also führte die Polizei eine Razzia in dem entsprechenden Haus in Delhi durch. Sie nahm drei Männer fest und fand hundertneununddreißig AK-56, vierzig Pistolen, fast achtzehntausend Schuß Munition und zehn Lakhs in bar.

Das Verhör der Apradhis brachte weitere Namen und Verbindungen zutage. Man ging diesen Hinweisen nach, arbeitete sich durch mehrere Tarnschichten hindurch und fand schließlich heraus, daß der Lieferant dieser Waffen in Mumbai Gaitonde war. So sind wir Gaitondes Waffenschmuggel auf die Spur gekommen. Nach Gaitondes Tod habe ich im Rahmen meiner Ermittlungen die Akte dieses Falls erneut gelesen und beschlossen, noch mal einen genauen Blick auf das beschlagnahmte Geld zu werfen. Und tatsächlich, bei den zehn Lakhs handelte es sich durchweg um diese neuen pakistanischen Banknoten.«

»Und wer waren die Männer, die in Delhi festgenommen wurden?«

»Sie gehören einer hinduistischen Untergrundorganisation namens Kalki Sena an, von der wir noch nie gehört hatten. In ihren offiziellen Erklärungen heißt es, daß sie sich auf einen Krieg vorbereiten. Ich habe einige der Schriften gelesen, die bei der Razzia gefunden wurden. Offenbar wollen sie ein Hindu Rashtra272 aufbauen. Nach dem Krieg, der das fürchterliche Ende des Kaliyug sein wird, soll es eine perfekte Nation geben, die sich an den uralten hinduistischen Prinzipien orientiert.«

»Ram rajya.«522

»Genau, Ram rajya.«

»Und gegen wen soll sich dieser Krieg richten?«

»Muslime, Kommunisten. Christen, Sikhs. Gegen jeden, dem diese perfekte Nation nicht behagt. Auch gegen militante Dalits. Die Gewehre waren auf dem Weg nach Bihar, zu einer von Landbesitzern geführten rechtsgerichteten Privatarmee.«

»Glauben Sie, Gaitonde hat dieser Organisation angehört? Er hat sich doch immer als weltlichen Don bezeichnet.«

»Ja. Vielleicht hat er mit diesen Kalki-Sena-vaalas nur Geschäfte gemacht und war in ihre politischen Aktivitäten nicht involviert. Die Apradhis in Delhi konnten uns auch nicht mehr sagen, das war nur eine Zelle mit einer bestimmten Aufgabe. Wer immer diese ganze Sache leitet, macht es gut, er hat viele Sicherungen eingebaut. Vielleicht war Gaitonde auf der ideologischen Ebene beteiligt, vielleicht auch nicht. Das wüßte ich gern. Und ich wüßte außerdem gern: Wozu der Atombunker?«

»Ich werde mit dieser Schauspielerin reden.« Sartaj wollte es jetzt auch wissen, er wollte ebenfalls eine Antwort auf all diese Fragen, eine Erklärung für diesen Kubus. Wenn jemand vorhatte, einen Krieg gegen ihn, seine Familie, sein Volk zu führen, dann wollte er wissen, wer diese Dreckskerle waren und welche Verbindung sie zu Ganesh Gaitonde hatten.

»Gut.«

Sartaj sagte rasch: »Also dann, Wiederhören« und trat hinaus in die Sonne. Die morgendliche Wärme tat gut. Von der Nacht tat ihm der Rücken weh, seine Schultern waren verspannt, doch selbst diese Beschwerden waren ihm willkommen. Es war gut, am Leben zu sein. Er empfand Wohlwollen gegenüber den Ladenbesitzern mit ihren kleinen Taschenrechnern, den Tafeln, auf denen ihr Waren- und Dienstleistungsangebot aufgelistet stand, und den Schreinen für den dickbäuchigen Ganesha, gegenüber den stämmigen Marathen-Frauen, die in leuchtendem Grün und Blau mit energischem Schritt zur Arbeit eilten, gegenüber den drei Bengeln, die mit einem Stock und einem roten Gummiball Kricket spielten. Sartaj kniff die Augen zusammen und versuchte sich vorzustellen, was nach einer Atomexplosion von diesem Bazaar übrigbleiben würde. Es gelang ihm nicht. Er erinnerte sich an die Bilder aus dem Bomben-Thriller, an die braune Wolke, die in einem Film innerhalb des Films zu sehen gewesen war, an den tödlichen Wind. Aber es war schwer, solche Bilder hier auf dieser Straße in die Realität zu übertragen. Unmöglich, es sich vorzustellen, unmöglich, es zu glauben. Und doch war es hier. Hier in Kailashpada.

In den Läden auf dem Markt in der Ragir Road drängten sich Unmengen junger Frauen, die für die neun Nächte von Navaratri Kleider kauften. Sartaj bremste ab und lenkte sein Motorrad nach links, um am Straßenrand entlangzufahren und die freudige Begeisterung der Mädchen zu genießen, die auf ihrem Weg von Boutique zu Boutique an ihm vorübereilten. Devi würde diese geballte jugendliche Energie, diese weibliche Fröhlichkeit bestimmt gefallen. Sartaj jedenfalls fand sie belebend, sie erlöste ihn von der Bombe. Jemand lachte, und das Gelächter erhob sich wie ein Lied über das Ächzen und Stöhnen des Verkehrs. Sartaj wandte sich nach der Quelle des Lachens um und sah zwei riesige dunkle Augen, die sich in einem Autofenster spiegelten, nur ein flüchtiger Eindruck, mehr nicht, und dann war das Motorrad plötzlich nur noch wenige Zentimeter vom hinteren Ende einer Autorikscha entfernt, er mußte einen abrupten Schlenker zum Bürgersteig machen. Der Motor ging aus, und Sartaj hielt unversehrt an. Auf der Straße sah er nur noch die lange rote Seite eines Busses, und links von ihm hob eine blau erleuchtete Reklametafel das perspektivisch verkürzte Gesicht eines Models fast zwanzig Meter in den Himmel. Einen Moment lang blieb er mit leichtem Herzklopfen am Straßenrand stehen - das war knapp gewesen - und mußte über seine eigene Dummheit grinsen. Sardar-ji, mahnte er sich, reiß dich zusammen, Yaar. Was ist denn mit dir los?

Er fuhr weiter, fest entschlossen, jetzt nur noch professionell zu denken, ruhig und logisch. Er war auf dem Weg zu Rachel Mathias, jener ehemaligen Freundin und potentiellen Feindin von Kamala, die zuviel wußte. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie er bei dem Treffen auftreten würde. Es gab keinen offiziellen Fall, und er hatte keine Beweise, auf deren Grundlage er die verbitterte Rachel hätte beschuldigen können. Ziel seines Besuches war es also einfach, Informationen zu sammeln, ein wenig das trübe Wasser aufzurühren und zu schauen, was hochkam. Er konnte den aggressiven, furchterregenden Polizisten mimen oder aber einen diskreten neuen Freund, der versuchte, Rachels Interessen zu dienen und nicht denen der verrückten Kamala. Bei der Ermittlungsarbeit mußte man oft verschiedene Rollen spielen, manchmal sogar gleichzeitig. Wenn man sich den Erwartungen der Verdächtigen anpaßte, sich als die Lösung ihrer Probleme präsentierte, dann redeten sie. Sartaj hatte das schon zigmal getan, er mußte sich nicht mehr groß vorbereiten, nicht mehr alles vorher durchspielen. Eine kurze Rekapitulation der entscheidenden Fakten auf der Fahrt zu ihr genügte: zwei Freundinnen, die eine verheiratet, die andere sehr einsam; ein Mann; ein Streit. Ganz einfach. Allerdings kannte sich Sartaj mit den Streits von Frauen gut genug aus, um zu wissen, daß sie nie so einfach waren, wie sie in einer kurzen Zusammenfassung erscheinen mochten. Vielleicht war der schöne Umesh nur der Auslöser dieses Kriegs gewesen, vielleicht hatte es schon seit Jahren unterschwellige Spannungen gegeben. Vielleicht ging es bei diesen Feindseligkeiten eigentlich um etwas ganz anderes. Geh unvoreingenommen an die Sache heran, ermahnte er sich. Bleib wachsam. Hör auf, an Navaratri, Durga, Lakshmi und Saraswati zu denken.

Doch die Göttinnen waren in Rachel Mathias' Empfangszimmer bestens vertreten, einem Zimmer voll teurer, zum Teil sehr alter Kunstobjekte. Er sah Skulpturen, Gemälde und - an der am weitesten vom Fenster entfernten Wand - eine riesige hölzerne Flügeltür, die wohl aus irgendeiner prächtigen Villa stammte. Sie lehnte dicht an der Wand, war mit ihren lebendigen Blau-, Rot- und Gelbtönen und den waagerechten, mit Nieten besetzten Beschlägen aus dunklem Eisen auch in dieser zweckentfremdeten Form atemberaubend schön. Sartaj wußte, daß jedes einzelne der Gemälde mehr wert war als sein gesamtes Jahreseinkommen. Megha hätte die Künstler alle gekannt, er selbst erkannte bloß den Druck eines Gemäldes von Raja Ravi Varma wieder, eine juwelengeschmückte Lakshmi, anmutig und üppig. Vor langer Zeit, bei einem ihrer ersten Rendezvous, hatte Megha ihn zu einer Ausstellung mitgenommen und ihm von Raja und seinen Werken erzählt, und seither liebte Sartaj diese Darstellung von Lakshmi.

Es war offensichtlich, daß Lakshmi dieses Haus, diese Maisonettewohnung in Juhu gesegnet hatte. Und das brachte Sartaj auf eine Idee, wie er vorgehen könnte. Als Rachel Mathias auftauchte, stellte er sich vor und sagte mit ruhiger Stimme: »Wir überprüfen zur Zeit Leute, deren Vermögen in einem Mißverhältnis zu ihrem Einkommen steht.«

»Sie meinen, Schwarzgeld? Steuerhinterziehung?«

Rachel war korpulent, erweckte aber nicht den Eindruck, faul oder undiszipliniert zu sein. Ihre Körperfülle war ehrlich erworben, teils Veranlagung, teils eine Folge des Alters. Mit ihrer praktischen Kurzhaarfrisur und ihren gepflegten Händen war sie durchaus attraktiv. Sie schaute Sartaj fest an, ihr Blick verriet nichts. Ja, dies war eine Frau, die sowohl Selbstbeherrschung besaß, als auch zu tiefen Gefühlen fähig war, eine Frau, die eine Beleidigung bis ins Mark treffen und die den Mut haben würde, sich dafür zu rächen. »Ja, Madam«, sagte Sartaj. »Es sind nur erste Schritte, verstehen Sie. Wir geben jedem die Chance, seine Unschuld zu beweisen.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich ein zu großes Vermögen besitze? Daß ich zuviel Geld ausgebe?«

Sartaj machte eine ausladende Armbewegung. »Diese Wohnung, Madam. All diese Gemälde und Kunstgegenstände. Ihr ganzer Lebensstil.«

»Mein Lebensstil? Darauf hat Sie doch bestimmt mein Ex-Mann angesetzt, oder? Er versucht immer noch, mich dafür büßen zu lassen, daß er uns diese Wohnung abtreten mußte. Was denkt der sich eigentlich? Daß ich jeden Abend zu Hause sitze - nachdem er mich und seine zwei Kinder für ein zwanzigjähriges Flittchen verlassen hat?«

»Madam ... «

»Nein, jetzt hören Sie mir mal zu. Was er uns gibt, deckt nicht einmal ein Viertel dessen ab, was seine Kinder brauchen. Und von dem, was ich darüber hinaus ausgebe, habe ich jede Rupie selbst verdient. All die Möbel und Kunstgegenstände, die Sie hier sehen, sind Teil meines Geschäfts. Ich arbeite hart.«

»Innenausstattung?«

»Ja. Und demnächst eröffne ich mit zwei Partnern eine Kunstgalerie.«

»Sehr gut. Trotzdem stellt sich die Frage nach dem unverhältnismäßig vielen Geld. Es sind da Zweifel geäußert worden.«

»Von wem? Hören Sie, wir wickeln unsere Geschäfte völlig legal ab. Mein Buchhalter hat jede Quittung und eine Kopie von jedem Scheck unserer Kunden. Wir können Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen.«

Rachel trug ein locker sitzendes weißes Leinenhemd zu einer grauen Hose aus dem gleichen Material. Ihre Kleidung brachte das warme Braun ihrer schönen Haut und ihre sanften, bernsteinfarbenen Augen besonders zur Geltung. Sie hatte die Hände elegant auf eines ihrer Knie gelegt, doch sie war jetzt sichtlich besorgt. Sartaj legte nach: »Niemand macht nur legale Geschäfte, Madam. Schon gar nicht im Bereich Innenausstattung. Es ist alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Wenn wir das Gefühl haben, daß Sie nicht genügend kooperieren, müssen wir natürlich offiziell ermitteln.«

»Was wollen Sie?«

Sartaj reckte sich. »Haben Sie eine Videokamera?«

»Was?«

»Eine Videokamera, Madam. Um Videofilme zu drehen -Sie wissen schon, bei Hochzeiten, Preisverleihungen, Partys.« Er tat, als halte er eine Kamera in der Hand. »Weit verbreitet heutzutage.«

»Ja. Wir haben zwei. Eine alte und eine neue. Aber was...«

Sie war jetzt ziemlich verwirrt und - so glaubte Sartaj -etwas verängstigt. Es war Zeit für die harte Tour. Er beugte sich vor und starrte sie an, bis sie unruhig auf ihrem Diwan herumzurutschen begann. Es gelang ihm mühelos, Feindseligkeit in seinen Blick zu legen, die er aus einem endlosen Vorrat an Verachtung für Übeltäter und Gesetzesbrecher schöpfte und die ihm, wie er wußte, auch die Schultern verhärtete und die Wangen rötete. »Warum zwei Videokameras, Madam? Wozu brauchen Sie gleich zwei?«

»Die neue habe ich mit der Kreditkarte gekauft, Sie können gerne ...«

»Danach habe ich nicht gefragt. Wofür verwenden Sie die Kameras?«

»Sie haben es doch selbst gesagt: für Feiern, Urlaube, solche Sachen.«

»Haben Sie jemand anderem eine Ihrer Kameras gegeben? Ausgeliehen?«

»Nein. Warum fragen Sie?«

»Ich ermittle in einem Erpressungsfall, bei dem eine Videokamera benutzt wurde.« Er beobachtete sie aufmerksam. Rachel hatte Angst. Sie saß jetzt auf der Sofakante, verschwendete keinen Gedanken mehr auf ihre Haltung. »Es weist einiges darauf hin, daß Sie in diesen Fall verwickelt sein könnten.«

»Ich? Wieso denn das? Was reden Sie da?«

Sartaj schüttelte den Kopf. »Das Reden übernehmen jetzt wohl besser Sie, Madam.«

Rachel hätte das sichtlich gern getan, doch statt dessen umklammerte sie die eine Hand mit der anderen, schluckte und stieß schließlich hervor: »Ich habe nichts zu sagen.«

Sartaj hätte gewettet, daß sie diesen Satz aus irgendeiner Fernsehserie hatte. Er stand auf. Natürlich würde er allein dadurch, daß er bei einer Verdächtigen zu Hause erschien, nicht gleich ein umfassendes Geständnis bekommen. So etwas kam vor, aber sicher nicht in diesem Fall. Da war etwas mehr Druck nötig, vielleicht unter Zuhilfenahme durchschlagender Beweise aus einem anderen Bereich. In der Zwischenzeit würde sich Rachel Mathias in ihre Angst hineinsteigern, bis sie nur noch ein Nervenbündel und leicht zu knacken war. »Wie Sie wollen«, sagte Sartaj. »Hier ist meine Karte. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie es sich anders überlegen.«

Auf dem Weg zur Tür sah Sartaj auf einem Tisch mit Marmorplatte das Foto zweier lachender Jungen vor grünen Bergen. »Ihre Söhne«, sagte er. »Sehen nett aus, die Jungs.« Doch das schien Rachel nur noch mehr Angst einzujagen. Sie zuckte zusammen. Sartaj hatte jetzt seinen Spaß. »Auch der Rahmen ist nicht schlecht«, sagte er. »Silber und ziemlich schwer. Eine Antiquität, wenn ich mich nicht irre. Und selbst wenn ich mich irre, war er auf jeden Fall teuer.« Er fuhr mit dem Finger über die breitblättrige Ranke, die den Rahmen zierte, und verließ Rachel dann mit den Worten: »Wir werden Ihr Haus überwachen.«

Im Aufzug erfüllte ihn ein Gefühl des Triumphs. Eine interessante Verdächtige, diese Frau, die sich, von ihrem Mann verlassen, selbst neu geschaffen, ein neues Leben aufgebaut hatte. Wer waren die Mitverschwörer, die Kamala anriefen? Wie hatte Rachel sie gefunden, angeheuert? Es würde interessant sein, das herauszufinden.

Sartaj und Kamble schritten zur Hauptverkehrszeit die Straße vor dem Apsara Theatre ab. Sie suchten nach Kamala Pandeys Straßenkind, einem Jungen unbestimmten Alters und Aussehens mit einem roten DKNY-Shirt, in dem er vor anderthalb Monaten Erpressungsgeld von ihr entgegengenommen hatte, und einem schwarzen Zahn im Mund. Kamble hielt das ganze Unterfangen für ziemlich aussichtslos und war mürrisch. Es war fast sechs, und auf den Bürgersteigen tummelten und drängten sich die Menschen. Die Auto-hupen vereinigten sich zu einer Fanfare, die Sartajs Stimmung hob. Im Apsara lief derzeit Pyaar ka Diya, der Film mußte ein Hit sein - die Besucher verließen das Kino mit der typischen auf große Dramatik folgenden Gelöstheit, die anderen gingen voller Vorfreude hinein. Hier im Apsara brannte die Flamme der Liebe noch, zumindest an diesem Abend. Sartaj schob sich seitlich durch einen Pulk todschicker College-Studenten, die alle eifrig auf ihren Handys tippten. »Erstklassiger Film, Yaar«, sagte einer von ihnen in sein Telefon.

Bettelnde Jungen und Mädchen wuselten durch die Menge, hielten die Hand auf und spulten ihre Sprüche ab: »Hallo Tantchen, gib mir etwas, nur eine Rupie, Tantchen. Eine Rupie, Tantchen, ich habe solchen Hunger, bitte, Tantchen.« Die Chokras hatten die verschiedensten lumpigen Hemden und Banians an, aber kein rotes T-Shirt weit und breit. Sartaj ging die ganze Straße hinunter, bis zur Ecke, wo die Menge sich ein wenig verlor, dann drehte er um. Er kannte inzwischen die Gesichter der Schwarzhändler, die mit ihrer eigenen Leier hausieren gingen: »Empore zweifünfzig, Parkett einsfünfzig.«

Kamble schlängelte sich zwischen den Autos hindurch auf Sartajs Straßenseite hinüber. Er war heute ganz in Schwarz, inklusive neuer schwarzer Schuhe mit einer Art Silberrand an den aufwendig konstruierten Sohlen. Er hob das Kinn und sah Sartaj an, der mit den Achseln zuckte.

