Ganesh Gaitonde
geht nach Hause
»Wenn es in einem Film passiert, wird es im normalen Leben nicht passieren«, hatte Jojo zu mir gesagt. Als ich ihr von meiner Angst vor Atombomben, Verbrennungen und einem tosenden Wind, der Gebäude umreißt, erzählte, meinte sie: »Das ist zu filmi.« Doch ich wußte es besser, ich wußte mehr. Ich hatte in zwei Dutzend Filmen Szenen aus meinem eigenen Leben gesehen, mal übertrieben, mal abgeschwächt, aber trotzdem immer wahr. Ich war filmi, und mich gab es in der Realität.
Ich kannte Jojo seit Jahren, doch für sie war ich immer noch ein bißchen irreal. Ich war ihr Freund, aber ich war auch Ganesh Gaitonde, der Gangsterboß, der skrupellose internationale Khiladi, der Crorepati und Arabpati027, der in Palästen lebte. Für die überwältigende Mehrheit der Menschen existierten Gangster und Spione nur als Lichtgestalten, als glitzernde, flüchtige Vorstellungen, ein Zusammenspiel von Elektronik und Zelluloid. Aber mich hatte mein eigenes Leben gelehrt, daß die Menschen das, was ihnen vorstellbar ist, auch realisieren können. Und deshalb hatte ich grauenhafte Angst.
Ich sagte mir jeden Morgen, daß ich keinen Grund hatte, mich zu fürchten. Vielleicht waren Gaston und Pascal und die anderen ja im Hafen oder sonstwo versehentlich mit radioaktivem Material in Berührung gekommen. Es wurde alles mögliche Material transportiert, manches davon für Regierungsorganisationen. Vielleicht hatte irgend etwas auf dem Weg zu einem der großen Atomkraftwerke radioaktive Strahlung abgegeben. Und selbst wenn wir tatsächlich gesundheitsgefährdendes Material auf dem Boot hergeschafft hatten, konnte es sich auch im Innern eines der Geräte für die landwirtschaftlichen Arbeiten befunden haben, die Guru-ji durchführen ließ. Ja, so mußte es sein. Auf jeden Fall war es ein Unfall gewesen. Warum aber hatte ich dann solche Angst? Das war völlig überflüssig. Vielleicht lebte ich schon so lange mit der Angst vor meinem eigenen Tod, daß diese sich selbst gespeist hatte, immer größer und massiver geworden war und ich nun diese monströse Furcht in mir hatte, dieses lauernde, giftige Etwas, das den Tod der ganzen Welt prophezeite.
Doch alles würde gut werden. Guru-ji würde von seiner geheimen Meditation, seiner Reise oder seinem Yagna, was immer es eben war, zurückkommen und mir ganz genau erklären, was mit Gaston und Pascal geschehen war, und damit würde die Sache erledigt sein. Er würde mich beruhigen, und mein Leben würde wieder in den gewohnten Bahnen verlaufen. Ich rief mir all unsere Gespräche in Erinnerung, bemühte mich, unsere gemeinsame Geschichte nachzuvollziehen. Ich holte die Ordner hervor, in denen ich seine Pravachans abgeheftet hatte, und las diese erneut, und wieder faszinierte mich seine Weisheit, besänftigte mich sein Mitgefühl. Ich sah mir Videos von seinen Vorträgen an und weinte. Ich klickte stundenlang auf Guru-jis Website herum, las die zahllosen Zeugnisse seiner Jünger und betrachtete die glücklichen Gesichter jener, die er aus Verzweiflung, Wahnsinn und Krankheit errettet hatte. Jeden Morgen hatte ich das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ein Mann, der sich so vieler Menschen annahm - verwaister Kinder, notleidender Frauen, der Alten und Verlassenen - ein dharmischer Mann sein mußte. Wenn Guru-ji Waffen ins Land bringen ließ, dann um die Moral zu verteidigen, das Gute zu stärken und das Böse abzuwehren. Ich war sein Jünger, und ich wurde von seiner Liebe beschirmt. Mir konnte nichts passieren. Ich lachte mich selbst aus, tadelte mich für mein mangelndes Vertrauen und machte mich an die Arbeit. Doch schon bald übermannte mich wieder das Entsetzen, ich war von stinkenden Leichen ohne Haut umgeben und wurde von einem Wind drangsaliert, der durch meinen Kopf pfiff und nur Leere hinterließ.
Und aus diesem Nichts kroch die Furcht hervor wie ein Wurm, der immer fetter wurde. Ich hatte Angst vor Mördern, die über das Wasser kommen würden. Arvind und Suhasini waren in Singapur ermordet worden, auf Bunty hatte man in Mumbai einen Anschlag verübt, viele andere waren ums Leben gekommen. Ich wußte, daß Suleiman Isa versuchte, mich umzubringen, und ich vermutete, daß Kulkarni und seine Organisation wollten, daß ich starb, und an manch einem Morgen kam mir der Gedanke, sie könnten ihre Operationen koordiniert haben. Doch unter diesen Ängsten lag immer noch jenes andere Gefühl, ein stilles Grauen, so intensiv wie das Blau einer Welle am Morgen. Nachmittags leckte es an dem funkelnden Glas der Bullaugen, wenn ich versuchte, ein Schläfchen zu halten, mein Gesicht in dem weißen Laken vergrub und den Weg ins Vergessen suchte. Essen schien mir eine Zeitverschwendung, es mit den Jungs zusammen einzunehmen eine ausgedehnte Pein, und Frauen verschafften mir keine Befriedigung. Ja, ich verwehrte Jungfrauen den Zugang zu meinem Bett, weil mir dieses eine lustvolle Erzittern am Ende die Anstrengung nicht wert schien, die dieser lächerliche Akt erforderte. Ich fühlte mich alt und leer. Ich brauchte Stunden, um einzuschlafen, und dann schlief ich nur leicht, von Träumen gemartert, in denen ich leere Einöden, brennende Städte sah. In den frühen Morgenstunden gelang es mir manchmal, von Mumbai zu träumen. In unruhigem Halbschlaf versetzte ich mich in seine Gassen, war wieder jung und glücklich. Ich durchlebte noch einmal meine Siege, mein mehrfaches knappes Entkommen, meine taktischen und strategischen Triumphe. Doch nicht nur diese großen Momente, diese historischen Marksteine, an die sich die ganze Stadt erinnerte - ich entsann mich auch belangloser Details, flüchtiger Unterhaltungen. Ein Neer Dosa, das ich mit Paritosh Shah an einem Udipi-Stand in der Nähe von Pune gegessen hatte, Kanta Bai, die auf einem leeren Karton Karten ausgab. Eine Carrom-Partie mit den Jungs auf dem Dach meines Hauses in Gopalmath, während die Stromleitungen auf den Dächern des Bastis im Monsunwind schaukelten. An diesen Morgen erwachte ich glücklich. Ich war mir sicher, daß alles in Ordnung war, daß kein Grund zur Sorge bestand.
Hätte ich doch nur mit Guru-ji reden können. Ich konnte ihn nicht finden. Natürlich hatte ich meine Jungs beauftragt, ihn zu suchen, doch ich wußte, daß sie sich allmählich über diese Inanspruchnahme ihrer Zeit ärgerten, die sie lieber genutzt hätten, um Geld zu verdienen. Sie waren natürlich alle höflich und taten wie geheißen, doch ihr Einsatz hielt sich in Grenzen, und ihre ständigen Meldungen: »Nichts gefunden, Bhai«, übertünchten die Tatsache, daß sie nicht richtig gesucht hatten. Bunty war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden, lebendig, aber verkrüppelt, von der Hüfte abwärts gefühllos. Wir ließen ihm selbstverständlich die beste medizinische Versorgung zukommen. Ich telefonierte jeden Tag mit ihm, und er übernahm allmählich wieder Arbeit und Verantwortung, doch er hatte nicht die Energie, den Jungs Feuer unterm Hintern zu machen, damit sie sich wirklich engagierten. Daß ich ihnen nicht genau erklären konnte, warum wir Guru-ji suchten, machte die Sache nicht besser. Ich hatte nur meine Wahnvorstellungen, und ich wollte weder als verrückt dastehen noch eine Panik auslösen. Das Leben mußte weitergehen, die Arbeit ebenso, wir mußten Geld verdienen. Außerdem konnte ich meine Gründe nicht nennen, ohne meine Verbindung mit Guru-ji preiszugeben, ohne all das zu verraten, was ich so lange geheimgehalten hatte. Ich sagte bloß, daß wir Guru-ji finden mußten, mehr nicht. Doch die Mission erbrachte gar nichts, keinen Erfolg, nicht einmal eine Fährte.
Also flog ich nach Bombay.
Ich flog von Frankfurt aus, mit einem auf den Namen Partha Shirur ausgestellten, erstklassigen deutschen Ausweis, und kam problemlos durch Paßkontrolle und Zoll. Eine Stunde später saß ich in einem Bungalow in Lokhandwalla. Meine Legende war die eines in München lebenden indischen Geschäftsmannes, der nach langem Auslandsaufenthalt nach Indien zurückkehrte, um geschäftliche Möglichkeiten zu erkunden. Und so saß ich plötzlich hier, in einem Rohrstuhl auf dem Dach eines Hauses namens »Ashiana«. Ich schwitzte mein Hemd durch, doch ich fühlte mich gut. Ich bat um ein Glas Kokoswasser, trank in kleinen Schlucken und genoß diesen typischen Bombayer Gestank, eine Mischung aus Abgasen, Umweltverschmutzung und Sumpfwasser. In meinem Rücken bildete eine Ansammlung von Flachdachhäusern eine Wand, vor mir verlief eine unbefestigte, von Straßenlampen gesäumte Straße, dahinter belaubte Dunkelheit. Ich fühlte mich gestärkt, und die Erschöpfung des Flugs fiel von mir ab, während ich dem Zirpen der Grillen zuhörte. Ein paar Hunde drückten sich an der Straßenecke herum und kläfften sich gegenseitig an. Ich war zufrieden.
Auf der Treppe gab es ein ziemliches Gepolter, und dann hörte ich das tiefe Surren und Summen eines Rollstuhls. Doch es war nicht Guru-ji, sondern Bunty, der gerade die kleine Stufe zum Dach überwand. Wir hatten ihm einen Rollstuhl genau wie den von Guru-ji besorgt, ungeachtet der Kosten. Es war das mindeste, was wir für ihn tun konnten.
»Bunty«, sagte ich. »Du Mistkerl. Du führst dich ja auf wie ein Rennfahrer in diesem Ding.«
»Bhai«, sagte er. »Das ist wirklich ein klasse Teil.«
Er schien in seinem eigenen Körper verloren, als wäre er in sich selbst hineingeschrumpft. Ich mußte mich hinunterbeugen, um ihn zu umarmen. »Es ist der allerbeste, mein Freund. Bist du die Treppe damit hochgefahren?«
»Nein, nein, Bhai«, antwortete er lachend. »Ich beherrsche das Ding noch nicht so gut wie unser anderer Freund. Ich habe mich von denen da hochtragen lassen.« Er wies mit dem Daumen auf die drei jungen Kerle, die auf der anderen Seite des Dachs neben der Treppe standen. Im Licht des Treppenaufgangs sah ich ihre Gesichter, und sie waren mir alle neu.
»Schick sie weg«, sagte ich.
Er winkte sie fort, und sie zogen sich zurück. »Die erkennen Sie nicht«, sagte er. »Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnet wäre, hätte ich Sie auch nicht erkannt.«
»Topchirurg - hat seine Sache gut gemacht«, sagte ich.
