Der Weltuntergang

Kamble war noch immer kreuzunglücklich über den Ausgang des Falles Kamala Pandey. »Dieser maderchod Bhenchod von Pilot, der ist noch mieser als die Bhadvas071 . Die nehmen den Frauen Geld ab, okay, das kann ich noch verstehen. Man läßt eine Randi für sich arbeiten, man verschafft ihr Kunden, man investiert Zeit und Mühe, und man bekommt was dafür. Aber dieser Umesh, dieser Hurensohn, der hatte noch nicht mal den Mumm, sich vor Kamala hinzustellen und Geld von ihr zu verlangen. Er hat sich versteckt, er hat die Frau gefilmt und ihr über seine Handlanger Geld abgepreßt. Und sie hat ihn geliebt.«

»Erschütternd«, sagte Sartaj. »Einfach erschütternd, daß ein Mann einer Frau so etwas antun kann.«

Kamble tat Sartajs Sarkasmus mit einem ärgerlichen Achselzucken ab. »Are, Boß, okay, ja, ich hab viele Frauen. Vielleicht hab ich ihnen auch weh getan, aber ich geb ihnen alles, und sie tun mir auch weh. Ich rede nicht nur von Geld. Ich geb ihnen das« - er schlug sich auf die Brust - »und alles, worum sie mich bitten. Geld? Ich geb es mit vollen Händen aus, werf es zum Fenster raus. Ich verschenke es und lege meine Pläne auf Eis, weil ich bereit bin, mir weh tun zu lassen. Verstehen Sie?«

Das war lächerlich, aber Kamble meinte es vollkommen ernst. Sartaj faßte über den Tisch und tätschelte ihm den Arm. »Ja, dieser Pilot ist wirklich ein übler Dreckskerl«, sagte er sanft. »Aber keine Sorge, den knöpfen wir uns schon noch vor.«

Sartaj erzählte Kamble, daß er am Morgen mit der Erinnerung an einen predigenden Guru aufgewacht und ihm dann wieder eingefallen sei, daß er einmal an der Organisation einer großen öffentlichen Zeremonie in Andheri West beteiligt gewesen war, einem religiösen Ritual, das sich über Tage hingezogen hatte, geleitet von einem Guru mit tiefer Stimme, der in einem raffinierten ausländischen Rollstuhl gesessen hatte. »Das ist etliche Jahre her«, sagte er, »aber kürzlich hab ich die Leiche eines Apradhis namens Bunty gesehen, den ein paar kleine Ganoven abgeknallt hatten, nachdem seine Company zusammengebrochen war.«

»Bunty, der Gaitonde-Mann?«

»Genau der. Ein paar Tage davor hab ich noch mit ihm telefoniert. Da hat er mir von seinem Superrollstuhl erzählt, mit dem er die Treppen rauf und runter konnte und noch alles mögliche andere. Und den hatte er von Gaitonde.«

»Sie meinen also ...«

»Ich sag Ihnen, Kamble, dieser Guru hatte den gleichen Rollstuhl wie Bunty, daran erinnere ich mich ganz genau. Vielleicht nicht dasselbe Modell, aber dieselbe Technik.«

Kamble schaute skeptisch drein, und im grellen Nachmittagslicht mußte Sartaj zugeben, daß der Zusammenhang ziemlich dürftig wirkte. Um einen munteren Tonfall bemüht, erzählte er Kamble, wie er sich in aller Herrgottsfrühe auf sein Motorrad geschwungen hatte und zu der Telefonkabine am Bahnhof Santa Cruz gerast war, wie er Anjali Mathur angerufen und sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Und wie sie später zurückgerufen und gesagt hatte, daß ihre Organisation gegen den Guru ermittle.

»Die nehmen die Sache jetzt unter die Lupe«, sagte er, »und sie werden alles herausfinden. Die haben ja die Möglichkeiten dazu. Wenn wirklich eine Gefahr für die Stadt besteht, dann werden sie's rauskriegen und was dagegen tun.«

Doch Kamble ließ sich nicht aufmuntern, nicht einmal durch die Vorstellung einer allmächtigen überregionalen Organisation, die die Stadt und ihn selbst vor potentieller atomarer Vernichtung bewahrte. Sartaj hatte ihn zur Feier der Lösung des Erpressungsfalles Kamala Pandey zum Essen ins Restaurant Mughal-e-Azam in Goregaon eingeladen, doch er saß nach wie vor mit finsterer Miene da. Kopfschüttelnd schwenkte er die Hand zum Fenster hin, zur Stadt, zur Welt dahinter. »Das da wollen Sie retten, Boß?« fragte er verdrossen. »Wozu? Warum?«

Sie saßen in dem klimatisierten Raum im ersten Stock, umgeben von einem halbherzig um Mogulpracht bemühten Dekor. In jeder Nische stand eine Bauchflasche aus Messing mit langem, schmalem Hals auf dem Fensterbrett, und an der Wand hingen zwei ausgebleichte Gemälde von Prinzessinnen mit langnasigem Profil. In dem Spülbecken neben den Toiletten aber stapelte sich schmutziges Geschirr, und die Fensterscheiben waren verdreckt. Genauso staubig und schäbig wirkte die Stadt, auf die Kamble so verachtungsvoll zeigte, an diesem wildbewegten Oktobertag. Die keuchende Klimaanlage des Mughal-e-Azam schützte sie zwar vor den Abgaswolken des Verkehrsgewühls, aber nur vorübergehend. Bald würden sie diesen schmutzigen Zufluchtsort verlassen und wieder hinausmüssen in die schmutzigen Straßen mit ihren zahllosen Baustellen, dem chaotischen Verkehr und den mißmutigen, schwitzenden Fußgängern. Das alles war nicht schön, aber war es so schlimm, daß es den Tod verdiente? »Na, na«, sagte Sartaj, »Sie sehen das zu emotional.« Kambles romantische Ader, sein Zorn auf den Piloten amüsierten Sartaj, die völlige Vernichtung herbeizuwünschen erschien ihm allerdings stark übertrieben.

»Nein, nein, ich mein das ganz ernst«, sagte Kamble. »Es wäre besser, wenn alles zerstört würde.« Er fegte mit der flachen Hand über den Tisch. »Dann ist ein Neuanfang möglich. Sonst ändert sich doch nichts. Sonst machen wir einfach so weiter wie bisher.«

Erstaunlich, daß Kamble noch an Veränderung glaubte. Wie listig und unverwüstlich mußte diese Hoffnung sein, daß sie nicht aus der Brust dieses korrupten, habgierigen, gewalttätigen Mannes weichen wollte. »Aber wenn etwas passiert, wenn die Bombe hochgeht, dann sind wir alle dran. Nicht nur Sie und ich. Auch Ihre Eltern, Ihr Bruder, alle und alles. Wollen Sie das?«

Kamble zuckte die Schultern. »Are, Bhai, wenn wir weg sind, sind wir weg. Sterben müssen wir sowieso. Dann doch besser alle auf einmal.«

Sartaj mußte lachen über Kambles pathetischen Fatalismus. Aber Kamble war noch sehr jung. Seine Enttäuschung verlangte nach nicht weniger als einer Generalreinigung, einem Neuanfang. »Das ist doch albern«, sagte Sartaj. »Essen Sie lieber Ihr Huhn.«

Der Ober stellte ein herrlich rotes Chicken Tandoori und eine Platte mit einem hohen Stapel Rumali roti538 vor sie hin. »Raita«, sagte Kamble, »bringen Sie noch Raita, Yaar.« Er riß ein großes Stück Hühnerbrust ab und kaute nachdenklich. »Verflucht, schmeckt das gut!«

Das Mughal-e-Azam stand mit der Sauberkeit auf Kriegsfuß, und die Ober waren langsam und mürrisch, aber das Chicken Tandoori war sensationell. Sartaj griff genußvoll nach einem saftigen Schenkel. Kamble schwenkte eine Handvoll Rumali roti, schob sich ein weiteres Stück Fleisch in den Mund und schloß verzückt die Augen.

»Was wir in diesem Land als Minimum brauchen«, sagte er, »ist ein Diktator. Einer, der alles in die Hand nimmt.« Er kaute vernehmlich. »Da müssen Sie mir doch recht geben.«

»Wenn der alles in die Hand nimmt, dann sind Sie dran. Bei Ihren vielen Aktivitäten.«

»Ach was. Nein, Saab. Wenn alles in Ordnung wäre, dann bräuchte ich diese Aktivitäten doch gar nicht, verstehen Sie? Ich tu nur, was ich tun muß, um im Kaliyug zu überleben.«

Das war ein unwiderlegbares Argument, ein perfekter Zirkelschluß. Kamble schwärmte für Perfektion: Wenn es schon keine perfekte Welt gab, dann wollte er die perfekte Vernichtung oder wenigstens den perfekten Diktator. Sartajs Magen rebellierte, und er wartete auf den Raita. Er versuchte sich zu erinnern, ob er je an solch reine Ideale geglaubt hatte, ob er je so jung gewesen war. Gewiß, er hatte Megha einmal für eine vollkommene Schönheit und sich selbst für den bestaussehenden Sardar in ganz Bombay, wenn nicht in ganz Südindien gehalten. Aber das war lange her. »Da wir nun mal im Kaliyug leben, mein Freund, sollten wir überlegen, was wir mit dem Piloten machen.«

»Sie wissen ja, was ich am liebsten mit ihm machen würde.«

»Sie können ihn nicht verprügeln. Ein paar Hiebe vielleicht, ja, aber mehr nicht. Überlegen Sie doch mal, Kamble. Es liegt ja nicht mal eine Anzeige gegen ihn vor, und er ist auch kein Straßenarbeiter aus Andhra. Der Chutiya könnte Ihnen enorme Schwierigkeiten machen, wenn Sie ihm ein Bein brechen oder so.«

»Ich wüßte ein paar Typen, die das für mich erledigen könnten.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Schon gut, schon gut.« Kamble schwenkte mißmutig einen Knochen. »Dann nehmen wir ihm Geld ab.«

»Und seine Spielsachen.«

»Das Heimkino?«

»Genau.«

Kamble kicherte. Zum ersten Mal an diesem Tag blitzte der alte wilde, wache Übermut in seinen Augen auf. »Die DVDs«, sagte er. »Ich will alle seine DVDs.« Er brach eine Hühnerbrust entzwei und zerrte an einem Stück Fleisch. »Haben Sie's ihr schon gesagt?«

Sartaj schüttelte den Kopf. Er hatte es Kamala noch nicht gesagt, und er freute sich auch nicht gerade darauf. Bestimmt würde sie in Tränen ausbrechen und vielleicht sogar hysterisch werden. Vielleicht würde sie Umesh und dann sich selbst verfluchen. »Wollen Sie's ihr sagen?«

»Ich? Sind Sie verrückt, Boß? Ich hab schon genug wütende Frauen am Hals gehabt. Ich kann mit dem Piloten reden, ihm die Leviten lesen, ihm sagen, was er an Strafe zu zahlen hat. Aber mit ihr? Nein.« Kamble war wieder der alte, die Lippen fettglänzend. »Außerdem steht sie auf Sie«, sagte er grinsend und bedeutete dem Ober, noch mehr Roti zu bringen. »Um die kümmern Sie sich mal schön selbst.« Plötzlich sah er Sartaj ins Gesicht, die Hand noch in der Luft. »Wieso am Bahnhof Santa Cruz, Boß?«

»Wie?«

»Sie haben doch vom Bahnhof Santa Cruz aus angerufen. Warum?«

»Weil ich da vorbeigekommen bin.«

»Um sechs Uhr früh sind Sie am Bahnhof Santa Cruz vorbeigekommen?«

»Sechs hab ich nicht gesagt.«

»Sie haben doch gesagt, sie haben die Delhi-Frau aufgeweckt.« Kamble stützte die Ellbogen auf und beugte sich vor. »Mein Freund«, sagte er, »wo haben Sie letzte Nacht geschlafen?«

»Nirgends.«

»Nirgends?«

»Zu Hause.«

»Zu Hause. Zu Hause, zu Hause.« Kamble blies die Backen auf, so daß er wie eine gutmütige Bulldogge aussah.

»Was, zu Hause, zu Hause?«

»Wie schön, ein Zuhause zu finden, Sartaj-saab. Besonders eins, das in der Nähe von Santa Cruz liegt.« Kamble drehte sich um und brüllte: »Are, müssen Sie unsere Rotis erst aus Aurangabad holen, oder was?« Strahlend wandte er sich wieder Sartaj zu. »Hab ich irgendwas gesagt? Essen Sie, essen Sie.«

»Ich muß gehen«, sagte Kamala Pandey nur, als Sartaj ihr eröffnete, wer der Erpresser war. Sie saßen wie immer hinten links im leeren Sindur. Es war Spätnachmittag, und in dem goldenen Schein, den die tiefstehende Sonne durch das beschlagene Fenster sandte, sah Kamala sehr hübsch aus. Nachdem sie von Umeshs Niedertracht erfahren hatte, preßte sie die Zähne zusammen, auf ihrer Stirn pulsierte eine Ader, und sie sagte nur: »Ich muß gehen.«

Sie griff ihre Schlüssel vom Tisch und stand auf, noch während Sartaj »Moment, Moment« sagte. Er folgte ihr zur Tür und ging dann noch einmal zurück, um ihre Handtasche zu holen. Als er hinauskam, saß sie in ihrem Wagen und starrte an dem Betelverkäufer und den Passanten vorbei ins Leere. »Madam?« sagte er.

Ihre Hand zitterte am Lenkrad, und der Autoschlüssel schrammte über Metall. Sie senkte den Blick, sammelte sich und versuchte es erneut. Diesmal bekam sie den Schlüssel ins Schloß.

»Madam«, sagte Sartaj sanft, »Sie sollten jetzt nicht fahren. Bitte.«

Er öffnete die Tür, und sie ließ zu, daß er sie am Ellbogen faßte und ihr heraushalf. Während er sich in den Wagen beugte, um den Schlüssel abzuziehen, stand sie mit hängenden Armen da, und dann mußte er sie umdrehen und in das Restaurant zurückführen. Er ließ sie Platz nehmen und setzte sich ihr gegenüber. Ihre Augen waren durchscheinend bernsteinfarben, und es war, als schaute sie durch ihn hindurch. »Madam«, sagte er, »möchten Sie ein Glas Wasser?« Er schob ihr ein Glas hin, nahm ihre Hand und bog sie darum.