»Nichts?« fragte Kamble. »Ich habe drei rote T-Shirts gesehen, aber keins an einem Chokra. Eins saß an einem hübschen kleinen Ding, Haare bis zum Gaand und solche ...« Er hielt sich die gewölbten Hände vor die Brust. »Nett. Haben Sie die Schwarzhändler gesehen?«

»Ja.«

»Auf der anderen Seite ist auch ein Trupp Taschendiebe zugange - sehen Sie den Chutiya mit der blauen Hose? Der verwickelt die Leute in ein Gespräch. Dann der da links, der alte Mann mit der Zeitung - nein, da drüben. Das ist der eigentliche Dieb.« Ein glattrasierter, großväterlicher Typ, der in seinem frisch gebügelten weißen Hemd sehr respektabel wirkte, ging unauffällig durch die Menge. »Und da drüben, das ist der, an den übergeben wird.« Dieser Mann war jünger, schlank und fesch, mit Sonnenbrille und einem weiten grauen Shirt. »Ah, sie legen los.«

Blauhose trat zu einer Familie - Mutter, Vater, Typ leitender Angestellter, zwei Kinder - und sprach den Vater an. Fragte ihn nach dem Weg, so wie es aussah. Der Vater deutete die Straße hinunter, gestikulierte, erst gehen Sie nach links, dann nach rechts. Blauhose klopfte ihm kurz auf die Schulter, danke. In diesem Augenblick trat der Großvater in Aktion, er ging an dem Vater vorbei, stellte sich hinter ihn.

»Er hat's«, sagte Kamble. »Haben Sie es gesehen? Er hat das Portemonnaie.« Seine Stimme war voller Bewunderung.

Sartaj hatte nur gesehen, daß sich die Hand des Großvaters zwischen den beiden Körpern bewegte. »Der Alte ist sehr gut«, sagte er. »Papa hat es noch nicht gemerkt.«

»Das wird er auch erst, wenn er versucht, ein Eis zu kaufen. Hoffentlich hat er die Kinokarten nicht in seinem Portemonnaie. Ah, jetzt kommt die Übergabe.« Sonnenbrille schlenderte bereits mit dem Portemonnaie unter dem Hemd davon. »Sollen wir?« fragte Kamble. »Schnappen wir uns die Mistkerle.«

»Nein, lassen Sie. Wir haben andere Sorgen.« So eine Festnahme ab und zu war immer gut, aber Sartaj wollte vor den Chokras kein Aufhebens veranstalten. Jeder von ihnen konnte der Junge mit dem roten T-Shirt sein, und ehe sie den nicht gefunden hatten, wollte sich Sartaj nicht als Polizist zu erkennen geben.

»So werden wir den Jungen mit dem roten T-Shirt nicht kriegen«, sagte Kamble. »Wir sollten uns ein paar seiner kleinen Freunde schnappen. Hier rennen doch ein Haufen solcher kleinen Scheißer rum. Wir fragen einfach sie. Zwei Minuten, zwei Ohrfeigen, und sie reden.«

»Oder auch nicht. Jedenfalls werden wir ihn so in Null Komma nichts in die Flucht schlagen. Geduld, mein Freund. Das ist ein armer Junge, der auf der Straße lebt. Wenn er sein rotes T-Shirt heute nicht trägt, wird er es morgen tragen.«

»Vielleicht. Oder vielleicht hat er sich auch von dem Geld, das ihm die Apradhis gegeben haben, ein neues blaues T-Shirt gekauft. Wir lange bleiben wir noch?«

»Bis die Hauptverkehrszeit vorbei ist. Noch eine halbe Stunde. Wenn die Leute verschwinden, verschwinden wir auch.«

»Gut.«

»Augenblick mal.« Sartaj zog sein Handy hervor, das mittlerweile etwas mitgenommen aussah. Er drückte auf die winzigen schwarzen Tasten. »Hallo, Saab?«

»Sartaj. Wie geht es dir?«

»Gut, danke«, sagte Sartaj. »Ich führe gerade eine Ermittlung durch, Sir, und brauche Ihre Hilfe.«

»Nur zu.«

»Ich bin in Goregaon, Sir. Vor einem Kino. Hier arbeitet ein Team von Taschendieben, ein Alter und zwei junge Kerle. Der Alte ist der Langfinger, er ist vielleicht fünfundsechzig, siebzig. Er ist sehr gut.«

Parulkar schwieg einen Moment. Eine seiner vielen kriminalistischen Begabungen bestand darin, daß er ein Gedächtnis wie einer von Yamas672 Helfern hatte, er vergaß keine Straftat, auch nicht die belangloseste. Er erinnerte sich an Apradhis von vor vierzig Jahren, hatte ihre Familiengeschichte parat. Ein Junge, der ein Fahrrad für eine kleine Spritztour klaute, mußte damit rechnen, daß sein Vergehen unauslöschlich im Register von Parulkars Erinnerung verzeichnet und gegen ihn verwendet wurde, wenn er zum Großvater geworden war. »Dieser Taschendieb«, fragte Parulkar nach, »hat der eine Glatze? So ein Untersetzter?«

»Nein, Sir. Weiße Haare, ein ordentlicher Haarschnitt. Sieht wie ein braver Bürger aus.«

»Ah, ja. Etwa einssiebzig groß? Geht etwas gebeugt, als würde er gleich zusammenbrechen?«

»Ja, Sir. Er sieht richtig harmlos aus.«

»Das ist Jayanth. K. R. Jayanth. Er hat phantastische Hände. Wir haben ihn nur zweimal festgenommen, '79 und '82. Damals hat er in Dhavari gewohnt und in den Zügen der Western Line gearbeitet. Sehr seriös wirkende Brille, Aktentasche unterm Arm, diese Nummer. Er hat seinen Sohn in die USA geschleust, über Mexiko, glaube ich. Der Sohn hat als Taxifahrer gearbeitet und eine Green Card bekommen. Jayanth zufolge hat er als Taxifahrer achtzigtausend Dollar im Jahr verdient. Er hat mir erzählt, er hätte sich zur Ruhe gesetzt. Das war '88, '89. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Er arbeitet wieder, Sir.«

Parulkar gluckste. »Es ist schwer, tatenlos zu Hause herumzusitzen, weißt du. Und dieser Jayanth ist ein Könner. Von der Sorte gibt es nicht mehr viele. Heute wollen sie alle nur draufhauen und zugreifen. Kein Mensch arbeitet mehr mit dieser Hingabe.«

»Das stimmt, Sir.«

Sartaj dankte Parulkar und steckte das Handy ein. Kamble hatte sich von dem, was er mitgehört hatte, schon einiges zusammengereimt, und Sartaj erzählte ihm nun den Rest. »Maderchod«, sagte Kamble, »dieser Parulkar ist wirklich gut.«

»Ja, er ist der Beste.«

»Und wieder auf dem Weg nach oben. Er ist ein richtiges Stehaufmännchen, man schlägt ihn k.o., und im nächsten Moment ist er wieder auf den Beinen.«

»Er ist äußerst kompetent, Kamble. Sehr erfahren und sehr gerissen.«

»Natürlich ist er gerissen, mein Freund. Er ist schließlich Brahmane. Er ist Brahmane und hat die Gerissenheit, die Mittel und die Verwandten an den richtigen Stellen.«

Sartaj lachte. »Während Sie natürlich nur ein schlichter Bauerntölpel sind?« Kamble war Dalit, was er nie erwähnte, aber manchmal hatte er das eine oder andere über OBCs, Marathen und Brahmanen zu sagen.

»Ich lerne, Yaar, und zwar von Leuten wie Parulkar.« Kamble grinste. »Angeblich hat er sich ja von Suleiman Isas Company distanziert und den Rakshaks angenähert. Ist zur anderen Seite übergelaufen, nachdem er all die Jahre der S-Company nahegestanden hat. Und deswegen sind ihm die Rakshaks plötzlich so wohlgesonnen. Stimmt das?«

Sartaj hatte dieses Gerücht auch schon gehört. Er zuckte die Achseln. »Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.«

»Das brauch ich gar nicht, Yaar. Ich habe schon einiges von ihm gelernt. Ich habe gelernt, daß man Geld annimmt, Verbindungen knüpft, aufsteigt, mehr Geld macht, weitere Verbindungen knüpft, was zu sagen hat, noch mehr Geld verdient und dann -«

»Ich hab's kapiert«, sagte Sartaj. »Ich hab's kapiert, Guru.«

»Nein, nein, ich bin niemandes Guru, noch nicht. Aber Parulkar-saab ist mein Guru, auch wenn er das gar nicht weiß. Ich bin wie Ekalavya188, nur werde ich meinen Daumen und meinen Lauda und alles andere behalten«, sagte Kamble mit seinem breitesten Grinsen.

Sartaj mußte lächeln. Kamble hatte so eine Art, zugleich todernst und heiter zu sein. Er war ein selbsterklärter Rotzlöffel, aber ein charmanter. »Machen wir uns mal wieder an die Arbeit.«

Doch Kamble hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen ein und wiegte sich vor und zurück. Er schaute auf seine futuristischen Schuhe hinunter. »Yaar«, sagte er schließlich. »Glauben Sie wirklich, daß es in der Stadt eine Atombombe gibt?«

Sartaj hatte Kamble auf dem Weg zum Apsara von Gaitondes Atombunker erzählt. Er hatte im Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne plötzlich furchtbare Angst bekommen und mit irgend jemandem darüber reden müssen, und Katekar war nun einmal tot. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Offenbar hat Gaitonde die Gefahr einer Bombe gesehen.«

»Das ist doch Monate her. Wenn uns jemand hätte in die Luft jagen wollen, dann hätte er es vor Monaten getan. Aber wir stehen noch hier, das heißt also, daß es keine Bombe gibt.«

»Ja, das klingt logisch.« Es war eine einleuchtende Überlegung. Vielleicht hatte sich Gaitonde akut bedroht gefühlt, vielleicht war er einer Täuschung aufgesessen, oder vielleicht hatte er sogar den Verstand verloren. »Keine Bombe, Yaar.«

»Verrückte Idee.«

Kamble und Sartaj nickten sich zu. Dann kehrte Kamble auf seine Straßenseite zurück. Sartaj ging noch einmal im Zickzack zwischen den Häusern und Autos entlang. Ihm war klar, daß sie sich mit all ihren Überlegungen nur hatten beruhigen wollen, ihm war klar, daß sie beide Angst hatten. Sie waren Polizisten und wußten, daß sich Katastrophen nicht wie in Filmen ankündigten, nicht auf vorhersagbare Weise abliefen. Da war zum Beispiel der Fall jener Frau, die mit ihrer Familie auf den Jahrmarkt gegangen war. Die Kinder wollten auf das Riesenrad, also begleiteten die Eltern ihre abgöttisch geliebten Kleinen. Die Mutter war jung und hübsch und sehr stolz auf ihr langes, schimmerndes tiefschwarzes Haar. An diesem Sonntag trug sie es offen, eine duftende Kaskade, die ihr bis in die Taille fiel. Das Riesenrad trug sie hinauf, das Riesenrad beschleunigte, das Riesenrad ließ die Haare der Mutter fliegen, das Riesenrad wickelte eine Strähne um eine Speiche, das Riesenrad riß der Mutter die komplette Kopfhaut ab. Oder es erging einem wie jenem kurz vor dem Ruhestand stehenden Vater, der eines Tages wie gewohnt seinen Geschäften nachging, in aller Ruhe Gemüse und Schokolade kaufte, als plötzlich der Schraubenschlüssel eines Elektrikers aus dem siebzehnten Stock eines neuen Daihatsu-Gebäudes herunterfiel, er hüpfte über die Gerüstbretter nach unten und bohrte sich dem Mann in den Schädel. Das war in Worli passiert, als Sartaj gerade mal seit zwei Monaten Unterinspektor war. Genauso abrupt explodierten Bomben. Man spürte vor der Explosion nicht, daß sie da waren, man bekam keine Gänsehaut auf den Unterarmen, sie rochen nach nichts. Da war dieser Tag gewesen, dieser lang zurückliegende Freitag im Jahr 1993, als auf der Wache in Worli die Telefone nicht mehr stillgestanden hatten. Sartaj war auf seinem Motorrad losgerast, von einem Transporter gefolgt, war über Bürgersteige am stockenden Verkehr vorbei in Richtung des Paßamts gefahren. Überall ringsum waren Männer und Frauen, die gingen, rannten, wieder gingen. Und vor ihm dichter grauer Qualm, eine Stille ohne Vögel. Sartaj stellte das Motorrad ab und rannte die Straße entlang, an einem Fiat vorbei, der seine rostigen Innereien darbot, einer auf dem Rücken liegenden Krabbe gleich. Dann wurde es rutschig, er schaute hinunter und sah, daß er durch Blut lief.

Hör auf. Hör endlich auf. Sartaj knackte mit den Fingergelenken, und das leise Geräusch holte ihn wieder zurück zum Apsara, zu Pyaar ka Diya und den zugehörigen Plakaten, auf denen das Hauptdarstellerpaar der klassischen Pose von Raj und Nargis in Awaara seine Reverenz erwies. Konzentrier dich auf das aktuelle Problem, ermahnte sich Sartaj. Tu deine Arbeit. Beobachte die Leute, schau dir die Gesichter genau an. Das tat er auch, doch es gelang ihm nicht, sich völlig von seinen Erinnerungen zu befreien. Zwischen den Trümmern verstreute Körperteile, ein Oberarm, ein Fuß. Ja, Bomben explodierten einfach so. Sie explodierten. Sartaj war am Ende seiner Strecke angekommen, machte kehrt.

Kurz bevor die halbe Stunde um war, kam Kamble wieder zu ihm herüber. Die meisten Leute waren inzwischen vom Apsara verschluckt worden oder nach Hause gegangen, aber einige der Chokras streunten noch herum. Sartaj sah zu, wie Kamble über die Leitplanke in der Mitte der Straße stieg und machte sich Gedanken über dessen mangelnde Geduld. Kraft war nützlich, und Mut war manchmal notwendig, aber eine der vornehmlichen Anforderungen ihrer Arbeit bestand darin, endlose Stunden mit kleinen, langweiligen, manchmal auch sinnlosen Tätigkeiten zu verbringen. Katekar hätte nie so früh aufgegeben. Aber Katekar war tot.

»Glauben Sie, es waren die Kattus?« fragte Kamble.

»Was?«

»Die Bombe. Wenn es eine Bombe in der Stadt gibt, muß sie von den Muslimen kommen.«

»Ja. Stimmt. Sie muß von den Muslimen kommen.«

»Also - gehen wir zu dieser Kutiya, dieser Zoya, und reden mit ihr. Vielleicht weiß sie etwas. Wenn wir direkt vor ihrer Haustür stehen, kann sie uns ja wohl kaum wieder wegschicken. Immerhin sind wir Polizisten.«

Immerhin. Das stimmte. »Ganz ruhig. Nur nichts überstürzen. Wir haben Zeit. Sie haben ja selbst gesagt, das ist alles schon Monate her. Selbst wenn es tatsächlich eine Bombe gibt, ist sie noch nicht hochgegangen. Und sie wird auch nicht heute abend hochgehen. Oder morgen früh.«

Kamble spuckte in die Gosse. Er dehnte die Schultern nach hinten. »Natürlich nicht. Das habe ich auch nicht gemeint. Aber wir könnten doch einfach mal mit dieser Randi reden. Genau das ist sie doch, auch wenn sie sich noch so sehr wie ein großer Filmstar aufführt: eine Randi. Na ja, piepsen Sie mich an, und sagen Sie mir Bescheid, wenn ein bißchen Action angesagt ist.«

»Mache ich. Wir können sie nicht auf die Wache einbestellen, uns sind Grenzen gesetzt. Also müssen wir uns überlegen, wie wir statt dessen an sie herantreten können. Wir dürfen sie nicht verängstigen.«

»Gut, gut. Sind wir hier fertig? Ich brauche eine Frau. Zuviel Bombenanspannung, Bhai-sahib.«

»Augenblick noch. Ich habe eine Idee.« Sartaj sah zu, wie auf der anderen Straßenseite K. R. Jayanth, der distinguierte Taschendieb, zur Bushaltestelle schlenderte und dabei ein Eis aß. Offenbar hatten alle Menschen das Bedürfnis, sich nach der Arbeit etwas zu gönnen. »Kommen Sie.«

Sartaj ging voraus, stieg über die Leitplanke und näherte sich Jayanth von rechts. Er paßte sich Jayanths Schritt an und ging dicht neben ihm, wie ein Freund, der mit ihm ein bißchen Abendluft schnuppert. Jayanth blieb ruhig, er war eben ein alter Hase. Er wich nur etwas nach links aus und leckte weiter an seinem Eis. Doch Kamble verstellte ihm den Weg.

»Namaste, Onkel«, sagte Sartaj.

Jayanth nickte. »Sie sind von der Polizei«, sagte er.

Sartaj mußte lachen, er freute sich darüber, es mit einem echten Profi zu tun zu haben. »Ja«, sagte er. »Haben Sie heute gut verdient?«

Jayanth biß von der Eiswaffel ab. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Sartaj legte ihm die Hand auf die Schulter. »Are, Onkel. Wir haben Ihnen den ganzen Abend bei der Arbeit zugesehen, Ihnen und den beiden Jungs. Sie sind sehr gut.«

»Welchen Jungs?«

»Einer in blauer Hose, einer mit Sonnenbrille. Kommen Sie, Jayanth, ärgern Sie mich nicht. Sie sind aus dem Ruhestand zurückgekehrt und arbeiten hart, daran ist nichts auszusetzen.«

»Ich heiße nicht Jayanth.«

Sartaj schlug Jayanth ins Gesicht. Es war nur ein kurzer Schlag mit der Rückseite der Hand, die auf Jayanths Schulter gelegen hatte, aber er traf mit den Knöcheln, und Jayanth taumelte nach hinten. Kamble starrte angewidert auf seinen rechten Fuß, den jetzt ein länglicher Eisfleck zierte.