»Ja. Aber wir müssen vorsichtig sein, Bhai. Nur ein Treffen.«
»Nur ein Treffen.« So hatten wir es geplant. Ich würde in der Stadt sein, doch in Deckung bleiben. Die Regierung machte sich den MCOCA413 zunutze, um unsere Jungs ins Gefängnis zu werfen, und die Spezialisten der Polizei fegten sie schneller denn je in Schießereien weg. Es war eine sehr gefährliche Zeit. Meine Company wähnte mich immer noch in Thailand, vielleicht auch in Luxemburg oder Brasilien. Ich würde über unsere abhörsicheren Geräte und über E-Mail mit Bunty kommunizieren. Wir würden nah beieinander sein, doch so tun, als wären wir einander fern. Aber einmal mußten wir uns treffen, wenigstens einmal. Das hatte ich ihm gesagt, ja, ich hatte es befohlen, obwohl es ein Risiko für mich darstellte. Ich hatte ihm gesagt, selbst wenn er nicht nur von der Polizei und Suleiman Isas Leuten überwacht werde, sondern auch noch über Satellit von der CIA, sei mir das ganz egal. Er habe Schüsse für mich bezogen, und ich wolle ihn persönlich sehen. Wir seien schließlich schon lange zusammen. Ich zog meinen Stuhl neben seinen Rollstuhl, so daß wir Schulter an Schulter saßen. »Hier«, sagte ich. »Für dich, Chutiya. Aus dem fernen Belgien. Das ist eine echte Platin-Rolex, mit Diamanten auf Zifferblatt und Armband. Ich habe sie über unsere Freunde hier besorgt, aber sie ist trotzdem noch zweiundzwanzigtausend Dollar wert.«
»Bhai.« Er hielt sie in seinen gewölbten Händen wie ein geweihtes Götzenbild, das ich von einer Pilgerfahrt mitgebracht hatte. »Zweiundzwanzigtausend US-Dollar. Das ist unglaublich. Es ist so was von mast404. Mehr als mast, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Red nicht lang herum, Mistkerl. Zieh sie an.«
Er streifte die Rolex übers Handgelenk und hielt den Arm vor sich hoch, um sie zu bewundern. In seinem Lächeln lag die Begeisterung eines jungen Mädchens, diese ganz spezielle Freude über unerwarteten Schmuck. Doch er hatte Angst, die Uhr zu zerkratzen, irgendwo anzustoßen und einen der Diamanten zu verlieren. Er legte den Arm auf seine verkümmerten Oberschenkel, hielt ihn vorsichtig im Schoß, während wir uns unterhielten. Wir redeten über Geschäftliches und über seine Familie, über Export und Import, Investitionen und Aktien und darüber, wer inzwischen tot war und wer noch lebte. Es war ein wichtiges und notwendiges Gespräch, doch während wir tratschten und scherzten und theoretisierten, wurde mir bewußt, daß nicht das Gespräch das Entscheidende war, sondern der Anblick der paanverfärbten Zähne dieses treuen kleinen Gaandus, die Möglichkeit, ihm auf die Schulter zu klopfen. Man kann sich die Laute anhören, die aus einem Telefon kommen, doch das ist einfach nicht die echte Stimme eines Mannes. Es war gut, neben ihm zu sitzen und mit ihm zu reden, bis die Vögel ihr morgendliches Gelärme anstimmten. Es war wie in alten Zeiten.
Nachdem er mit mir gefrühstückt hatte, verabschiedete er sich. Ich begleitete ihn hinunter ans Gartentor und sah zu, wie er munter über eine einklappbare Rampe in den hinteren Teil seines Transporters fuhr. Er drehte seinen Rollstuhl um die eigene Achse, so daß er nach vorn schaute, und hob eine Hand, um mir zuzuwinken. Ich hob ebenfalls die Hand und staunte noch einmal über den Rollstuhl und über den Elan, mit dem Bunty gelernt hatte, auf so engem Raum zu manövrieren. Der Transporter fuhr in einer Staubwolke los - immer dieser Staub in dieser Stadt, und schon morgens der schmierige, verdreckte Schweiß. Ich ging wieder ins Haus. Ich war müde, doch ich hatte ein gutes Gefühl, denn ich war Ganesh Gaitonde, und Männer opferten ihre Gliedmaßen und ihre Potenz für mich, sie ertrugen Schmerz und Lähmung und boten mir - selbst angesichts der peinlichen Notwendigkeit, in einen Plastikbeutel zu pissen - dennoch an, weiter für mich zu arbeiten. Sie arbeiteten gern für mich, waren gern meine Jungs. Eine Uhr von mir bedeutete ihnen soviel wie ein Orden vom Präsidenten. Ja, ich würde Guru-ji finden. Er konnte mir nicht entkommen. Dies war meine Stadt, und dieses Land gehörte mir. Ich hatte die nötigen Waffen und das Geld, und ich würde ihn finden. Ich zog die Vorhänge zu, um das grelle Licht auszuschließen, drehte die Klimaanlage hoch und ging schlafen.
Buntys Jungs hatten mich nicht erkannt, und ich hatte keine Probleme, den Rest der Company in dem Glauben zu lassen, daß ich immer noch auf fremden Gewässern unterwegs war. Doch Jojo, diese clevere Kutiya, war von Anfang an mißtrauisch. Ich rief sie gleich am ersten Nachmittag an, und noch bevor ich hallo sagen konnte, beharkte sie mich.
»Gaitonde«, sagte sie. »Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Warum sollte etwas passiert sein?«
»Du rufst mich nie so früh am Nachmittag an.«
»Ich habe heute Zeit, und deshalb habe ich beschlossen, dich anzurufen. Willst du mich jetzt strafrechtlich verfolgen lassen?«
Sie schwieg, aber nur für einen Augenblick. Dann konnte ich ihre Stimme wieder vernehmen, gefährlich sanft. »Und wo bist du, Gaitonde?«
»Wo soll ich sein? In meinem Zimmer. Zu Hause.«
»Aber wo?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich frage nur. Einfach so.«
»Du hast in deinem ganzen Leben noch nie etwas einfach so‹ getan.«
»Also, wo bist du?«
»In Kuala Lumpur.«
Draußen fuhr ein Auto um die Ecke.
»Das klingt genau wie ein Ambassador. Fährt man in Kuala Lumpur Ambassadors?«
Diese Jojo - man hätte eine Spionin aus ihr machen sollen. Sie hatte völlig recht, gerade war vor dem Gartentor ein Ambassador um die Ecke gebogen, und jetzt fuhr er klappernd die Straße hinunter. »Das ist ein japanischer Jeep, du Schwachkopf«, sagte ich.
»Soso, die Japaner bauen also neuerdings scheppernde Khataras. Na gut. Aber klingen malaysische Vögel so? Und spielen die Kinder dort auch Kricket?«
Ich befand mich in einem exklusiven, teuren Bungalow, aber der Geräuschkulisse entkam ich natürlich nicht. Man hörte die Krähen, das Kricketspiel ganz in der Nähe und die Arbeiter auf der Baustelle zwei Straßen weiter, die einander dies und das auf Telugu zuriefen. Außerdem lief irgendwo Filmi-Musik im Radio, allerdings weit weg, also sehr leise. Ich hielt die Hand über die Sprechmuschel und stellte mich in eine Zimmerecke. »In diesem Gebäude wohnen haufenweise Inder«, sagte ich. »Streite nicht mit mir herum. Dazu bin ich wirklich nicht in der Stimmung.«
»Ist ja gut, Gaitonde, ist ja gut. Und, was macht das Leben?«
Was machte mein Leben? Ich fühlte mich alt, war allein und hatte Angst. »Alles bestens«, sagte ich. »Erste Güte. Und wie steht's bei dir?«
Sie berichtete mir von ihrem Leben: von ihren Problemen mit Mädchen, die meinten, ihnen stehe mehr Geld zu, als sie tatsächlich wert waren, von einer undichten Wand in ihrer Wohnung, aus der Wasser sickerte, obwohl sie zweimal imprägniert worden war, von der Produktion einer Fernsehshow, die ihr angeboten worden, dann aber doch durch die Lappen gegangen war. Ich hörte ihr zu und dachte: Wie gut ich sie doch kenne, und wie gut sie mich kennt. Bei Jojo spielte räumliche Distanz keine Rolle - ob nah oder fern, ich spürte ihre Gegenwart, als säße sie neben mir. Wir waren perfekt aufeinander eingespielt, und wenn wir miteinander sprachen und scherzten, geschah das in einem entspannten Rhythmus, wie wenn ein Junge und ein Mädchen sich auf einer Wippe gegenseitig in die Luft stoßen oder Zirkusakrobaten sich mitten im Flug drehen und einander zielsicher ergreifen.
Ich war kaum zweieinhalb Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, in Luftlinie noch weniger, ich konnte in zehn Minuten bei ihr sein. Ich hätte die Treppe hinaufgehen, bei ihr anklopfen und um eine Tasse Chai bitten können. Doch ich hatte weder den Wunsch noch das Bedürfnis, sie zu sehen. Sie war bei mir, auch wenn sie nicht da war. Ich spürte sie in meinem Innern. Sie war realer für mich, als ich selbst es war. Ich selbst war verblaßt, fast schon zerfallen. Das war tatsächlich so. Es fiel mir schwer, mir das einzugestehen, aber es war so. Was ich Ich nannte, kam mir vor wie eine alte braune Decke, zerschlissen und geflickt, fast durchgewetzt. Ich, der ich einst Ganesh Gaitonde gewesen war, ruhmreich und unversehrt in den Augen aller Welt, hatte mich jetzt selbst verloren. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der allein über eine endlose, nur von Bestattungsfeuern erleuchtete Ebene lief, ängstlich und orientierungslos. In diesem aschenen Dunst, in dem ich nicht mehr wußte, was gut oder wünschenswert war, klammerte ich mich an Jojo. Sie war meine Kraft, mein einziges Vergnügen, mein Anker, die einzige Freundschaft in meinem Leben. Ich hörte ihr zu und lachte, und dabei sammelte ich mich innerlich für meine Suchaktion.
»Gaitonde«, sagte sie, »es klingt, als säßest du an einer Straßenecke in Tardeo. Aber du reist so viel herum, daß auch ich ganz durcheinanderkomme, nicht nur du. Du solltest mal eine Weile an einem Ort bleiben. Selbst wenn es dieses Kala Langur ist.«
Ich sagte ihr, was sie mit ihrem Kala Langur machen könne, und sie kicherte und erzählte mir dann die Geschichte einer Frau, die im Urlaub nach Nepal gefahren und von einem Bär entführt worden sei, der sich in sie verliebt hatte. »Echt, Gaitonde, das ist wirklich passiert. Bären nehmen oft Menschenfrauen.« Was, glaube ich, ein - wenn auch etwas umständliches - Argument dafür sein sollte, zu Hause zu bleiben. Ich sagte ihr nicht, daß ich nicht an einem Ort bleiben konnte, keine Wahl hatte, reisen mußte. Ich hörte ihr einfach zu und machte mich am nächsten Tag auf den Weg nach Delhi. Dort empfingen mich fünf meiner Jungs, die Stammbesatzung meiner Yacht. Sie waren aus Sydney, Singapur und Mombasa über verschiedene indische Flughäfen eingeflogen und hatten sich in zwei Hotels in Greater Kailash zusammengefunden. Sie würden mein Sonderkommando sein, meine Undercover-Einheit. Buntys Assistent Nikhil war aus Mumbai gekommen, um diesen Trupp anzuführen. Er war nicht eben begeistert darüber gewesen, seine einträglichen Operationen und seine Familie in Mumbai verlassen zu müssen, doch ich hatte darauf bestanden, und so hatte er sein Bündel geschnürt. Er kannte mich gut genug, um nicht zu widersprechen. Mit gerade mal Dreißig bereits völlig kahl, besaß er die unerschütterliche Geduld eines alten Mannes. Er hatte sich um die Details gekümmert: Die Jungs hatten gute Legenden, neue Dokumente, die auf alt getrimmt und verschmuddelt waren, unauffällige Kleidung und ordentliche Haarschnitte. Ich hatte für Waffen und Munition gesorgt -wir waren startklar.