Da fing sie an zu weinen. Sie zog ihre Hand fort und legte sie in den Schoß, die klaren Linien ihres Gesichts schienen zu verschwimmen, und ein Laut brach aus ihr hervor, bei dem es Sartaj kalt den Rücken hinunterlief. Er hatte ihn viele Male gehört, diesen kehligen, kindlichen Schrei. Er hatte ihn bei Eltern gehört, deren Kinder ermordet worden waren, bei Brüdern, deren Schwestern tödlich verunglückt waren, bei alten Frauen, die von ihren Verwandten ins Elend gestürzt worden waren, und, ja, auch bei betrogenen Liebenden. Es war jedesmal wieder schwer zu ertragen, dieses tiefe Heulen, denn man wußte, daß man nichts tun konnte. Sartaj hatte gelernt abzuwarten, bis es verstummte. Kamala nahm ihn nicht mehr wahr, sie heulte hemmungslos und ungeniert. Ein Ober steckte den Kopf durch die Küchentür, dann schaute Shambhu Shetty herein. Sartaj hob die Hand, ein klein wenig nur, und schüttelte den Kopf.

Als Kamala sich ausgeweint hatte, preßte sie die Hände ans Gesicht. Sartaj nahm ein Bündel Papierservietten aus einem Glas auf dem Tisch und hielt es ihr hin. Sie tupfte sich das Gesicht ab und holte tief Luft. »Ich liebe ihn«, sagte sie auf englisch.

»Madam, er ist ein durch und durch schlechter Mensch. Er hat Sie bestohlen. Er hat Sie benutzt.«

»Nein, nicht Umesh. Ich rede von meinem Mann.«

Sartaj verschlug es die Sprache. Um seine Verblüffung zu verbergen, nahm er mit ungeschickten Fingern noch mehr Papierservietten und räusperte sich. »Ja, Madam, natürlich.«

Aufgebracht beugte sie sich vor. »Sie verstehen das nicht. Ich weiß, daß Sie nichts von mir halten.« Ihr Make-up war abgewischt, und Sartaj hatte ihr Gesicht noch nie so nackt gesehen, nicht einmal an jenem ersten Morgen, als sie sich im Nachthemd mit ihrem Mann gestritten hatte. »Aber Sie verstehen das nicht. Ich will mit meinem Mann zusammenbleiben. Ich will ihn nicht verlassen, ich will keine Scheidung. Wenn ich von ihm weg wollte, hätte ich ihn längst verlassen. Aber ich will nicht weg. Ich will bleiben. Verstehen Sie?«

Sie hatte das Bedürfnis des Apradhis, sich zu erklären, auch noch nachdem die Gefahr der Bestrafung gebannt war. »Madam?« fragte Sartaj.

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein.« Sartaj hatte nicht die Absicht, sich Kamala Pandey zu offenbaren, dieser gescheiterten Frau sein eigenes Scheitern zu erklären.

»Dann können Sie es nicht wissen.«

»Was kann ich nicht wissen?«

»Die Ehe ist etwas so Schwieriges. Sich verlieben, heiraten, das ist leicht. Aber dann hat man das ganze Leben vor sich. Jahre um Jahre. Und man will bleiben, man will unbedingt bleiben. Und dazu braucht man manchmal etwas anderes. Das klingt wie eine Lüge, ich weiß, wie eine Ausrede. Aber es ist wahr. Daß er da war, er, Sie wissen schon ...«

Sie wollte den Namen Umesh nicht aussprechen, er schmeckte zu bitter.

»Der Pilot?« fragte Sartaj.

»Ja, der Pilot.« Sie schüttelte den Kopf, verwundert über sich selbst, über ihr Leben. »Durch ihn war es mir möglich, bei meinem Mann zu bleiben. Ich schwör's. Sonst hätte ich ihn verlassen. Ich habe meinen Beruf, und ich kann jederzeit zu meinen Eltern zurück. Aber ich liebe meinen Mann.« Ihre Schultern zuckten, sie weinte wieder ein wenig und schneuzte sich in eine Papierserviette. Einzelne Haarsträhnen klebten ihr an den Wangen, und sie wirkte sehr jung. »Sie halten nichts von mir und meinem Mann, weil Sie damals unseren Streit mitbekommen haben. Aber in Wirklichkeit sind wir gar nicht so. Wir sind nett zueinander. Das haben Sie nicht mitbekommen.«

Sartaj war überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte, daß Kamala und Mahesh Pandey ein glückliches Paar waren, solange sie nicht aufeinander losgingen. In der Ehe war, wie überall, nichts einfach. Vielleicht brauchte Kamala den Piloten, so wie ihr Mann sie brauchte, so wie sie ihren Mann brauchte. Irgendwo in diesem Gewirr von Bedürfnissen, Verlust und Lüge lag die Wahrheit der Liebe. »Madam«, sagte Sartaj und sah Kamala Pandey gerade in die Augen, »das verstehe ich.«

»Aber ich tu's nicht wieder. Ich fang nie wieder was mit einem anderen Mann an. Das ist es nicht wert.« Sie war begreiflicherweise noch durcheinander, schuldbewußt, unsicher, was sie selbst und die Zukunft anbelangte. Sie berührte ihr Haar, strich es hinter die Ohren zurück. »Ich seh bestimmt furchtbar aus. Sind die Toiletten hier sauber?«

»Geht so«, sagte Sartaj. »Manchmal gibt's kein fließendes Wasser.«

»Dann warte ich, bis ich zu Hause bin. Ich fahr jetzt los.« Sie nahm ihre Handtasche und die Autoschlüssel.

»Wir knöpfen uns den Piloten vor und reden ein Wörtchen mit ihm, Madam. Sie selbst unternehmen bitte nichts. Sprechen Sie nicht mit ihm, stellen Sie ihn nicht zur Rede. Wenn er Kontakt mit Ihnen aufnehmen will, reagieren Sie nicht. Und informieren Sie uns.«

»Ich will sowieso nicht mit ihm reden. Ich will ihn nie wiedersehen.«

»Gut. Wenn Sie ihn angezeigt hätten, dann hätten wir ihn hinter Schloß und Riegel bringen können. Aber wir werden ihm eine Lektion erteilen. Wir kriegen alles, was er an Videos und Informationen hat, keine Sorge. Und wir werden auch versuchen, Ihr Geld zurückzubekommen.«

Sie schauderte. »Ich will nichts von ihm haben. Halten Sie ihn mir nur vom Hals.«

»Machen wir, Madam.«

Mehr gab es nicht zu sagen. Sie stand auf und schwankte ein wenig auf ihren hohen Absätzen. Sie war noch mitgenommen, aber sie würde es nach Hause schaffen. Frauen waren stark, stärker, als es den Anschein hatte. Auch Luxusgeschöpfe wie Kamala Pandey.

»Ach ja, Ihr Geld.« Sie kramte in ihrer Handtasche und überreichte ihm einen braunen Umschlag.

»Danke, Madam.«

»Ich danke Ihnen.« Sie straffte sich. Er sah, daß sie sich zusammennahm, ihre Gesichtszüge nach und nach unter Kontrolle brachte, bis sie fast wieder die Kamala Pandey war, die er vor Monaten kennengelernt hatte. Sie wandte sich abrupt ab und ging mit festen Schritten rasch davon.

Sartaj schaute ihr nach, ihrem strammen, wohlgeformten Hinterteil, ihrem selbstbewußten Gang. Wenn sie viel Glück hatte, würde er sie nie wiedersehen, nie wieder von ihr hören. Vorausgesetzt, die Angst und Reue der vergangenen Wochen, die Wut auf den Piloten, die sich in ein paar Tagen einstellen würde, blieben in ihr lebendig. Doch ihre Selbstverliebtheit würde sie früher oder später erneut auf Abwege führen. Sie würde die bittere Lektion, die sie soeben gelernt hatte, vergessen. Sie würde glauben, so etwas könne ihr nicht noch einmal passieren. Sie würde das Bedürfnis haben, mit ihrem Mann zusammen und zugleich ein wenig getrennt von ihm zu leben. Das Leben war lang, und die Ehe war schwierig. Weil sie ihren Mann liebte, würde sie vielleicht erneut Fehler machen. Liebe, überlegte Sartaj, ist eine eiserne Falle. Darin gefangen, schlagen wir um uns, wir erlösen einander, und wir vernichten einander.

Jedenfalls war der Fall abgeschlossen. Er ging ihn nichts mehr an, es sei denn, Kamala Pandey meldete sich noch einmal bei ihm. Er steckte das Geld ein und fuhr zum Revier zurück.

Parulkar hatte sich gerade einen neuen Laptop vorführen lassen, als Sartaj bei ihm anklopfte. »Herein, herein«, rief er. Er beantwortete Sartajs Gruß mit einem Winken und zeigte auf einen Stuhl neben seinem Schreibtisch. Dann faltete er die Hände über dem Bauch und schaute wohlwollend zu, wie der junge Vertreter Kabel aufrollte und sie in einem Koffer verstaute.

»Dann erwarte ich Ihren Anruf«, sagte der Mann.

»Ich werde nicht selbst anrufen, jemand vom technischen Dienst wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte Parulkar. »Auf jeden Fall. Das ist eine sehr gute Technologie, die Sie da haben.« Er wartete, bis der Mann mit seinen diversen Koffern gegangen war, und wandte sich dann grinsend Sartaj zu. »Gute Geräte haben die, aber zu teuer. Und sie sind nicht bereit, mit dem Preis runterzugehen, zur Stärkung der Polizei und des Landes beizutragen. Das wird ihnen schlecht bekommen.«

Damit meinte er vermutlich, daß die Firma nicht willens war, auch nur annähernd genug zur Stärkung von Parulkars eigener finanzieller Situation beizutragen, aber Sartaj wollte nichts von alldem wissen. Er erzählte Parulkar von Kamala Pandeys Nöten und deren Ende und von der Bestrafung, die den Piloten erwartete.

»Interessanter Fall«, sagte Parulkar. »Gut gemacht. Wieviel zahlt der Pilot?«

»Das wissen wir noch nicht. Kamble und ich wollen heute abend mit ihm reden. Aber ein paar Lakhs sollten es schon sein, mindestens, in Bar- und Sachleistungen. Der Kerl hat Geld wie Heu.«

»Sehr gut.« Parulkar war erfreut. Sartaj würde Majid Khan etwas abgeben, der würde einen Teil an den ACP weiterreichen, und der wiederum würde Parulkar etwas zukommen lassen. Es würde dann zwar nur noch ein geringer Betrag sein, aber Kleinvieh machte auch Mist.

»Sie sehen so gesund aus, Sir«, sagte Sartaj. Und so war es auch. Parulkar hatte sich das Haar in einer Gelwelle zurückgekämmt, er hatte etwas abgenommen und wirkte jünger.

»Strenge Diät und Fitneßtraining, das ist das Geheimnis, Sartaj. Man muß in Form bleiben. Ohne Gesundheit ist alles andere nichts wert. Ich esse nur noch vegetarisch, und mein Cholesterinspiegel ist gesunken. Es gibt so viele Versuchungen im Leben, aber man muß langfristig planen.«

»Stimmt, Sir.« Sartaj wußte, wie sehr Parulkar sein Chicken pandhara rassa, scharf gewürzt und mit viel Ingwer, und Berge von Biryani liebte. Da er auf all das verzichtete, schien er ein sehr langes Leben und eine fast ebenso lange berufliche Laufbahn zu planen. Es war schön zu sehen, daß er wieder der alte war, selbstbewußt und gerissen. Sartaj lächelte und stellte ihm die naheliegende Frage: »Und was essen Sie jetzt, Sir?«

Parulkar richtete sich auf, bestellte Tee und setze Sartaj ausführlich über Bajra roti049, ballaststoffreiche Früchte und die Gefahren von Kristallzucker ins Bild. »Sartaj«, sagte er, »der Körper muß im Gleichgewicht sein, damit die Seele gedeihen kann.« Dann mußte er zu einer Sitzung ins Polizeipräsidium. Sartaj begleitete ihn zu seinem Wagen und schaute zu, wie sich der kleine Konvoi in Bewegung setzte. Parulkars weißer Ambassador wurde von zwei Gypsys voller bewaffneter Polizisten und einem neutralen Wagen mit noch mehr Polizisten in Zivil eskortiert. Parulkar war gut geschützt.

Sartaj ging um das Gebäude der Bezirksdirektion herum ins Revier zurück. Er hatte Schreibkram zu erledigen, mußte an seinen Fällen weiterarbeiten. Es würde wieder spät werden, und er würde wieder einmal nicht um ein schlechtes Restaurantessen herumkommen. Es war gar nicht so einfach, sich im Hinblick auf ein langes Leben gesund zu ernähren. Man brauchte Zeit, man brauchte Geld, man brauchte eine gewisse Position, vielleicht brauchte man sogar Bodyguards. Na ja, dachte er, so alt bin ich noch nicht, mein Körper funktioniert noch. Nächstes Jahr kann ich mir immer noch Gedanken darüber machen. Er räumte einen Schreibtisch frei und machte sich an die Arbeit.

Sartaj und Kamble hatten vorgehabt, Umesh später am Abend zur Rede zu stellen, doch um halb acht erhielt Sartaj einen Anruf von Anjali Mathur. »Ich komme Punkt acht auf dem Inlandsflughafen an. Wir treffen uns dort.«

Sie trat inmitten einer Gruppe von Männern aus dem Flughafengebäude. Eine zweite Gruppe erwartete sie am Ende des überdachten Gangs, dann tauchte sie aus dem hektischen Gewimmel von Safarianzügen auf und winkte Sartaj zu. Sie trug ihre üblichen robusten Schuhe und ein grünes Salvar-kamiz, und sie wirkte sehr müde.