»Wir sollten den Mistkerl mit auf die Wache nehmen«, sagte er. »Da wird er sich schon daran erinnern, wer er ist.«

Nur eine Frau hatte den Zwischenfall mitbekommen. Sie eilte davon und schaute immer wieder mit entsetztem Blick zu Sartaj zurück. Sie hatte ein Einkaufsnetz mit Gemüse in der Hand und leuchtend rotes Sindur im Haar. Sartaj ignorierte den Impuls, sich ihr zu erklären: Das ist einfach die Sprache, die wir sprechen, dem netten alten Mann wird nichts Schlimmes passieren. Er wandte sich wieder Jayanth zu. »Also, Onkel. Wollen Sie mit uns auf die Wache?«

»Na gut.« Jayanth warf die leere Waffel weg. »Ich bin Jayanth. Aber ich kenne Sie nicht.«

»Sartaj Singh.«

»Sie arbeiten normalerweise nicht hier. Wieviel wollen Sie?«

»Sie haben eine Absprache mit der hiesigen Polizei?«

Jayanth zuckte die Achseln. Natürlich hatte er mit den Jungs hier eine Regelung, aber er würde nichts herauslassen. »Um so etwas geht es uns gar nicht«, sagte Sartaj. »Und wir wollen Sie auch nicht festnehmen. Im Gegenteil. Sie sollen etwas für uns tun.«

»Ich bin ein alter Mann.«

»Ja, Onkel. Aber Sie müssen auch einfach nur die Augen offenhalten.« Sartaj erklärte ihm, er solle nach einem Chokra Ausschau halten, der ein rotes T-Shirt mit dem und dem Logo trage und einen schwarzen Zahn habe, solle in Erfahrung bringen, wie der Junge heiße und, wenn möglich, wo er wohne. Er dürfe Rotes T-Shirt nichts merken lassen oder ihm gar einen Hinweis geben, daß große, häßliche, brutale Polizisten nach ihm suchten. Und er solle Sartaj oder Kamble unter der und der Nummer anrufen, sobald er etwas über den Jungen herausgefunden habe.

»Ich kann doch nicht hier herumspazieren und den Jungen in den Mund gucken«, sagte Jayanth. »Die werden mich für einen Perversen halten, die sind sehr clever.«

»Ich weiß, Onkel. Halten Sie einfach nach dem roten T-Shirt Ausschau. Und dann reden Sie mit dem Jungen. Seien Sie geduldig. Überstürzen Sie nichts. Tun Sie Ihre übliche Arbeit, und halten Sie die Augen offen.«

»Okay«, sagte Jayanth.

»Er wird schon wieder auftauchen«, sagte Kamble.

»Natürlich«, sagte Jayanth mißmutig. Straßen jungen hatten klare Gebietsansprüche, ihre Territorien waren markiert, zum Teil verliefen die Grenzen sogar mitten auf der Straße. Und sie verteidigten ihr Revier so erbittert wie Generale, die einen Krieg um heiligen Boden ausfochten, das wußte jeder. »Aber glauben Sie, daß er in demselben T-Shirt wiederkommt?« Und dann zu Kamble: »Was machen Sie da eigentlich?«

Kamble hielt Jayanths Hosentasche auf und wühlte darin herum. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich beklaue Sie nicht. Keine Sorge. Und machen Sie sich keine Gedanken wegen des Jungen. Seien Sie einfach wachsam, halten Sie die Augen offen. Er wird schon kommen.« Kamble hielt eine braune Brieftasche hoch, deren Leder vollkommen abgewetzt war. »Sie haben nicht viel Geld dabei, Onkel.«

Jayanth antwortete, wie aus der Pistole geschossen: »Zuviel Diebespack auf der Straße.«

Kamble gluckste anerkennend. »Sechshundert Rupien und ein Bild von ... Was für ein Gott ist das?«

»Murugan.«

»Kein Ausweis, nichts.«

Als Sartaj sanft Jayanths andere Hosentasche abklopfte, knisterte etwas. Er angelte mit dem Zeigefinger danach und brachte einen zweimal zusammengefalteten Brief zum Vorschein.

»Aus Malad«, sagte Sartaj. Der Brief selbst war in einer unentzifferbaren südindischen Schrift verfaßt, aber die Adresse stand auf Englisch darauf. »Sie arbeiten fast vor der Haustür, Onkel.«

»Ich bin ein alter Mann. Kann nicht mehr so weit fahren.«

Kamble gab ihm die Brieftasche zurück. »Aus Dharavi sind Sie ja weggezogen. Ich wette, Sie haben in Malad eine schöne Wohnung. Für einen alten Mann verdienen Sie ganz schön gut. Selbst wenn Sie das Geld nicht bei sich tragen.« Jayanth wand sich etwas unter Kambles wachem, feindseligem Blick und sah zu Boden.

Sartaj schrieb sich die Adresse auf. »Warum sind Sie denn in Ihrem Alter überhaupt noch hier am Werk, Onkel? Unterstützt Sie Ihr Sohn, der Amerika-vaala, nicht mehr?«

Jayanth wackelte mit dem Kopf und sah dabei so traurig aus wie der klassische Filmi-Vater, der sich ein Leben lang mit Familienstreits, Undankbarkeit und Tragödien hat herumschlagen müssen. »Der hat jetzt selbst Kinder«, sagte er. »Und seine eigenen Verpflichtungen.«

»Hat er eine Amerikanerin geheiratet?«

»Ja.«

Sartaj klopfte Jayanth auf die Schulter, wiederholte noch einmal seine Anweisungen und schickte ihn dann fort. Kamble war sichtlich unzufrieden, und Sartaj wußte, daß er an die sechshundert Rupien in der Brieftasche dachte. »Eine Frau?« fragte Sartaj.

»Was?«

»Ich dachte, Sie wollten noch eine aufs Kreuz legen, gegen die Anspannung wegen der Bombe.«

»Ja, ja. Es gibt überhaupt zuviel Anspannung heutzutage. Selbst die Apradhis erzählen einem schon, wie angespannt sie sind.«

»Vielleicht sollten Sie dann zwei nehmen, gegen die doppelte Anspannung.«

»Sie haben recht, mein Freund«, sagte er. »Ich werde heute nacht nicht zwei, sondern gleich drei Frauen flachlegen. Gegen die dreifache Anspannung.«

Sartaj sah Kamble nach, wie er davonstolzierte und die ihren abendlichen Einkäufen nachgehenden Passanten zwang, ihm wie einem König den Weg frei zu machen. Wenn er mal etwas älter war und ein paar Niederlagen eingesteckt hatte, würde er vielleicht einen guten Polizisten abgeben. Doch noch war er zu großspurig, und zugleich hatte er Angst. Angst vor dieser neuen Gefahr, von der er heute gehört hatte. Sartaj hatte ebenfalls Angst, doch er hatte in seinem Leben schon oft und lange Angst gehabt und rechnete nicht damit, von ihr erlöst zu werden. Schnelles entschlossenes Handeln konnte kurzfristig beruhigen, doch letztlich war das eine Illusion. Man mußte lernen, mit der Angst zu leben. Sartaj wandte sich nach links und schlenderte den Bürgersteig entlang. Er war im Dienst und würde es noch eine halbe Stunde bleiben. Die Bombe konnte warten.

Die Wissenschaft und Kunst, an jemanden heranzutreten, hatte Sartaj schon in frühen Jahren in seinem Elternhaus erlernt. Immer wieder waren Leute an seinen Vater, den Inspektor, herangetreten, meistens Leute, die in Schwierigkeiten steckten, die Hilfe brauchten. Sie wandten sich über Freunde, Verwandte, Kollegen an ihn, über Freunde von Freunden und politische Kontakte. Einmal war eine Frau - deren von ihr getrennt lebender Ehemann sie bedroht hatte - über Sartajs Schuldirektor an seinen Vater herangetreten. Suche eine Verbindung zu dem betreffenden Menschen und bringe ihn durch Gefälligkeiten und Versprechungen dazu, dir zu helfen. Das ganze Leben funktionierte nach diesem Prinzip - um es zu meistern, mußte man auf dieser Klaviatur zu spielen wissen.

Die Kunst, an jemanden heranzutreten, beherrschte Sartaj also, das Problem war nur, daß er sie noch nie auf einen Filmstar angewandt hatte. Wie jeder in Mumbai kannte er einen Caterer, der gelegentlich bei Dreharbeiten für die Verpflegung sorgte, und zwei erstklassige Statisten. Außerdem hatte er einen entfernten Cousin, der einen Freund hatte, dessen Onkel Filmproduzent war. Keine dieser Verbindungen würde ihm zu einem entspannten Treffen mit Zoya Mirza verhelfen können. Das erläuterte er Mary und Jana spätabends auf einem großen Platz voller tanzender Menschen und heller Lichter. Er hatte sich erst sehr spät aus der Wache loseisen können, doch sie hatten auf einem persönlichen Bericht über die Zoya-Mirza-Lage bestanden. Also hatten sie sich in Juhu getroffen, bei Guru-ji Patta Mandas großer Navaratri-Feier. Die Plakate verhießen: »Der größte Dandia Raas aller Zeiten«, was Sartaj nicht ganz glaubte, doch seiner Schätzung nach waren immerhin an die dreitausend Tanzende versammelt. Nachdem er angekommen war, hatte er Janas Mann auf dem Handy angerufen und trotzdem noch eine Viertelstunde gebraucht, um sie am Coca-Cola-Stand zu finden. Sartaj war bezaubert durch den wolkigen Schimmer roter, blauer und grüner Ghagras spaziert. Die Tanzenden drehten sich im Kreis, die Stöcke flackerten in der Luft, und Sartaj war von dem Parfüm und dem perlenden Gelächter, der Sängerin und ihrem Pankhida tu uddi jaaje474 regelrecht benommen. Dann entdeckte er Jana, die ihm über den wogenden Strom juwelengeschmückter Köpfe hinweg zuwinkte. Mary sah er erst, als er direkt neben ihr stand, und selbst da erkannte er sie einen ausgedehnten Augenblick lang nicht - bis sie lächelte und »Hallo« sagte.

Jana grinste. »Sie sieht wirklich wie eine echte Gujarati aus, finden Sie nicht?«

»Ja«, sagte Sartaj. Mary trug einen blauen Ghagra und einen tiefblauen, silberglänzenden Chunni, und ihre Haare waren mit Perlmuttspangen hochgesteckt. Ihre Lippen leuchteten rot. »Ich habe Sie erst gar nicht erkannt.«

»Ich weiß. Aber so anspruchsvoll ist meine Verkleidung nun auch wieder nicht.«

Sartaj fand, daß sie nicht ohne war, aber er nickte bloß und schüttelte Janas Mann Suresh die Hand, der in seiner purpurroten Kurta und seinem mit Goldfäden durchwirkten kurzen Jäckchen eine prächtige Erscheinung abgab. Suresh hielt den kleinen Naresh hoch, der genauso angezogen war wie er. Sartaj tätschelte dem Jungen den Kopf, wobei ihm bewußt war, daß Mary ihn die ganze Zeit beobachtete.

»Hier«, sagte Jana. Sie reichte Sartaj eine Cola und deutete auf ein paar leere Stühle. Dann schickte sie Suresh mit Naresh weg, machte es sich bequem, zog Mary auf einen Stuhl neben sich und wandte sich Sartaj zu. »Erzählen Sie.«

Die beiden waren äußerst unzufrieden, als sich herausstellte, daß Sartaj in bezug auf Zoya Mirza nichts zu berichten hatte. »Seid ihr Polizisten immer so langsam?« fragte Mary. Sie saß kerzengerade da, die Hände auf den Knien, wie eine Lehrerin.

»Natürlich sind sie das, Baba«, sagte Jana. »Hast du noch nie versucht, etwas auf der Wache zu melden?«

Sie neckten ihn, und Sartaj ließ ihre Kritik lächelnd über sich ergehen. Er breitete die Arme aus und sagte: »Es wäre anders, wenn die Sache offiziell wäre. Ich muß vorsichtig sein.«

»Ganz offensichtlich müssen wir auch das für Sie erledigen«, sagte Mary. »Jana, hat nicht diese Stephanie, die früher bei Nalini und Yasmin gearbeitet hat, eine Schwester, die für Kajol die Maske gemacht hat?«

»Ja, stimmt. Aber wo arbeitet sie jetzt?«

Sartaj lehnte sich zurück und sah anerkennend zu, wie Jana die gewölbte Hand über das eine Ohr legte und ihr Handy ans andere preßte. Aus den Lautsprechern wummerte jetzt eine Garba-Version214 von Chainya chainya, und zu dieser Beschallung spürte Jana Stephanie nach. Dann reichte sie das Handy an Mary weiter, die ihrerseits verschiedene Spuren verfolgte. Sartaj beobachtete zufrieden und voll Bewunderung, wie die beiden ihre Nachforschungen anstellten. Sie gingen quasi seitwärts vor, stellten Fragen, die sie Stephanie nicht unbedingt näher brachten, sondern die eher um sie kreisten. Jana und Mary unterhielten sich ausführlich über Stephanies ehemals beste Freundin, die auch bei Nalini und Yasmin gearbeitet hatte. Sie redeten über den Freund dieser Freundin, über ihren Ausflug zu dem neuen Einkaufszentrum in Goregaon und ihren Plan, im Winter nach Goa zu fahren. Soweit Sartaj es erkennen konnte, hatte das alles nicht das geringste mit Stephanie oder Zoya Mirza zu tun. Aber Jana und Mary führten ihre Unterhaltung über die ehemals beste Freundin mit größtem Engagement und Vergnügen, die Köpfe zusammengesteckt. Im Verlauf mehrerer Telefonate erfuhren sie Neues über andere Frauen und deren Leben, über Jobs und Hochzeiten und Geburten. Eben redete Mary mit irgendeiner Frau über die Angioplastie ihrer Großmutter. Sie beendete das Gespräch und sagte zu Sartaj: »Es ist zu spät, um diese Zeit schlafen schon alle. Aber bis morgen haben wir eine Verbindung zu Zoya Mirza aufgetan.«

»Über die Schwester, die für Kajol die Maske macht, nehme ich an«, sagte Sartaj.

»Machen Sie sich über uns lustig?« antwortete Mary. »Da versuchen wir Ihnen zu helfen, und Sie machen sich über uns lustig!«

»Nein, nein, das tue ich nicht. Im Gegenteil, es ist wirklich beeindruckend, wie Sie Ihre Nachforschungen betreiben.«

»Suresh behauptet immer, ich rede zuviel«, sagte Jana. »Er behauptet, ich labere endlos über völlig irrelevante Dinge. Er meint, um von von A nach C zu gelangen, müßte ich nicht über L, M und Z reden.«

»Ihr Frauen - wenn ihr von Churchgate nach Bandra wollt, fahrt ihr über Thane.« Mary imitierte nahezu perfekt Sureshs männliche Überheblichkeit. Sartaj und Jana kicherten.

In diesem Moment tauchte Suresh aus der Menge auf. »Ich habe Naresh bei Ma gelassen.« Er guckte ziemlich verdutzt drein, als seine Frau, Mary und Sartaj in schallendes Gelächter ausbrachen.

Jana stand auf und legte Suresh die Hand auf die Schulter. »Wir tanzen jetzt«, sagte sie zu den anderen. »Kommt ihr mit?«

Sartaj war erleichtert, als Mary den Kopf schüttelte. Es war ewig her, daß er Dandia Raas getanzt hatte, und er verspürte nicht das geringste Verlangen, in dieses strudelnde Meer von Experten einzutauchen.

»Geht ihr ruhig«, sagte Mary. »Ich bin ein bißchen müde.«

Jana und Suresh verschwanden unter den herumwirbelnden Tanzenden, die jetzt vier umeinander kreisende Zirkel bildeten.

»Ist das schön«, sagte Sartaj. Das waren sie wirklich, diese im bronzefarbenen Scheinwerferlicht funkelnden Kreise.

»Sie haben sich hier kennengelernt«, sagte Mary. »Jana und Suresh. Sein Vater ist einer der Organisatoren.«

Sartaj erinnerte sich daran, wie er sich mit Megha an Garba-Abenden getroffen hatte - das schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Die Musik hatte damals nicht ganz so diskomäßig geklungen. »Kommen Sie schon lange hierher?«

»Seit vier Jahren, seit ich Jana kenne. Es macht mir Spaß, mich zu kostümieren und auszugehen.«

Er erwiderte ihr Lächeln. »Sich unter die Gujaratis zu mischen.«

»Es sind nette Menschen.«

»Außer wenn sie Muslime umbringen.«

»Das gilt ja wohl nicht für alle, oder? Selbst Muslime bringen manchmal Menschen um. Und die Christen auch.«

»Ja. So habe ich das nicht gemeint ... Tut mir leid.«

»Schon gut.« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah Sartaj direkt an. »Sie halten wohl jeden für einen Mörder.«

»Jeder kann zu einem werden. Tur mir leid, wirklich. Das ist kein passendes Thema für einen Garba-Abend. So sieht man halt als Polizist die Welt.«

»Und was sehen Sie sonst noch an so einem Garba-Abend? Erzählen Sie mal.«

»Navaratri ist natürlich eine gute Gelegenheit für Taschendiebe. Es ist ein Haufen Geld im Umlauf. Bei manchen Veranstaltungen kostet eine Eintrittskarte fünfhundert Rupien, da kommt einiges zusammen. Das führt in Versuchung.«

»So ist das Leben, voller Versuchungen.«

»Stimmt. Das ist auch noch so was. Die Jungs und Mädchen. Selbst die strenggläubigen Familien nehmen ihre unverheirateten Töchter zu den Garbas mit - und können sie natürlich nicht mehr im Auge behalten, wenn sie erst mal in dieses Durcheinander eintauchen. Aber die Jungs finden sie. In den ein, zwei oder auch drei Monaten nach Navaratri verzeichnen sämtliche Kliniken der Stadt eine deutlich höhere Zahl von Abtreibungen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Wir sollten da eigentlich etwas unternehmen, von Seiten der Polizei.«

»Sie wollen, daß die Polizei bei den Garbas ein Auge auf die Jungs und Mädels hat?«

»Wenn es genügend Polizisten gäbe, wäre das vielleicht keine schlechte Idee. Das wird nämlich immer schlimmer.«

»Vielleicht finden die Jungs und Mädels ja, daß es immer besser wird.« Sie sprach mit übertriebenem Ernst, und Sartaj wurde plötzlich klar, daß sie sich über ihn lustig machte. Zu seinem Erstaunen spürte er, daß er errötete.