Wir begannen unsere Suche in Chandigarh. Der Motorradunfall, der Guru-ji zum Krüppel gemacht hatte, war in Pathankot passiert, man hatte ihn ins Krankenhaus von Chandigarh gebracht, und während seiner Genesung hatte er die Stadt liebgewonnen. Hier, in dieser Stadt der breiten Straßen und Kreisverkehre, hatte er seine Eltern untergebracht, und hier hatte er auch seinen ersten Ashram und sein Hauptquartier errichtet. Der Ashram war von Anfang an groß gewesen, doch mittlerweile erstreckte er sich über rund hundert Morgen am Rand des Sektors 43. Wir erreichten Adarsh Nagar am späten Nachmittag, das Licht der untergehenden Sonne auf den Schultern. An dem mächtigen blauen Eingangstor waren weißgekleidete Sadhus postiert, die übliche Mischung von Indern und Ausländern. Nikhil hatte telefonisch ein Treffen mit Sadhu Anand Prasad arrangiert, dem Leiter von Adarsh Nagar und obersten Sadhu der nationalen Organisation. Die Wach-Sadhus tätigten mehrere Anrufe, Nikhil plauderte ein wenig mit ihnen, und ich stieg aus dem Auto, während wir warteten, und schlenderte zur Schranke vor. Das Tor war ein regelrechtes Monument, es erinnerte an jene gigantischen Wachhäuser, die am Eingang von Schlössern oder Festungen stehen und Waffenkammern, Wohnräume und sonstige Gemächer beherbergen. Guru-jis Torhaus war in einem herrlich schimmernden Blau angestrichen, es hatte zierliche abgerundete Türmchen, größere spitze Türme und kleine Balkone und schien trotz seiner Masse ganz leicht auf dem Boden zu ruhen, als sei es aus einer anderen Ära hierherversetzt worden. Es hätte den Palast von Hastinapur schützen oder vor Ravans goldener Festung stehen können. Im Innern der Anlage sah ich weite Rasenflächen mit gleichmäßig geschnittenem, dichtem grünen Gras, breite Boulevards und verstreute Gebäude, alle in Blau und Weiß. Die Straßen waren von gestutzten Bäumen und flatternden Fahnen in Rot und Orange gesäumt. Unter dem schattigen Torbogen hing der Duft der gelben Blumen, die in ordentlichen Rabatten entlang des Stahlzauns wuchsen.
»Okay, Bhai«, sagte Nikhil. »Wir können jetzt rein.«
Wir fuhren auf das Gelände, vorbei an kleinen Gruppen zielstrebig einherschreitender Sadhus. Eine unendliche Ruhe lag über diesem Park, eine Stille, die aus der Zeit gelöst schien, selbst die sich sammelnden Scharen von Abendvögeln stießen nur sanfte Laute aus. Auch Kinder spazierten über den Rasen, doch sie gingen in ordentlichen Reihen und beugten den Kopf zum Namaste, wenn jemand Älterer vorbeikam. Ich hatte diesen Ashram schon auf Video gesehen, aber er kam mir etwas kleiner vor, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Seine Anlage war jedoch perfekt - quadratisch und harmonisch. Am anderen Ende des Grundstücks stand ebenfalls ein blaues Tor, im Osten und Westen je ein weiteres, und genau dazwischen, im exakten geometrischen Mittelpunkt des Grundstücks, erhob sich eine wuchtige Stufenpyramide aus weißem Marmor, eine zum Himmel zeigende Säule. Dies war das zentrale Verwaltungsgebäude. Wir parkten davor und passierten einen weiteren Kordon von Sadhus, diesmal Sekretären. Man führte uns in eine Lounge mit niedrigen Sofas, und dort warteten wir.
Nikhil sprach schließlich aus, was wir alle dachten: »Bhai«, sagte er. »Die schwimmen im Geld hier. Vielleicht sind wir in der falschen Branche.«
»Es ist nie zu spät«, sagte ich. »Willst du eine neue Religion gründen?«
»Ja, das sollten wir machen.« Er kratzte sich die Golis. »Sie geben den großen Meister. Und ich verwalte die Finanzen.«
»Soll heißen, ich tue die ganze Arbeit, und du sahnst ab, du habgieriger Maderchod? Gib wenigstens ein paar Regeln für unsere neue Religion aus. Was ist unsere Philosophie?«
Der Chutiya hatte in Null Komma nichts einen neuen Glauben formuliert. Er fläzte sich auf das Sofa, faltete die Hände über seinem kleinen Wohlstandsbäuchlein und legte die Füße auf den Tisch. »Es gibt nur eine Regel: Man gelangt in den Besitz der Gnade, indem man Bhai Geld gibt. Je mehr man gibt, desto mehr Karma wird man los. Wer alles gibt, dem ist die Moksha gewiß.«
Die Jungs grunzten und schnaubten vor Lachen, und auch ich lächelte. Doch dieser glatte Zynismus, dieser leichtfertige Hohn taten mir im Herz weh. Guru-ji hatte zweifellos eine Menge Geld eingenommen, aber ich glaubte nicht, daß Geld sein eigentliches Ziel war. Ich behauptete nicht, zu verstehen, wie er dachte, doch ich wußte, daß er einen Plan hatte, der über das Geld hinausging, daß es jenseits der makellosen Ordnung dieses Ashrams eine Stimmigkeit gab, die umfassender war. Nur wußte ich dieses Mantra einfach nicht zu interpretieren, ich beherrschte diese Sprache nicht, ich begriff nicht, was mir dieses Quadrat mit den Kreisen darin zu sagen versuchte.
Während ich mich mit derlei religiösen und ästhetischen Rätseln herumschlug, rief uns Anand Prasads Sekretär in dessen Büro. Ich ließ Nikhil vorangehen und trat als letzter ein. Nikhil übernahm das Reden, er gab vor, der Vorsitzende eines Vereins im Ausland lebender Inder zu sein, die erwogen, Geld für Guru-jis mildtätige Aktivitäten zu spenden. Während ich zuhörte, fiel mir auf, wie attraktiv dieser Sadhu Anand Prasad war. Seine Haut war von einem schimmernden Schokoladenbraun, das sich leuchtend vom Weiß seines Gewandes abhob, und obwohl er mindestens fünfzig war, fiel ihm sein langes dunkles Haar in eine faltenlose Stirn. Er hatte einen ganz leichten südlichen Akzent - einen so gutaussehenden Tamilen hatte ich mein Lebtag nicht zu Gesicht bekommen. Sein Sekretär war ein sehr großer Niederländer, blond und mit einem so markanten Gesicht, daß er hätte Schauspieler werden können. Der Sekretär stellte sich hinter Anand Prasads Stuhl, und zusammen wirkten sie in diesem luftigen Büro voller seidenbezogener Möbel wie eine Reklame für Guru-jis Methoden.
Nikhil drängte auf ein Treffen mit Guru-ji. Er erklärte Anand Prasad, sein Verein habe Millionen zu vergeben, die über die ganze Welt verteilten Mitglieder seien Geschäftsleute, Computerprogrammierer, Ärzte und alle gern bereit, zu spenden. Doch sie seien Anhänger Guru-jis, und Voraussetzung für ihre Spende sei eine Begegnung mit ihm. Wenn schon nicht persönlich, dann vielleicht in einer Videokonferenz? Oder zumindest in einem Telefonat.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Anand Prasad. »Aber Guru-ji hat sich zur Einkehr zurückgezogen. Und bevor er gegangen ist, hat er strikte Anweisungen erteilt. Er will nicht gestört werden, nicht einmal im Notfall. Selbst ich darf keinen Kontakt mit ihm aufnehmen. Ich weiß weder, wo er ist, noch, wie ich mich mit ihm in Verbindung setzen könnte.«
»Das heißt, er ruft Sie an?«
Anand Prasads Achselzucken war von tänzerischer Eleganz. »Nein, nein«, sagte er. »Er ist wirklich fort.« Er gestikulierte wie ein Zauberer mit beiden Händen. »Man könnte sagen, er ist verschwunden. Er kommt erst zurück, wenn er es will.«
»Er würde nicht einmal für eine Million Dollar wiederkommen?« fragte Nikhil. »Für arme Kinder? Verhungernde Frauen?«
Er gab sich alle Mühe, aber es war sinnlos. Anand Prasad wußte nichts, und was er wußte, würde er nicht verraten. »Vergiß es«, sagte ich zu Nikhil. »Dieser Maderchod ist nur ein Lakai. Er weiß nichts.«
Anand Prasad war schockiert. Er war ganz von seiner Heiligkeit und seinem blendenden Aussehen erfüllt, und so hatte noch nie jemand mit ihm geredet. »Was?« sagte er. »Wer sind Sie?«
Ich ging zwei Schritte auf seinen Schreibtisch zu. Neben einem kunstvoll gearbeiteten Stifteköcher und drei Telefonen stand ein goldener kleiner Altar in der Form eines Adlers, etwa zwei Hände breit. Ich griff danach. Er war wundervoll detailgetreu, bis hin zu den Ziegeln und der zur Verbrennung bereitgestellten Samagri im Innern. Und er lag schwer in meiner Hand, besaß eine beeindruckende Dichte. Der Rauch des Opfers stieg mir in die Nase, jener Duft, der Leben wie Tod verheißt. Eine erdrückende Sehnsucht überkam mich, ja, sie überschwemmte mich regelrecht. Wo war Guru-ji? Warum wollte er nicht mit mir reden? Was hatte ich falsch gemacht?
»Woraus ist der?« fragte ich. »Gold?«
»Jetzt hören Sie mal zu«, sagte Anand Prasad.
Er plusterte sich auf und erhob sich, selbstgerecht und indigniert. Ich tat noch einen Schritt vor, und im Zuge dieser Bewegung hob ich den Altar hoch und ließ ihn auf seinen Kopf niedersausen. »Nein«, sagte ich. »Hören Sie mal zu.« Das Metall tönte wie eine Glocke, und ein Blutspritzer erschien auf der sauberen Fensterscheibe. »Das Ding ist hart«, stellte ich zufrieden fest. »Das ist kein Gold.« Anand Prasad lag zappelnd auf dem Boden neben seinem Stuhl, das Gewand bis zu den Hüften hochgeschoben. Ich hockte mich rittlings auf den Dreckskerl, packte ihn an der Schulter und riß ihn hoch, und dann machte ich mich wieder mit dem Altar ans Werk. Mit dem Zuschlagen zog Ruhe in mich ein, eine Konzentration, die in mich hineinströmte wie klares Wasser. Die Hiebe kamen in einem stetigen Rhythmus, mit meinem Atem, als meditierte ich. Ich ging ganz in der Erleichterung dieser Bewegung auf, in der Befriedigung, zu der sich all die Nächte voller Angst und Zorn plötzlich auflösten. Dann war der Altar blutverschmiert und Anand Prasad tot.