»Das ist mein Chef, Mr. Kulkarni. Steigen Sie bitte mit uns ins Auto.«

Sartaj folgte ihnen zu einem weißen Ambassador auf dem Parkplatz. Der Chef, ein gelehrt wirkender Bürokrat mit dicken Brillengläsern, bedeutete Sartaj, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, er selbst und Anjali setzten sich nach hinten. Die Klimaanlage war eingeschaltet, und der Fahrer stand neben dem Wagen, aber anscheinend hatte niemand vor loszufahren. Kulkarni verschränkte die Arme und sagte: »Bitte, Anjali.«

Es war ein eingehendes, präzises Briefing. Anjali war Sartajs Hinweis zu Gaitonde und dem Guru nachgegangen. Der Guru - ein gewisser Shridhar Shukla - war im vergangenen Jahr verschwunden beziehungsweise hatte sich »in ein spirituelles Zentrum zurückgezogen«, so seine Leute, die den Beamten keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme hatten nennen können. Die Organisation befand sich nach seinem Verschwinden in Auflösung, es war zu erbitterten internen Machtkämpfen und sogar zu Morden gekommen, und die überregionale Presse hatte ausführlich darüber berichtet. Der erste dieser unerfreulichen Vorfälle, ein Doppelmord, hatte sich in dem Aschram bei Chandigarh ereignet. Einer der herbeigerufenen Polizisten - er befand sich noch in der Probezeit, und es war sein erster Einsatz - hatte in dem Raum, in dem der Mord geschehen war, Geld gefunden, genau neunzigtausend Rupien. Er hatte es aufs Revier gebracht, und sein Vorgesetzter hatte es als Falschgeld identifiziert. Die Verantwortlichen des Aschrams hatten im Verhör ausgesagt, es sei vermutlich Teil einer anonymen Spende. Näheres war nicht zu erfahren. So war der Stand der Dinge: ein paar Notizen in ein paar vergessenen Aktenordnern und ein Stapel Falschgeld in einer Asservatenkammer.

Sechs Wochen später stürmte ein bewaffneter Polizeitrupp auf den Tip eines verärgerten Dhobis hin eine Wohnung in Jullunder. Der Dhobi hatte dort gebügelte Hemden abgeliefert, er war wegen eines beschädigten Hemdes mit einem der drei Bewohner in Streit geraten und hatte weniger Geld bekommen, als ihm zustand. Daraufhin war er zur Polizei gegangen und hatte erklärt, die drei Männer - einer von ihnen sei ein blonder Ausländer - handelten von der Wohnung aus mit Drogen, und es gingen dort ständig verdächtige Gestalten ein und aus. Eine Spezialeinheit hatte die Razzia durchgeführt, doch es wurden keine Drogen gefunden, und es wurde niemand verhaftet, obwohl in der Küche noch ein Topf Reis auf dem Herd stand, als die Polizei kam. Die drei Mieter der Wohnung waren offenbar über eine Hintertreppe, die nicht bemerkt und nicht gesichert worden war, entkommen. Man fand in der Wohnung drei Koffer und diverse Kleidungsstücke, einige Bücher, ein Notebook und zehntausend Rupien in bar. Das Geld erwies sich bei näherer Überprüfung als gefälscht, das Notebook war durch ein Paßwort geschützt. Man baute die Festplatte aus, schloß sie an einen anderen Computer an und durchsuchte sie. Alle Dateien waren mit einem handelsüblichen Programm namens DeepCrypt verschlüsselt und auf einem logischen Laufwerk gespeichert worden. Der von der Polizei beauftragte Computerfachmann versuchte auf alle möglichen Arten, den Code zu knacken, jedoch ohne Erfolg. Daß die Männer geflüchtet waren, gab zu denken, aber die Polizei von Jullunder sah keinen Anlaß, die Sache weiterzuverfolgen, und verfügte auch nicht über die Mittel dazu. So wurde der Fall zu den Akten gelegt und vergessen. Bis eine Erwähnung des Falschgeldes durch vielfältige Kanäle und Schichten hindurch in eine Datenbank mit sämtlichen Erwähnungen solcher Fälschungen geriet, die von Anjali Mathur in Delhi angezapft worden war. Und im Zuge ihrer bedächtigen, sorgfältigen und unermüdlichen Überprüfung dieser Listen von Falschgeldfunden hatte sie festgestellt, daß in der Jullunder-Datei von Guru Shridhar Shukla die Rede war. Auf dem konfiszierten Notebook war der Cache des Browsers auf einem unverschlüsselten Teil der Festplatte gespeichert; in den fraglichen drei Wochen waren nur drei Websites geöffnet worden: Hotmail, eine Pornoseite namens www.hotdesibabes.com und die Website des Gurus.

Anjali Mathur hatte Kulkarni über diese zugegebenermaßen vage Verbindung informiert und ihm gesagt, daß es sich in beiden Fällen um Falschgeld desselben Typs handelte, auf demselben Papier, von denselben Druckplatten, und daß beide Male der Guru im Spiel war. Kulkarni hatte ihr in seiner grenzenlosen Weisheit gestattet, die Computerabteilung einzuschalten, die versuchen sollte, die Verschlüsselung des Notebooks von Jullunder zu knacken. Doch das Notebook war aus dem zuständigen Polizeirevier verschwunden. Der Dienststellenleiter entschuldigte sich vielmals und versprach, die Asservatenkammer in Zukunft besser zu sichern; er werde eine Untersuchung veranlassen und die für den Verlust verantwortlichen Beamten bestrafen. Die Ermittlungen kamen zum Erliegen, bis Anjali Mathur wieder einfiel, daß die Festplatte ja aus dem Notebook entfernt worden war. Sie rief den zuständigen Revierleiter an, und Dienstag nacht um zwei wurde die Festplatte schließlich gefunden, in einem braunen, mit Gummiband verschlossenen Umschlag, im obersten Fach eines Bücherschranks im Büro des Computerfachmannes. Sie wurde per Kurier umgehend nach Delhi gebracht, zu Anjali Mathur. Und nach zwei Tagen und sieben Stunden waren das verschlüsselte logische Laufwerk entsperrt und die Dateien entschlüsselt.

»Von Entschlüsselung verstehen wir was«, sagte Anjali Mathur nicht ohne Stolz. »Darin sind wir sogar den westlichen Ländern voraus. Und dieses DeepCrypt-Programm ist nicht besonders gut.«

»Zum Glück für uns«, sagte Sartaj.

»Allerdings«, stimmte Kulkarni zu. »Wie sich jetzt zeigt.«

Anjali nickte. »Auf dem Laufwerk haben wir Blaupausen, technische Unterlagen und Arbeitsberichte gefunden. Nachdem wir alles analysiert haben, sind wir überzeugt, daß tatsächlich ein Sprengsatz existiert, daß dieser Sprengsatz aus Materialien gefertigt wurde, die aus dem Ausland stammen, und daß er technisch einwandfrei ist. Diese Leute haben sich auf dem internationalen Schwarzmarkt verbrauchten Kernbrennstoff beschafft und ins Land geschmuggelt. Dann haben sie mit Hilfe von umgebauten Massenspektrometern aus dem verbrauchten Kernbrennstoff waffenfähiges Uran hergestellt. Massenspektrometer sind Geräte, die normalerweise in Universitätseinrichtungen und Labors benutzt werden. Man kann sie ganz legal auf dem freien Markt erwerben. Ein zu einem Calutron umgebautes Massenspektrometer produziert in Wochen und Monaten nur winzige Mengen waffenfähigen Materials, aber mit viel Geduld hat man am Ende genug für einen Sprengsatz. Und wir wissen, daß sie mehrere Calutrone eingesetzt haben, zwölf, fünfzehn vielleicht. Sie hatten also die Zutaten, und sie hatten die nötigen Fachkenntnisse. Wir wissen, daß sie einen Sprengsatz gebaut haben. Und wir wissen auch, daß sich dieser Sprengsatz bereits in Mumbai befindet. Das geht aus E-Mails und Dokumenten hervor, die wir auf der Festplatte gefunden haben.«

»Ein Sprengsatz«, sagte Sartaj. »Sie meinen eine Bombe.«

»Ja.«

»Wo? Wo ist sie?«

»Das ist eben das Problem. Wir wissen es nicht.«

»Keine weiteren Hinweise? Keine Anhaltspunkte?« Sartaj kam sich vor, als stünde er neben sich, als führte ein anderer dieses bizarre Gespräch in einem Auto vor Terminal zwei, an einem ganz normalen schwülen Abend, an dem Reisende und ihre Verwandten Koffer in und auf Autos verstauten. Er versuchte sich zu konzentrieren, seine übliche Detailversessenheit auf das anstehende Problem zu richten. Es kam jetzt darauf an, professionell zu bleiben angesichts dieser schlimmen Phantasie, die zu einer noch schlimmeren Realität wurde. »Irgend etwas muß es doch geben.«

»Nein, nicht viel. Es gibt einen Hinweis auf ein Haus in Mumbai. Der betreffende Satz lautet: ›Ich hoffe, Guru-ji genießt die Terrasse‹, und das Haus scheint in der Innenstadt zu sein. Das ist alles.«

»Warum tun die das?«

Kulkarni nahm seine Brille ab und rieb die Gläser blank. »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Auf der Festplatte sind auch Dateien mit Texten und Bildern für drei Broschüren, die angeblich von einer extremistischen islamischen Organisation namens Hizbuddin herausgegeben werden.« Er setzte die Brille wieder auf und wirkte dabei wie ein zerstreuter Professor. »Wir hatten im Zuge von Razzien bei diversen verbotenen Organisationen bereits solche Broschüren sichergestellt und den Eindruck gewonnen, daß es sich bei der Hizbuddin um eine fundamentalistische Gruppe mit Verbindungen nach Pakistan handelt. Wir wußten, daß sie gleichgesinnte Gruppierungen finanziert und möglicherweise einen großen Terroranschlag plant. Diese neue Information würde aber nahelegen, daß die Hizbuddin nur Fassade ist, eine Scheinorganisation, die dieser Guru Shridhar Shukla und seine Leute aufgebaut haben. Unsere Theorie sieht nun so aus: Sie haben vor, den Sprengsatz zu zünden und die Sache dem islamischen Fundamentalismus in die Schuhe zu schieben. Nach der bisherigen Beweislage ist die Hizbuddin also eine falsche Fährte, die dieser Shukla und seine Organisation gelegt haben. Die Hizbuddin würde dann nach einem nuklearen Zwischenfall die Verantwortung übernehmen, und man würde ihr auch Glauben schenken.«

»Aber warum? Was wollen die damit erreichen?«

Das Licht fiel so auf Kulkarnis Brillengläser, daß darin kleine Halbmonde entstanden. Er zuckte die Schultern. »Wir wissen nichts über Motive oder beabsichtigte Folgen. Vielleicht wollen sie Hochspannung, Eskalation, Vergeltung.«

Sartaj wollte nicht darüber nachdenken, was Vergeltung in diesem Fall bedeutete, aber er konnte nicht anders: Er mußte einfach fragen, welche Katastrophe ihnen drohte. »Wenn sie diesen - diesen Sprengsatz zünden«, sagte er, »was passiert dann? Wie groß ist er?«

Kulkarni wies mit einem leichten Nicken auf Anjali. Offenbar war sie in dem Team für die Details zuständig. »Nach unseren Erkenntnissen«, sagte sie, »ist es kein kleiner Sprengsatz. Seine Herstellung hat möglicherweise deshalb länger gedauert, weil eine höhere Sprengkraft beabsichtigt ist. Mit Miniaturisierung haben diese Leute nichts im Sinn. Vermutlich wurde er auf der Ladefläche eines Lastwagens in die Stadt gebracht. Wenn er explodiert ...« Sie schluckte. »Wahrscheinlich ein großer Teil der Stadt.«

»Alles?«

»Fast alles. Wenn sie sorgfältig planen und ihn gut plazieren.«

Sartaj zweifelte nicht daran, daß sie ihn hervorragend plazieren würden. Sie hatten Ziel und Mittel kalkuliert und würden die Vernichtung sicherstellen. Es blieb nur noch eine Frage. »Was machen wir jetzt?«

Kulkarni hatte so etwas wie einen Plan. »Wir bilden unverzüglich einen Krisenstab im Polizeipräsidium von Colaba«, sagte er. »Innerhalb der nächsten zwei Stunden lösen wir Alarm aus. Aber der Sprengsatz wird mit keinem Wort erwähnt. Wir sagen nur, wir hätten einen zuverlässigen Hinweis auf einen großen Terroranschlag. Eine Erwähnung des Sprengsatzes könnte zu einer Massenpanik führen, die Leute würden in Panik die Stadt verlassen und so weiter. Die Dinge würden völlig außer Kontrolle geraten. Das wollen wir nicht.«

Sartaj konnte sich die Massenflucht vorstellen, von Autos und Lastwagen verstopfte Überlandstraßen, Menschen, die verzweifelt in die Züge drängten, die Schreie verlorengegangener Kinder. Und irgendwo in seinem Innern meldete sich das Bedürfnis, Mary zu warnen, Majid Khans Kinder aus der Stadt zu schaffen. Doch er nickte und sagte: »Ja. Ja.«

»Wenn etwas über den Sprengsatz durchsickert«, sagte Anjali, »könnten es auch die Leute erfahren, die den Sprengsatz zünden wollen. Und um nicht entdeckt und daran gehindert zu werden, könnten sie es gleich tun. Das müssen wir bei den Ermittlungen immer im Auge behalten. Es darf nichts nach außen dringen.«

»Auf keinen Fall«, sagte Sartaj. »Aber worauf warten diese Leute noch?«

»Über ihren Zeitplan wissen wir nichts«, antwortete Anjali. »Wir möchten, daß Sie weiter für uns ermitteln. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet. Nutzen Sie Ihre Quellen.«

Damit entließen sie Sartaj, und er blieb in den Abgaswolken mehrerer Ambassadors zurück. Er war hellwach und zugleich wie betäubt. Orangefarbene Lichter brannten über dem Terminalgebäude. Schweiß sickerte in der zunehmenden Hitze seine Schlüsselbeine hinab. Geh noch einmal die Informationen durch, ermahnte er sich. Doch es gab nicht viele: Zu den Apradhis gehörten möglicherweise ein berühmter Guru im Rollstuhl und ein blonder Ausländer, sie befanden sich möglicherweise in einem Haus mit Terrasse, das Haus war möglicherweise geräumig genug, um ein großes gefährliches Instrumentarium zu beherbergen, möglicherweise stand in der Nähe ein Lastwagen. Das war alles. Und davon hing alles ab. Keine Angst, sagte Sartaj zu sich selbst. Mach dich an die Arbeit. Mach dich einfach an die Arbeit.