»Sie haben recht«, sagte er und rieb sich den Nacken, den Blick zu Boden gerichtet. »Man entwickelt heutzutage schnell altmodische Ansichten. Ich klinge schon wie mein Vater. Er war auch Polizist.«

»Hier in Mumbai?«

»Ja. Hier. Er gehörte übrigens auch zu den Leuten, die nicht ohne einen Umweg über Thane nach Bandra gelangten.«

»Ich dachte, Polizisten müßten sich kurz fassen.«

»Oh, das konnte er durchaus. Aber er hat immer gesagt, das, was im Abschlußbericht eines Falles weggelassen wird, ist der eigentliche Fall. Und so hat er dann zum Beispiel von einem Banküberfall in Chembur erzählt, und plötzlich war man in Amritsar. Meine Mutter hat ihn immer ausgelacht.«

»Wo ist Ihre Mutter jetzt?«

Sartaj erzählte ihr von dem Haus in Pune und den Vorteilen, die es hatte, wenn Ma in der Nähe ihrer Verwandtschaft und des Gurudwara lebte, und dann schilderte er ihr einen von Papa-jis interessanten Mordfällen, der tatsächlich von Colaba bis Hyderabad gereicht hatte. Sie sagte nicht viel, doch die zwei Fragen, die sie stellte, trafen den Kern der blutigen Angelegenheit. Erst als Jana und Suresh wiederkamen - ihren schlafenden Sohn an Sureshs Schulter merkte Sartaj, daß über eine Stunde verstrichen war. Es war weit nach Mitternacht. Sartaj begleitete die kleine Gruppe hinaus, brachte sie zu einer Autorikscha und winkte ihnen zum Abschied. Er stand mit dem Rücken zu dem reich geschmückten, blumenbehängten Garba-Tor, die Arme in die Hüften gestemmt, und dachte über Mary Mascarenas nach. Sie war eine ruhige, komplizierte Frau, aber es war erstaunlich leicht, sich mit ihr zu unterhalten. Sie war intelligent, hatte klare Ansichten und war dickköpfig. Im Gujarati-Ghagra wirkte sie glanzvoll und zugleich bescheiden, klein, sinnlich. Irgendwie verhieß sie Ungemach. Oder zumindest Unruhe. Sie war gefährlich. Er mußte auf der Hut sein.

Am nächsten Morgen beim Chai entschied Sartaj, daß die Geschichte mit der Bombe absurd war. Er schämte sich dafür, daß er Angst gehabt, etwas geglaubt hatte, das ganz offensichtlich der Phantasie einer gutgläubigen Frau entsprungen war, die zufällig für den Geheimdienst arbeitete. Diese Spione waren eh ein paranoider Menschenschlag, eine Kaste geheimer Krieger, die hinter jedem Verbrechen fremde Mächte vermuteten und hinter jeder Ecke einen Terroristen. Sartaj trank seinen Tee und verspürte keine Angst. Für Ende September war es ein ungewöhnlich kühler Morgen, und er war gut gelaunt und energiegeladen. Er setzte sich mit seiner zweiten Tasse und der Dainik Jagran142 ans Fenster und sah den Vögeln zu, die, über dem Sumpf kreisend, in das heller werdende Licht aufstiegen. Die Nachrichten waren schlecht, so schlecht wie üblich, an der Grenze gab es weiterhin Spannungen, in Jammu hatte ein Granatenangriff stattgefunden, die regierende Koalition drohte zu zerbrechen. Alles ging in die Brüche, doch unter der Dusche seifte sich Sartaj trotzdem beschwingt die Brust ein und sang Bhumro bhumro mit, das ein Stockwerk tiefer im Radio lief. In der Wohnung über ihm hörte er Kinder lachen und ebenfalls mitsingen. Es war ein guter Morgen.

Das Handy klingelte, als er gerade die Wohnungstür abschloß. Heute war mit seinem Selbstbewußtsein alles in Ordnung, er war sich sicher, daß Mary ihn anrief und nicht etwa jemand von der Wache. Er drückte auf eine Taste und sagte: »Hallo, hallo?«

»Hallo«, sagte Mary, und Sartaj lachte laut auf. »Sie sind ja gut gelaunt heute.«

»Hallo, Mary-ji«, sagte Sartaj. »Ich habe gerade ein Lied im Radio gehört und ein paar Kinder, die es mitgesungen haben.«

»Und deshalb lachen Sie?«

Er spürte, daß sie lächelte. »Ich weiß, es ist ein bißchen verrückt. Aber Sie wissen ja, was man über Sardars sagt.«

Sie kicherte und sagte dann unvermittelt: »Es ist aber noch nicht zwölf Uhr mittags.«

»Sie sollten mich dann erst sehen!«

»Das habe ich schon, danke. Sie waren furchterregend.«

»Da habe ich ermittelt und mußte so ein Gesicht aufsetzen.«

»Setzen Sie für Zoya Mirza ein anderes Gesicht auf, ja? Sonst ergreift sie sofort die Flucht.«

»Zoya? Haben Sie eine Verbindung aufgetan?«

»Natürlich. Und wir haben herausgefunden, wo sie heute und morgen dreht. Haben Sie was zu schreiben?« In seinem Taschenkalender notierte Sartaj den Namen von Zoya Mirzas Maskenbildner und die Nummer seines Piepsers sowie den Namen des Produktionsleiters und dessen Handynummer. »Der Maskenbildner, Vivek, ist Ihr Hauptkontakt. Er weiß, daß Sie kommen, und hat schon mit dem Produktionsleiter geredet. Die beiden wissen bloß, daß Sie Polizist und ein großer Fan von Zoya Mirza sind und daß Sie sie unbedingt kennenlernen wollen.«

»Was ja auch stimmt.«

»Sie sind ein Fan von Zoya?«

»Ja.«

»Genau wie jeder andere Mann in Indien. Behalten Sie nur schön in Erinnerung, wer Ihnen die Möglichkeit verschafft hat, die gute Zoya kennenzulernen. Und rufen Sie uns an, sobald Sie von dem Treffen mit ihr zurück sind. Heute, nicht erst morgen. Vergessen Sie es nicht.«

»Das werde ich nicht. Danke. Es klingt, als wären Sie auch ein Fan.«

»Wir wollen bloß Bescheid wissen. Über alles.«

»Keine Sorge. Ich melde mich.«

»Ich warte auf Ihren Anruf.«

Als er eine halbe Stunde später in Andheri vor einer roten Ampel in der heißen, stinkenden Abgaswolke eines BEST-Busses067 stand, dachte Sartaj immer noch an Mary. Sie wollte bis ins kleinste Detail über das Leben der Filmstars Bescheid wissen, was sie taten und was sie nicht taten. Wie eigentlich alle. Selbst die Leute, die vorgaben, sich überhaupt nicht für Filme und Filmstars zu interessieren, selbst diese Anti-Filmis kritisierten die Stars mit einer gehässigen Inbrunst, die ein beträchtliches aktuelles wie auch historisches Fachwissen erkennen ließ. Bei Mary kam persönliche Neugier hinzu, sie hatte eine Schwester verloren, und Zoya Mirza würde möglicherweise etwas Erhellendes über Jojo sagen. Mary hatte also viele Gründe, auf seinen Anruf zu warten. Aber zunächst mußte er noch einen normalen Arbeitstag bewältigen, mußte sich um Diebstähle und Banden kümmern - die Filmwelt und Mary mußten sich gedulden. Sartaj schwitzte, und plötzlich glaubte er wieder ein wenig an die Bombe, sie war zurückgekehrt, nistete irgendwo in der Tiefe seines Bewußtseins, wie eine unsichtbar im dichten Gras lauernde Ratte mit nadelspitzen Zähnen. Er spürte, daß sie nicht fern war, spürte es auf seinen Unterarmen und auf dem Rücken direkt unter dem Hals. Er verfluchte sie ausgiebig und aus tiefstem Herzen, und dann machte er sich auf den Weg zur Arbeit.

Wie sich herausstellte, konnten Sartaj und Kamble früher als geplant zur Film City aufbrechen, vor dem Ende von Zoya Mirzas Nachmittagsdreh. Sie fuhren an AdLabs010 vorbei den Hügel hinauf zu einem riesigen Palast. Zoya spielte die Hauptrolle in einem hochkarätig besetzten Kostümfilm, einem der ersten wirklich großen Ausstattungsfilme seit Jahrzehnten, inklusive Schwertkampf und am Kronleuchter schwingender Helden. Vivek, der Maskenbildner, hieß sie auf Klappstühlen hinter dem Palast Platz nehmen, brachte ihnen zwei halbvolle Gläser Tee und erzählte ihnen von dem Projekt. »Dieser Film ist ganz anders als die anderen. Ein bißchen wie Dharamveer, bloß eben modern, auf dem aller-neusten Stand. Irre Spezialeffekte. Dieser ganze Palast wird sich in die Luft erheben, fliegen und dann mitten auf einem See zu sehen sein. Es sind gewaltige Schlachtszenen geplant, alles computergeneriert. Und einmal kämpft der Held mit einer riesigen hundertköpfigen Kobra.«

»Und wen spielt Zoya?« fragte Sartaj.

»Madam ist eine Prinzessin«, sagte Vivek. »Aber ihre Eltern, der Maharaja und die Maharani, werden ermordet, als sie noch ein Kind ist, und sie wächst im Dschungel bei der Familie eines Bandenführers auf. Niemand weiß, wer sie ist.«

Kamble schlürfte lautstark seinen Tee. »Eine Jungli-Prinzessin?« fragte er. »Sehr gut. Was hat sie denn an?«

Vivek war dünn, bebrillt und sehr ernst, und Kambles unverhohlen anzüglicher Blick bereitete ihm sichtliches Unbehagen. Natürlich konnte er einem Polizisten nicht ins Gesicht sagen, daß er ein geiler Gaandu sei, also zog er sich etwas in sich zurück und sagte: »Die Kostüme sind sehr gut, sie sind von Manish Malhotra.«

Sartaj tätschelte Viveks Unterarm. »Manish Malhotra ist großartig. Madam sieht bestimmt hinreißend aus. Wie ist es, für sie zu arbeiten?«

»Sie ist ein guter Mensch.«

»Ja? Den Eindruck vermittelt sie auch«, sagte Sartaj. Vivek betrachtete Sartaj durch seine topmodische blaurandige Brille, und Sartaj lächelte ihn unschuldig an. »Natürlich ist sie schön. Aber ich fand immer, daß man selbst in ihren Rollen erkennt, daß sie ein guter Mensch ist.«

Viveks Mißtrauen schwand, er setzte sich auf. »Ja. Sie ist sehr großzügig, wissen Sie.«

»Hat sie Ihnen geholfen?«

»Sie hat mir eine Chance gegeben. Wir haben uns kennengelernt, als sie einen Werbefilm drehte. Und als sie berühmt wurde, hat sie mich nicht vergessen.«

»Das heißt, Sie sind schon lange bei ihr.«

»Ja.«

»Sie haben ja einen tollen Job, so mit einem Filmstar durch die ganze Welt zu reisen. Ich habe das Land noch nie verlassen.«

»Zweiunddreißig Länder sind es bis jetzt«, sagte Vivek eifrig. »Nächste Woche fliegen wir nach Südafrika.«

Kamble fragte sanft: »Waren Sie oft in Singapur?«

»Jaja, Madam hat häufig dort gedreht.« Die Frage löste keine Angst, keine Besorgnis aus, die Viveks Verehrung für seine Madam hätte stören können. »Singapur ist sehr schön. Wir waren häufig zu Modeaufnahmen dort. Madam mag es sehr, es ist so sauber und ordentlich. Manchmal sind wir auch zum Urlaubmachen hingefahren.«

Sartaj trank seinen Tee aus und reckte sich. »Dann hat sie wohl Freunde dort.«

Vivek war verwirrt. »Ich weiß nicht. Wir haben nicht im selben Hotel gewohnt. Wie meinen Sie das?«

Sartaj gab ihm einen Klaps aufs Knie. »Schon gut, Yaar. Ich fahre öfters nach Pune, deshalb habe ich Freunde dort. Meinen Sie, wir können jetzt mit ihr sprechen?«

»Ich glaube, das Interview läuft noch. Aber die Einstellung kann gleich gedreht werden. Ich geh mal nachschauen.«

Sartaj erhielt seine Miene begeisterter Dankbarkeit aufrecht, bis Vivek hinter einer Ecke des Palasts verschwunden war. Drei Arbeiter waren dabei, einen Teil der Palastwand golden anzustreichen. Daneben fläzten sich ein Dutzend Männer im Gras, und im Schatten eines großen Lastwagens saßen ein paar Frauen im Kreis zusammen. In Sartajs Augen wies nichts darauf hin, daß hier eine Einstellung vorbereitet worden war, geschweige denn, daß gleich gedreht werden würde.

»Dieser Mistkerl weiß nichts«, sagte Kamble. »Er hat zu entspannt über Singapur geredet.«

»Gaitonde und sie waren sicher äußerst vorsichtig.«

Kamble kratzte sich an der Brust. Er trug einen kupfernen Armreif. »Gaitonde, der große Hindu-Don«, sagte er. »Mit einer Moslemfreundin mußte er natürlich vorsichtig sein. Dieser verlogene Maderchod.«

»Eine muslimische Freundin schadet dem Ruf nicht, Yaar. Suleiman Isa hat Frauen sämtlicher Konfessionen gehabt. Die heiraten die Mädchen ja nicht. Vielleicht hat Gaitonde sogar versucht, Zoya zu schützen. Man wird nicht Miss India, wenn man mit einem Bhai zusammen ist.«

»Das sind doch alles verlogene Chutiyas, mit ihrem ständigen Versteckspiel«, sagte Kamble. »Ich hatte mal eine muslimische Chawi, wissen Sie, vor zwei Jahren. Wir haben nichts versteckt, vor niemandem. Yaar, sie war wunderschön. Ich hätte sie geheiratet.«

»Was ist passiert?«

»Ich hatte nicht genug Geld für eine Heirat. So ein Mädchen braucht eine Wohnung, schöne Kleider, ein gutes Leben. Ihre Familie hat irgendeinen Chutiya aufgetan, der für eine Firma in Bahrain arbeitete. Da ist sie jetzt. Hat eine Tochter.«

»Ist sie glücklich?«

»Ja.« Kamble beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und schaute über das kleine Tal zu den dahinter liegenden Hügeln. Er war plötzlich melancholisch, in die Erinnerung an sein verlorenes Mädchen versunken.

»Hey, Devdas159«, sagte Sartaj. »Sie hätten sie doch eh nicht geheiratet. Sie hatten doch noch hundert andere Chawis abzuarbeiten.«

Aber Kamble ließ sich nicht aufmuntern, und Sartaj hätte sich nicht gewundert, wenn er im nächsten Moment ein trauriges Lied angestimmt hätte. Wenn man die hämmernden Schreiner, die neben dem Palast aufgestapelten Holzlatten und die tratschenden Frauen ausblendete, bot sich diese Landschaft, die von der untergehenden Sonne in ein sanftes gelbes Licht getaucht wurde, für traurigen Gesang geradezu an. Es gab Wiesen, Bäume und Berge, die oft als Filmersatz für die Himalaja-Gipfel hatten herhalten müssen. Sartaj suchte nach einer passenden Melodie für Kamble, doch ihm fielen nur fröhliche Dev-Anand-Songs ein: Main zindagi ka saath nibhaata chala gaya.389 Und dann war die Angst wieder da, die Furcht vor der Bombe, sie lauerte irgendwo unter der Palastwand. Vielleicht war es auch nur die unterschwellige Angst, die sich einstellte, weil sie in Film City waren, nicht weit von der Stelle, wo mehrere Erwachsene und Kinder von der emsigen Leopardenriege des Parks getötet und gefressen worden waren. Von echten, sehr wilden Leoparden, nicht von Filmi-Tieren. Vielleicht hatte er deshalb Angst. Doch zugleich war er unerklärlich gut gelaunt. Alles ziemlich seltsam.

»Kommen Sie, kommen Sie, bitte.« Vivek winkte sie vom Tor aus zu sich. »Madam wird jeden Moment am Set erscheinen. Wollen Sie bei der Aufnahme zusehen?«

Im Innern des Palasts herrschte rege Betriebsamkeit. Unter den Gewölbedecken und hohen Bogenfenstern wuselten Männer herum, hämmerten und sägten. Sartaj stieg über Kabelrollen, ging um Dickichte aus Metallständern herum. Er mußte sich bücken, um unter einer Segeltuchabhängung hindurchzukommen, dann rief eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Volle Beleuchtung!«, und Sartaj fand sich in einem mit Säulen versehenen Audienzsaal wieder, der in Gold und Grün erstrahlte. Vor den Säulen standen lebensgroße Statuen von Kriegern und Jungfrauen, und die Decke war von einem dichten Gitterwerk aus funkelndem Kristall überzogen. Außerdem gab es zwei riesige Kronleuchter, eine Schar in Seide gewandeter Höflinge und einen Thron. Sartaj schlängelte sich zwischen weiteren Crew-Mitgliedern zu einer Reihe von Klappstühlen hindurch, dann gab ihnen Vivek ein Zeichen: Warten Sie.

»Das ist Johnny Singh«, sagte Kamble.

»Wer?«

»Der Regisseur.« Er meinte einen korpulenten Mann, der sich auf einem der Stühle niederließ und konzentriert auf einen Monitor blickte. »Und das ist der Kameramann, Ashim Dasgupta.«

»Sie sind ja ein Filmexperte«, sagte Sartaj.

»Die meisten der Mädels wollen zum Film, deshalb.«

Tatsächlich wären wohl viele von Kambles Bar Balas059 liebend gern Zoya Mirza gewesen. Sie hätten alles getan, alles riskiert, um hier zu sein. Jetzt, da ihn die grellen Scheinwerfer nicht mehr so blendeten, sah Sartaj, daß die Statuen nicht aus Stein, sondern aus bemaltem Gips waren. Die goldene Farbe auf den Säulen war dick und verklumpt. Das Kristall an der Decke war wahrscheinlich billiges Glas oder Plastik. Darüber, zwischen den Scheinwerfern, die an den wackeligen Laufstegen befestigt waren, sah er baumelnde Beine und spähende Gesichter. Doch aus alldem würde auf der Leinwand ein in überirdischem Glanz erstrahlender, perfekter Palast erstehen. Katekar wäre begeistert gewesen, dachte Sartaj, ihm hätten der schmutzige Boden und die billigen Juwelen an den Turbanen der Edelmänner gefallen.

»Ruhe! Ruhe!« dröhnte es aus dem Lautsprecher, und in der plötzlichen Stille betrat Zoya Mirza die Szene. Sie kam von links hereingeschritten, doch sie hätte genausogut in einem duftenden Blütenregen aus dem Technicolor-Himmel herabgeschwebt sein können. Sie war sehr groß, schlank und muskulös, in einen schimmernden goldenen Umhang gehüllt und trug ihr sehr langes Haar offen, und beim Anblick ihres geschwungenen Halses stockte Sartaj der Atem.