Ich ließ ihn los, und sein Schädel plumpste auf den Marmorboden. Die Jungs sahen mir mit großen Augen zu. Nikhil hielt seine Ghoda auf den Niederländer gerichtet, der in einer Ecke kauerte. »Nein«, sagte ich. »Nicht schießen. Wir wollen hier eine Botschaft hinterlassen. Macht es wie bei dem hier.« Ich ließ den Altar fallen.
Der Niederländer hatte kaum Zeit zum Schreien, bevor sie sich auf ihn stürzten. Ich öffnete eine Tür und sah eine funkelnde Toilette, ein Luxusbadezimmer mit allen Schikanen. Diese hochrangigen Sadhus schöpften aus dem vollen, soviel war sicher. Ich schaltete das Licht ein und sah mich im Spiegel: knallrote Augen, Blutspuren im Gesicht. Ich wusch mich, während nebenan der Niederländer unter einem Hagel dumpfer Schläge stöhnend starb.
Als ich aus dem Bad trat, brachten die Jungs gerade ihre Kleider in Ordnung. »Das Ding sollten Sie abwischen, Bhai«, sagte Nikhil, noch außer Atem. »Fingerabdrücke.«
An dem Altar hingen Haare und Hautfetzen. »Nehmt ihn mit«, sagte ich. »Den entsorgen wir unterwegs.«
Als die Jungs sich gewaschen hatten, brachen wir auf. Wir spazierten ganz cool und gemächlich hinaus zum Auto, stiegen ein und fuhren mit gleichmäßiger Geschwindigkeit zum Tor. Wir winkten den Sadhus zu, und weg waren wir.
Wir hatten alles für unsere Weiterfahrt vorbereitet. In unserem sicheren Haus erwarteten uns frische Kleider zum Wechseln und ein schwarzer Sumo. Ich hatte die Jungs gut geschult. In weniger als einer Viertelstunde hatten wir das Haus saubergemacht und den Sumo gepackt. Wir wischten den Maruti Zen, mit dem wir zum Ashram gefahren waren, komplett ab, und dann machten wir uns auf den Weg. Wir hielten uns nach Süden, in Richtung Delhi. Wir überholten lange Reihen von Bussen und schwerbeladenen Lastern und fuhren eine Weile hinter einer Hochzeitsgesellschaft her. Es dämmerte, und ich war vollkommen ruhig. Jetzt würde Guru-ji mit mir reden müssen. Ich hatte etwas Schlimmes getan, und er würde mich bestrafen müssen. Er würde mich anrufen, um mich zurechtzuweisen. Ich würde mich natürlich entschuldigen, würde ihm alles erklären, und er würde mich verstehen. Er würde mir verzeihen.
Wir hatten die Fabriken, die Geschäfte und Dhabas hinter uns gelassen, und nun erstreckten sich die Raps- und Weizenfelder bis zum dunkler werdenden Horizont. Die Strommasten rasten auf uns zu, schwangen ihre Leitungen über uns hinauf und hinab. Wenn ich als Kind mit dem klapprigen Bus von Digadh nach Nashik gefahren war, hatte ich mir immer vorgestellt, daß diese Masten nach mir riefen, sobald ich sie hinter mir ließ und sie in die Vergangenheit sanken. Doch in jener weit zurückliegenden Zeit hatte ich nie so viele wohlhabende Höfe gesehen, solide Häuser mit Satellitenschüsseln und in den Himmel ragenden Antennen. Alles hatte sich verändert.
Und doch hatte sich nichts verändert. Das konnte ich im ganzen Land beobachten. Im Laufe der folgenden Wochen reiste ich mit Nikhil und den Jungs durch Indien, ein Bharat-Darshan im Zickzackkurs. Wir fuhren zu Guru-jis Ashrams, seinen Büros, seinen Geschäftsräumen. Wir folgten Hinweisen, Gerüchten, Ahnungen und spontanen Eingebungen. Und so ging es von Chandigarh über Delhi nach Ajmer, von Nagpur über Bhilai nach Siliguri. Zurück nach Jaisalmer, dann nach Jammu, Bhopal und Digboi. In Cochin machten wir eine Woche halt, damit Nikhil, der sich eine Darmgrippe zugezogen hatte und alle halbe Stunde stöhnend aufs Klo rannte, mit Antibiotika dagegen angehen konnte. Wir mieteten einen Ferienbungalow nicht weit vom Meer und sahen zu, wie die chinesischen Fischernetze aus dem Wasser auftauchten und wieder verschwanden. Unterdessen quälte sich Nikhil weiterhin, und der Arzt verordnete einen Test nach dem anderen. Nach elf solcher Tests erklärte ich dem Mistkerl, daß ich sein Spiel durchschaute und er seine illegale Provision gefälligst auf anderem Weg kassieren solle. »Illegale Provision, Saar542?« fragte er mit seinem Malayali-Akzent unschuldig nach.
»Vielleicht nennen Sie das hier unten anders«, sagte ich ihm, »aber die dreißig Prozent, die Sie vom Labor bekommen, sind genau das. Darauf wette ich tausend Lakhs. Sie wollen dreißig Prozent? Die können Sie kriegen.« Ich ließ ihn meinen Handrücken spüren. Danach war er still und gefügig wie eine geprügelte Randi, er verabreichte Nikhil seine Kapseln, senkte den Kopf und ging. Ich hatte es mir nicht verkneifen können, diesen Mistkerl in seine Schranken zu weisen, doch es war schlechtes Handwerk gewesen. Wir durften nicht auffallen. Aber dieser Gaandu hatte mich einfach verärgert. Er trug Jeans, fuhr einen Ford Capri und redete ständig davon, daß er die »allerneusten« Medikamente verteilte, doch tatsächlich verrichtete er seine Arbeit wie jeder beliebige Dorfarzt, der ungebildeten Schäfern Wasser injiziert. Es war überall in Indien das gleiche - wir begegneten Bauern, die mit Handys telefonierten, aber ihre Töchter oder Söhne ermordeten, weil diese sich bei der Wahl ihrer Partner über Kastenschranken hinwegsetzten. Wir kauften in Flaschen abgefülltes Mineralwasser von grindigen, barfüßigen Chokras, deren Arme von Ringelflechte bedeckt waren. Nikhil hatte sich Abend für Abend über die schlechten Telefonverbindungen beschwert, wenn er versuchte, sich mit seinem Laptop ins Netz einzuwählen und seine E-Mail abzurufen, und in Coimbatore hatte schließlich eine nicht geerdete Steckdose seinem schicken Sony Vaio den Garaus gemacht. Und jetzt mußte er zwölfmal am Tag scheißen und sagte, er habe furchtbare Angst, daß das so lange so weitergehen werde, bis er auf diesem bhenchod weißen Thron in dieser maderchod Malyali-Stadt in dieser harami Jauchegrube von einem Land abgekratzt sei.
Selbst in Guru-jis Ashrams herrschte Konfusion. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Das Chaos sickerte trotz der Stahlzäune, der blauen Tore, der schützenden Mantras ein.
Die Ashrams waren im ganzen Land nach demselben Prinzip angelegt. Ob groß oder klein, in der Stadt oder auf dem Land, jeder Ashram hatte dieselbe Nord-Süd-Ausrichtung und die gleichen blauen Tore. Die Gebäude und Abstände waren mal größer, mal kleiner, doch der Grundriß war immer exakt derselbe. Nachdem wir einige Ashrams besucht hatten, fanden wir uns problemlos darin zurecht, wir wußten, daß das erste Gebäude links des Haupteingangs der Kunstgewerbeladen war, daß die Wäscherei immer in der nordwestlichen Ecke versteckt lag. Und immer, immer stand in der Mitte die Pyramide, das heiligste, mächtigste Gebäude, das Hauptquartier. Während wir von einem identischen Ashram zum nächsten fuhren, auf der Suche nach Hinweisen auf Guru-jis Verbleib, begann ich den Sinn dieser Gestaltung, die Bedeutung dieses Grundrisses zu verstehen. Mir war, als unterhielte ich mich mit Guru-ji, wenn ich diese Stätten betrachtete, die seinem Denken entsprungen waren, ein Produkt seines tiefen Einblicks und seiner Vorstellungskraft. Die ganze Anlage war stets um die marmorne Pyramide zentriert, die unseren alten indischen Tempeln ähnelte und doch anders war. Dieses völlig bilderlose Gebäude war der Ort des Geistes und dessen, was jenseits des Geistes lag. Hier hatten Verwaltung und Meditation, Dharma und Moksha ihren Platz. Fern dieses Mittelpunkts, ganz am Rand, lagen die Wirtschaftsgebäude und Generatorenanlagen, die öffentlichen Toiletten, die Kunstpavillons. Dazwischen lagen die Schulen für die Kinder, die Schlafräume für die verheirateten Paare, die medizinischen Einrichtungen und die Medienräume. Näher am Zentrum, abgerückt von den Gebäuden, in denen die Laien frei ein und aus gehen konnten, befanden sich, ringförmig angeordnet, die Wohnungen, Viharas660 und Hallen der Sadhus, jener, die der Welt entsagt hatten. Sie bildeten einen perfekten Kreis um die weiße Pyramide, jenseits der nur noch die Befreiung lag.
Ich erkannte die innere Logik, den Aufbau des Ashrams, diese Bewegung von außen nach innen. Das Verhältnis zwischen den Punkten und Winkeln, die Architektur dieser Bauten entsprachen der Geometrie der Zeit und des Lebens. Ich hatte Guru-ji oft über die Zeitalter des Menschen sprechen hören, über die korrekte Zuordnung der Kasten und Gruppen, den Platz der Frau in einer gerechten Gesellschaft, die Kindererziehung, und hier in diesen Ashrams war all dies deutlich sichtbar angelegt. Die Ordnung entsprach der Ordnung von Guru-jis Denken. Diese Anlagen zu lesen war so ähnlich, wie einer seiner Unterweisungen zuzuhören. Ich hatte seine Vision jetzt glasklar vor Augen, seine Vorstellung, wie das Land und schließlich die ganze Welt einmal werden sollten. Er wollte ganz Indien verwandeln, es zu diesem gartengrünen Frieden, zur Perfektion erheben. In Teilen Singapurs herrschte die Sauberkeit, die er wollte, doch keine Stadt auf dieser Erde besaß diese Symmetrie, die Stimmigkeit, mit der sich hier Läden und Meditationszentren die Balance hielten, die Torbögen von Wäscherei und Bibliothek lagen exakt auf einer Linie, die auf den zentralen Tempel zu führte. Diese Gebäude und die blauen Tore sahen aus wie die Vergangenheit, wie die goldenen Kulissen der Fernsehserien über mythische Zeiten, doch sie stellten Guru-jis Zukunft dar. Dies war das Morgen, zu dem er uns geleiten, das Satyug569, das er erschaffen wollte.