Er rannte zu seinem Motorrad, schwang das Bein darüber und hielt dann wie gelähmt inne. Hatten die vergangenen Minuten wirklich stattgefunden? Alles, was sich in dem Auto abgespielt hatte, erschien ihm im nachhinein wie ein Film in ruckendem Zeitraffer. Er versuchte langsamer zu atmen und das Gespräch zu analysieren, es sich Stück für Stück zurückzurufen, aber er fand nur einen Wirrwarr einzelner Sätze und Wörter: »Es ist kein kleiner Sprengsatz«; »Sprengkraft«. Wie konnten Anjali und ihr Chef so ruhig und kühl von diesen Dingen sprechen? Vielleicht waren Menschen wie sie daran gewöhnt, von Unaussprechlichem zu sprechen. Vielleicht redeten internationale Spione immer so. Sartaj hatte schon früher an dieses Ding gedacht, diesen Sprengsatz, er war ihm in Büchern und Zeitungen begegnet, aber jetzt, da er sich in seiner Stadt befand, dort, wo er zu Hause war, versagte seine Vorstellungskraft. Er versuchte ihn vor sich zu sehen, eine technische Vorrichtung auf der Ladefläche eines Lastwagens, aber er sah nur Leere, ein Loch in der Welt. Und aus dieser Leere brach eine Lawine des Bedauerns hervor, ein brennender Schmerz in seinem Innern um alles, was ungetan blieb, um alle Erinnerungen an Vergangenes. Er beugte sich vor. In der silbernen Rundung des Lenkers spiegelte sich die Straßenlaterne, und er sah tausend Gesichter darin: einen Jungen, den er in der dritten Klasse verprügelt und vor der ganzen Schule gedemütigt hatte, Chamanlal, den Betelverkäufer an der Ecke zur Hauptstraße, ein schönes Mädchen, das im internationalen Flughafen bei Gulf Air arbeitete - Katekar hatte ihm einmal von ihr erzählt -, den gelähmten Bettler, der die Kreuzungen am Mahim Causeway abklapperte. Alles würde weg sein, nicht nur Freunde und Feinde. Alle. Das war die unerträgliche Verheißung dieses Sprengsatzes, die nun eingelöst werden sollte. Es war lachhaft, aber es war Realität. Sartaj saß auf seinem Motorrad und versuchte diese Realität zu erfassen, sie im Kopf zu behalten, damit er über sie nachdenken und entscheiden konnte, was als nächstes zu tun war. Schließlich - er wußte nicht, wie lange er dort gesessen hatte - gab er auf. Es war besser, die Leere sein zu lassen und um sie herum zu denken. Dann konnte man wenigstens arbeiten. Ja, arbeiten. Sich an die Arbeit machen. Er startete das Motorrad.

Drei Tage Arbeit und kein Durchbruch, keine Offenbarungen, keine Verhaftungen. Der Alarm war ausgelöst worden, aber man hatte zuwenig in der Hand. Allenfalls hätte man fragen können: Haben Sie eine Gruppe von drei, möglicherweise vier Männern gesehen? Einer davon ein blonder Ausländer, einer ein Guru im Rollstuhl? Man ging Hunderten von Hinweisen nach, aber alle führten zu harmlosen alten Männern in klapprigen Rollstühlen oder zu empörten ausländischen Managern mit kaum hellerem als braunem Haar. Man trat auf der Stelle. Und das Leben ging weiter. Am Dienstagabend fuhr Sartaj zu Rohit, Mohit und Shalini. Er gab Shalini einen Umschlag mit zehntausend Rupien, setzte sich in die Tür des Kholis und trank eine Tasse Chai.

»Sie sehen müde aus«, sagte Shalini. Sie begann mit der Zubereitung des Abendessens für die Jungen.

»Ja«, sagte Rohit, der neben Sartaj an der Wand lehnte. »Das stimmt.«

»Ich hab schlecht geschlafen. Zuviel Arbeit.«

Rohit wischte sich ein Stäubchen vom Halsausschnitt seines blütenweißen T-Shirts. »Sie sind auch so dünn.«

»Ich hab immer noch keine gute Köchin gefunden.«

Shalini lächelte. Sie sah gut aus in ihrem glänzenden grünen Sari. Sie warf Sartaj einen verschmitzten, wissenden Blick zu. »Was, diese Christin kocht nicht für Sie? Oder schmeckt Ihnen ihr Essen nicht?«

Sartaj zuckte zusammen, und der Tee schwappte ihm aus der Tasse über die Brust. »Welche Christin?« stotterte er und wischte sich das Hemd ab.

Rohit klatschte in die Hände. »Versuchen Sie's gar nicht erst«, sagte er lachend. »Sie hat ihre Spione überall. Im Ernst, sie weiß alles.«

Shalinis Schultern zuckten. Sartaj hatte sie noch nie so lachen sehen, nicht einmal als ihr Mann noch gelebt hatte. »Ja«, sagte sie. »Sie kommen nie drauf, woher ich das weiß.« Mit hochzufriedener Miene schwenkte sie einen bemehlten Teigroller in seine Richtung. »Nicht, daß es so einfach gewesen wäre. Von einem Polizisten hab ich's nicht.«

Shalini würde sich nichts vormachen lassen, und Sartaj zog sich halbwegs mit Anstand, wie er hoffte, aus der Affäre. »Von wem dann?« fragte er.

»Ich kann doch meine Khabaris nicht verraten. Nein, nein.«

Sartaj überlegte, wer es sein könnte, wer von Mary wissen und geredet haben könnte. Kamble wußte Bescheid und hatte es vielleicht jemandem auf dem Revier gesagt, der es einem Zivilisten weitererzählt hatte. Oder Shalini hatte eine Freundin, die in der Nähe von Marys Haus arbeitete und Sartaj dort gesehen hatte. Oder aber es war jemand aus Marys Salon. Es gab tausend Möglichkeiten, wie Shalini von Sartaj und Mary erfahren haben konnte, tausend Verbindungen quer durch die Stadt, zwischen allen möglichen Personen. Sartaj hatte dieses allgegenwärtige Netzwerk selbst schon oft benutzt, und jetzt hatte es ihn verraten. »Deine Mutter ist wirklich absolut professionell«, sagte er zu Rohit. »Sie sollte bei der Polizei anfangen.«

Shalini lachte wieder und warf eine Handvoll braune Gewürze in einen Topf, wo sie laut aufzischten. »Dann erzählen Sie uns mal von dem Mädchen.«

»Aber Sie wissen doch schon alles.« Sartaj wollte noch etwas Allgemeines darüber sagen, daß man als Mann der Wachsamkeit einer Frau einfach nicht entgehen könne, da kam Mohit vom Ende der Gasse herangestolpert. Sein Hemd war blutbefleckt.

»Was ist passiert?« fragte Rohit. Er kniete sich hin und faßte seinen Bruder an den Schultern. »Wer war das?«

Mohits Nasenlöcher waren rot gerändert, und er hatte einen schwärzlichen Schmierer am Kinn. Shalini stürzte mit wirbelndem Sari an Sartaj vorbei. »Beta!« rief sie. »Was ist passiert?«

Doch Mohit grinste. »Das waren diese Scheißkerle aus Nehru Nagar. Aber keine Sorge, die haben wir viel schlimmer zugerichtet«, sagte er triumphierend. »Denen haben wir's gezeigt. Die sind getürmt.«

Shalini inspizierte Mohits Hemd: Ein Riß zog sich von der Schulternaht bis in den Rücken. »Du hast dich wieder mit diesen Jungen geprügelt?« Sie drehte sein Gesicht zu sich hoch. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht mit denen anlegen! Ich hab dir gesagt, du sollst nicht mal in die Nähe von Nehru Nagar gehen!« Ihr Gesicht war wutverzerrt, und ihre Fingernägel gruben sich in Mohits Wangen. Aber der Junge zeigte keine Angst. »Ich sag Saab, er soll dich ins Jugendgefängnis bringen.« Sie drehte ihn zu Sartaj hin. »Dann kannst du was erleben!«

Sartaj stand auf. »Mohit, du solltest nicht -«

»Maderchod Sardar!« schrie Mohit. »Ich bring dich um! Ich geh mit dem Messer auf dich los!«

Shalini schnappte nach Luft, dann schlug sie Mohit heftig auf den Hinterkopf. Sie zog ihn ins Haus, vorbei an den Zuschauern, die sich bereits versammelten, und knallte die Tür zu. Doch Sartaj hörte ihn drinnen weiterpoltern.

»Ich muß gehen«, sagte er zu Rohit und faßte ihn am Ellbogen. »Ich hab noch einen Termin.«

»Sorry«, sagte Rohit. Er fingerte nervös an dem Schlüssel, den er an einer Schnur um den Hals trug. »Es wird immer schlimmer mit Mohit, obwohl wir so viel für ihn tun. Er hat schlechte Freunde, eine Bande von vier oder fünf Jungen. Ständig prügeln sie sich mit diesen älteren Taporis aus Nehru Nagar. Ich hab ihn sogar schon geschlagen, aber das nützt alles nichts. Seine Noten sind miserabel.«

»Er ist noch so jung«, sagte Sartaj. »Er ist jetzt in einer schwierigen Phase, aber das wächst sich aus.«

Rohit nickte. »Ja, das glaub ich auch. Tut mir trotzdem sehr leid.«

Sartaj klopfte Rohit auf die Brust und sagte: »Mach dir nichts draus. Er hat noch so viel Zeit. Früher oder später fängt er sich wieder.« Er startete sein Motorrad. Während er sich vorsichtig zwischen den Schlaglöchern durchschlängelte, kam ihm der Gedanke, daß Mohit vielleicht nie aus dieser blutigen Spirale herausfinden würde, auch wenn noch so viel Zeit verging. Vielleicht war er schon verloren, für seinen Bruder, für seine Mutter, für sich selbst. Und Sartaj hatte sein Teil dazu beigetragen, daß Mohit auf diesen harten Weg geraten, daß er in dieses Loch gefallen war, aus dem man nicht mehr herauskam. Alles, was man tat, war Teil eines verschlungenen Geflechts von Verbindungen, es hallte wider und verstärkte sich, es verschwand und tauchte wieder auf. Man versuchte ein paar Apradhis zu schnappen, und der Sohn eines Polizisten geriet auf die schiefe Bahn. Den Wirkungen des eigenen Tuns entging man nicht, sowenig wie der eigenen Verantwortung. So lief das. So war das Leben.

Rachel Mathias erwartete Sartaj auf dem Revier. Sie saß im Flur vor seinem Büro, am äußersten Ende einer Bank, neben einer Reihe teilnahmslos blickender Koli-Frauen. Sie schwitzte und fühlte sich sichtlich unwohl, doch als sie aufstand, war Sartaj beeindruckt vom eleganten Faltenwurf ihres blauen Saris und dem schlichten silbernen Armreif an ihrem rechten Handgelenk. Schmutz und Verwahrlosung auf dem Revier hatten ihr nicht das geringste anhaben können. Sie hielt sich sehr aufrecht und sah Sartaj gerade in die Augen.

»Wie lange warten Sie schon?« fragte er.

»Noch gar nicht lange. Das ist mein Sohn Thomas.«

Nach Thomas' mürrischem Gesichtsausdruck zu schließen, mußten sie schon mehrere Stunden dasein. »Kommen Sie rein«, sagte Sartaj, führte sie ins Büro und bat sie, Platz zu nehmen. Thomas flegelte sich auf einen Stuhl, setzte sich aber auf einen durchdringenden Blick seiner Mutter hin schnell wieder gerade. Ein etwa fünfzehnjähriger Jugendlicher, gutaussehend, selbstbewußt und muskulös. Die Jungen wurden heutzutage immer größer und kräftiger, und Thomas schien ein Frühentwickler zu sein.

»Noch mal zu unserem Gespräch von neulich«, sagte Rachel.

»Ja?« Sartaj wußte, daß sie Kamala nicht erpreßt hatte, aber irgend etwas hatte jeder verbrochen. Er hatte schon öfter erlebt, daß Menschen auf polizeilichen Druck Dinge gestanden, nach denen man gar nicht gefragt hatte.

»Thomas hat Ihnen etwas zu sagen.«

Thomas wollte nichts sagen, er sah zu Boden und hatte die Fäuste geballt, doch seine Mutter ließ nicht locker. »Thomas?« sagte sie.

Thomas' Kiefer mahlten, und er räusperte sich. »Also, das war so -«, setzte er an, dann verstummte er wieder. Errötend wischte er sich die Hände an seinen Jeans ab, und plötzlich tat er Sartaj leid. Er hatte einen mächtigen Bizeps und gegelte Haare, aber er war noch ein Kind.

»Vielleicht«, sagte Sartaj, »möchte Thomas lieber mit mir allein reden.«

Rachel nickte. »Ich warte draußen.«

Nachdem sie schwungvoll die Tür hinter sich geschlossen hatte, trommelte Sartaj mit den Fingern auf den Tisch, und schließlich schaffte Thomas es, den Blick zu heben. »Erzähl«, forderte Sartaj ihn auf.