»Baap re«, flüsterte Kamble. »Mai re.«387

Ja. Sartaj glaubte wieder an den Zauber des Kinos. Sie sahen zu, wie Zoya Mirza mit dem Regisseur und zwei Assistenten sprach, wie Vivek sich an ihrem Haar und ihrem Gesicht zu schaffen machte. Eine Frau kniete sich hin und hantierte am Saum von Zoyas Rock herum, der gerade eben bis zum Knie reichte. Zwei weitere Schauspieler erschienen, ein älteres Paar in königlichen Gewändern, und nun redete der Regisseur mit ihnen und Zoya und unterstrich seine Worte mit eckigen Gesten. Kamble nannte flüsternd die Namen der Schauspieler, beschrieb ihren künstlerischen Werdegang, ihre Filmauftritte und Erfolge. Dann warf Zoya ihren Umhang ab, und Kamble verschlug es endgültig die Sprache. Sie offenbarte ein Dschungelprinzessinnen-Outfit, das Sartaj von Wandkalendern aus seiner Kindheit kannte, ein Bikinioberteil aus weichem rehbraunem Leder, das hinten geschnürt war, dazu einen passenden Rock, der vorne deutlich unter dem Nabel saß und sich ziemlich eng an ihre Hüften schmiegte. Der Maharaja und die Maharani nahmen ihre Positionen beim Thron ein, Zoya schritt ihnen entgegen, und Sartaj schnürte es angesichts der Rundungen ihrer Hüften die Kehle zu. Ja - der Palast war nur Fake, aber Zoya Mirza war es nicht. Natürlich hatten Mary und Jana recht von wegen all der komplizierten Prozeduren und Wunder der Technik, denen Zoya ihre erstaunliche, exquisite Schönheit verdankte, doch das war Sartaj egal. Zoya Mirza war künstlich, aber ihre Lüge war realer als die Natur. Sie war echt.

Folgende Szene sollte gedreht werden: Die Prinzessin, die nichts von ihrer königlichen Abstammung ahnte, war in die große Hauptstadt und an den hohen Hof gekommen, um nach einem geheimnisvollen Krieger zu suchen, der auf den wilden Hängen ihrer heimischen Berge um sie geworben hatte und dann verschwunden war. Nun befand sie sich also im Palast des Maharaja, der - was sie noch nicht wußte - ein Usurpator und der Mörder ihrer Eltern war. Es gab zwei Zeilen Dialog: »Wer bist du, Kanya312?« und: »Ich bin die Tochter des Sardar Matho, der über den Wald westlich eurer Grenzen herrscht.« Die zweite Zeile, die zuerst gedreht wurde, war nach einer Dreiviertelstunde und acht Takes im Kasten. Zoya sprach die Worte, während sie die flache Treppe zum Thron hinaufschritt. Sie war heldenhaft. Dann gab es eine zwanzigminütige Pause, während der die Kameraposition gewechselt wurde. Vivek bot ihnen weiteren Tee und Plätzchen an. Madam wolle immer noch nicht gestört werden. Sie arbeite.

»Diese Geschichte erinnert mich an eine Fernsehserie«, sagte Kamble. »Wie hieß sie noch gleich? Mit all den Rajas und Ranis und Spionen und dem ständigen Doppelspiel?«

»Chandrakanta«, sagte Sartaj. »Eine gute Serie.«

»Das hier ist ein ganz anderes Kaliber«, sagte Vivek mit beträchtlichem Stolz. »Die Spezialeffekte in Chandra-kanta haben richtig billig ausgesehen. Wir fliegen für den Höhepunkt zwei Experten aus Hollywood ein. Außerdem haben mir die Drehbuchautoren gesagt, daß sie sich viel mehr an Bankim Chandra als an Cbandrakanta orientiert haben.«

»An wem?« fragte Sartaj nach.

»Das ist so ein alter bengalischer Autor«, sagte Vivek. »Er hat einen Roman mit dem Titel Ananda Math geschrieben.«

»Ich dachte, den hätten die Bengalen schon verfilmt«, sagte Kamble. Er kaute geräuschvoll Kokosnußplätzchen.

»Nie gehört«, sagte Sartaj. Es machte Spaß, am Set herumzustehen und über Aufnahmen, Spezialeffekte, Dialoge und alte bengalische Romane zu reden. Selbst Kambles Ungeduld war verflogen. Zoya Mirza zuzuschauen war mehr als ein Zeitvertreib, es war auf eine sehr tiefgehende Art beruhigend.

Der Gegenschuß auf den Maharaja erforderte nur zwei Takes. Dann gab es wieder ein großes Gerenne und Gerufe, während Scheinwerfer und Reflektoren herumgeschoben wurden. Vivek folgte Zoya, als sie das Set verließ, und kam zehn Minuten später zurückgeeilt. »Kommen Sie«, sagte er. »Madam ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.«

Auch von nahem war sie umwerfend. Sie war ein bißchen aufdringlich geschminkt, aber Sartaj begriff, daß das wegen der Scheinwerfer und der Kamera nötig war. Zwischen ihren tödlich scharfen Wangenknochen und ihren vollen Lippen herrschte eine perfekte Spannung, die nichts mit dem Makeup zu tun hatte. Sartaj und Kamble setzten sich in Zoyas Wohnwagen nebeneinander auf eine breite, in die Wand eingelassene Ledercouch. Zoya war aus einer Privatgarderobe gekommen, in ein jungfräulich weißes Gewand gehüllt, und hockte nun auf einem Stuhl. Vivek stand neben der Treppe, ganz rosig vor lauter Bewunderung für Madam.

»Dieser Jungli-Rock hat wunderbar ausgesehen«, sagte er zu ihr, wobei er einen Blick auf Sartaj warf.

»Ja, wirklich«, sagte Sartaj.

»Didi171«, sagte Vivek, »das sind große Fans von Ihnen. Sie haben sich über Stephanie an mich gewandt, Sie erinnern sich doch an sie? Sie möchten Sie unbedingt kennenlernen.«

Zoya trug ein Lächeln zur Schau, wie es Menschen, die an Aufmerksamkeit und Macht gewöhnt sind, aufsetzen, um Demut zu bezeigen. Sartaj hatte es schon oft bei Politikern gesehen. »Nächstes Jahr werde ich eine Polizistin spielen«, sagte sie, »in Ghai-sahibs neuem Film. Ich bin ein Fan der Polizei. Als ich Miss India war, bin ich bei einer Wohltätigkeitspremiere des Polizeiverbandes aufgetreten.«

»Ja, ich erinnere mich. Jetzt brauchen wir noch einmal Ihre Hilfe.«

»Ich werde natürlich versuchen, Ihnen in jeder erdenklichen Weise behilflich zu sein. Aber ich bin im nächsten halben Jahr sehr beschäftigt ...«

»Wir sind nicht hier, weil wir Sie um einen persönlichen Auftritt bitten wollen«, sagte Kamble sehr leise. Er bewegte sich überhaupt nicht, doch seine Schultern schienen etwas anzuschwellen, und er war plötzlich gefährlich. Es lag in seinem stumpfen, flachen Blick, in seiner starren Kinnpartie. »Oder um eine Spende.«

Zoya spürte die veränderte Stimmung sofort, doch Vivek ging lachend darüber hinweg. »Sie wollen nur ein Autogramm, Didi«, sagte er.

Sartaj faßte nach Viveks Unterarm und zog sich hoch. »Wir würden Ihnen gern ein, zwei Fragen stellen«, sagte er zu Zoya, während er einen Schritt auf sie zu machte. Es gefiel ihr nicht, daß er näher kam, aber sie zuckte nicht zurück. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Zu Ganesh Gaitonde.«

»Vivek«, sagte sie knapp, »warte draußen.«

»Didi?«

»Warte draußen. Und ich möchte nicht gestört werden.«

Sartaj schob Vivek aus der Tür, schlug sie dem ungläubig Dreinschauenden vor der Nase zu und schloß den roten Vorhang, der vor dem Türfenster hing. Zoya hatte inzwischen erkannt, daß sie empört sein sollte, und erhob sich. Sie zog die Schultern nach hinten und sah sehr vornehm aus, allerdings mußte sie unter dem niedrigen Dach den Kopf ducken, was die Wirkung in Sartajs Augen etwas beeinträchtigte.

»Warum wollen Sie mir über so einen Mann Fragen stellen?« wollte sie wissen.

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Kamble. Er hatte die Hände auf den Oberschenkeln liegen, die gespreizten Beine fest auf den Boden gepflanzt. »Wir wissen alles. Wir wissen über Jojo Bescheid. Wir wissen, daß Gaitonde Sie an verschiedene Orte hat einfliegen lassen.«

»Madam«, sagte Sartaj, »seien Sie ein bißchen kooperativ.«

»Hören Sie, ich war Model und bin allen möglichen Leuten begegnet -«

Kambles höhnisches Grinsen war umwerfend, Sartaj fand, daß er aussah wie eine zynische Kröte. Er stieß ein knurrendes Lachen aus, das über Sartajs Unterarme kratzte, und deutete mit dem Zeigefinger auf Zoya. »Hören Sie mal gut zu«, sagte Kamble. »Sie denken vielleicht, bloß weil Sie ein großer Filmstar sind, kommen Sie mit allem durch. Wir wollten Sie nicht in Verlegenheit bringen, deshalb sind wir hergekommen, statt Sie auf die Wache einzubestellen. Aber bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie uns entwischen können. Glauben Sie nicht, wir wären Idioten. Wir haben Sanjay Dutt hinter Gitter gebracht, und da können Sie genauso landen. Sechs Monate in einer kleinen Zelle ohne Klimaanlage, und Sie haben kein Gramm Fett mehr am Leib.«

»Bas, bas, es reicht«, sagte Sartaj zu Kamble. Für Zoya setzte er seine sanfte, verständnisvolle Miene auf. »Ich weiß, daß Sie Angst haben, Madam. Und daß Sie Ihr Privatleben schützen wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber es stimmt, was er sagt: Wir wissen einfach zuviel über Ihre Verbindung zu Gaitonde, als daß Sie irgend etwas vor uns verbergen könnten. Wir haben Dokumente, aus denen hervorgeht, daß Gaitonde für Ihre Reisen gezahlt hat. Wir haben Kopien von Ihrem alten Paß, der Sie noch als Jamila Mirza ausweist. Wir haben Kopien von Flugtickets.«

Kamble zog einen Stapel Kopien aus einem braunen Umschlag und schwenkte sie hin und her. »Wir wissen über Singapur Bescheid«, sagte er. »Hier.«

Sie nahm die Unterlagen. Sie war sehr stark, ihr sehniges Äußere barg einen unbeugsamen Willen. Sartaj spürte ihn, und er wußte, daß der gebieterische Gang der Dschungelprinzessin auch Zoyas Gang war. Doch trotz aller Selbstbeherrschung, aller Schauspielkunst konnte sie den Ärger und die Angst, die in ihren Augen aufflammten, nicht unterdrücken. Irgend etwas war tatsächlich in Singapur geschehen. Kamble hatte einen Treffer gelandet. Jetzt war Mitleid angesagt. »Glauben Sie mir, Madam, wir wollen nichts von Ihnen außer ein paar Auskünften. Es liegt nichts gegen Sie vor, keine Anklage. Bitte setzen Sie sich.« Sie blieb unbewegt stehen. »Bis auf meinen Kollegen und mich weiß niemand aus unserer Abteilung von Ihrer Verbindung zu Gaitonde. Und wir werden niemandem davon erzählen. Sie müssen uns nur von ihm berichten - was immer Sie über ihn wissen, über seine Freunde, seine Kontakte, seine Geschäfte. Über Sie wollen wir gar nichts wissen.«

»Es sei denn, Sie machen uns Ärger«, sagte Kamble.

»Wir brauchen dringend nähere Informationen über Gaitondes Aktivitäten«, sagte Sartaj. »Wenn wir nichts in Erfahrung bringen können, sind wir gezwungen, unseren Vorgesetzten von Ihrer Verbindung zu ihm zu erzählen. Und das könnte sehr peinlich für Sie werden.« Er holte tief Luft. »Es gibt da eine Videoaufnahme, Madam.«

»Eine Videoaufnahme?« wiederholte sie. Ihre Stimme war sehr tief.

Sartaj spürte Kambles Blick im Nacken, doch er widmete seine Aufmerksamkeit weiterhin unbeirrt Zoya. »Es gibt ein Video von Ihnen. Mit ihm. Wie Sie miteinander zugange sind.«

Sie setzte sich, sank auf den Stuhl, alle Selbstbeherrschung und Anmut waren dahin. Ihre Knie gaben mit einemmal wie Pudding unter ihr nach, und sie saß. Sie war zusammengebrochen, jetzt hatten sie sie. Sartaj schluckte den Geschmack nach altem Klebstoff, den er plötzlich im Mund hatte, hinunter und setzte sich ebenfalls, auf die Sofakante neben Kamble. Zoya hielt den Blick gesenkt, ihre Fußknöchel waren verdreht. Sartaj beugte sich vor. »Das Video ist sehr explizit. Offenbar wußten Sie nicht, daß Sie aufgenommen wurden, und es wurde mit einer versteckten Kamera gefilmt. Man sieht alles, wirklich alles.«

Jetzt versteckte sie ihre Wut nicht mehr. »Wo ist das Band?« fragte sie. »Ich bezahle Sie dafür. Wieviel wollen Sie?« Ihre Verachtung galt nicht nur Ganesh Gaitonde, dem verräterischen Geliebten, sondern auch diesen beiden Polizisten, die das Leben, das sie sich erarbeitet hatte, bedrohten.

»Sie wissen doch, daß wir kein Geld wollen«, sagte Sartaj. »Bloß Informationen.«

»Und dann geben Sie mir das Videoband? Und alles andere auch?«

»Ja, Madam. Alles. Wir haben kein Problem mit Ihnen. Wir wünschen Ihnen Frieden und viele Filme. Wir sind Ihre Fans.«

Seine Inbrunst war Zoya nur ein geringer Trost. Sie funkelte ihn böse an, setzte ihre Füße richtig auf und wurde wieder zum Filmstar. »Nicht hier«, sagte sie. »Meine Kostümbildnerin kommt jeden Augenblick.«

»Ja, Madam. Hier sind zu viele Leute.« Sartaj stand auf. »Nennen Sie uns einen Treffpunkt.«

»Mein Dreh ist um halb zwölf zu Ende. Kommen Sie um zwölf.« Sie gab ihnen eine Adresse, eine Handynummer und verabschiedete sie. »Okay«, sagte sie. »Bitte gehen Sie jetzt.« Sie schloß die Tür fest hinter ihnen.

»Randi«, sagte Kamble. »Miststück. Wir sollten ihr ein bißchen Geld abknöpfen.«

Sartaj reckte sich. Von hier aus sahen sie das Gerüst und die Streben unter den Palastwänden. Das stakelige Gebilde sah im Dämmerlicht merkwürdig schön aus, wie eine Art künstliche Riesenkaktee, die sich an diesem Hang verwurzelt hatte. »Seien Sie nicht so habgierig. Die ganze Sache ist so schon gefährlich genug. Verschwinden wir.«

Vivek war nirgends zu sehen, also verließen sie das Set allein, gingen an der unerklärlich großen Zahl untätiger Arbeiter vorbei. Kamble wartete, bis sie ihre Motorräder erreicht hatten. »Wird es noch gefährlicher«, fragte er dann, »wenn sie herausfindet, daß es gar kein Video gibt?«

»Nein«, sagte Sartaj. »Schließlich hat sie sich bereits kompromittiert, indem sie zugegeben hat, daß so ein Video existieren könnte.«

»Stimmt. Das war eine gute Idee.« Kamble schnallte seinen grünen Helm fest. »Und wenn das alles vorbei ist, wenn keine Gefahr mehr besteht - können wir ihr dann ein bißchen Geld abknöpfen?«

Sartaj trat auf den Kickstarter, ließ den Motor aufheulen und legte dann den Leerlauf ein. »Diese Frau hat Ganesh Gaitonde überlebt, mein Freund. Sie kennen eine Menge Frauen, aber ich bin älter als Sie. Also, hören Sie zu. Wenn sich diese Frau hier zu massiv angegriffen fühlt, wird sie zurückschlagen. Besorgen Sie sich Ihr Geld woanders.«

»Okay, okay, seien Sie nett zu ihr, freunden Sie sich mit ihr an.« Kambles Grinsen war äußerst vielsagend. »Ich kriege mein Geld also nicht. Aber vielleicht kriegen Sie ja etwas anderes von ihr. Wir sehen uns auf der Wache.«

Er ratterte davon, nicht ohne sich zum Abschied noch einmal lachend zu Sartaj umzudrehen. Sartaj legte sich in die Kurve und folgte ihm auf die Straße hinaus. Es war sinnlos, die Unterstellung zurückzuweisen, Zoya war schön, atemberaubend schön. Und Sartaj hatte ihre Schönheit gespürt, wenn auch auf eine ausgesprochen unpersönliche Weise. Es hatten sich weder Hoffnung noch Schmerz in sein Vergnügen gemischt, jene qualvollen Stiche des Verlangens. Doch ihn hatten ihre Zähigkeit, ihre Stärke fasziniert, die Art und Weise, wie sie mit dem Problem zweier feindseliger Polizisten umgegangen war, mit dem Unheil, das ihrer Karriere, ihrem Besitz, ihrem Leben so unerwartet drohte. Sie hatte es zu nehmen gewußt. Das war beeindruckend, sehr beeindruckend. Zoya Mirza war eine Problemlöserin, wenn sie vor einer Schwierigkeit stand, zog sie das kurz herunter, und dann suchte sie nach einer Lösung. Angesichts solcher Selbstbeherrschung empfahl sich äußerste Vorsicht.

Sartaj hielt auf die Schnellstraße zu. Kamble war bereits zwischen den Lastern und den abendlichen Scharen von Autorikschas verschwunden. Vielleicht wurde er von einem Mädchen erwartet oder auch von zweien. Er war ein großer Verehrer der Schönheit, wie Sartaj einst auch. Wenn eine Zoya Mirza nicht mehr die Lust in dir hervorkitzelt, dachte Sartaj, dann wirst du alt. Du alter Mann. Du müder alter Mann. Aber er war nicht traurig, sondern seltsam erleichtert. Die Zeit hatte ihn mit ihren Verheerungen heimgesucht und ihre Spuren hinterlassen, aber er mochte dieses Gefühl des Verfalls. Es hatte etwas Erholsames. Er bog auf die Schnellstraße ein, fuhr der Abenddämmerung entgegen und sang dabei vor sich hin: »Vahan kaun hai tera, musafir, jayega kahan?«650

Auf der Wache arbeitete sich Sartaj durch Ermittlungsakten und Berichte. Kurz nach elf rief Kamala Pandey an. Sie hatte keine neuen Anrufe von den Erpressern erhalten, wollte jedoch wissen, ob Sartaj vorwärtskam.

»Wir arbeiten daran, Madam«, sagte Sartaj. »Keine Sorge.«

»Was genau tun Sie denn?« fragte sie.