Doch die Gegenwart leistete Widerstand. In Coimbatore war nicht weit vom Osttor des Ashrams eines Morgens ein uralter Banyan-Baum umgestürzt und hatte elf Meter des Zauns eingerissen, so daß eine Herde Ziegen eindringen konnte, die sich durch drei Rosengärten gefressen hatte, ehe sie zusammengetrieben und hinausgejagt wurde. In Chandigarh gab es einen Sexskandal, in den ein ranghoher Sadhu, drei jugendliche Anhängerinnen Guru-jis und ein leitender Beamter der örtlichen Polizei verwickelt waren. In Allepy sah ich mit eigenen Augen den Zustand der Verwaltungsräume, die unter einem hartnäckigen Befall von Termiten und roten Ameisen litten. Vor allem aber hatte unsere Behandlung des hochmütigen Anand Prasad und seines Niederländers einen Machtkampf innerhalb der Hierarchie von Guru-jis Organisation ausgelöst. In der Asian Age war die Schlagzeile zu lesen: »Brutaler Doppelmord während geheimnisvoller Abwesenheit von Guru«, und es wurde gemutmaßt, Anand Prasad sei von einer Clique rebellischer Sadhus ermordet worden. In den Ashrams tauchten jetzt professionelle Wachleute auf, und die Sicherheitsvorkehrungen wurden noch strenger. Wir hörten Gerüchte über Streitereien und Handgreiflichkeiten zwischen den führenden Kandidaten für Anand Prasads Nachfolge. Die Asian Age hatte die Wahrheit zur Hälfte getroffen: An Anand Prasads Hinrichtung traf die Sadhus keine Schuld, doch es gab tatsächlich heftige Auseinandersetzungen und Machtkämpfe innerhalb der Organisation. Keiner der Sadhus wußte, wer wir waren, und so hielt jede Gruppe meinen auf- und wieder untertauchenden Suchtrupp für eine Bande Gundas, die von einer der anderen Fraktionen angeheuert worden war, und alle beschuldigten sich gegenseitig des Mordes. Wir betrieben unsere Nachforschungen weiter, mal mit Hilfe von Geld, mal mit Hilfe von Einschüchterungsmaßnahmen. Wir töteten niemanden mehr, doch in Bangalore mußten wir einem Computerprogrammierer den Arm brechen, damit uns seine Kollegin - die auch seine Freundin war - das Paßwort zu einem E-Mail-Programm verriet. Und so ging es weiter.
Wir fanden nichts. Es gab jede Menge Gerüchte, was mit Guru-ji geschehen war. Manche glaubten wirklich, er habe sich in Samadhi552 begeben, wenn auch nur vorübergehend, andere meinten, er sei an Krebs erkrankt und liege im Sterben. Jeder hatte irgend etwas zu sagen, aber niemand konnte uns auch nur den Ansatz einer verläßlichen Information liefern. Meine Jungs wurden kleinmütig. Das viele Reisen war anstrengend, sie machten keinen Gewinn, und hatten seit Wochen ihre Frauen und Chawis nicht mehr gesehen. Die Jungs in Mumbai klagten jedesmal, wenn wir anriefen, über den von der Polizei ausgeübten Druck, und unsere Scharfschützen und Spezialisten wurden mit einer beängstigenden Regelmäßigkeit zur Strecke gebracht. Als Nikhil dann auch noch von seinem ganz speziellen stinkenden Chaos heimgesucht wurde, veranlaßte ich die einwöchige Auszeit in Cochin. Ich sagte den Jungs, sie möchten sich ausruhen, wir seien fast am Ziel. Doch langsam glaubte ich selbst, daß wir Guru-ji niemals finden würden, daß er mir doch entkommen war.
Nach zehn Tagen in Cochin hatte Nikhil seine Krankheit endlich abgeschüttelt. Er hatte geschlagene fünf Kilo abgenommen und sah fix und fertig aus. An diesem Tag fand im Ort ein Festzug statt. Wir saßen auf dem Balkon im zweiten Stock unseres Bungalows und schauten uns die endlose Parade von Tableaus und lautstark nachgespielten Szenen an. Ein Elefant kam vorbei, ein echter mit goldenem Kopfschmuck. Ihm folgte eine Gruppe Männer mit pinkfarbenen Seidenkleidchen, falschen Brüsten und grellbuntem Makeup. Dann kam ein Lastwagen, auf dessen Ladefläche die Produkte und Menschen von Kerala dargestellt wurden, darunter ein Hindu, ein Moslem, ein Christ, ein Jude und eine blonde Touristin auf einem Liegestuhl. Etwas später, auf einem anderen Laster, sahen wir eine Szene aus dem Mahabharata, bei der die Helden glänzende Rüstungen trugen und zu Diskomusik tanzten. Meine Jungs waren irgendwo da draußen, unter den Tausenden von Zuschauern. Nikhil nippte an einem Bier, und ich trank Ananassaft, während wir dem Spektakel zuschauten.
»Bhai«, sagte er. »Ich will Sie nicht ausfragen oder so, aber ich denke einfach an die Jungs. Die werden nämlich langsam unruhig. Warum suchen wir diesen Guru-ji eigentlich so verzweifelt?«
»Das soll kein Ausfragen sein?«
»Es ist nicht respektlos gemeint, Bhai. Wissen Sie, Bunty hat mir erzählt, sie hätten immer zu ihm gesagt, daß die Kampfmoral sehr wichtig ist. Und die Jungs ...«
»Ist deine Moral denn auch schon im Keller? Vermißt du deine Frau so sehr?«
»Ich vermisse die Kinder, Bhai. Und dann das Geschäftliche ... Solange wir hier sind, können wir uns nicht aufs Geschäft konzentrieren.«
Ich hatte ihnen nichts gesagt, doch jetzt erkannte ich, daß vielleicht ein paar Worte der Erklärung angebracht waren. Wenn Nikhil, der mir alles verdankte, bereit war, mir diese Dinge ins Gesicht zu sagen, dann war es wirklich an der Zeit, etwas für die Moral zu tun. »Okay«, sagte ich. »Hör mir genau zu. Ich sage das nur einmal.« Auf dem Lastwagen, der jetzt unter uns vorbeifuhr, tanzten Eingeborene im Kreis um ein Feuer, das aus einem roten Scheinwerfer und flatternden roten Bändern bestand. Sie trugen Sonnenbrillen. Ich sagte: »Viel kann ich dir nicht sagen, aber immerhin soviel: Wir suchen diesen Guru-ji einzig und allein aus geschäftlichen Gründen. Er hat uns beschissen. Er hat ein Doppelspiel mit uns getrieben.«
»Schuldet er uns Geld?«
»Ja. Einen Haufen Geld. Er hat uns verraten.«
»Dieser Dreckskerl«, sagte Nikhil. Er schien zufrieden. Jetzt verstand er mich wieder, mich und die Welt. »Dann müssen wir ihn finden.«
»Sag den Jungs, daß ihr Lohn für die Dauer dieser Mission verdoppelt wird. Und am Ende gibt es noch einen Sonderzuschlag.«
Das verbesserte seine Laune noch einmal ganz erheblich. Ich ließ ihn auf dem Balkon sitzen und ging in mein Zimmer. Ich stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe und legte mich im Dunkeln aufs Bett. Nikhil würde bald seine Frau anrufen und mit seinen Kindern reden. Ich erwog, Jojo anzurufen, doch ich fühlte mich zu erschöpft. Seit ich in Indien war, litt ich unter Schlafstörungen. Zuerst hatte ich gedacht, es liege am Jetlag, am Ortswechsel, am Hundegebell, am Grillenzirpen. Doch auch nach einer Woche wachte ich nachts immer wieder auf. In drei aufeinanderfolgenden Nächten betäubte ich mich mit Schlaftabletten und erwachte jeden Morgen noch zerschlagener als zuvor. Inzwischen waren Wochen verstrichen, und ich taumelte schwerelos wie ein Gespenst durch den Tag. Nikhil hatte es nicht gesagt, aber ich wußte, daß er sich auch um mich Sorgen machte. Manchmal schlief ich tagsüber im Sitzen ein, während eines geschäftlichen Telefonats mit Mumbai oder wenn ich nach dem Mittagessen auf den Nachtisch wartete. Und ich erwachte jedesmal verstört, von dem gleichen Traum terrorisiert, den gleichen Bildern von Asche und Finsternis. Ich mußte mich sehr anstrengen, um mich auf Geldsummen, taktische Probleme und Führungsfragen zu konzentrieren.
Ich brauchte dringend Schlaf, doch in dieser Nacht war natürlich nicht daran zu denken. Selbst über das Dröhnen der Klimaanlage hinweg donnerte mir die Musik in die Ohren. Drei, vielleicht sogar vier Lieder in verschiedenen Sprachen spielten gegeneinander an und verschmolzen manchmal zu einem unerträglichen, wummernden Getöse. Darunter lag das Stimmengewirr der Menge, das hin und wieder zu fröhlichem Gebrüll anschwoll. Ich verfluchte sie, diese Lakhs und Crores wimmelnder, das Land übervölkernder indischer Dreckskerle. In diesem Moment wünschte ich mir, sie hätten einen einzigen gemeinsamen Kopf, damit ich sie alle auf einmal erschießen konnte. Aber nein, es gab keine Stille für mich. Wie viele Menschen hatte ich erschossen? Nicht so viele, wie hier versammelt waren. Selbst wenn ich in jeder Sekunde meines restlichen Lebens einen Menschen erschoß, würden immer noch Unmengen übrigbleiben, die mir mit ihren plärrenden Stimmen, ihrer quäkenden Freude gegen den Schädel hämmern konnten. Sie waren so zahlreich wie die silbernen Stäubchen in dem gelben Lichtstreifen, der vom Fenster über meinen Kopf hinweg ins Zimmer fiel. Man konnte ihnen nicht entrinnen.
Warum roch es im Zimmer nach Mogra424? Das war das Attar035, das Salim Kaka verwendet hatte, das er auch in jener Nacht trug, als ich ihn wegen seines Goldes tötete, das er sich aus einer grünen Glasflasche über Bart und Brust zu sprühen pflegte, bevor er sich mit einer seiner Frauen traf. Ich erinnerte mich, wie er den Kopf nach hinten gebeugt und die Flasche über seinem Hals geschüttelt hatte, und an den schweren öligen Geruch des Attar. Und an seine rasierten Achseln, das Rosa seines Zahnfleischs, seine riesigen weißen Zähne.
Türen und Fenster waren verschlossen, und es gab keine Blumen in der Nähe. Trotzdem hing dieser Duft im Raum, intensiv und unentrinnbar. Ich stützte mich auf den Ellbogen, trank einen Schluck Wasser, legte mich wieder hin. Und da war er wieder, dieser Mogra-Geruch, in meinem Kopf und in meiner Kehle. Ich öffnete die Augen.
Was war das, dort in der Ecke, gerade noch so vom Lichtschein des Fensters erfaßt? Ein seidiger roter Ärmel, eine Schulter. Ja. Ein Bart. Langes Haar, bis zum Nacken. Es war Salim Kaka. Ich hatte den Mistkerl in den Rücken geschossen, und jetzt war er zurückgekommen. Meine Hände zitterten, und in meinem Kopf erhob sich ein Summen, das lauter war als das Gelärme draußen. Es war Salim Kaka, er war es. Ich konnte seine Augen sehen. Gaandu Paschtune. »Du glaubst wohl, ich habe Angst vor dir, Bhenchod?« rief ich. Er sagte nichts, er zuckte mit keiner Wimper, und ich spürte, hell und hart, seine unerschütterliche Verachtung.
Dann war er weg, und nur ein Fenster und ein roter Vorhang waren noch zu sehen. Ich stand auf, taumelte hinüber, berührte die Wand mit den Fingerspitzen. Ich erkannte, daß sich der Vorhang, vom Bett aus in diesem unbeständigen Licht betrachtet, womöglich in einen Arm verwandelt haben könnte. Doch ich hatte sein Gesicht gesehen, diese paanfleckigen Lippen, und sein vorstehendes Schlüsselbein. Ich hatte die riesigen Hände gesehen.