»Also, wegen der Videokamera, Sir ... Es tut mir leid.«

»Was tut dir leid?«

»Daß ich das Video gedreht hab.«

Eine leichte Benommenheit erfaßte Sartaj. »Das Video. Aha.«

»Es war nicht meine Idee.« Stockend erzählte Thomas seine Geschichte. Es war Lalitas Idee gewesen. Laiita war seine Freundin, sie war ein Jahr älter als er, und sie waren seit einem Jahr zusammen. Als Thomas die Videokamera bekam, hatten sie alle ihre Freunde gefilmt, sie waren in der Stadt herumgegangen und hatten irgendwelche Leute auf der Straße gefilmt. Einige Tage hatten sie an einem Kurzfilm gearbeitet, zu dem Thomas das Drehbuch geschrieben hatte, dann war ihnen das zu langweilig geworden. Laiita wollte sich und Thomas zusammen in seinem Zimmer filmen. Und als die Kamera lief, hatten sie vergessen, daß sie lief.

»Vergessen?« fragte Sartaj.

»Ja.« Eine Zeitlang. Als sie wieder daran dachten, wollte Laiita sie nicht abschalten, und so sah man auf dem Film, wie sie sich küßten.

Sartaj rieb sich die Augen; Windmühlen drehten sich darin und verschwanden wieder. Er senkte die Hände, und Thomas war noch da, jung und gutaussehend mit seinem engen weißen T-Shirt und der schmalen Halskette. Er war noch da, unerklärlich und doch real und präsent. »Ihr habt euch nur geküßt?«

»Ja, wir waren die ganze Zeit angezogen.« Trotzdem war seine Mutter ausgerastet, als sie die Kamera zufällig einmal eingeschaltet und die beiden auf dem Monitor gesehen hatte. Auch ein paar Freunde von Thomas hatten das Video gesehen, mehr war nicht passiert, doch Rachel hatte die Kassette auf der Stelle vernichtet. Damit war der Fall erledigt gewesen, bis Sartaj aufgetaucht war und nach Videokameras gefragt hatte.

Sartaj mußte irgend etwas sagen, dem Jungen die Leviten lesen vielleicht, ihm Angst einjagen. Das Video war garantiert seine Idee gewesen und nicht die irgendeiner Laiita. Oder vielleicht doch. Ja, bestimmt war es so. Was wußte Sartaj schon von der Welt, in der diese Jungen und Mädchen lebten, mit ihren Videokameras, dem Internet, ihren Beziehungen mit Fünfzehn? Wer waren diese Leute? Er lebte neben ihnen her, wie viele tausend andere in der Stadt auch, und er kannte sie und kannte sie doch wieder nicht. Alles existierte irgendwie nebeneinander. Mit einiger Mühe brachte er schließlich einen strengen Ton zustande. »Wenn du in deinem Alter schon solche Sachen machst, verbaust du dir dein ganzes Leben.« Er redete weiter, ohne zu wissen, ob er überhaupt glaubte, was er da sagte. Dann legte er Thomas die Hand auf die Schulter und brachte ihn zur Tür. »Hör zu«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung, »kümmere dich um deine Mutter. Sie ist ganz allein, und sie arbeitet sehr hart für dich und deinen Bruder. Benimm dich anständig. Mach ihr keine Sorgen.«

Er hatte gar nicht beabsichtigt, Rachel Mathias zuliebe Thomas' Wohlverhalten einzufordern, aber der Junge schien betroffen, mehr als durch die Ermahnungen davor.

»Ja, Sir«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Ist gut. Tut mir leid, Sir«.

Beim Aufwachen aus einem tiefen, traumlosen Schlaf fiel Sartajs Blick auf die verschwommene weiße Scheibe eines rotierenden Ventilators an einer grünen Zimmerdecke. Unter großer Anstrengung wandte er den Kopf. Mary saß auf dem Boden und blätterte in einer Zeitschrift. Im Fernsehen sprang eine große Gazellenherde lautlos über einen Hügelkamm und verschwand im gelben Gras. »Wie spät ist es?« fragte er. Draußen war es dunkel.

»Halb zehn. Du warst todmüde.«

»Ja. Was liest du da?«

»Ein Reisemagazin. Da steht was über Tauchen auf den Andamanen. Sieh mal.« Sie stand auf und setzte sich neben Sartaj aufs Bett. Orangefarbene und rote Fische schwammen in einem Meer, dessen Blau den Betrachter förmlich ansprang.

Sartaj stützte sich auf den Ellbogen. »Warum fährst du nicht hin?« fragte er. »Du solltest mal Urlaub machen.«

»Kommst du mit?«

»Ich? Nein, ich kann nicht schwimmen.«

»Ich spare für Afrika.«

»Ja, aber erst mal kannst du doch Urlaub machen. Wie wär's mit Kodaikanal?«

»Da war ich schon.«

»Dann fahr in dein Dorf.«

»Da zieht mich nichts mehr hin. Wieso willst du mich denn unbedingt wegschicken?«

Sartaj setzte sich auf. Er nahm ihr die Zeitschrift ab und faßte ihre Hände. »Es ist im Moment sehr gefährlich hier in der Stadt. Wir erwarten einen großen Terroranschlag. Irgend etwas haben diese Leute vor, das wissen wir. Du fährst besser weg.«

Mary zog die Schultern hoch. »Kommst du mit?«

»Ich muß hierbleiben.«

»Warum?«

»Das ist mein Job.«

»Diese Leute zu finden?«

»Ja.«

»Was haben die vor?«

»Etwas - etwas sehr Schlimmes, von ungeheuren Ausmaßen.«

Sie mußte lachen, dann wurde sie plötzlich ernst. »Entschuldige. Ich glaub dir das natürlich. Deswegen muß ich lachen. Was soll man sonst schon tun?«

»Du bist sehr tapfer.«

»Nein, überhaupt nicht. Ich habe Angst. Aber der Gedanke ist einfach zu verrückt.«

»Also fährst du weg?«

»Nein, jedenfalls nicht allein. Wozu? Alles, was ich habe, ist hier.«

Ihre Augen waren feucht geworden. Er küßte sie, und sie schmiegte sich an ihn, ihre Lippen an seinen, ihre Zunge warm und geschmeidig, dann kniete sie sich über ihn. Sie lachten beide, als er zusammenzuckte und seinen Schenkel unter ihrem Knie hervorzog. Sie küßte ihn auf die Mundwinkel, dann nahm sie seine Hand, führte sie nach oben und legte sie auf ihre Brust. Einen Moment lang regten sie sich nicht, und Sartaj sah, wie sich die Sprenkel in ihren Augen im Lampenschein bewegten, dahinter ein sanftes, unbestimmtes Dunkel. Sie lächelten einander an. Sartaj begann Marys blaue Bluse aufzuknöpfen, einen Knopf nach dem anderen. Die Knöpfe waren klein, und Sartaj mühte sich mit jedem einzelnen ab. Er kam sich ziemlich ungeschickt vor. Mary lachte ihn leise aus und lehnte sich zurück, damit er besser an die unteren Knöpfe herankam. Er ahmte ihr Kichern nach, und sie beugte sich wieder vor, schmiegte die Wange an seinen Bart, und sie lachten beide. Die Bluse glitt von ihren Schultern und entblößte ihre glatte, braun schimmernde Haut, dann streckte Mary sich neben Sartaj aus. Er beugte sich über sie. Sie legte ihm die Hand in den Nacken und zog ihn zu sich herab.

Sie lagen unter dem Laken, Haut an Haut, und Sartaj erzählte Mary von seiner Kindheit. Sie wollte alles von ihm wissen, von Anfang an. »Erzähl«, hatte sie gesagt. Inzwischen waren sie bei seinen Teenagerjahren angelangt. Es war sehr spät, lange nach Mitternacht schon, doch Sartaj fühlte sich hellwach und seltsam zufrieden. Sein Körper war entspannt, und der angenehme Schmerz in seinen Muskeln erinnerte daran, daß sie Sex gehabt hatten. Er war ungeschickt gewesen, unsicher und zu besorgt hinterher, aber irgendwie spielte das alles jetzt keine Rolle mehr. Es hatte gutgetan, von ihr umfangen zu werden, den lebendigen Puls in ihr zu spüren. Es tat gut, neben ihr zu liegen, ihr das Haar hinter die Ohren zu streichen, ihre Fragen zu beantworten. »Und wie hieß sie?« wollte sie wissen.

Sartaj hatte ihr von seiner ersten Freundin erzählt. »Sudha Sharma. Sie hat zwei Häuser weiter gewohnt, und ihr Bruder war mein bester Freund.«

»Und irgendwann ist er hinter die Geschichte zwischen dir und seiner Schwester gekommen und hat dich verprügelt?«

»Nein, er hat es nie erfahren. Der hätte mich umgebracht. Aber wir waren sehr vorsichtig.«

»Wie alt warst du damals?«

»Fünfzehn.«

»Fünfzehn! Mit Fünfzehn hatte ich von Sex noch keinen blassen Schimmer. So schlimm warst du mit Fünfzehn?« Mary kniff ihn kräftig in die Schulter.

»Are, ich hab nicht gesagt, daß wir Sex hatten. Wo denn auch? Im Zimmer ihres Vaters? In dem Haus gab es so viele Tanten und Großmütter, daß man sich nicht mal umdrehen konnte, ohne daß einen jemand gefragt hat, was man vorhat.«

»Und trotzdem hast du das arme Mädchen verdorben.«

»Verdorben? Ich? Ich hätte mich nicht mal getraut, sie auch nur anzuschauen. Sie war drei Jahre älter als ich und hat mir von sich aus jedesmal eine Extraportion Aampapad002 gegeben, wenn ich dort war. Und unter dem Tisch hat sie meine Hand gehalten. Ich hatte solche Angst, daß ich nicht mal mein Glas Wasser trinken konnte.«

»Die Mädchen hier in Bombay sind einfach zu schnell. Und dann?«

»Wir haben uns immer nachmittags getroffen, im Anschluß an ihre Nachhilfestunden.«

»Und dann hast du sie geküßt?«

»Sie hat mich geküßt.«

»Ah. Wo?«

»Na, hier natürlich.« Sartaj zeigte auf seinen Mund.

»Das wollte ich gar nicht wissen.« Mary schaute gespielt ärgerlich drein und küßte ihn dann flüchtig dorthin, wohin er gezeigt hatte. »Ich meine, wo das war. Im Zimmer ihres Vaters?«

»Das erste Mal in einem Restaurant in Colaba. Erst waren noch zwei Freundinnen von ihr dabei, aber die sind bald gegangen. Später dann auf den Felsen in Bandra.«

»An der Strandpromenade? So eine schamlose Person!«

»Sudha? Nein. Sudha war eben Sudha.«

Er lächelte wohl etwas zu zärtlich bei der Erinnerung, denn Mary kniff ihn erneut. »Und wie ging's weiter? Hast du sie geheiratet?«

»Ich war zu jung. Ein paar Jahre später hat sie jemand anderen geheiratet. Ihre Eltern hatten die Ehe arrangiert. Ich war auf der Hochzeit.«

»Ach, du Armer.«

»Nein, nein, gar nicht. Wir hatten nie ans Heiraten gedacht. Ich war ja noch viel zu jung. Und außerdem aus einer anderen Kaste.«

»Und trotzdem hat sie dich verführt. Du lieber Himmel!« neckte ihn Mary und strich über seine Brust. »Aber wahrscheinlich konnte sie Sartaj Singh einfach nicht widerstehen.«

»Ja. Ich war damals schon so groß wie jetzt.«

»Und fast so gutaussehend wie jetzt. Fast wie ein Filmstar«, sagte sie mit leisem Spott.

»Machst du dich etwa über mich lustig? Ja?« Er hatte inzwischen herausgefunden, daß sie sehr kitzlig war, und jetzt kreischte sie und wand sich unter seinen Fingerspitzen.

»Nur ein bißchen«, brachte sie schließlich hervor.

Ihre Brüste preßten sich an ihn, und das dunkle Rund ihrer Brustwarzen verschwand und erschien dann wieder. Sie bemerkte seinen Blick und griff nach dem Laken. Sie war seltsam verschämt für ihr Alter, für eine Frau, die eine Ehe und eine Scheidung hinter sich hatte. Vielleicht war das bei Frauen so, die vom Land stammten. Sartaj war noch nie mit einer zusammen gewesen. Und diese lag nun auf der Seite, das Laken bis zum Kinn hochgezogen, und sah ihn aufmerksam an. »Was ist?« fragte Sartaj.

»Was ist was? Versuch nur nicht abzulenken. Okay, das schnelle Mädchen hat also diesen armen Kerl geheiratet. Und dann? Wen hast du geheiratet?«

Da zog er sie an sich und erzählte ihr von Megha, von seiner aufregenden, unmöglichen Collegeliebe über Klassenschranken und unüberwindbare Barrieren von Akzent, Kleidung und Musik hinweg. Er erzählte, wie unbegreiflich Megha seine Vorliebe für alte Shammi-Kapoor-Filme582 gefunden und wie sie ihn davon abgebracht hatte, Schlaghosen zu tragen. Und wie sie schließlich geheiratet hatten und gescheitert waren. Oder in einem Punkt vielleicht auch nicht gescheitert waren: Sie hatten einander nicht allzu weh getan.

Mary murmelte etwas Teilnahmsvolles, dann seufzte sie, ihr Atem ging gleichmäßiger, und ihre Arme und Beine zuckten leicht. Sartaj lächelte. Ihr Haar streifte seine Nase, und er dachte an die Zeit zurück, als er mit Sudha den Marine Drive entlanggeschlendert war, als er in einer Nische im hinteren Teil eines iranischen Restaurants in höchster Erregung und Angst seinen Schenkel an ihren gepreßt hatte. Er hatte damals ständig an Sex und Liebe gedacht. Manchmal schien keine Minute zu vergehen, in der nicht irgendein lüsternes Bild durch sein überreiztes Hirn schwirrte. Und eine quälende Sehnsucht hatte ihn erfüllt, nach einer Phantasiegestalt, verschwommen und doch strahlend, nach einer Frau, die schön und lieb war, verständnisvoll, sexy und hilfsbereit - alles, was man sich nur wünschen konnte. Anfangs hatte er geglaubt, Megha verkörpere all das, und nur Vaheguru wußte, was Megha in ihm gesehen hatte. Sie hatten einander enttäuscht. Er hatte geglaubt, er würde sich nie mehr von dieser Enttäuschung erholen, und eine Zeitlang hatte er sich für einen Zyniker gehalten. Dann hatte er gemerkt, daß er nach wie vor ein Gefühlsmensch war. Spätnachts rührte ihn Dilip Kumar174 in Dil Diya Dard Liya zu Tränen, und er hatte einen Riesenkloß im Hals, wenn er in der Zeitung von armen Jungen las, die im Schein von Straßenlaternen gelernt und es später in den indischen Verwaltungsdienst geschafft hatten. Und nun lag diese Frau, diese Mary neben ihm. Das war keine Illusion, keine hitzige Filmi-Romanze, es war weder Zynismus noch Sentimentalität, es war etwas anderes. Die Liebe erwies sich als etwas völlig anderes, als er es sich mit Fünfzehn vorgestellt hatte.