»Wir verfolgen Spuren. Ziehen Erkundigungen ein. Sprechen mit unseren Informanten.« Die Antwort ging Sartaj glatt von den Lippen, während er ein Formular zu einem Einbruchsfall ausfüllte. Es war die Standardantwort, und er hatte sie schon tausendundeinmal abgespult. Doch Kamala Pandey gab sich nicht damit zufrieden. Er hörte ein Murmeln im Hintergrund, dann wandte sie sich wieder an Sartaj, diesmal in gereiztem Ton.

»Mit wem? Haben Sie irgendeinen Durchbruch erzielt?«

Durchbruch. Sartaj lehnte sich zurück. »Mit wem reden Sie?«

»Wo?«

»Sie reden doch mit jemandem, Madam. Wer ist das? Sie sollten mit niemandem über den Fall sprechen.«

»Ich spreche auch mit niemandem über den Fall. Ich sitze mit ein paar Freundinnen in einem Restaurant, und eine von ihnen ist gekommen und hat mich etwas gefragt. Jetzt ist sie weg, Sie können mir also die Details erzählen.«

»Ich darf über die Einzelheiten einer laufenden Ermittlung keine Auskunft geben, Madam«, sagte Sartaj ziemlich scharf. »Seien Sie versichert, daß wir hart arbeiten. Um genau zu sein, sitze ich gerade an Ihrem Fall.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber er hatte schon einige Stunden in den Fall investiert, war müde und im Begriff, sehr ärgerlich zu werden.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich bin einfach nervös.«

»Es gibt keinen Grund, nervös zu sein«, sagte Sartaj. »Ich werde mich melden, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe. Ich brauche übrigens ein Foto von Ihnen, das ich Leuten vorlegen kann, die möglicherweise Zeuge der Geldübergabe waren. Keine Sorge, ich werde absolut diskret sein. Ich werde niemandem sagen, wer Sie sind. Schicken Sie es per Kurier zu mir nach Hause. Wenn möglich noch heute, spätestens morgen.« Sie sträubte sich, doch Sartaj beharrte darauf. Er nannte ihr seine Adresse, legte auf und wandte sich wieder dem Formular zu.

Kamble war ausgesprochen feindselig, als Sartaj ihm von Kamalas Anruf erzählte. Sie hatten sich wie geplant um halb zwölf gegenüber von Zoya Mirzas Haus in Lokhandwalla getroffen. Kamble trank noch schnell ein Bier, er hatte an zwei Fällen gearbeitet, seit sie sich getrennt hatten, und war müde und gereizt. Er bestand auf einem Bier, ehe er sich wieder an die Arbeit machte. Also saßen sie nun auf einem niedrigen Mäuerchen vor dem Tor von Zoyas Wohnkomplex, wie zwei Freunde, die im Dunkeln noch einen Plausch halten. »Diese eingebildete Kutiya zieht also durch die Bars und Restaurants der Stadt«, sagte Kamble über Kamala. »Die hat sich garantiert bald einen neuen Mashuq geangelt. So sind sie alle, diese Reichen, leichtlebig, die lassen jeden ran. Wenn die erst mal loslegen, dann kennen sie kein Halten mehr.«

»Ich glaube, für Umesh hat sie wirklich Liebe empfunden.«

»Warum bleibt sie dann bei ihrem Mann, diesem Gaandu? Nur wegen der Wohnung und dem Geld?«

»Sie hat versucht, sich von Umesh zu lösen.«

Kamble nahm einen langen, gurgelnden Schluck. »Warum denn, wenn sie ihn liebt?«

»Es gefällt einem nicht immer, in wen man sich verliebt.«

»Ja, das stimmt allerdings.« Die Palmen, unter denen sie im Mondlicht saßen, warfen Schattenflecken auf Kambles breite Wangenknochen. »Ich hatte mal so ein Mädchen, bei der war ich zwei- oder dreimal kurz davor, sie umzubringen.«

»Eine von den Tänzerinnen?«

»Ja, eine Tänzerin aus Rae Bareli. Sie hat mich fast zugrunde gerichtet. Ich war wie ein hirnloser Irrer. Und ich kann Ihnen sagen, die sah unschuldig wie eine Göttin aus.«

»Aber Sie haben sie nicht umgebracht?«

»Nein, ich hab sie ziehen lassen. Und das, nachdem sie sieben Monate lang jede Rupie, die ich verdient habe, ausgegeben hat. Sie und ihre Familie, diese Bhenchods. Das konnten die wirklich gut, mir mein Geld abknöpfen. Manche dieser Mädchen haben das im Blut, dieses Talent, Geld zu machen, die sind so geboren. Genau wie Zoya Mirza. Ich hab das mal nachgeprüft, die Wohnungen auf ihrer Etage kosten einen Crore und achtzig Lakhs.«

»Zum Teil muß das Gaitondes Geld sein.«

»Natürlich. Trotzdem. Einsachtzig. Und beim Film ist sie seit wann, seit drei, vier Jahren? Diese Leute sind absolut erstaunlich.«

»Was für Leute? Die Schauspieler?«

»Are, nein, Yaar. Die Moslems. Das mongolische Reich gibt es nicht mehr, jetzt haben sie Pakistan, aber hier leben sie wie die Könige.«

»Kamble, Saala, sind Sie in letzter Zeit mal im Bengali Bura gewesen? Oder in Behrampada? Diese armen Gaandus leben nicht gerade in Palästen.«

»Aber sie leben hier, oder? Und sie nehmen Land in Besitz, jeden Tag mehr, und ihre Bevölkerung wächst. Und denken Sie mal an all die vielen Khans beim Film, die spielen alle die großen Helden.«

»Vielleicht, weil die Khans gut aussehen? Und gute Schauspieler sind?«

»Ja, Baba, gut aussehen tun sie wirklich. Diese Zoya ist eine echte Chabbis.«

»Und Ihre muslimische Freundin?«

»Die war auch ganz schön sexy, klar. Ich behaupte ja nicht, daß sie als Einzelpersonen nicht schön wären oder daß sie keine guten Menschen sein könnten. Ich weiß, daß Sie mit Majid Khan befreundet sind. Er ist ein guter Mann. Aber als Volk, verstehen Sie ...«

»Was?«

»Sie können mit niemandem im Frieden leben. Sie sind zu aggressiv, zu gefährlich. Für einen Sardar sind Sie denen gegenüber echt zu nachgiebig.«

Sartaj war müde. Es war spät, er war seit sechs Uhr auf, und er hörte diese Argumente schon sein Leben lang. »Ich finde, Sie reden Unsinn und sind selbst ganz schön aggressiv«, sagte er und stand auf. »Außerdem bin ich allen gegenüber nachgiebig.«

Kamble stimmte ihm da gerne zu. »Zu nachgiebig für einen Polizisten.« Er setzte die Flasche an und neigte den Kopf weit nach hinten, dann warf er sie ins Gebüsch. »Jetzt bin ich bereit für Zoya.«

Sie überquerten die Straße und traten durch das riesige schwarz-goldene Eingangstor von Havenhill. Die Wachmänner erwarteten sie schon und winkten sie durch. Havenhill war ein gigantischer pastellrosa Block, der die umliegenden Bungalows um mehr als dreißig Stockwerke überragte. Es war ein Neubau, noch neuer als die Bungalows, die vor etwa zehn Jahren hier in den Sumpf gebaut worden waren. Es war die passende Wohnstätte für einen überragenden Filmstar, dieses Havenhill mit seiner höhlenartigen Eingangshalle aus italienischem Marmor und den Aufzügen aus gebürstetem Stahl. Vom wundersamen Wispern modernster Technik begleitet, sausten Sartaj und Kamble ganz nach oben, und als sie ausstiegen, informierte sie eine mit Akzent sprechende Frauenstimme, daß sie im sechsunddreißigsten Stock angelangt waren. Zoyas Wohnungstür war schlicht, schwarzes Holz hinter einem schwarzen Gitter, doch der Salon dahinter war riesig. Zwei gigantische Kronleuchter hingen über zwei separaten Sitzbereichen, und der lange, glänzende Eßtisch war mit weißen Blumen überladen. Der alte Mann, der sie hereingeführt hatte - Sartaj konnte nicht erkennen, ob er Zoyas Vater oder Onkel oder ein altes Faktotum war -, bat sie, auf einer weißen Couch Platz zu nehmen, und verschwand. Die Gazevorhänge waren weiß. Zoya hatte ganz offensichtlich ein Faible für die Farbe Weiß.

Sie trat barfuß ein, von einer Dschungelprinzessin nun jedoch weit entfernt. Sie trug ein flatterndes weißes Oberteil und eine fließende weiße Hose. Ihr Haar war straff zurückgebunden, das Gesicht vollkommen ungeschminkt. Und sie war immer noch grandios. Sartaj spürte, wie sich Kamble neben ihm anspannte. Welcherlei Vorstellungen man auch über die kollektive Neigung eines Volkes haben mochte, dem überwältigenden Zauber dieses Individuums entkam man nicht, schon gar nicht, wenn man jung und großspurig war und von Kraft nur so strotzte.

»Kommen Sie«, sagte sie. Sie führte sie in einen anderen weißen Raum, in dem zwei der Wände vom Boden bis zur Decke verglast waren. Sartaj setzte sich auf einen unbegreiflicherweise bequemen Stahlrohrstuhl und hatte das Gefühl, hoch oben über den glitzernden Lichtern und dem fernen Meer zu schweben. Kamble war sehr still, sehr gedämpft. Sartaj dachte, ja, Saala, so leben die Reichen. Eine Bedienstete, eine junge Frau, brachte auf einem Tablett drei Gläser Wasser herein und schloß dann die Tür. Zoya saß in perfekter Haltung und perfekter Beleuchtung da, mit dem Rücken zur Nacht. »Ich glaube«, sagte sie, »daß es kein Video gibt.«

Sartaj rührte sich nicht. Er hielt den Blick auf sie geheftet, doch er spürte Kambles Zucken. »Hören Sie mal«, sagte er barsch. »Glauben Sie, wir machen Witze?«

Zoya schüchterte das nicht ein. Sie ordnete den Faltenwurf ihrer Hose. »Nein, ich glaube, Ihnen ist es sehr ernst. Aber ich habe darüber nachgedacht. Wenn es ein Video gäbe, hätten Sie mir ein Stück davon gezeigt, so wie sie es mit den anderen Dokumenten getan haben. Er war nie daran interessiert, uns auf Video aufzunehmen, und ich wußte, was ihm gefiel. Er war mir gegenüber nicht schüchtern, er hätte es mir gesagt, wenn er uns hätte filmen wollen. Und er hätte es nicht mit einer versteckten Kamera getan. Also gibt es kein Video. Es sei denn, Sie machen jetzt gerade eins. Tun Sie das?«

»Nein.« Sartaj gestattete sich einen kurzen Blick nach rechts: Kamble war sprachlos, schlußendlich doch von Zoya Mirza beeindruckt.

»Keine versteckten Kameras?« fragte Zoya. »So à la Tehelka625? Sie sind verpflichtet, mir das zu sagen, das wissen Sie.«

»Nein, wir nehmen nichts auf«, sagte Sartaj. »Und Sie?«

Sie lachte aus vollem Halse. »So dumm bin ich nicht. Vorhin haben Sie mich überrascht, deshalb habe ich den Fehler gemacht, zuzugeben, daß ich eine Verbindung zu diesem Mann hatte. Aber ich möchte nicht, daß das bekannt wird, und ich möchte Sie mir nicht zu Feinden machen. Was wollen Sie? Geld? Wieviel?«

Kamble fand endlich die Sprache wieder. »Nein, Madam«, sagte er milde. »Wir wollen kein Geld. Nur ein paar Informationen. Im Rahmen von Ermittlungen zu Gangs. Es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Kluger Junge, dachte Sartaj. Friede ist sehr viel besser als Krieg, besonders wenn der Gegner auf ungeahnte Ressourcen zurückgreifen kann. »Wir wollen Sie nicht in eine unangenehme Lage bringen, Madam. Aber wir brauchen Hilfe bei unserem Problem.«

Sie ließ einen Hauch von Verachtung in ihrem Blick durchscheinen. »Seien Sie nicht so höflich. Letztlich sind und bleiben Sie Polizisten, und ich habe keine andere Wahl. Werden Sie mir das Material, das Sie über mich haben, geben, wenn ich mit Ihnen rede?«

»Ja.«

»Und gibt es noch mehr?«

»Nein.«

Sie glaubte ihm nicht und wollte, daß er es merkte. Doch sie war jetzt bereit zu reden. Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch und lehnte sich zurück. »Was wollen Sie wissen?«

»Wann haben Sie Gaitonde kennengelernt? Und wie?«

»Das ist sehr lange her. Acht, neun Jahre. Über eine Freundin.«

»Welche Freundin?«

»Wissen Sie das nicht?«

»Möglicherweise schon. Aber ich will es von Ihnen hören.«

Sie starrte ihn eine Weile unverwandt an, dann gab sie nach. »Jojo«, sagte sie.

»Okay«, sagte Sartaj. »Welcherart war Ihre Beziehung zu Gaitonde?«

Sie hielt diese Frage ganz offensichtlich für albern, aber sie hatte begriffen, daß sie auch die auf der Hand liegenden Antworten geben sollte. »Er hat mich finanziell unterstützt. Ich war allein in Bombay.«

»Und Jojo bekam einen Anteil?«

»Die beiden hatten ihr eigenes Arrangement. Was er mir gab, war allein unsere Angelegenheit.«

»Wo haben Sie sich mit ihm getroffen? Wie oft?«

Zoya hatte ein gutes Gedächtnis und lieferte einen präzisen Bericht. Am Anfang hatte sie ihn etwa einmal im Monat gesehen, immer in Singapur. Sie war dort jedesmal im selben Hotel abgestiegen. Ein Anruf spätabends war ihr Signal, einen Lastenaufzug in die Tiefgarage zu nehmen, wo eine Limousine auf sie wartete. Sie verbrachte die Zeit mit Gaitonde in einer Wohnung, die einem seiner Geschäftspartner gehörte, Arvind. Außer ihnen war nur Arvinds Frau Suhasini dort, sonst niemand, nicht einmal Bedienstete. Zoya hatte sich nie in Bombay oder sonstwo in Indien mit Gaitonde getroffen. Die Wohnung war riesig, und Gaitonde und sie hielten sich im oberen Teil auf, im Penthouse. Von Gaitondes Geschäftspartnern kannte sie nur Jojo und Arvind. Nach ihrer Wahl zur Miss India war sie oft beschäftigt gewesen, und ihre Treffen waren seltener geworden. Während der Dreharbeiten zu ihrem ersten Film hatten sie noch häufig telefoniert, danach war auch dieser Kontakt mehr oder weniger eingeschlafen, aber ein paarmal hatte sie ihn schon noch gesehen, doch. Sie hatten ihre Beziehung nie abgebrochen, es hatte keinen Streit, keine Meinungsverschiedenheiten gegeben, sie hatten sich einfach allmählich voneinander entfernt. Gaitonde hatte gegen Ende irgendwie geistesabwesend gewirkt, und dann war er ganz verschwunden. Bis man ihn tot in Mumbai fand, zusammen mit der toten Jojo. Das war alles.

Sartaj ließ sie die Leute aufzählen, die sie über Gaitonde kennengelernt hatte, doch sie war sich sicher: Es waren nur Jojo, Arvind und Suhasini gewesen. Nicht einmal den Fahrer der Limousine hatte sie je zu Gesicht bekommen. Gaitonde hatte für eine reibungslos funktionierende Logistik gesorgt, alles lief jedesmal genau gleich ab. »Wir mußten die Sache geheimhalten«, sagte Zoya. »Und was Sicherheitsmaßnahmen anging, war er sehr gut.«

»Über wen hat er geredet? Er muß doch ein paar Namen erwähnt haben.«

»Er hat nicht mit mir geredet.«

»Wie kann das sein? Sie haben soviel Zeit miteinander verbracht. Sie waren seine geheime Freundin. Er mochte Sie. Was hat er Ihnen erzählt?«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt, nicht viel. Auch ich habe nicht viel geredet. Zuerst, weil ich Angst vor ihm hatte. Dann wurde mir klar, daß er es mochte, wenn ich schwieg, daß es ihm so lieber war. Also war ich still.«

»Dann müssen Sie viel zugehört haben. Worüber hat er gesprochen?«

»Wir hatten kaum gemeinsame Themen. Make-up, meine Laufbahn. Filme und das Filmbusineß. Was ich seiner Meinung nach als nächstes tun sollte.« Sie blickte auf ihre Hände hinunter, und unter dem Deckenlicht war ihr Gesicht eine goldene Maske. »Er dachte, er weiß alles. Ich habe oft einfach nur ›ja‹ gesagt und genickt.«

»Was war er für ein Mensch?«

»Was erwarten Sie? Er war Ganesh Gaitonde. Er war einfach er selbst.«

»Madam, Sie kannten ihn. Wirklich. Sie müssen doch ein paar Dinge über ihn wissen, die wir anderen nicht wissen. Ein paar Einzelheiten.«

»Er hat immer die Rolle des Ganesh Gaitonde gespielt, sogar wenn er allein war. Ich glaube, es machte keinen Unterschied, ob er mit mir allein war oder ob er mit seinen Jungs, seinem Hofstaat, zusammensaß. Diese Stimme, diese ganze Art.« Sie flegelte sich in den Sessel, zog die Schultern hoch, streckte Sartaj eine aggressiv gewölbte Hand entgegen, als wollte sie ihm die Hoden abquetschen. »Ay037, Sardar-ji. Sie meinen wohl, Sie können einfach so auf mein Schiff kommen und mich herumschubsen? Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin Ganesh Gaitonde.«

Als sie sich den Namen so bombastisch von der Zunge rollen ließ, brachen Sartaj und Kamble in schallendes Gelächter aus. Sie hatte die Stimme genau getroffen, die Stimme, die Sartaj an jenem fernen Nachmittag vernommen hatte: dröhnende Selbstherrlichkeit, selbst über die scheppernde Gegensprechanlage. »Madam«, sagte Sartaj, »Sie sind wirklich gut.«

Zoya nahm dieses Kompliment mit einer leichten Neigung des Kopfes als selbstverständlich entgegen. Sie war immer noch Gaitonde. Sie griff nach einem imaginären Telefon, wählte mit dem kleinen Finger. »Are! Bunty, Maderchod! Du sitzt den ganzen Tag in Bombay, schlägst dir den Bauch mit Sahne voll und wirst immer fetter, aber für die Arbeit, die in einer Woche erledigt sein sollte, brauchst du Monate. Was ist mit dem Khoka337 , das wir diese Woche aus Kilachand hätten kriegen sollen?«

Sartaj lachte noch einmal anerkennend. »Er hat nut einem Bunty in Bombay gesprochen?«