Nein, nein, nein. Du bist im Begriff, verrückt zu werden, Ganesh Gaitonde. Schlafmangel und Überanstrengung haben dich geschwächt, dem Wahnsinn nahe gebracht. Ich zog die Schultern nach hinten und schritt von einer Zimmerseite zur anderen. Atme, befahl ich mir. Ich setzte mich am Fuß des Betts mit gekreuzten Beinen auf den Boden und machte die Atemübungen, die ich von Guru-ji gelernt hatte. Mit jedem Ausatmen ließ ich die Beklemmung hinausströmen, mit jedem Einatmen nahm ich Energie in mich auf. Langsam, langsam. Es war nur eine Halluzination. Genau. Doch der Mogra-Geruch hing penetrant in der Luft.
Er war hier gewesen, hier in meinem Zimmer. Es war purer Irrsinn, das zu glauben, doch es stimmte. Salim Kaka hatte selbst an Zauberei geglaubt, und er hatte alle zwei, drei Monate einen Malang Baba392 in Aurangabad aufgesucht. Dieser Malang Baba hatte ihm einen roten Talisman gegeben, den er um den Hals tragen sollte, und einen blauen für den rechten Arm, beide zum Schutz vor Messern und Pistolen. Trotzdem war Salim Kaka meinen Kugeln zum Opfer gefallen, und ich hatte sein Gold gestohlen, und jetzt war ich verrückter als Mathu. Mir war klar, daß ich nicht bei Sinnen war, doch zugleich wußte ich, daß Salim Kaka mich wirklich heimgesucht hatte. Vielleicht hatte ihn der Malang Baba zurückgeschickt, damit er mich mit diesem höhnischen Hundeblick anstarrte.
An nächsten Tag brachen wir nach Chennai auf. Als sich das Flugzeug über die niedrigen grünen Hügel erhob, roch es in der Businessclass-Kabine süßlich nach Salim Kaka. Er begleitete mich, wohin ich auch ging. Nun, da mich Guru-ji verlassen hatte, war ich dem Zauber des Malang Baba ausgeliefert. Er konnte Salim Kaka Tausende von Metern hoch in die Luft und über den Ozean schicken. Ich versuchte den Geruch zu ignorieren und konzentrierte mich auf mein Vorhaben. Eine Weile lang hatte ich geglaubt, daß unsere Störung und Sabotage seiner Ashrams Guru-ji aus der Deckung locken würde, daß er erscheinen würde, um mich zu bestrafen und seine Leute zu beschützen. Doch als ich jetzt aus der Luft auf die Felder tief unter mir hinabschaute, wurde mir klar, daß ein Mann, der in Vergangenheit und Zukunft blickte, der die Zeit in Yugas677 maß, sah, wie die Jahrhunderte gemäß einem geheimen Plan dahinwirbelten, und sich von seinem Ego und seinen Begierden gelöst hatte, daß es einem solchen Mann egal war, wenn eine bloße Organisation auseinanderbrach, wenn ein oder zwei Männer starben. Ihm war egal, was ich tat. Trotz all seiner Gesten der Zuneigung war ich ihm letztlich egal. Ich bedeutete ihm nichts. Er schwebte in Höhen hoch über jedem Jet und schaute auf uns hinab wie auf Ameisen. Als wir landeten, war ich zu der Überzeugung gekommen, daß unsere Strategie fehlgeschlagen war. Doch ich hatte keinen alternativen Plan, und so schwieg ich. Wir fuhren zu unserem sicheren Haus, warteten, bis es dunkel wurde, führten unseren Einbruch im Verwaltungsgebäude durch. Doch wie erwartet, fanden wir nichts. Und Salim Kaka blieb bei mir, auf der Rückfahrt zum Haus, die ganze Nacht hindurch. Als ich meine Morgenmilch trank, mußte ich würgen, denn unter den Mandeln schmeckte ich das sirupartige Blumenaroma.
Die Jungs sahen niedergeschlagen aus. Sie hingen trübe auf den Sofas und Betten herum. Sonderzuschlag hin oder her, es war hart für sie, immer wieder zu scheitern. Ich versuchte den munteren Anführer zu geben, doch meine Hoffnungslosigkeit färbte zweifellos auf sie ab. Ich hätte über unsere nächste Operation reden sollen, doch meine Augen waren blutunterlaufen und juckten, meine linke Kopfhälfte schmerzte heftig, und ich hatte einfach keine Kraft. Nikhil saß in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Füße auf dem Balkongeländer, und blätterte lustlos in einer alten tamilischen Filmzeitschrift, die jemand im Bad hatte liegenlassen. Er schien nicht sonderlich beeindruckt von den rundgesichtigen südlichen Starlets und den unverständlichen Anzeigen, in denen Männer ihren Bizeps entblößten. Er legte die Zeitschrift auf den Tisch, und ich nahm sie mir und schlug sie aufs Geratewohl auf.
Von einem ganzseitigen Foto blickte mich Zoya an. Sie trug Weiß und war in einem silbrigen Licht aufgenommen, das sie sehr hellhäutig und vollkommen unschuldig aussehen ließ.
Sie mußte in letzter Zeit einen Film im Süden gedreht haben. Allerdings drehte sie überall Filme, und es war offensichtlich, warum. Sie war wunderschön. Doch seltsamerweise begehrte ich sie nicht mehr. Ich spürte nicht mehr diesen quälenden Schmerz im Bauch, den sie früher allein dadurch hervorgerufen hatte, daß sie still dasaß. Ich sah, daß sie vollkommen war, daß sie die Proportionen, für die wir so hart gearbeitet hatten, erlangt hatte, dieses Gleichgewicht zwischen oben und unten, dieses feine Spiel von Dunkel und Hell. Trotz des billigen Papiers der Zeitschrift und des unscharfen Bildes nahm ich all das wahr. Doch ich spürte nichts. Ich begehrte sie nicht, ich liebte sie nicht, ich haßte sie nicht. Ich war gleichgültig.
Mich überkam das Verlangen, mit Jojo zu sprechen. Ich spürte, wie ich errötete, und stand auf. »Ich muß mal telefonieren«, sagte ich, ließ die Jungs sitzen, machte meine Zimmertür hinter mir zu und wählte Jojos Nummer.
»Was willst du, Gaitonde?« fragte sie. »Mitten in der Nacht?«
»Es ist acht Uhr morgens. Und ich will mit dir reden.«
»Über was reden, Gaitonde?« fragte sie mit einem kleinen Wimmern am Ende.
Ich wollte über nichts Bestimmtes reden, wollte einfach ihre Stimme, ihren Atem hören. Aber für Jojo war jeder Morgen ein Martyrium, bis sie ihre drei Tassen Tee getrunken hatte, und ich wußte, daß ich ihr schon einen guten Grund für meinen Anruf liefern mußte, damit sie mich nicht beschimpfte und den Hörer auf die Gabel knallte. Ich mußte etwas erfinden. »Ich suche eine Frau«, sagte ich.
»Du Mistkerl«, raunzte sie. »Dann ruf mich heute abend an.«
»Warte, warte«, sagte ich. »So meine ich das nicht. Wir suchen eine Frau, die verschwunden ist. Sie hat uns Geld gestohlen und sich aus dem Staub gemacht. Und wir können sie nicht finden. Wir suchen sie schon seit Monaten.«
»Kenne ich sie? Wie heißt sie?«
Ich mußte einen Namen nennen. Die tamilische Zeitschrift lag auf dem Tisch, ihre Seiten flatterten unter dem Ventilator. »Sri«, sagte ich. »Sridevi.«
»Was? Sridevi ist mit deinem Geld abgehauen?«
»Nein, nein. Nicht der Filmstar Sridevi. Es ist eine andere Frau, die auch so heißt.«
»Und warum findet ihr sie nicht? Habt ihr ihre Familie beobachtet?« Jojo gähnte.
»Sie hat keine Familie. Nicht verheiratet, gar nichts. "Wir sind überall gewesen, wo sie gearbeitet hat, aber es fehlt jede Spur von ihr.«
»Das heißt, du weißt nicht weiter, Gaitonde.«
»Ja.«
»Und deshalb wendest du dich an mich.« Sie klang ausgesprochen selbstgefällig. »Habt ihr versucht, ihren Freund zu kidnappen?«
»Sie hat keinen Freund. Nicht mal eine Freundin.«
»Was ist denn das für ein Monster? Keinen Freund, keine Freundin.«
»Wir haben die Leute ausgefragt, mit denen sie zusammenarbeitet. Ohne Ergebnis.«
Jojo klapperte jetzt herum, sie war aufgestanden. Ich kannte ihr Morgenritual, sie schlurfte in die Küche, wo ihr Hausmädchen am Abend zuvor einen Kessel Wasser auf den Herd gestellt hatte. Mit noch halbgeschlossenen Augen zündete sie das Gas an und griff nach einem Becher Milch, der im obersten Fach des Kühlschranks bereitstand. Da war es, das Klicken des Anzünders. »Okay, also, ihr habt keine weiteren Informationen über diese Sridevi. Und obwohl deine gesamte Company so lange gesucht hat, habt ihr nichts gefunden.«
» Nichts
»Ich hab dir ja gesagt, daß deine Angestellten Trottel sind.«
»Ja, ja. Sehr oft sogar.«
»Wenn du einem Kerl eine Ghoda in die Hand drückst, wird er dadurch noch lange nicht clever. Er wird einfach ein Gaandu mit Pistole.«
»Saali, ist das deine Art, mir zu helfen? Komm wieder auf Sridevi zurück.«
»Okay.« Ich wußte, daß sie sich auf die Arbeitsfläche stützte und darauf wartete, daß das Wasser kochte. Jetzt zerstieß sie Kardamomkapseln, drei Stück. »Kennst du ihren Geburtsort?«
»Sie hat keinen.«
»Jeder hat einen Geburtsort.«
»Ihren gibt's nicht mehr. Er liegt in Pakistan. Warum?«
»Du hast auch nur noch Faluda im Kopf, Gaitonde. Die Menschen sind Narren, das weißt du doch. Sie wollen eine Heimat. Und deshalb kehren sie in ihre Heimat zurück, selbst wenn sie wissen, daß sie es nicht tun sollten.«
Das stimmte. Man mußte nur das Heimatdorf eines Mannes im Auge behalten, dann erwischte man ihn früher oder später. Und wenn man einen Informanten in seinem Dorf gewann, konnte man eines Tages eine Kugel in seinem Hinterkopf versenken. Die Polizei machte das ständig, und ich hatte es auch schon getan. Jojo hatte recht, die Menschen waren dumm, sie drehten sich im Kreis, und irgendwann kehrten sie wieder dahin zurück, wo sie angefangen hatten, so als würden sie durch den stetigen, unentrinnbaren Zug einer Schnur zurückgeholt. Doch was, wenn man keinen Heimatort mehr hatte, nicht mehr dorthin zurückgehen konnte? Wo würde man dann hingehen? »Ich denke mal darüber nach«, sagte ich. »Es ist keine schlechte Idee. Auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit.«
»Gut«, sagte sie. »Denk darüber nach. Und jetzt laß mich in Ruhe meinen Chai trinken.«
Aber noch war ich nicht soweit. Ich redete noch eine Weile mit ihr über ihre Produktionsprobleme, über ihr Dienstmädchen, dessen Mann Alkoholiker war, und über die wachsende Luftverschmutzung in der Stadt. »Na, dann hören wir mal auf«, sagte ich eine geschlagene halbe Stunde später, als sie ihren Chai getrunken hatte und bereit war, sich ihrem Bad und ihrer Arbeit zu widmen. Jetzt, wo ich ein Ziel vor Augen hatte, fühlte ich mich ruhiger. Ich rief Nikhil herein, und wir machten uns an die Arbeit. Wir hatten auf unseren Raubzügen einiges an Unterlagen und Dokumenten zusammengetragen und zwei Laptops mitgenommen - genügend Informationsmaterial. Ziemlich viel sogar, es füllte zwei Koffer, und hinzu kam, was auf den Festplatten der Computer gespeichert war. Ich gab Nikhil die nötigen Erklärungen und Anweisungen, und wir begannen alles zu durchforsten. Das Problem war natürlich, daß wir nicht wußten, wonach wir suchten. »Stichwort Heimat«, sagte ich zu Nikhil. »Irgendein Ort, an den er zurückkehren würde.« Nikhil sah verwirrt aus, aber nicht mehr, als ich selbst es war. Wo würde ein Mann wie Guru-ji hingehen? Nach Chandigarh? Aber da waren wir schon gewesen, und wir hatten nichts gefunden. Wohin also würde er gehen? Oder anders gefragt, wohin würde jemand wie ich oder wie Jojo gehen? Wo geht man hin, wenn es keinen eigentlichen Heimatort mehr gibt? Ich kannte darauf keine Antwort, aber wir suchten weiter. Es dauerte fünf Tage, bis Nikhil schließlich fündig wurde.