Sartaj hob Marys Kopf von seiner Schulter und bettete ihn auf ein Kissen. Er drehte sich zu ihr, legte die Hand auf ihren Schenkel und versuchte einzuschlafen. Aber nun mußte er wieder an die Bombe denken. Im Moment fühlte er sich sicher, und so versuchte er sich wieder vorzustellen, wie dieser Sprengsatz aussehen mochte, aber er sah nur ein Gewirr von Drähten vor sich, Stahlblech und Displays mit rasend schnell durchlaufenden LED-Ziffern. Vielleicht würde der Sprengsatz ihm Mary, kaum daß er sie endlich gefunden hatte, wieder entreißen. Das war eine reale Möglichkeit, und doch stellte sich nicht das starke Gefühl ein, das er erwartet hatte: Wut, dumpfer Trübsinn oder Verzweiflung. Er berührte Marys Wange. Wir haben einander schon verloren, dachte er. Wir besitzen die Menschen, die wir lieben, und gleich darauf verlieren wir sie wieder: an die Sterblichkeit, an die Zeit, an die Geschichte, an sie selbst. Was uns bleibt, sind Augenblicke der Großherzigkeit, Vertrauen, Freundschaft und Lust, die wir einander schenken können. Was auch kommen mag -dieses Liegen im Dunkeln, dieses gemeinsame Atmen kann uns niemand mehr nehmen. Und das genügt. Wir sind hier, und wir werden hier bleiben. Vielleicht schätzte Kulkarni die Menschen in Bombay falsch ein, vielleicht würden sie in ihrer Stadt bleiben, auch wenn sie wußten, daß ein Feuersturm sie erwartete. Vielleicht würden sie in dem Gassengewirr, das dieses Land so planlos überzog, auf die Bombe warten. Sie waren von überallher gekommen, und sie hatten einen Platz gefunden, hatten sich auf einem schmutzigen Fleckchen Erde niedergelassen, das sie aufnahm, und dann gelebt. Und deshalb würden sie bleiben.

Die Suche nach dem Guru und seinen Leuten ging natürlich weiter. Sartaj verfolgte Spuren nach Kailashpada und Narain Nagar, wo Bewohner einiger Wohnblocks verdächtige Nachbarn gemeldet hatten, und bis ins weit entfernte Virar. Am Freitagnachmittag schaute er in der Delite Dance Bar vorbei. Shambhu Shetty brachte ihm eine Pepsi und fragte: »Was ist los, Yaar? Ich kriege neuerdings zweimal am Tag Besuch von der Polizei, mindestens. Die kommen hier reingerumpelt und fragen meine Leute nach einem Rollstuhlfahrer und einem Ausländer. Was hätte denn ein Sadhu in einer Bar zu suchen? Aber es ist jeden Tag das gleiche Theater. Das ist nicht gut fürs Geschäft, verstehen Sie?«

»Das ist nur mal wieder so ein Alarm aus Delhi«, sagte Sartaj. »Wir haben Informationen, denen wir nachgehen müssen, das ist alles. Die Sache ist dringend, deshalb müssen wir überall suchen. Man weiß nie, wo man irgendwas hört. Die Polizisten haben ihre Anweisungen.«

Doch Shambhu war verärgert. »Die halten hier den ganzen Betrieb auf. Sie kommen sogar zu den Hauptgeschäftszeiten, wie sollen wir da unsere Zahlungen abwickeln? Wie die Dinge liegen, ist unsere ganze Branche gefährdet. Es gibt Gerüchte, daß nach den nächsten Wahlen, wenn wir eine neue Regierung kriegen, diese Schweine von der Kongreßpartei Tanzbars überhaupt verbieten werden. Wenn's nicht der eine Drecksack ist, der die indische Kultur schützen will, dann ist es ein anderer. Scheißpolitiker. Wissen Sie, wie oft ich Anfragen von Parlamentariern und Ministern kriege, denen ich Mädchen für ihre Privatpartys schicken soll?« Shambhu beklagte sich zwar, aber er machte einen wohlhabenden, wohlgenährten Eindruck. Die Ehe schien ihm zu bekommen.

»Ich weiß, Shambhu, ich weiß. Aber jetzt lassen Sie die Polizisten erst mal ihre Arbeit tun. Es ist ein Notfall. Könnte kritisch werden. Im Ernst, wenn Sie was wissen, dann sagen Sie's mir, okay?«

Shambhu reckte sich und kratzte sich den Bauch. »Wieso, machen diese verdammten Muslime wieder Ärger?«

»Nein, nicht die Muslime. Keine Rede. Achten Sie einfach auf einen Rollstuhl und einen Ausländer. Es ist sehr wichtig.«

Shambhu war jedoch nicht überzeugt. Murrend zog er ab. Er war kürzlich zu MTNL428 gewechselt und konnte von dem roten Telefon in seinem Büro aus kostenlose Ferngespräche führen. Er hatte Sartaj hereingebeten, um ihn an dieser Vergünstigung teilhaben zu lassen, und sich bei der Gelegenheit über die Polizisten beklagt. Sartaj nahm den Hörer ab und wählte. Wenn Shambhu sich über die Fragerei ärgerte und seine Gäste es merkten, dann erfuhren höchstwahrscheinlich auch die Apradhis, daß sie gesucht wurden. Große Ermittlungen hinterließen große Spuren, und Fingerspitzengefühl war von müden Polizisten am Ende ihrer Schicht nicht zu erwarten.

»Hallo?«

»Peri pauna, Ma.«

»Jite raho. Wo warst du denn, Sartaj?«

»Ich hatte viel zu tun, Ma. Hier läuft gerade eine große Sache. Die größte.«

Sie kicherte. »Genau das gleiche hat Papa-ji auch immer gesagt. Jeder Fall war der größte in der Geschichte der Polizei von Bombay.«

Sartaj hörte die Freude in ihren Worten, die Zärtlichkeit, mit der sie sich an alte Ehetricks erinnerte. »Ja, zu mir hat er das auch immer gesagt. Aber dieser Fall jetzt, das ist wirklich etwas extrem Wichtiges.«

Doch Ma wollte von Papa-ji erzählen. »Einmal hat er wegen eines Hundediebstahls ermittelt. Es ging um eine junge Schäferhündin. Das war auch so ein wichtiger Fall. Nächtelang ist er Hinweisen nachgegangen. Und nicht mal den Besitzern zuliebe. Die waren reich und hätten sich nach ein paar Wochen sowieso einen neuen Hund zugelegt. Aber Papa-ji hat immer wieder gesagt: ›Stell dir vor, wie dem armen Tierchen zumute sein muß, einfach so von zu Hause weggeholt zu werden.‹ Nach einer Woche hat er ihn gefunden.«

»Ich weiß, Ma.« Sartaj hatte die Geschichte schon viele Male gehört, von Ma wie von Papa-ji. Bei Papa-ji war sie zu einem Paradebeispiel für behutsame Ermittlung und Informantenpflege geworden; von den Gefühlen des Welpen war nie die Rede gewesen. In Mas Version dagegen streifte Papa-ji immer voll Sorge um den Hund durch die Straßen, und der Hund saß ununterbrochen winselnd bei seinen Entführern. Papa-ji hatte ihn nach vier Tagen gefunden, durch eine Reihe von Verhören in der Nachbarschaft und vorsichtigen Druck auf die Ladenbesitzer an der Straßenecke. Der Apradhi war, wie sich herausstellte, ein Neffe des Inhabers der Gemischtwarenhandlung eine Gasse weiter. Er war der gerade aufkommenden Videospielmanie verfallen und hatte den Hund an seine Nachbarn in der Nepean Sea Road verkauft, um in einem nagelneuen Spielsalon in derselben Straße, dem ersten in diesem Stadtteil, von früh bis spät Missile Command spielen zu können. Der Hund wurde seinen Besitzern zurückgebracht, und der Neffe kam ins Gefängnis.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh Pinky war, wieder zu Hause zu sein«, beendete Ma ihren gut einstudierten Exkurs in die Familiengeschichte.

»Wer ist Pinky?«

»Also wirklich, Sartaj, manchmal hörst du überhaupt nicht zu. Pinky war der Welpe.«

»Pinky war der Welpe?«

»Ja, sicher. Was ist denn daran so schwierig?«

»Nichts, Ma. Jetzt erinnere ich mich wieder.«

Nachdem Sartaj sich verabschiedet, aufgelegt und sich bei Shambhu bedankt hatte, blieb er draußen vor der Delite Dance Bar stehen und dachte an Pinky. Papa-ji hatte nie erwähnt, daß das Tier Pinky hieß. Wahrscheinlich hatte das für ihn keine Rolle gespielt. Aber irgendwie spielte es doch eine Rolle. Der Name machte die Geschichte von dem vermißten Hund anrührender. Pinky konnte nicht mehr am Leben sein, aber ihre Kinder und Kindeskinder tummelten sich vielleicht noch gesund und munter irgendwo in der Stadt. Vielleicht hatte Sartaj schon einige von ihnen gestreichelt. Ihm fielen mindestens drei oder vier sehr schöne Schäferhunde ein, die er näher kannte. Zwei von ihnen waren neurotisch, aber das führte er darauf zurück, daß sie ihr ganzes Leben in einer kleinen Wohnung verbringen mußten. Da wurde jeder ein bißchen verrückt.

Er schwang sich auf die Bullet und blieb dann noch einen Moment still sitzen. Die Abendsonne gleißte in den Bürofenstern auf der anderen Straßenseite und lag wie eine Art Dunst über dem Verkehr. Die Straßenhändler verkauften Kleidung, Karten und Schuhe an die Passanten und machten gute Geschäfte. Drei Häuser weiter standen auf der vollbesetzten Terrasse des Eros Shopping Center mehrere Chaat-vaalas. Sartaj roch die heißen Pao-bhajis, und plötzlich hatte er Appetit auf Papri chaat. Als Kind war er geradezu süchtig danach gewesen, und schließlich hatte Papa-ji das Gericht auf eine Portion pro Woche rationiert, die er jeden Freitag bekam. Heute war Freitag. Sartaj stieg wieder ab und ging hin.

Er stellte sich hinter einer Gruppe kichernder Studentinnen bei den brutzelnden Pfannen an. Die Mädchen trugen schicke kurze Tops und enge Jeans, und alle hatten leuchtend rote und blaue Armbänder aus Gummi. Eine von ihnen fing seinen Blick auf und wandte sich hochmütig ab, dann begannen sie miteinander zu tuscheln. Sartaj drehte sich weg, um sein Lächeln zu verbergen. Bestimmt lästerten sie über den alten Lüstling, diesen billigen Straßenromeo. Er selbst hingegen hegte freundliche Gefühle für sie und wunderte sich, daß Schlaghosen erst so viele Jahre nach seiner Collegezeit wieder in Mode gekommen waren.

Er bekam sein Papri chaat und umrundete den Kreis der weißen Plastikstühle auf der Terrasse, bis er einen freien Platz fand. Dann überließ er sich dem Genuß der knusprigen Pfannkuchen, ihrem wunderbar säuerlichen Tamarindengeschmack. Offenbar gab er ein befriedigtes Grunzen von sich, denn ein kleiner Junge, der hinter dem Knie seiner Mutter hervorsah, zeigte lachend auf ihn. Sartaj sah ihn an, zog die Nase kraus und nahm einen neuen Happen. »Mmmm«, machte er.

Sein Handy klingelte. Schnell stellte er den Pappteller hin, wischte sich die Hände an einer Serviette ab und konnte dann endlich nach dem Handy angeln. Es war Iffat-bibi.

»Was ist, haben Sie Ihre alten Freunde vergessen?« fragte sie, derb wie immer.

»Are, nein, Bibi.«

»Dann sind Sie wohl noch böse auf mich.«

»Böse? Wieso?«

»Wenn Sie etwas brauchen, und Sie wenden sich nicht an Ihre Freunde, dann müssen Sie böse sein.«

»Brauche ich etwas?«

»Sie vielleicht nicht, aber Ihre Kollegen fuhrwerken ja in ganz Mumbai herum.«

»So? Und warum?«

»Vielleicht wollt ihr diese Männer ja gar nicht, wenn ihr diese kindischen Spielchen spielt.«

»Welche Männer?«

»Den Mann im Rollstuhl. Den Ausländer. Und die anderen.«

»Wissen Sie, wo sie sind?«

»Schon möglich.«

»Sie müssen es mir sagen, Iffat-bibi. Es ist sehr wichtig.«

»Daß es wichtig ist, wissen wir.«

»Sie verstehen nicht. Wissen Sie, wo sie sich aufhalten? Es ist sehr dringend.«

»Da hat sich dieser Guru doch mit einem Haufen Geld davongemacht. Das ist nicht nett von ihm.«

»Okay. Was wollen Sie?«

Iffat-bibi seufzte. »Jetzt reden Sie endlich wie ein vernünftiger Mensch. Aber nicht so, nicht am Telefon.«

»Wo sind Sie gerade?«

»In Fort.«

»Das dauert ewig, bis ich da bin. Und es kommt jetzt auf jede Minute an. Sie wissen nicht, was passieren kann, Iffat-bibi.«

»Dann steigen Sie in den Zug.«

»Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen. Ich tu's, das versprech ich Ihnen.«

»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen. Kommen Sie her. Meine Leute holen Sie vom Bahnhof ab.«

Also fuhr Sartaj hin. Er nahm die Schnellbahn zum Victoria Terminal, wo ihn zwei junge Männer erwarteten. Sie traten aus der Menge auf ihn zu, und einer von ihnen sagte: »Sartaj-saab? Bibi schickt uns.« Sartaj folgte ihnen zum Gebäude der Times of India, wo ein unauffälliger schwarzer Fiat wartete. Sie stiegen ein, Sartaj hinten links, und fuhren los. Niemand sagte etwas. Sie fuhren im Kreis, am Metro vorbei und wieder zurück zur N. D. Road, Sartaj sah die vertrauten Straßen vorübergleiten. Papa-ji hatte einen großen Teil seiner beruflichen Laufbahn hier verbracht. Er hatte ihn als Kind auf Spaziergänge in seinem Revier mitgenommen und ihm Orte gezeigt, an denen Verbrechen begangen und Apradhis festgenommen worden waren. Sie bogen nach links ab, dann wieder nach rechts, und Sartaj sah den kleinen Technicolor-Tempel, den er so geliebt hatte, die Wände voller leuchtend bunt bemalter Götter- und Göttinnenfiguren. Papa-ji und er hatten sich immer dort getroffen, »am Tempel«, unnötig zu sagen, an welchem.