»Oft.«

»Erinnern Sie sich an Einzelheiten?«

»Nein. Ich habe versucht, nicht zuzuhören. Es ging immer um Geld und darum, mit wem Bunty sich treffen und wen er anrufen sollte. Meistens hat Gaitonde das Geschäftliche unten in Arvinds Wohnung erledigt. Aber manchmal hat er nachts, wenn er dachte, ich schlafe, auf dem Balkon gesessen und telefoniert. Ich habe einzelne Gesprächsfetzen mitbekommen, aber es war meistens ziemlich langweilig. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Ich habe einfach mit geschlossenen Augen dagelegen und an meine Schauspielkarriere gedacht.«

Wahrscheinlich hatte Gaitonde Erpressung, Mord und Totschlag geplant, aber für eine schöne junge Frau, die von Ruhm und Glamour träumte, war das vielleicht langweilig. Sartaj lächelte ermunternd. »Er hat also mit Bunty telefoniert. Mit wem sonst noch? Bitte denken Sie nach, für uns ist alles hilfreich. Auch wenn es nur ein Name ist.«

Zoya setzte sich aus ihrer Gaitonde-Haltung auf. Sie stützte das Kinn in die Hand, ein Bild der Konzentration. »Daran erinnere ich mich kaum. Er hatte immer drei oder vier Handys dabei. Eines war für die Gespräche mit Bunty bestimmt. Ja, richtig, jetzt fällt es mir ein. Er hatte auch noch eins für einen gewissen Kumar, Kumar-saab oder Mr. Kumar.«

»Sehr gut, Madam«, sagte Sartaj. Kamble machte sich auf einem kleinen Block Notizen. »Das ist sehr gut. Mr. Kumar.«

»Ich glaube, es gab auch noch ein paar andere Leute in Bombay, in Nashik. Natürlich hat er oft mit Jojo telefoniert. Manchmal hat er sie auf ein paar Worte an mich weitergereicht. Dann gab es jemanden in London, einen Trived-ji oder so. Und ein paar andere, an die ich mich nicht erinnere. Ein Handy war für seinen Guru reserviert.«

»Gaitonde hatte einen Guru?«

»Ja, mit dem hat er fast genausooft gesprochen wie mit Jojo.«

»Wer war dieser Guru?«

»Das weiß ich nicht. Er hat ihn immer nur Guru-ji genannt.«

»Von wo aus hat der Guru angerufen?«

»Ich weiß nicht, von den verschiedensten Orten. Ich erinnere mich, daß Gaitonde ihm einmal geraten hat, nach Disneyland zu fahren.«

»Nach Disneyland?«

»Disneyland, Disneyworld. Eins von beiden. Und ein andermal war Guru-ji gerade in Deutschland.«

»Worüber haben sie geredet?«

»Spirituelle Dinge. Über die Vergangenheit und die Zukunft. Und über Gott, glaube ich. Gaitonde hat ihn wegen Shaguns577 und Mahurats zu Rate gezogen, hat ihn gefragt, wann er mit bestimmten Projekten anfangen soll, solche Sachen.«

Gaitonde hatte also einen Guru gehabt. Er war für seine Frömmigkeit berühmt gewesen, für seine vierstündigen Pujas, seine Spenden für religiöse Feste und Pilgerzentren, insofern leuchtete das völlig ein. Natürlich hatte er einen Guru gehabt.

Sartaj ließ Zoya das Ganze noch einmal durchgehen, ihre erste Begegnung mit Jojo, ihre Tage mit Gaitonde und die Nächte, in denen sie vorgab zu schlafen und er telefonierte. Die Details stimmten überein, und es tauchten dieselben Namen auf, Bunty, Suhasini, Arvind. Offenbar hatte Zoya Mirza wirklich allein über diese Treffen in einer Wohnung in Singapur und über Telefonate eine Beziehung zu Gaitonde aufgebaut. Er hatte ihren Aufstieg als Model und dann ihren ersten Film finanziert. In welcher Form genau Zoya von ihren Auslandsreisen profitiert hatte, förderte Sartaj nur allmählich zutage, durch zähes Nachbohren gegen ihren Widerstand. Was andere Leute aus der Filmindustrie betraf, gab sie sich sehr zugeknöpft, aber Sartaj konnte bei aller Höflichkeit gnadenlos sein. Sie war eine würdige Gegnerin, und er hatte keine guten Karten, außerdem hatte sie den Heimvorteil, also ging es ewig hin und her. Doch schließlich hatte er das Gefühl, eine annähernd vollständige Version der Geschichte aus ihr herausgelockt zu haben. Sie schauten einander an, Zoya und er, vollkommen erschöpft.

»Fällt Ihnen noch irgend etwas ein, Madam?« fragte er. »Zu Gaitonde?«

»Was gibt es noch zu sagen?«

»Irgend etwas über den großen Ganesh Gaitonde?«

»Den großen?« Sie zuckte mit den Achseln. »Er war ein kleiner Mann, der versuchte, wie ein großer Held aufzutreten«, sagte sie.

So wie wir alle, dachte Sartaj, und möge uns Vaheguru vor dem Urteil unserer Frauen bewahren. »Okay«, sagte er. »Danke, Madam.«

»Haben Sie die Unterlagen dabei?« Sie stand auf.

Kamble erhob sich ebenfalls, gab ihr den Umschlag und schaute bewundernd zu, wie sie die Blätter und Fotos durchsah. »Sie sind wirklich sehr groß«, sagte er.

»Sind das die Originale?« fragte sie Sartaj.

»Es ist alles, was wir in Jojos Wohnung gefunden haben.«

Das war eine Lüge, und sie wußte es. Doch Sartaj wirkte nun nicht mehr entspannt und entgegenkommend, und im Moment brachte es nichts, sich mit ihm anzulegen. Zoya deponierte den Umschlag auf einem kleinen Glastisch, verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, sie sah plötzlich müde und irgendwie mädchenhaft aus. »Ich erzähl Ihnen mal was«, sagte sie. »Ich bin in Wirklichkeit gar nicht einen Meter achtzig groß.«

»Are, echt nicht?« fragte Kamble nach. »Doch, das sind Sie ganz bestimmt.«

»Nein.« Sie folgte ihnen in den Flur. »Ich bin eigentlich nur einssiebenundsiebzig. Aber Jojo hat überall herumerzählt, ich wäre einsachtzig, und alle haben es geglaubt. In den Medien ist ein Riesenaufhebens darum gemacht worden. Und jetzt werde ich es nicht mehr los, dieses Einmeterachtzig-Image.«

Sartaj sah, daß Kamble sich an ihrer Schulter maß. »Warum auch?«

»Ein paar von den Helden wollen nicht gern mit einer großen Frau zusammen spielen, wissen Sie. Dadurch sehen sie nämlich klein aus.«

»Nein!« Kamble war entrüstet.

Am Ende des Flurs, neben der Küchentür, entdeckte Sartaj den alten Mann, der ihnen geöffnet hatte. Er polierte einen Silberteller und beobachtete sie.

»Doch, es stimmt«, beteuerte Zoya. »Ich weiß, daß ich einige sehr gute Rollen nur deswegen nicht bekommen habe. Diese Männer haben einfach Angst, und sie dominieren die Filmindustrie nach wie vor.« Sie seufzte.

»Wir leben in traurigen Zeiten«, sagte Sartaj.

»In einem wahren Kaliyug«, bemerkte Kamble versonnen und zugleich verdrießlich.

Zoya war belustigt. »Das hat er auch ständig gesagt.«

»Wer, Gaitonde?« fragte Kamble.

»Er und sein Guru-ji haben ständig über das Kaliyug geredet. Und über den Weltuntergang.«

Sartaj ließ wohlbedacht einen Moment verstreichen, um nicht zu interessiert zu erscheinen. »Was hat er denn sonst noch darüber gesagt?« hakte er dann sanft nach.

»Ich weiß nicht. Er hat das Hindi-Wort dafür verwendet, wie heißt es noch? Für Qayamat504

»Pralay?« assistierte Kamble.

»Ja, Pralay. Darüber haben sie sich unterhalten.«

»Und was genau haben sie gesagt?« Auch Kambles Ton war beiläufig, doch Zoya merkte jetzt, daß beider Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war.

»Warum?«

»Bitte, Madam«, sagte Sartaj. »Wir sind einfach an allem interessiert, was Gaitonde gesagt oder getan hat. Erzählen Sie es uns.«

»Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich sollte ja eigentlich schlafen. Und es war alles so langweilig. Ich habe nicht richtig zugehört.«

»Trotzdem«, sagte Sartaj. »Ein bißchen was müssen Sie doch mitbekommen haben. Über das Pralay.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, es ging darum, daß es kommen würde. Gaitonde hat gefragt, ob es wirklich kommen würde, und Guru-ji hat gesagt, ja. Irgendwas von: Die Anzeichen dafür seien überall.«

»Sie haben darüber geredet, daß das Pralay kommt ... Was für Anzeichen meinte er denn?«

Sartaj wartete. Zoya schüttelte den Kopf.

»Na gut. Danke, daß Sie sich die Zeit genommen haben, Madam«, sagte Sartaj. »Falls Ihnen noch irgend etwas dazu einfällt, oder auch ganz allgemein zu Gaitonde, rufen Sie mich bitte an. Es ist sehr wichtig. Und bitte melden Sie sich auch, wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können. Wenn es Probleme gibt oder sonst etwas, rufen Sie uns an.«

Zoya nahm seine Karte entgegen, doch sie war jetzt beunruhigt. »Worüber sind Sie eigentlich so besorgt? Warum wollen Sie soviel über Gaitonde erfahren? Er ist doch tot.«

»Wir führen Ermittlungen zu organisierten Banden durch, Madam«, sagte Sartaj. »Es gibt keinerlei Grund zur Sorge. Er ist tot, so ist es.«

Sie gingen und überließen Zoya Mirza ihren sorgenvollen Gedanken über den toten Gaitonde. Im Aufzug waren sie beide schweigsam, schwitzten nach der gleichmäßigen Kühle in Zoyas weißer Wohnung. Zoyas Medienimage war wirklich makellos: Es gab keine Affären, keine Skandale, und wenn andere Schauspielerinnen in Zeitschriften über sie lästerten, reagierte sie nicht darauf. Und das alles hatte sie auf dem Fundament von Ganesh Gaitondes Unterstützung aufgebaut. Sie ist wirklich brillant, dachte Sartaj. Die Wachen am Eingang dösten, und der Mond war verschwunden, nur die orangefarbenen Kreise der Straßenlaternen erleuchteten die Nacht. Kurz vor ihren Motorrädern sagte Kamble schließlich: »Fakten haben wir, genaugenommen, keine.«

»Nur daß Gaitonde einen Guru hatte, das ist das einzig Neue. Eigentlich nichts, was man nach Delhi melden müßte. Ich werde morgen früh dort anrufen.«

»Kein Grund zur Sorge.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie gläubig sind, Kamble.«

»Was?«

»All das Gerede vom Kaliyug.«

»Was sonst soll diese Welt, in der wir leben, denn sein, wenn nicht das Kaliyug? Alles steht auf dem Kopf. Diese Frau da oben, die ganz allein in dieser riesigen Wohnung wohnt, zum Beispiel. Da kommen zwei Polizisten zu ihr, und sie empfängt uns allein, mitten in der Nacht. Kein Vater oder Bruder ist dabei, niemand.«

»Ich glaube, sie kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.«

»Das meine ich ja. Und was das andere angeht: Ja.«

»Was?«

»Ich bin gläubig.«

»Buddhist?«

»Wie kommen Sie darauf? Nein, ich bin da ganz stur, ich gebe nichts auf. Diese Mistkerle von Manuvadis400 werden mir den angemessenen Respekt erweisen und was immer ich sonst von ihnen will. Wieso sollen die denn bestimmen, was für eine Kategorie von Hindu man ist? Diese Bhenchods. Mein Vater war genauso. Deshalb haben ein paar von unseren Leuten mit ihm gekämpft.«

Sie verabschiedeten sich mit erhobener Hand. Während er die leere Straße nach Goregaon entlangraste, versuchte sich Sartaj das Pralay vorzustellen. Er versuchte sich auszumalen, wie ein Feuersturm die Schlafenden auf den Treppen und Gehwegen erfaßte, wie ein furchtbarer Wind die Gebäude zerstörte, sie regelrecht zerrieb. Die Bilder blieben nicht haften, die Angst verebbte. Das Leben war zu präsent, es war überall ringsum. Trotzdem konnte Sartaj anderthalb Stunden lang nicht einschlafen. Er lag verspannt und unbehaglich im Bett. Gaitonde hatte einen Guru. Irgend etwas nagte in Sartajs Kopf, er bekam es nicht zu fassen, doch es ließ nicht locker. Er trank etwas Wasser, reckte sich und drehte sich dann auf die linke Seite, vom Fenster weg. Das Pralay entschwand ganz, hinterließ jedoch eine Leere, in der Bruchstücke aus Sartajs Vergangenheit einander jagten, ein Vakuum, in dem seine Gedanken rasten. Aus diesem dämmrigen Wirbel trat ein Gesicht hervor, das blieb. Sartaj hielt sich mühelos an Mary Mascarenas fest und schlief sanft ein.

Am nächsten Morgen führte Sartaj zwei sehr frühe Telefonate, das erste mit Anjali Mathur in Delhi. Sie hörte sich seinen Bericht über Zoya, Gaitondes Guru und das Pralay an, sagte ein paar ermunternde Worte und bedankte sich ruhig. Sie bat ihn weiterzuermitteln und legte auf. Im funkelnden frühmorgendlichen Sonnenlicht kam Sartaj die Vorstellung eines Pralay absurd vor, und er verspürte Verachtung für den irregeleiteten Gaitonde und seinen irregeleiteten Guru.

Sartaj lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, knackte mit den Fingergelenken und bereitete sich auf den nächsten Anruf vor. Nervös in dem Sinne war er nicht, nein. Er wollte Mary anrufen und fühlte sich wie ein Bär, der aus einem zu langen Winterschlaf in die grelle Sonne hinaustritt. Früher war er ziemlich gewandt gewesen, hatte von einem Augenblick auf den anderen mit Frauen flirten und sie spontan zum Ausgehen einladen können. Jetzt saß er an seinem Kaffeetisch und versuchte eine Strategie zu entwerfen. Er widerstand dem Impuls, sich ein paar Sätze aufzuschreiben, und dachte: Was bist du doch für ein Lallu363 geworden, Sartaj. Ruf sie einfach an, los. Doch er rief sie nicht an. Er stand auf, trank ein Glas Wasser und setzte sich wieder. Jetzt mußte er sich eingestehen, daß er zwar nicht nervös war, nicht so wie mit Dreizehn, wohl aber Angst hatte. Wovor? Nicht nur vor den potentiellen Katastrophen - Zurückweisung, Peinlichkeit, Verrat sondern auch vor all dem Guten. Er hatte Angst vor Marys plötzlichem Lächeln, vor der Berührung ihrer Hand. Es war besser, in einer Höhle zu leben, eingeschlossen und bequem.

Gaandu, Feigling, du solltest dich schämen. Er schüttelte seine Arme, griff nach dem Hörer und wählte. Mary meldete sich, und er sagte hastig, er werde morgen zu Ermittlungen nach Khandala fahren und wolle ihr ja auch von seinem Treffen mit Zoya Mirza erzählen, und ob sie nicht Lust habe, nach Khandala mitzukommen, denn morgen sei ja Montag, ihr freier Tag, wie er wisse, und so kämen sie ein bißchen aus der Stadt raus, zu einem mit Zoya Mirza gewürzten Picknick, sozusagen. Noch während er das alles sagte, wurde ihm klar, daß es zu konstruiert war, daß für das, was er ihr über Zoya Mirza erzählen wollte, keine lange Fahrt und kein Essen in einem Restaurant in den Bergen nötig war. Er brach ab. Er rechnete damit, daß sie ablehnte oder erst überredet werden wollte, doch sie fragte bloß, wann er sie abholen werde.

Sartaj hatte sein Auto seit Monaten nicht mehr gefahren, also checkte er es nachmittags kurz durch und sagte ihm zur Ermutigung ein paar lobende Worte. Rumpelnd kam es in Gang. Er fuhr eine halbe Stunde herum, bis er sich davon überzeugt hatte, daß das alte Gefährt durchhalten würde. Dann machte er das Auto innen sauber, kontrollierte Öl und Batterie, und am nächsten Morgen fühlte er sich bestens vorbereitet. Sie fuhren um halb acht los. Mary trug schwarze Jeans und ein weißes Hemd. Sartaj war sich ihrer Hand auf dem Sitz neben ihm - gar nicht weit weg - und des Dufts ihres Shampoos sehr bewußt. Sie fuhren durch Sion, das so früh am Tag noch relativ leer war. In Deonar lichteten sich die Häusermassen schließlich, der Himmel wurde sichtbar, weit und grau, und in dem sich vor ihm öffnenden Panorama sah Sartaj die Berge. Er spürte dieses Kribbeln im Bauch, wie in seiner Kindheit, und am liebsten hätte er gesungen: Wir fahren in die Ferien, wir fahren in die Ferien. Aber nein, Mary würde ihn für verrückt halten. Er lächelte trotzdem, und Mary sah es und lächelte ebenfalls. Sie überquerten zügig auf der hohen, geschwungenen Brücke das schlammige Wasser des Meers, fuhren dann zwischen Ansammlungen von Mietshäusern hindurch, und als die pastellfarbenen Neubauten vor ihnen aufragten, wußte Sartaj, daß sie die Autobahn fast erreicht hatten.

»Diese Gebäude sehen aus wie Kuchen«, sagte Mary. »Ein Haus sollte wie etwas aussehen, in dem man wohnt, nicht wie ein Kuchen.«

»Das ist halt der moderne Baustil«, sagte Sartaj. »Haben Sie Hunger? Wollen wir uns bei McDonald's etwas holen?«

»Nein, nein, nicht nötig. Fahren Sie weiter.«

Sie machte eine ausladende Geste in Richtung der Ghats224, und Sartaj begriff, daß sie genauso dringend wie er in die Berge wollte. »Okay.« Er zahlte die Maut, und los ging es.

Auf der Autobahn herrschte nur mäßiger Verkehr, und es war ein gutes Gefühl, auf der breiten Straße gegen den Wind dahinzugleiten. Dem Khatara332 schien die glatte breite Straße auch zu gefallen, er drängte heftig vibrierend vorwärts.

»Wie alt ist diese Kiste eigentlich?« fragte Mary.

»Uralt. Aber sie fährt und fährt.« Er verlangsamte, wechselte die Spur. Selbst der Spurwechsel machte hier Spaß, die Autofahrer schienen etwas zivilisierter zu fahren, sobald sie auf die Autobahn kamen. Und es gab so viele Spuren, alle angenehm breit und perfekt angeordnet.