In Guru-jis privaten Rechnungsbüchern des laufenden und des vorangegangenen Jahres fanden wir den Eintrag »Bekanur Farm«. Einmal vierundachtzigtausend und einmal ein Lakh vierunddreißigtausend Guthaben. Die Unterlagen der fünf Jahre davor fehlten uns, doch in dem einen noch älteren Rechnungsbuch, das wir hatten, war ein ebenfalls auf Guru-jis Privatkonto ausgestellter Scheck für einen »Traktor für die Bekanur Farm« aufgeführt. Und auf einem der Computer fanden wir einen im laufenden Jahr verfaßten Brief an das Punjab State Electricity Board wegen Zahlungsrückständen. Dieser Brief war von niemand anderem als Anand Prasad unterzeichnet worden, unserem Sadhu-Freund von neulich. Warum schrieb einer der Topleute der Organisation, ein Spitzenmann wie Anand Prasad, wegen lächerlicher zwei Lakhs und ein paar Zerquetschten an das PSEB? Was für ein Hof war das überhaupt? Wir gingen sämtliches veröffentlichte Material über Guru-ji durch, ohne Ergebnis. Es war nirgends von einem Hof, achtzig Kilometer südlich von Amritsar, die Rede oder überhaupt von irgendeinem Hof. Und mir gegenüber hatte Guru-ji ganz gewiß nie davon gesprochen, daß er einen Hof besaß. Natürlich war da sein Interesse an ländlicher Entwicklung, an landwirtschaftlichem Fortschritt, aber für diesen Bereich war eine Unterabteilung zuständig. Die landwirtschaftliche Abteilung hatte eine eigene Organisationsstruktur, eine eigene Befehlskette und eigene Konten. Um diese Bekanur Farm kümmerten sich offenbar Guru-ji persönlich und seine engsten Mitarbeiter. Und sie wurde streng geheimgehalten.
Wir würden uns diesen Hof mal anschauen. Ich sagte den Jungs, dies sei die letzte Etappe unserer Suche, danach würden wir unsere Mission beenden, ob wir nun erfolgreich waren oder nicht. Sie waren froh und erleichtert, das zu hören, und wir erreichten Amritsar energiegeladen und voller Tatendrang. Wir folgten unserem üblichen Prozedere, begaben uns in zwei Gruppen zu dem sicheren Haus, nahmen ein spätes Frühstück ein, holten unser Auto ab und fuhren los. Es war ein strahlender, heißer Morgen, und ich saß dösend auf dem Beifahrersitz. Nikhil fuhr. Hinter uns stritten sich die Jungs über das Gold im Goldenen Tempel: wieviel genau es war, was es wert war. Jatti, ein Punjabi, der allerdings erst einmal im Punjab gewesen war, verkündet gerade mit großer Autorität, das Gold sei nicht nur Crores, sondern Arabs wert. Die andern machten spöttische Bemerkungen, und Chandar sagte, er wolle nach Jallianwalla Baug282, »wo wir nun schon mal hier sind«.
Wir sind keine Touristen, hätte ich ihm am liebsten gesagt, doch es hätte zuviel Energie gekostet, aus meinem Halbschlaf heraus diese Worte zu formen. Außerdem war ich selbst ein bißchen auf dem Touristentrip. Ich stellte fest, daß ich den stolzen Gang der Punjabis, ihre aggressiven Blicke, ihre lauten Stimmen richtig unterhaltsam fand. Vor einer Garage zu unserer Linken stand ein Sardar und telefonierte mit einem Handy, das unbedeckte Haar zu einem großen Knoten aufgetürmt. Als wir vorbeifuhren, schob er gerade seine Kurta hoch, um sich am Nabel zu kratzen, so daß man seinen rundlichen behaarten Bauch sah. Er lächelte. Vielleicht war das seine Garage, und das große rosa-grüne Haus dahinter gehörte ebenfalls ihm, ein Haus mitsamt Satellitenschüssel, einem Toyota in der Einfahrt und einem Wachmann mit Gewehr davor. Amritsar war eine schäbige kleine Provinzstadt, aber hier gab es Geld und jede Menge Schußwaffen. Ein Polizeijeep überholte uns, und die drei Beamten auf der Rück-bank hatten alle Jhadus auf dem Schoß liegen, an denen mit Klebeband ein zusätzliches Magazin befestigt war. Ich hatte noch nie so viele Automatikwaffen auf offener Straße gesehen, auf keiner Straße, nirgendwo. In meinem Auto roch es nach Mogra. Ich machte die Augen zu, und als ich sie wieder öffnete, fuhren wir durch Rapsfelder, hinter einem von chromglänzenden Stahlrohren starrenden Lastwagen her. Auf seine Rückwand waren Tiger gemalt, mit einer Göttin in der Mitte.
»Wir sind fast da, Bhai«, sagte Nikhil.
Er bog nach links, fuhr einen Damm hinunter. Die Straße wurde jetzt schmaler, und wir überquerten holpernd und schwankend einen Kanal. »Jetzt sind wir wirklich auf dem Land«, murmelte Chandar. »Guckt euch mal diese Dehatis an.« Vor uns gingen mitten auf der Straße zwei Männer, die einen Ochsen führten. Nikhil hupte, und sie bewegten sich ganz langsam zur Seite, bis wir uns an ihnen vorbeiquetschen konnten. Als wir sie passierten, beugten sie sich herunter, um zu uns ins Auto zu schauen. Typische Dörfler, aber wohlhabende. Das Land hier war grün und fruchtbar, und irgendwo in der Nähe hörte ich eine Wasserpumpe. Wir fuhren weiter. Nur einmal, an einer Gabelung, fragten wir ein junges Paar auf einem Motorrad nach dem Weg. Die Frau hielt das rote Dupatta auf ihrem Kopf mit den Zähnen fest, damit es nicht verrutschte, doch ich sah auch so, daß sie ein hübsches Küken war. Die Jungs waren derselben Ansicht, wie ich an dem aufmerksamen, angespannten Schweigen hinter mir bemerkte. Ihr Mann war ein dünner, ungepflegter und in jeder Hinsicht uninteressanter Bursche, doch seine Wegbeschreibung war gut. Kurz nach zwei hatten wir Guru-jis Hof erreicht.
Hier waren die Felder nicht von einem Stahlzaun umgeben, und es gab auch kein Tor. Nur wogenden grünen Weizen und gut in Schuß gehaltene, von Bäumen gesäumte Dämme. Zwischen den Bäumen einer Obstplantage hindurch sah man ein weißes Haus schimmern. »Mangos«, sagte Jatti, als wir uns den ordentlichen Baumreihen näherten. Die Straße war jetzt gut befahrbar, feiner Schotter, der unter den Reifen knirschte. Ein Pfau schrie, und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er zwischen den Bäumen aufflog. Dann bogen wir um einen dicken, uralten Neem-Baum und standen vor dem Haus.
Es war ein einstöckiges Gebäude, breit und weitläufig. Vorne in der Außenmauer befanden sich keine Fenster, nur ein hoher Torbogen, der in eine kleine, offene Galerie führte. Die Torflügel waren grün und massiv, und in den linken war eine kleinere Tür eingelassen, gerade breit genug für einen Mann. Sie stand offen, und Nikhil rasselte mit der daneben hängenden Schließkette. »Are«, rief er. »Ko hai?«
Doch die einzige Antwort war das Gurren der Tauben, die auf den Sparren im Torbogen herumspazierten. Ich steckte den Kopf durch die Tür. In einem Stall zur Linken kauten eine Kuh und ihr Kalb zufrieden vor sich hin. Geradeaus führten vier Backsteinstufen zu einem Treppenabsatz, und dahinter lag ein einzelner Raum, in dem ich eine altmodische Takath613, zwei Stühle und eine große runde Uhr entdeckte. Die Luft war kühl und von dem uralten Geruch nach Kuhdung erfüllt. Der Putz an den Wänden rings um den Treppenabsatz war abgeblättert, und der Ziegelboden der Galerie war ausgetreten. Es war ein altes Haus, nicht nur alt, sondern auch altmodisch. Neben dem Kuhstall stand eine Handpumpe, aus der Wassertropfen platschend auf das eiserne Abflußgitter fielen.
»Bist du dir sicher, daß wir hier richtig sind?« fragte ich Nikhil.
Er zeigte auf die eine Seite des Treppenabsatzes. Hinter einer Säule führte eine Rampe über die Stufen hinauf, gerade breit genug für einen Rollstuhl. Na gut, vielleicht war das tatsächlich Guru-jis Haus, doch es hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was er sonst hatte bauen lassen. Was war das für ein Gebäude? Nikhil rasselte noch einmal mit der Kette.
Ein lautes Hupen schreckte uns auf. Jatti stand grinsend neben dem Auto. Er ließ noch weitere gellende Hupsignale folgen, und ich schrie ihn an: »Es reicht, Maderchod!«, worauf er mit gekränkter Miene aufhörte. Die Stille nach diesem Radau war verblüffend, die Tauben flatterten nervös in der Veranda herum. Dann hörten wir ein Schlurfen, und ein Mann kam um die Ecke gebogen. Er war alt, mindestens siebzig, seinem steifen Gang nach zu urteilen. Als er näher kam, wurde mir klar, daß er sogar über Achtzig sein mußte. Er trug ausgebeulte weiße Pajamas, einen zerlumpten orangefarbenen Pullover und einen grauen Schal, den er sich bis unter die Ohren um den Hals gewickelt hatte. Er beäugte uns durch eine dicke, schwarzrandige Brille. Mitten durch das linke Glas verlief ein Sprung.
»Hain?« fragte er.