Aber die Geschäfte von damals gab es nicht mehr. In der Gasse, in die sie einbogen, erkannte Sartaj kein einziges wieder, nur das Gewühl der Motorroller und Fahrräder war das gleiche geblieben. Es waren auch mehr Menschen unterwegs als früher, selbst noch um sechs Uhr abends. »Da sind wir«, sagte der Fahrer, und sie hielten an.

Bibis Leute führten Sartaj durch eine schmale Gasse an die Rückseite eines Fischrestaurants. Sie stiegen eine Treppe hinauf, auf der es nach fauligem Fisch roch, dann öffnete sich eine Tür, und sie betraten einen winzigen Raum, offenbar eine Art Buchhaltungsbüro. In den deckenhohen Regalen lagen Geschäftsbücher, und an den eng beisammen stehenden Schreibtischen saßen fünf oder sechs Angestellte vor ihren Bildschirmen. Rechts hatte man durch ein Zwischengeschoß mit drei kompletten, gleichsam in der Luft schwebenden Arbeitsplätzen noch einmal ebensoviel Raum gewonnen. Einer der Männer zeigte auf eine in den spitz zulaufenden hinteren Teil des Zimmers gezwängte Kabine. Sartaj öffnete die Tür und mußte beim Eintreten den Kopf einziehen.

Iffat-bibi saß mit gekreuzten Beinen auf einem roten Chefsessel in der Spitze des Dreiecks. Sie hatte ihre Burka abgelegt, so daß man ihr jugendlich dichtes, hennagefärbtes Haar sah. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte sie. »Are, Munna, bring Tee für Saab.« Sie deutete auf einen Sessel, der fast so pompös war wie ihr eigener, und klappte das Hauptbuch zu, das sie studiert hatte. »Sollen wir die Klimaanlage höherstellen, Saab? Hier drin ist es so kalt, daß man schier erfriert, aber Sie sind ein junger Mensch, und die Jungen mögen es so.«

»Nein, nein, nicht nötig. Es ist kühl genug.«

Sie saßen in dem engen Raum nahe beieinander, und Iffat-bibi sah genauso aus, wie Sartaj sie sich vorgestellt hatte. Sie war groß und kräftig, mit einem kantigen Kinn und jugendlich glatter Haut. Beim Anblick ihres zahnlosen Mundes unter den wachen Augen und der scharfen Nase aber erschrak man ein wenig. Sartaj konnte sie sich nicht als junge Frau vorstellen. Vielleicht war sie die letzten hundert Jahre gleich alt geblieben. Jedenfalls sah sie aus, als könnte sie mindestens noch weitere hundert Jahre leben.

»Was möchten Sie essen, Saab?«

»Nichts, Bibi. Bitte, wir müssen über Ihre Informationen sprechen. Diese Männer sind hochgefährlich.«

»Gefahren gibt es immer, Saab. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie sich ein Essen entgehen lassen.« Es klopfte an der Mattglastür, dann stellte ein Junge eine dampfende Tasse Tee vor Sartaj hin. »Hol noch Tandoori machchi für Saab. Und diese besonderen Jhinga294

Sartaj lehnte sich zurück und überließ sich den Ritualen der Gastfreundschaft. Der Weltuntergang mußte warten, er stand seit Monaten bevor, und er würde endgültig sein. Iffat-bibi war unerbittlich in ihren Höflichkeitsbezeigungen. Widerspruch brachte nichts, besser man fügte sich und ließ es sich gut gehen. »Also, Bibi«, sagte er, »was wissen Sie?«

Iffat-bibi verlagerte ihren massigen Leib in dem Sessel von der einen auf die andere Hüfte. »Ich bin eine alte Frau, Saab, ich komme nicht viel raus. Heute bin ich nur hergekommen, um ein paar Konten zu überprüfen.« Doch dann erzählte sie Sartaj von irgendwelchen kleinen Taporis, von Killern rivalisierender Organisationen und gewissen Bardamen. Das Essen kam, und Sartaj nahm von jedem Gericht einen Anstandshappen. Seine Schläfen pochten. Die kalte Luft strich ihm über Wangen und Nacken, und plötzlich überfiel ihn eine Vorahnung, die sich in seinen Schenkeln festsetzte, so daß sie sich verkrampften. Er lehnte sich zurück, versuchte sich zu entspannen und machte Konversation.

Endlich kam Iffat-bibi zur Sache. Sie schlürfte den letzten Rest Tee aus der Untertasse, stellte sie ab und sagte: »Sie wollen also diese Männer.«

»Ja.«

»Wir wissen, wo sie sind.«

»Woher?«

»Sie haben von einem unserer Partner ein Haus gemietet. Daß der Vermieter ein Freund von uns ist, wußten sie natürlich nicht. Sie haben bar und im voraus gezahlt, eine ganze Menge, zwei Monatsmieten und die Kaution.«

»Wie lange ist das her?«

»Fast zwei Monate. Der Mietvertrag läuft demnächst aus.«

Sartajs Magen zog sich zusammen. »Was für ein Haus? Ein größeres? Ein Bungalow?«

»Netter Versuch, Beta, aber lassen Sie's lieber. Sagen wir einfach, ein Haus. Finden werden Sie's sowieso nicht. Nur einer von ihnen geht da ein und aus, die anderen sind zwar da, der Rollstuhlfahrer und der Ausländer, aber man kriegt sie nie zu Gesicht. Nur der Vermieter hat sie reingehen sehen. Niemand hat sich was dabei gedacht, bis jetzt, wo Ihre Polizisten überall Jagd auf sie machen.« Iffat-bibi brachte aus den Tiefen ihrer voluminösen Hüllen eine silberne Dose zum Vorschein und machte sich ein Paan zurecht. »Was haben sie denn getan?«

»Noch nichts.« Sartaj saß ganz still, die Hände auf dem Tisch.

Iffat-bibi verteilte eine silbrige Paste auf dem Betelblatt, faltete es mit geschickten Fingern klein zusammen und schob es sich in den Mund. »Sie denken, Sie könnten sie finden. Sie denken, Sie haben Informationen - ein Haus, ein Haus mit Garten und Treppe. Aber glauben Sie mir: Sie werden gar nichts finden. Seien Sie nicht dumm, versuchen Sie's gar nicht erst.«

»Hm.« Sartaj trank von seinem lauwarmen Tee. Er fühlte sich beengt in dem winzigen Raum und sah Iffat-bibi mit ihrem rot verfärbten, kauenden Mund blinzelnd an. »Also, was wollen Sie?« fragte er.

Das gefiel ihr; endlich hatte er begriffen, was Sache war. Sie strahlte ihn an. »Wir wollen Parulkar.«

»Saali, wagen Sie's nicht, ihn anzurühren. Wenn Sie ihm auch nur ein Haar krümmen, dann ...«

»Setzen Sie sich wieder hin.« Iffat-bibi zuckte nicht mit der Wimper angesichts dieses Ausbruchs. Reglos wie ein Berg saß sie da.

Sartaj löste seinen schmerzhaften Griff um die Tischkante und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken. »Wehe, Sie rühren ihn an.«

»Are, Baba, wer redet denn von Anrühren? Wir sind doch nicht blöd, wir werden ihm doch nichts tun. Nein, nein, nichts dergleichen. Wir wollen ja nicht die ganze Polizei von Mumbai auf dem Hals haben.«

Das leuchtete ein. Kein so hochrangiger Polizeibeamter war jemals in der Stadt umgebracht worden. »Aber wieso haben Sie's denn auf ihn abgesehen?« fragte Sartaj. »Er hat doch enge Kontakte zu Ihnen, zu Ihren Vorgesetzten. Warum also?«

Iffat-bibi schickte einen roten Speichelstrahl in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. »Ja, das dachten wir auch. Wir waren lange Zeit Freunde, wir haben ihn unterstützt, als es mit ihm bergab ging. Aber jetzt ist er wieder obenauf, jetzt hat er neue Freunde.«

»Die neue Regierung meinen Sie? Aber der Mensch muß doch leben. Er arbeitet schließlich unter den Neuen, da muß er ihnen schon ein bißchen entgegenkommen.«

»Ja, sicher, das verstehen wir auch. Wir haben noch nie jemandem seine Arbeit mißgönnt, seinen Lebensunterhalt. Are, Parulkar-saab hat uns Geld vorenthalten, das uns gehört, ganze Kokhas. Aber wir haben gesagt, Schwamm drüber, der Kontakt ist wichtiger als das Geld.«

»Ja, und? Was ist passiert?«

»In den letzten vier Monaten sind sieben von unseren Leuten getötet worden. Es waren Spitzenkiller und -controller, alle intelligent, alle geschickt und wendig, gut im Verstecken. Trotzdem hat die Polizei mit ihrem Sondereinsatzkommando genau gewußt, wo sie suchen mußte. Jetzt sind sie tot. Und die von der Regierung schreiben in allen Zeitungen, sie hätten das Verbrechen ausgemerzt. Da fragen wir uns natürlich, wieso es die Polizei plötzlich so wunderbar schafft, unsere besten Leute aufzuspüren.« Iffat-bibi beugte sich in den Lampenschein vor. »Wir haben Nachforschungen angestellt, und jetzt wissen wir's. Parulkar hat unsere Leute ans Messer geliefert.«

»Solche Informationen können doch aus tausend Quellen stammen, Iffat-bibi. Gut, Ihre Leute sind getötet worden, das ist schlimm, aber das heißt doch nicht ...«

»Wir haben unsere eigenen Quellen. Und wir sind uns sicher. Er wechselt die Seiten, und er tötet unsere Leute.«

Sartajs Hände waren trotz der Kälte im Raum schweißfeucht. Er wischte sie an seinen Hosenbeinen ab und versuchte sie ruhig zu halten. »Er wird zu Ihnen zurückkommen. Wenn Sie wollen, rede ich mit ihm.«

»Nein, er redet nicht mal mehr mit uns. Er geht nicht ans Telefon, wenn ich ihn anrufe. Auch nicht, wenn Bhai ihn anruft. Können Sie sich das vorstellen?«

Das konnte Sartaj nicht. Anrufe von Suleiman Isa höchstpersönlich nicht entgegenzunehmen - das bedeutete, daß Parulkar wirklich zu neuen Ufern aufgebrochen war, daß er Jahre seines Lebens zusammengepackt und eine hochgefährliche Grenze überschritten hatte. Sartaj wollte es nicht glauben, aber es paßte alles zusammen: Parulkars Rehabilitierung unter der derzeitigen Rakshak-Regierung, die plötzlichen Erfolge beim Aufspüren von Mitgliedern der S-Company. »Lassen Sie's gut sein«, sagte Sartaj. »Verzeihen Sie ihm. So wie bei dieser Geldsache.«

»Zu spät. Er hat schon zuviel kaputtgemacht.« Sie zeigte zur Decke und schüttelte den Kopf. »Der Befehl kommt von oben. Bhai ist sehr böse, Bhai ist gekränkt. Bhai hat es gesagt. Parulkar muß raus aus seinem Amt, weg von der Polizei. Bas.«

Das war es also, Parulkar sollte gehen. Er war aus diesem letzten Kampf als triumphierender Überlebender hervorgegangen, und er hatte es geschafft, indem er sich von alten Freunden abwandte. Jetzt würden sie ihn erledigen. »Warum sagen Sie mir das alles?«

»Sie stehen ihm sehr nahe.«

»Ja. Und?« Sartaj kannte die Antwort, er redete nur, um Zeit zu gewinnen, ein törichtes Manöver, der schwache Versuch, nicht in eine sehr enge, sehr dunkle Ecke gedrängt zu werden.

»Sie können uns helfen.«

Sartaj schloß die Augen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, er war wieder ein kleiner Junge, der im Dunkeln darauf wartet, daß die Monster von ihm ablassen, daß jemand kommt und ihn von seinem Kummer erlöst, daß der Schlaf ihn der Angst entreißt. Er versuchte sich zu beruhigen, doch jetzt stürmten wirre Erinnerungen auf ihn ein, Papa-ji, wie er einen Drachen in den wolkenlosen Himmel steigen ließ, Parulkar, wie er sich in Sartajs erstem Mordfall über eine Leiche beugte, eine Motorradfahrt durch den Monsunregen mit Megha, Ma, wie sie in Delhi über einen Markt schritt. Er rieb sich das Gesicht und öffnete die Augen wieder. Was soll ich bloß tun? dachte er, was soll ich bloß tun? »Sie verstehen nicht«, sagte er. »Sie verstehen nicht, daß wir morgen alle tot sein können. Alles kann aus sein. Glauben Sie mir.«

»Ich selbst glaube Ihnen ja vielleicht«, erwiderte Iffat-bibi achselzuckend, »aber die nicht, Bhai und die anderen. Sie werden das für einen Trick halten. Sie wollen Parulkar.«

»Dann vergessen Sie sie, vergessen Sie Ihren Bhai. Vergessen Sie alle. Sagen Sie mir, wo dieses Haus ist.«

»Das kann ich nicht.«

Sartaj griff an sein Pistolenhalfter. »Sagen Sie's mir!« schrie er. »Sagen Sie's mir!«

Iffat-bibi klatschte in die Hände und lachte leise. »Was wollen Sie denn mit dem Ding, Sie Irrer? Mich erschießen?«

Sartaj hielt die Pistole jetzt in der Hand. Sein Daumen glitt auf den Sicherungsbügel, er stützte sich ab und zielte auf ihr Gesicht. »Sagen Sie's mir!«

»Glauben Sie, ich hätte Angst vor dem Tod?«

»Sagen Sie's mir, oder ich schieße!«

»Ich kann's Ihnen nicht sagen, weil ich's nicht weiß. Mehr hat man mir auch nicht gesagt. Schießen Sie ruhig. Dann kommen meine Leute rein, und im nächsten Moment sind Sie auch tot. Aus und vorbei.«

Ich kann schießen, dachte Sartaj. Dann würde ich wenigstens etwas tun. Er würde ein Loch in dieses zerfließende weiße Gesicht schießen, über dem weit offenen Mund, und dann wäre er selbst tot. Was auch immer danach geschah - es ging ihn nichts mehr an, damit würden sich andere befassen müssen. Was auch immer passierte, was auch immer Parulkar, Anjali Mathur, Ma, Kamble und allen anderen passierte -es würde passieren.