Als sie die Ausläufer der Berge erreichten, gerieten sie allerdings in einen kleinen Stau hinter einem Ungetüm von Laster, der auf die Seite gekippt war und quer auf der Fahrbahn lag. Der Verkehr kam jedoch nicht ganz zum Erliegen, und als sie an dem Hindernis vorbeifuhren, sahen sie, daß das hintere Ende des Lasters verbeult und geborsten war und ein Meer von Orangen sich auf den Asphalt ergossen hatte. Einen Moment lang quatschte es unter den Reifen ihres Wagens, dann waren sie an dem Laster vorbei.

»Als ich das letzte Mal auf der Autobahn war«, sagte Mary, »habe ich fünf Unfälle gesehen.«

»Das sind diese Idioten, die noch nie im Leben eine Autobahn gesehen haben, sondern immer nur in indischen Dörfern und Städten unterwegs waren. Kaum sehen die so eine große, perfekte Straße, sind sie völlig aus dem Häuschen, fahren zu schnell und verlieren die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Bas, aus und vorbei.«

»Wenigstens hat dieser Unfall den Verkehr nicht komplett blockiert.«

Das war auch noch so was. Mary Mascarenas war eine Optimistin, oder zumindest keine Pessimistin. Sartaj überkam ein Wohlgefühl, als er so neben ihr saß. Ja, die Straße war nicht gesperrt. Sie redeten nicht viel, und er war es zufrieden, sie auf eine Reihe von Kamelen aufmerksam zu machen, die unerklärlicherweise eine Seitenstraße entlangtrotteten, oder auf ein dickes Mädchen, das auf einem Damm zwischen Feldern entlangging. Sie fuhren durch Tunnel und wieder in die Sonne hinaus, zum sanften Dröhnen des Motors und dem Zischen vorbeisausender Autos.

Um halb zehn hatten sie das Cozy Nook erreicht. Es bestand aus fünf am Rand einer Wohnsiedlung zusammengedrängten Cottages und der Rezeption, einem nagelneuen Betonbau in einem beunruhigenden Pink. Die Lauschigkeit, die der Name des Gästehauses versprach, suchte man vergeblich. Der dunstige, von einer Stromleitung durchschnittene Ausblick wurde vom Management bestimmt als schöner Flußblick angepriesen. Doch Khandala war inzwischen voller Betonkästen, nicht mehr die baumbestandene Oase, die Sartaj als College-Student mit seinen Freundinnen aufgesucht hatte. Allein der Mann am Empfang, fast kahl und mit Haaren in den Ohren, hatte in seiner Unfreundlichkeit und gelangweilten Abgestumpftheit etwas Vertrautes, Beruhigendes.

»Namen«, blaffte er und schob ihnen über die Theke das Gästebuch zu.

Sartaj grinste Mary an und erklärte, er wolle kein Zimmer, sondern sei von der Polizei und würde ihm gern ein paar Fragen stellen. Der Kahlkopf mit den haarigen Ohren war sichtlich verwirrt - wegen Mary. »Sie ist meine Assistentin«, sagte Sartaj. »Zeigen Sie uns bitte die anderen Gästebücher.«

Die Überprüfung dauerte eine halbe Stunde. Sartaj hatte Umesh Bindais Namen schnell gefunden, eine Unterschrift mit einem Schnörkel und zwei Punkten darunter. Die anderen Namen an den jeweiligen Daten waren oft unleserlich und, da war sich Sartaj sicher, größtenteils erfunden. »S. Khan« gab als Adresse »Bandra, Mumbai« an, sonst nichts. Falls er der Mann mit der Kamera gewesen war, der Umesh und Kamala liebesgesättigt hatte lustwandeln sehen, würde es unmöglich sein, ihn aufzuspüren. Sartaj wies den Kahlkopf an, die Gästebücher wegzuräumen und sie zu den Cottages zu führen. Mary ging schweigend mit.

Als sie wieder im Auto saßen und den Hang hinauffuhren, fragte sie schließlich: »Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?« Eine scharfe Kurve kam, und ihr Arm stieß gegen seinen.

Sartaj schüttelte den Kopf und wartete, bis sie in einem Restaurant, das auf einem Felsvorsprung erbaut war, Platz genommen hatten. Ein leichter Wind aus dem Tal strich den terrassierten Hang herauf, und Sartaj fühlte sich herrlich entspannt und hungrig. »Ich habe nicht damit gerechnet, etwas zu finden«, sagte er. Und dann erläuterte er ihr, wie Ermittlungen abliefen, wie man sich vorwärtstastete, im dunkeln stocherte, Hinweise fand, die man nur zur Hälfte begriff, und Beweismaterial, das als solches nicht durchgehen würde, von dem man jedoch wußte, daß es die Wahrheit belegte. »Es ist nicht wie im Film«, sagte er. »Eigentlich beruht die Ermittlungsarbeit zur Hälfte auf Zufällen. So wie bei den Bildern von Zoya, die uns entgangen sind, die Sie aber sofort eindeutig zuordnen konnten.«

»Das heißt, Sie sind auf Zufallsbegegnungen mit Frauen angewiesen, um Ihre Gangster aufzuspüren? Das ist aber nicht gerade eine vertrauenerweckende Auskunft für uns arme Normalbürger.« Ihre Augen glitzerten vor Belustigung.

»Aaah, nein, man muß nur offen für solche Zufallsbegegnungen sein, wissen Sie. Man muß zuhören können, um klarzusehen.«

»Ich sehe klar, daß Sie viel Zeit damit verbringen, Frauen zuzuhören.«

Er wußte, daß sie ihn hochnahm, trotzdem protestierte er: »Nein, nein, nicht so.«

Sie kicherte, und er stimmte in ihr Lachen ein. Sie aßen überdimensionierte Neer Dosas mit einer scharfen Gemüsesoße. Sartaj wischte seinen Teller leer und lehnte sich zurück. Er fühlte sich wohl, mit sich und der "Welt im reinen. Gaitonde war tot und weit weg, und falls es eine Bombe gab, war sie immateriell, Requisit einer Horrorstory. Sartajs Blick wanderte die buschbewachsenen grünen Hänge hinauf und dann über die Berggipfel in die Ferne. Er sagte: »Es tut so gut, mal aus der Stadt rauszukommen. Ich fände es ja schön, in einem Dorf zu leben, in der Natur, da ist die Luft wenigstens sauber. Und man wäre lange nicht so gestreßt.«

Mary saß zur Seite gelehnt da, das Kinn in die Hand gestützt. »Sie in einem Dorf - das möchte ich mal sehen.«

»Warum denn nicht? Vielleicht würde ich einen guten Bauern abgeben.«

Sie schüttelte sanft den Kopf. »Ich beziehe das gar nicht nur auf Sie. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, und ich könnte nie dorthin zurück. Wissen Sie denn eigentlich, wie das wirklich ist?« Sie erzählte ihm, wie es war, in einem Backsteinhaus mit Ziegeldach vom frühmorgendlichen Geschnatter der Papageien geweckt zu werden und noch mit Schlaf in den Augen zum Kuhstall hinter dem Haus hinauszustolpern. Das Bad war hinter dem Kuhstall, ein türloser kleiner Anbau mit einem in die Wand eingelassenen Kupferkessel, in dem Wasser über einem Feuer erhitzt wurde. Toiletten gab es nicht, nur die Felder. Hinter dem Kuhstall befand sich ein Brunnen, dahinter stand eine Reihe Kokospalmen, und dann kamen die Reisfelder. Ein glitzernder Fluß, der träge dem Meer entgegenfloß, und der Duft von Jasmin. Kaffee und Appams um acht, Paes463 um zehn. Der Schultag, das Geplapper auf Konkani, Kannada und Tulu auf der unbefestigten Straße. Mittagessen, und dann der ewig lange Nachmittag, an dem sie und Jojo auf der roten Terrasse vor dem Haus seilsprangen. Der Rosenkranz, der durch die Finger ihrer Mutter glitt, das einstündige Abendgebet, der Segen der Kirchenältesten. Das Abendessen, das sie, auf dem gewienerten Boden sitzend, aßen, Mutter auf ihrem niedrigen Hocker, tief über den Teller gebeugt. Die beeindruckende totale Dunkelheit, wenn die Laternen ausgeblasen wurden. Um neun ins Bett. Und schlafen.

»Kein Strom, kein Fernsehen. Ich glaube, wir hatten nicht mal ein Radio, bis ich vierzehn oder fünfzehn war.«

»Sie haben recht«, sagte Sartaj. »Es klingt sehr friedlich, aber ich glaube nicht, daß ich dort leben könnte.«

»Das ginge auch gar nicht«, sagte Mary. »Dieses Dorf gibt es nämlich nicht mehr. Es hat sich vieles verändert.«

Sartaj streckte sich und seufzte. »Es ist schon spät. Ich habe auf der Wache noch einiges zu tun. Wir sollten fahren«, sagte er. »Zurück nach Mumbai.«

»Sie haben noch gar nicht von Zoya Mirza erzählt. Jana wird verärgert sein, wenn ich keine Neuigkeiten bringe.«

Und so berichtete er ihr von dem Treffen mit Zoya Mirza, während sie gemächlich, ohne Eile, zurückfuhren. Die Stadt kam langsam näher, nicht bedrohlich, einfach unvermeidlich. Die verstreuten Hütten, Häuser, Gebäude rückten zusammen, wurden zu einer dichten Masse. Sartaj hatte das Gefühl, von einer Art Schwerkraft angezogen zu werden, und er war froh darüber. Dies war sein Zuhause. Mary saß bequem auf dem Beifahrersitz, die Knie hochgezogen, ein kleines Stückchen näher bei ihm als zuvor.

Vor ihrem Haus standen sie einander gegenüber, plötzlich verlegen. Sartajs eine Hand lag auf dem Autodach, die andere hing unbeholfen an seiner Seite.

»Und, ist Zoya hübsch?« fragte Mary.

Sartaj zuckte die Achseln. »Sie ist okay. Nichts Besonderes.«

Mary stupste seinen Unterarm an. »Sie kennen sich doch besser mit Frauen aus, als Sie vorgeben. Aber mal ehrlich, sie ist schön, oder?«

»Are, ich sage das nicht nur so. Sie ist okay, bas. Groß und so, aber nicht mehr als okay. Sie ist übrigens nicht mal wirklich einen Meter achtzig groß. Das hat Jojo erfunden. Sie ist nur ein bißchen über einssiebenundsiebzig.«

»Ooooh.« Mary war sichtlich erfreut über dieses Detail. »So was hat Jojo immer gern gemacht.«

Sie schauten aneinander vorbei, und das Schweigen zog sich in die Länge. »Ich sollte gehen«, sagte Sartaj dann.

»Gut«, sagte Mary. »Das war ein schöner Ausflug.«

»Ja, finde ich auch.«

»Dann also tschüß.«

»Tschüß.«

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Er stockte einen Moment, dann streckte er ihr die Hand entgegen. Sie lächelte und schüttelte seine Hand. Ich sollte ihr einen Kuß auf die Wange geben, dachte Sartaj, doch da hatte sie sich schon abgewandt. Er sah zu, wie sie die Treppe hinaufging, winkte ihr noch einmal, und auf der Fahrt zur Wache mußte er über sich lachen. Wo war seine alte Souveränität geblieben, die Gewandtheit von Sartaj-dem-verwegenen-Singh? Das Älterwerden bekommt mir nicht gut, dachte er. Dennoch war er bester Laune und summte auf dem ganzen Weg Mehbuba mehbuba ...414

Abends um elf, als er noch auf der Wache an der Arbeit saß, rief Anjali Mathur ihn an. »In unseren Akten über Gaitonde taucht nirgends ein Guru auf«, sagte sie. »War sich diese Frau ganz sicher?«

»Ja, sie hat von mehreren Telefonaten gesprochen.«

»Seltsam. Er muß das geheimgehalten haben.«

»Vollkommen. Er hat ja auch Zoya geheimgehalten. Er muß eine ganze Menge Dinge geheimgehalten haben. Das konnte er gut.«

»Allerdings. Ich habe in unseren Datenbanken nach dem Wort ›Pralay‹ gesucht, aber nichts gefunden. Also habe ich nach ›Qayamat‹ gesucht. Darauf bin ich dreimal gestoßen, immer in Schriften derselben Gruppe. Es handelt sich um eine militante Organisation namens Hizbuddin, von der wir nur ein sehr schattenhaftes Bild haben, wir haben nie eins ihrer Mitglieder ergreifen können. Wir wissen nicht einmal, wo sie ihre Basis haben, von wo aus sie operieren. Ihre Schriften haben wir bei Razzien im Zusammenhang mit anderen islamischen Gruppen gefunden, im Kaschmirtal, im Punjab und im Nordosten entlang der Grenze zu Bangladesh. Hizbuddin hat diese Gruppen mit Geld und Waffen versorgt, aber mehr wissen wir nicht über sie. Das erste Mal sind sie offenbar um die Zeit des Kargil-Krieges316 in Erscheinung getreten. In ihren Schriften wird ganz konkret das Qayamat angekündigt und von den Anzeichen des Jüngsten Tages gesprochen. Sie zitieren aus dem Koran: ›Der Tag des Gerichts rückt für die Ungläubigen näher, während sie sich achtlos abwenden.‹ Und jetzt kommt das Interessante: Mumbai wird in jedem der Traktate explizit erwähnt.«

Sartaj hörte, wie Anjali Mathur in etwas blätterte. Durch die offene Tür konnte er das Ende einer Bank, einen leeren Korridor und einen etwas struppigen, von einer Mauer gesäumten Garten sehen.

»Hier«, sagte sie jetzt. »Da heißt es: ›Ein großes Feuer wird die Ungläubigen erfassen, und es wird seinen Anfang in Mumbai nehmen.‹ In den anderen Traktaten findet sich diese Zeile mit geringfügigen Änderungen wieder. ›Ein Feuer wird in Mumbai seinen Anfang nehmen und das ganze Land erfassen^ Mumbai wird immer wieder erwähnt.«

Sartaj war empört. »Was haben diese Mistkerle denn gegen Mumbai? Andere Städte werden nie genannt?«

»Nein. Es ist nur von Indien als Dar-ul-harb152 und von seiner bevorstehenden Zerstörung die Rede. Auf der Zerstörung beharren sie. Der Name der Gruppe setzt sich aus ›Hizbul‹ und ›din‹ zusammen: ›Hizbul‹ steht für Armee, und ›din‹ wird hier, glaube ich, im Sinne des Jüngsten Gerichts gebraucht. Das Wort kann auch Religion oder Verhalten bedeuten, aber hier bezieht es sich mit Sicherheit auf das erste Kapitel des Koran. Hizbuddin ist also ›die Armee des Jüngsten Tages‹. Na ja, eine Verbindung läßt sich aus alldem nicht zwingend ableiten. Aber irgendwie kam mir der Name der Organisation bekannt vor. Ich habe neulich unsere Akten zu dem Falschgeld, das über die Grenze kommt, durchgearbeitet und daraufhin noch einmal die Datenbanken überprüft. Hizbuddin wird fünfmal als Quelle großer Mengen von Falschgeld genannt. Die in diesen Fällen beschlagnahmten Banknoten entsprechen haargenau denen von Kalki Sena, denen aus Jojos Wohnung und denen in Gaitondes Bunker.«

Sartaj tat langsam der Kopf weh. Was für eine Verbindung konnte es zwischen Jojo und fanatischen Extremisten geben, die die Vernichtung prophezeiten? Und zwischen Gaitonde und dieser muslimischen militanten Gruppe? Vielleicht gab es ja überhaupt keine Verbindung. Er preßte die Finger gegen die Stirn und sagte: »Das ist alles immer noch zu vage.«

»Ja, das sehe ich auch so. Es gibt keinen Grund, von diesem Geld auf eine Verbindung zu schließen. Wir haben nur Möglichkeiten. Nichts, was sich zwingend zusammenfügt. Nur weitere Fragen: Wer ist dieser Guru? Was für eine Beziehung hatte Gaitonde zu ihm?«

»Ich werde mich damit befassen.«

»Ja, und ich werde hier weiterforschen.«

Die Arbeit ging also weiter. Sartaj blieb noch eine Stunde auf der Wache, dann fuhr er heim. Er legte die Beine auf den Kaffeetisch und trank seinen Whisky, heute nur ein Glas, und nur ein kleines. Ihm war bewußt, daß er immer noch arbeitete, daß er an Jojo und Gaitonde und dicke Batzen Geld dachte. Das war eine der Sachen, die Megha an ihm gehaßt hatte: daß das, womit er in seinem Beruf gerade beschäftigt war, in seinem Innern ständig weiterarbeitete. Er trank Tee, redete über Verwandte, ging ins Kino, und irgendwo in seinem Innern setzten sich die Bruchstücke eines Mordfalls zusammen. Er hatte ihr immer zu erklären versucht, daß er das nicht absichtlich tat, daß er aufhören würde, wenn er könnte. Doch das hatte es für Megha irgendwie noch schlimmer gemacht, daß es ein Impuls war, ein Instinkt. Aber dieser Instinkt hatte ihm so manche unvermeidliche Lektion erteilt, und Sartaj hatte gelernt, ihm zu vertrauen. Jetzt sagte ihm sein Instinkt, daß diese Fragmente irgendwie ein Ganzes ergaben. Manchmal wußte man das, manchmal schmeckte man die Wahrheit auf der Zunge, auch wenn man keine Beweise in der Hand hatte. Und manchmal handelte man auf der Basis dieses Wissens, man schob Beweisstücke unter, schrieb einen Bericht, in dem man bestimmte Fakten wegließ und andere hinzufügte. Manchmal mußte man ein wenig nachhelfen, damit Justitia wirklich blind war.

In dieser Gaitonde-Angelegenheit würde es keine Gerechtigkeit, keine Wiedergutmachung geben. Es gab nur die Hoffnung, wenigstens den Ansatz einer Erklärung für das zu finden, was passiert war. Und diese schleichende Angst. Sie kam mit der Entspannung, noch verstärkt durch die Bilder aus einem amerikanischen Katastrophenfilm, in dem per Spezialeffekt ganze Städte von einer Feuersbrunst vernichtet wurden. Bleib dran, ermahnte er sich, laß nicht locker. Tu deine Arbeit. Also schloß Sartaj die Augen, lehnte den Kopf zurück, das Glas in der Hand, und ließ all die Fetzen und Fragmente von Informationen in seinem Kopf und Körper zirkulieren. Er konnte nichts erzwingen, keine Antwort ertrotzen. Wenn er gelassen genug war, wenn er furchtlos war, wenn er Kopf und Herz und Bauch einsetzte, würde sich eine Gestalt herausbilden. Er mußte nur geduldig sein.