Er legte die Pistole auf den Tisch, löste die Finger von ihrem Griff. »Wischen Sie sich das Gesicht ab«, sagte Iffat-bibi schroff. Sie schob eine Schachtel Papiertücher über den Tisch.

Sartaj schneuzte sich. »Okay«, sagte er. »Was soll ich tun?«

Der Zug hatte den Bahnhof Dadar kaum verlassen, da rief Kamala Pandey an. »Umesh hat mich gestern und vorgestern dreimal auf dem Handy angerufen und eine Nachricht hinterlassen«, sagte sie. »Er wollte wissen, ob Sie vorankommen. Sie haben noch nicht mit ihm geredet?«

»Nein, hab ich nicht, Madam. Ich hatte plötzlich sehr viel zu tun. Es gibt da eine ungeheuer wichtige Sache, um die ich mich kümmern muß.«

»Verstehe.«

Sie glaubte verständlicherweise, Sartaj habe das Geld eingestrichen und sich seiner Verantwortung entzogen, und das gefiel ihr nicht. »Keine Sorge, Madam«, sagte er. »Heute abend kümmern wir uns um ihn.«

»Okay.«

»Nein, wirklich, tut mir sehr leid. Aber heute abend knöpfen wir ihn uns vor.« Er meinte es ernst: Umesh würde eine willkommene Abwechslung sein. Sartaj hatte die gesamte Werbung an den Abteilwänden studiert, dann hatte er sein Notizbuch hervorgeholt und sein Gekritzel von vor zwei Monaten gelesen, nur um nicht daran denken zu müssen, was er für Iffat-bibi tun mußte. Ja, er würde sich mit dem Piloten befassen. »Etwas Unaufschiebbares ist dazwischengekommen, Madam«, sagte er, »aber jetzt kriegen wir ihn.« Und er blickte auf die vorübergleitenden Häuser hinaus, die Lücken zwischen ihnen, in denen plötzlich ein gelblicher Himmel auftauchte.

Um halb zehn hämmerten Sartaj und Kamble bei dem Piloten an die Tür. Er saß mit seinen Eltern und seinen drei Schwestern beim Abendessen, Kinder rannten umher, und es roch nach Reis und Daal. Sein Vater, ein beleibter alter Herr in Banian und blau gestreiften Pajamas, erschien hinter dem Dienstmädchen in der Tür und fragte ärgerlich: »Was ist los? Wer sind Sie? Was soll der Lärm?«

»Polizei«, knurrte Kamble und schob sich an den beiden vorbei.

Sartaj folgte ihm etwas gemächlicher und betrachtete das harmonische Bild, das sich ihm bot. Zwei der Schwestern waren älter als Umesh. Sie trugen elegante Salvar-kamiz' und schienen höchst respektabel verheiratet. Die dritte war jünger, vielleicht im Collegealter. Die Familienähnlichkeit kam sichtlich von der Mutter, war aber ungleichmäßig über die nachfolgende Generation verteilt. Eine der Schwestern, die älteste, war trotz überzähliger Pfunde an Armen und Hüften einigermaßen hübsch, die beiden anderen sahen recht gewöhnlich aus. Der Pilot war eindeutig der Star der Familie, der strahlende Held seiner Mutter, einer sehr schönen Frau. Sie hatte ein langes, schmales Gesicht und glattes weißes Haar, das sie klugerweise nicht färbte. Sie war außer sich. »Was?« fragte sie. »Polizei?«

»Beruhige dich, Ma«, beschwichtigte Umesh und streichelte ihr Handgelenk. »Das sind Freunde von mir.«

Kamble stieß ein so theatralisches Bösewichtlachen aus, daß die jüngste Schwester zusammenfuhr und die Arme vor der Brust verschränkte. »Allerdings«, sagte Kamble, »wir sind ganz besonders gute Freunde von Umesh. Wir sind seine Langotiya yaars. Wir wissen alles über ihn.«

Umesh war aufgestanden und versuchte Sartaj und Kamble vom Eßtisch wegzulotsen, weg von seiner Familie. Er klopfte Sartaj auf die Schulter und lächelte. »Freut mich, Sie zu sehen, Sartaj-saab. Hier entlang, bitte.« Er wirkte ruhig und selbstsicher, ohne einen Hauch von Nervosität.

In seinem Heimkino schloß er eine weiße Tür und schob den Riegel vor. Der Raum war groß genug für ein weißes Bett und einen Halbkreis aus fünf oder sechs schwarzen Ledersesseln. Der Projektionsschirm nahm eine ganze Wand ein. »Was wollen Sie?« fragte Umesh. Er war so klug, nicht grob zu werden, aber es klang schroff.

Kamble hatte die Hand in die Seite gestemmt und schob den Kopf vor. Das aufgeregte Geschnatter von nebenan war schlagartig verstummt. Es war jetzt vollkommen still, nicht einmal die Autos waren zu hören, deren Scheinwerfer über das Fenster glitten.

»Ja.« Der Pilot war verwirrt und sehr gespannt. »Ich stelle den Ton gern ganz laut, wenn ich mir einen Film anschaue. Ich hab ein Supersoundsystem. Wenn auf dem Bildschirm ein Flugzeug abstürzt, spürt man das richtig.« Er versuchte sein jungenhaftes Lächeln aufzusetzen.

Kamble schlug ihn ins Gesicht. »Haben Sie das gehört? Ja? Haben Sie's gehört?«

Eine Hand des Piloten fuhr an seine Wange, die andere ballte sich vor seiner Brust zur Faust. Er war beleidigt. Vermutlich war er noch nie geschlagen worden, nicht einmal von seiner Mutter. Kamble wartete, sprungbereit, lauerte auf eine aggressive Bewegung, einen Fluch, irgend etwas. Doch Umesh hatte sich unter Kontrolle. »Was meinen Sie damit?« fragte er. Er senkte die Hände und drückte in gerechter Empörung die Brust heraus. »Was ist denn mit dem los?« wandte er sich an Sartaj.

Sartaj hatte die winzigen weißen Lautsprecher hoch oben an den Wänden betrachtet, die zweifellos vollen Surroundsound lieferten. Er grinste. »Er ist stinksauer auf Sie, glaub ich. Weil Sie ihn reinlegen wollten.«

»Ihn reinlegen? Ich hab ihm doch nichts getan.«

Kamble packte Umesh an seinem weißen T-Shirt und zog ihn nahe zu sich heran. »Aber Kamala haben Sie was getan, Sie Bastard.«

Umesh zerrte an Kambles Hand, und Sartaj sah erste Anzeichen von Angst in seinen schönen Augen.

»Wir wissen alles«, sagte er. »Wir haben Ihren Anand Kavade. Wir haben sein Handy. Er hat uns alles erzählt. Er hat uns erzählt, daß er in Ihrem Auftrag Kamala Pandey angerufen hat, daß er das Geld von ihr geholt hat. Wir wissen, daß Sie Ihre Freundin erpreßt haben.«

»Ich? Wieso? Ich weiß gar nicht ...« Umeshs helle Haut war rot angelaufen, seine Stimme nur noch ein Flüstern.

»Versuchen Sie nicht zu leugnen, Umesh«, sagte Sartaj. »Oder sollen wir Sie in Handschellen Ihrer Familie vorführen? Wir durchsuchen die ganze Wohnung, wir stellen alles auf den Kopf, wir finden das Handy, mit dem Sie Anand Kavade angerufen haben, und dann buchten wir sie ein. Also versuchen Sie's gar nicht erst. Sonst müssen wir Ihrer Mutter alles erzählen.«

Der Pilot sackte zusammen. Sein Mund verzog sich, und ein kleiner Schluchzer entrang sich ihm. Er atmete hektisch ein und aus, und auf Kambles Handgelenk sprühte Speichel. »Arschloch«, sagte Kamble und ließ ihn los.

»Kann ich mich setzen?« fragte Umesh. Kamble trat beiseite, und der Pilot wankte zu einem der tiefen schwarzen Sessel und setzte sich auf die Armlehne, mit hängendem Kopf, die Hände auf den Schenkeln.

Kamble zog einen anderen Sessel heran und lehnte sich darin zurück. Er stieß mit der Fußspitze gegen Umeshs Knie und sagte: »Sie glauben wohl, Sie schauen sich ein paar amerikanische Filme an, und dann wissen Sie, wie's geht? Are, billige miese Typen wie Sie schnappen wir jeden Tag. Und dann setzt es was mit dem Rohrstock auf den Gaand. Aber einer, der seine eigene Freundin erpreßt, ist schlimmer als irgendein Maderchod.« Kamble beugte sich zur Seite und spuckte auf den Boden. »Bhenchod, ich hab schon viele Chutiyas gesehen, die ihre eigene Schwester verkauft haben, aber die sind immer noch besser als Sie.« Wieder spuckte er aus.

»Tut mir leid«, sagte der Pilot. »Tut mir leid.« Er weinte jetzt und wischte sich mit den Händen und seinem Muskelshirt die Augen.

Sartaj hatte bemerkt, daß Kamble mit seinen Ermahnungen wohlweislich neben den weißen Teppich gezielt und ihn damit für sich reserviert hatte. Sartaj hatte nichts dagegen. Ein weißer Teppich war törichte Angeberei in dieser Stadt. Man mußte die Fenster geschlossen halten, und die Klimaanlage mußte Tag und Nacht laufen, damit kein Staub hereinkam, kein Schmutz auf den Teppich gelangte. »Umesh«, sagte er, »sehen Sie mich an. Sehen Sie mich an. Und jetzt sagen Sie mir: Warum haben Sie das getan?«

Der Pilot schüttelte den Kopf und fuhr sich wieder über die geröteten Augen. »Daddy hat eine Gefäßplastik bekommen«, sagte er. »So was ist teuer. Und Chotti will heiraten.«

Kamble ließ seine Knöchel knacken und stieß ein grimmiges Hohngelächter aus. »Und Sie sind ja so arm, was? Und Ihre Freundin, die hat einfach zuviel Geld, was?«

Umesh war zu aufgewühlt, um den Sarkasmus zu bemerken. »Are, was hat sie denn schon an Ausgaben? Sie lebt mit ihrem Mann zusammen, der zahlt ihr sogar das Benzin, und jeden Monat kriegt sie einen« - er breitete weit die Arme aus -, »einen riesigen Gehaltsscheck, und von ihren Eltern bekommt sie auch noch Geld. Trotzdem hat sie mich eine Menge gekostet. Wetten, das hat sie Ihnen nicht erzählt. Sie will Geschenke, sie will in die besten Hotels. Die Frau ist teuer, kann ich Ihnen sagen.«

Sartaj holte tief Luft und sagte dann ganz leise: »Ja, und außerdem müssen Sie auch noch diese ganzen teuren Anlagen kaufen, da brauchen Sie natürlich Geld. Gute Teppiche sind auch nicht gerade billig. Ganz zu schweigen davon, was sieben importierte Lautsprecher kosten.«

Umesh lehnte sich in seinem Sessel zurück, und als er sich wieder aufrichtete, versuchte er seinen Charme einzusetzen. Er zuckte unbekümmert die Schultern und zwinkerte Sartaj spitzbübisch zu, von Mann von Welt zu Mann von Welt. »Jeder hat doch Bedürfnisse, Yaar. Jeder. Wir können uns bestimmt irgendwie einigen.«

»Wie bitte?«

Der Pilot stemmte sich aus seinem Sessel hoch. »Kamala hat wirklich zuviel Geld, Yaar. Wir könnten teilen ...«

Eine Art Schluchzen brach aus Sartaj hervor, und er stieß Umesh die Faust vor den Mund. Ein stechender Schmerz zuckte in seine Schulter hinauf, das Krachen von Knochen auf Knochen befriedigte ihn ungemein. Er schlug von neuem zu, der Sessel kippte um, Umesh fiel zu Boden. Sartaj ging um den Sessel herum und trat auf Umesh ein, sorgfältig gezielt, und der dritte Tritt beförderte Umesh auf den Rücken ein Anblick, bei dem Sartaj vor Freude das Blut in den Schläfen pochte. Er hörte ein Schreien. Eine weißhaarige Frau kauerte über Umesh, auf dem Teppich waren rote Flecke, Kamble umklammerte Sartajs Brust und seine Arme und zog ihn weg. Sartaj riß sich los, drehte sich um und schob sich durch ein Knäuel kreischender Frauen zur Tür, dann war er draußen. Er stand vor dem Haus auf der Straße und hielt die schmerzende Hand ins Licht: Ein blutender Riß zog sich über die Knöchel. Am liebsten hätte er auf irgend jemand anderen eingedroschen, auf irgend etwas, aber die Autos rauschten vorbei, und er konnte sich nur an der Kante einer bröckelnden Einfriedungsmauer festhalten und fluchen, was das Zeug hielt.