»Namaskar«, sagte Nikhil. »Namaste. Sind Sie der Malik393, der Herr des Hauses?«
Das war unverhohlene Schmeichelei, denn dieser Budhau097 war weit davon entfernt, der Herr von irgend etwas zu sein. Doch der alte Mann nahm die Frage mit einem Lächeln entgegen. »Nein, nein«, sagte er. »Ich bin der Verwalter.«
»Der Verwalter«, wiederholte Nikhil und äffte dabei, wenn auch nur ganz leicht, den Punjabi-Akzent des Mannes nach. »Ah ja. Könnten wir vielleicht etwas Wasser haben? Wir sind die ganze Strecke von Amritsar bis hierher durchgefahren.«
Wir bekamen kochend heißen Tee. Der Alte führte uns in den Raum hinter dem Treppenabsatz, ließ uns dort Platz nehmen und tauchte eine Viertelstunde später mit Metallbechern und einer großen, geschwärzten Kanne wieder auf. Er schenkte jedem einen halben Becher ein und erkundigte sich, wer wir seien. Nikhil erzählte ihm, wir seien Geschäftsleute aus Delhi und auf der Suche nach gutem Ackerland. An der Hauptstraße habe uns jemand von dieser Obstplantage und dem Hof erzählt, und so seien wir hergekommen, um uns beides einmal anzusehen. Wer denn der Besitzer dieses schönen Anwesens sei?
»Saab kommt aus Delhi«, sagte der Mann.
»Und sein Name?«
»Mein Name ist Jagat Narain.«
»Ja, Jagat Narain. Sie machen guten Tee.« Nikhil nahm einen tiefen schlürfenden Schluck und schaute höchst anerkennend drein. »Und Saabs Name?«
»Was für ein Saab?«
Das würde lange dauern. Ich stand auf und schob mich aus der Tür. Neben dem Treppenabsatz führte eine weitere Tür zu einem dunklen Gang. Ich tastete mich hindurch und gelangte auf der anderen Seite in einen großen, mit Ziegeln geplättelten Innenhof. Genau in der Mitte wuchs ein Königsbasilikum, und auf allen vier Seiten befanden sich Zimmer. Ich umrundete den Innenhof langsam und stieß dabei die Türen auf. Sie öffneten sich quietschend und gaben den Blick auf nackte Böden und alte Holzschränke frei, auf schlichte Regale, die in die weiß getünchten Wände eingelassen waren, und durchgelegene Charpais mit groben Decken. In einem Raum stand ein hölzerner Schreibtisch, auf dem ein schwarzer Tischventilator und zwei Fläschchen mit blauer und roter Tinte standen, daneben lag ein grüner Federhalter. Ich ging weiter. Ein einziger, zum Innenhof hin offener Raum zog sich auf einer Seite über die gesamte Länge des Hofs. Der Boden war mit Matten bedeckt, und vor der Rückwand lag eine Reihe runder Kissen. In kleinen Nischen an der Wand hingen Bilder von Ram, Sita und Hanuman sowie das Schwarzweißfoto eines großväterlichen Mannes mit Brille und Turban. Ich beugte mich zu diesem Bild vor und erkannte eine deutliche Ähnlichkeit mit Guru-ji. Wer war das? Guru-jis Vater oder Großvater? Ein Onkel?
Ich wandte mich nach rechts, wo die Küche lag. Ein Sperling spazierte auf der Kante des kleinen Podests entlang, auf dem das Basilikum wuchs, und die Sonne schien mir in die Augen. In der dunklen Küche hingen messingne Küchengeräte von der Decke, zwei Chulas standen auf dem Boden. Kein Elektro-, kein Gasherd. Es gab außerdem noch einen Lagerraum, in dem nur drei leere Stahltruhen standen. Ich trat wieder in die Sonne hinaus, fröstelnd und mit trockenem Mund. Was war das nur für ein Haus? In der Ecke hinter der Küche stand eine weitere Handpumpe, die Ziegel darunter waren naßverschmiert. Ich stützte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Schwengel und pumpte, und nach mehrmaligem blechernen Quietschen spritzte ein funkelnder Wasserstrahl hervor. Ich beugte mich darunter und trank. Das Wasser war kühl und rein.
Jetzt sah ich Nikhil durch den Gang kommen, er tastete sich mit einer Hand an der Wand vor.
»Hier ist nichts«, sagte ich ihm. »Nur leere Räume, und alles ist alt. Es gibt gerade mal Strom.«
»Dabei ist das Haus erst vor zwölf Jahren gebaut worden, Bhai.« Er wirkte aufgeregt und etwas beunruhigt. »Sein Saab wohnt in Delhi, Mrityunjay Singh heißt er. Die haben den Hof während der Unruhen im Punjab für wenig Geld gekauft. Dann haben sie das Haus, das hier stand und das offenbar völlig in Ordnung war, abgerissen, sogar die Fundamente haben sie ausgegraben. Und ein paar Jahre später wurde dann dieses Ding hier gebaut. Der Saab kommt im Schnitt einmal pro Jahr. Ich habe den Verwalter nach der Rampe draußen gefragt. Er hat gemeint, die sei für einen Freund des Saab, der im Rollstuhl sitzt und der zwei- oder dreimal hier war. Wie der Rollstuhl-vaala heißt, weiß er nicht, offenbar nennen ihn alle nur Baba-ji.«
Guru-ji hatte also dieses Haus bauen lassen und war dann in über zehn Jahren nur dreimal dagewesen. Warum gerade dieses Haus und warum gerade hier? Es hätte zweifellos weniger gekostet, ein neues, modernes Haus zu bauen, als dieses auf alt getrimmte.
Nikhil pumpte etwas Wasser, trank und wischte sich den Mund ab. »Lecker«, sagte er. »Der Verwalter hat erzählt, dieser Baba-ji säße gern auf dem Dach. Er will es uns zeigen, er ist gerade die Schlüssel holen gegangen.«
Jagat Narain trat in den Hof, gefolgt von den Jungs. Er rasselte mit einem großen eisernen Schlüsselbund und führte uns - ganz langsam - eine Treppe in einer Ecke des Hofs hinauf, die ebenfalls mit einer Rampe ausgerüstet war. Er brauchte fünf Minuten, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, und dann traf er das Schlüsselloch nicht. Ich stand da und spürte die Stufenkante unter meinen Zehen, plötzlich in meine Kindheit zurückversetzt, zu einem Ferienmorgen, an dem ich mit einem nagelneuen Drachen in der Hand zum Dach hinaufgestürmt war. »Maderchod«, sagte ich. »Nikhil, nimm ihm die Schlüssel ab.«
Doch in diesem Moment bekam der Tattergreis endlich das Schloß auf. Wir traten ins helle Sonnenlicht hinaus. Das Flachdach hatte um den Innenhof herum kein Geländer. Ich ging auf die andere Seite hinüber und versuchte dabei gedanklich zu fassen, was sich meinem Zugriff immer wieder entzog. Als hätte ich etwas vergessen, das ich eben noch gewußt hatte. Ich hörte Nikhil mit dem Verwalter reden.
»Wir haben eintausendeinhundertundelf Morgen Land«, sagte Jagat Narain. »Es reicht bis zur Hauptstraße und noch darüber hinaus. Bis zum Zaun.«
»Bis zu welchem Zaun?«
»Er meint den Grenzzaun, Yaar«, erläuterte Jatti.
»Ein sehr langer Zaun«, sagte Jagat Narain nickend. Er machte eine ausholende Geste mit beiden Armen, die den ganzen Horizont umschloß.
Jatti, vom Besitzerstolz des Punjabi erfüllt, erklärte Nikhil, was es mit dem Zaun auf sich hatte. Er war Tausende von Kilometern lang, reichte von Rajasthan bis zum Punjab und weiter bis nach Jammu. Es war ein mehr als mannshoher Doppelzaun, der unter Strom stand und mit Glöckchen behängt war, die auf potentielle Eindringlinge aufmerksam machen sollten. Jatti erzählte, sein Chacha habe mal einen Pakistani gesehen, auf den man geschossen hatte, als er eines Nachts versuchte, den Zaun zu überwinden. Die Maschinengewehrkugeln hatten ihm regelrecht das Gesicht abrasiert. Jatti fuhr sich mit der gekrallten Hand am Gesicht vorbei. »Versteht ihr?« fragte er. »Der Mistkerl hatte echt kein Gesicht mehr.«
Ich beugte mich über die Brüstung und versuchte diesen lebensgefährlichen Zaun zu erspähen. Doch ich sah nur einen zarten Dunst am Horizont, jenseits der Obstbäume.
Jagat Narain kam zu mir herübergetrottet und stellte sich neben mich. »Baba-ji guckt auch immer.«
»Wohin?«
»Da raus. Er sitzt gern abends hier. Schaut sich den Sonnenuntergang an.«
Was sah Guru-ji, wenn er hier in die Ferne blickte? Es war schön, keine Frage, selbst um diese Zeit. Bei Sonnenuntergang mußte es besonders schön sein. Doch es gab auch anderswo schöne Sonnenuntergänge. Warum kam er hierher, mitten in die Pampa, bezahlte teures Geld für all dieses Land und für ein altes Haus, das in Wirklichkeit neu war? Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu sehen, was er sah. Ich nahm das endlose, verschwommene Grün wahr, den Geruch der Erde, das Geräusch fließenden Wassers, sah das Haus meiner Kindheit, und einen Moment lang war ich glücklich. Ich merkte, daß ich lächelte.
Warum?
Ich hatte keine Zeit, mich mit diesem Rätsel zu befassen: Auf der Straße strampelte in rasantem Tempo ein Radfahrer auf uns zu. Als er näher kam, sah ich, daß er jung war, um die Dreißig, und sehr groß. »Wer ist das?« fragte ich Jagat Narain. Der Radler starrte finster zu mir hoch, während er in die Pedale trat.
»Ach, das ist nur Kirpal Singh. Er war heute auf den Feldern von Tupa Nahar. Wir spritzen dort gegen die Brandpilze.«
Kirpal Singh war jetzt vor dem Haus angelangt. Er knallte sein Fahrrad hin, und kurz darauf hörten wir ihn die Treppe heraufpoltern. Noch bevor er aufs Dach trat, rief er schon: »Jagate! Wer sind diese Leute?« Nikhil begann mit seiner Geschichte von unserer Ackerlandsuche, doch Kirpal Singh wollte nichts davon wissen. »Saab«, sagte er heftig atmend, »Sie müssen hier weg. Niemand darf ohne die Erlaubnis unseres Saab auf diesen Hof.« Er warf Jagat Narain einen verbitterten Blick zu.
»Die kommen auch aus Delhi«, sagte Jagat Narain, als erklärte das alles.
Aus der Nähe erwies sich dieser Kirpal Singh als ein grobschlächtiger Rüpel, dessen Haare in einem wilden Wust nach oben standen und dessen fuchtelnde, schmutzige und aufgesprungene Hände doppelt so groß waren wie meine. Er hatte einen abgetragenen grauen Paschtunenanzug an, und obwohl er völlig verdreckt war, gebärdete er sich wie ein Polizist oder ein Jawaan.
»Hören Sie mal, mein Freund«, sagte Nikhil. »Jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Und dann rufen Sie Ihren Saab an, und wir unterhalten uns selbst mit ihm.«
»Es gibt hier kein Telefon, Saab.« Unter seiner oberflächlichen Höflichkeit war er sehr direkt, sehr bestimmt, geradezu aggressiv. »Und jetzt gehen Sie.«
»Ich habe ein Handy dabei, und der Empfang ist gut.« Nikhil hielt sein Mobiltelefon hoch. »Sehen Sie? Wir können mit ihm reden. Wie lautet seine Nummer?«
»Der Hof ist nicht zu verkaufen. Gehen Sie jetzt.«
Kirpal Singh hatte die Schultern hochgezogen und eine leicht geduckte Haltung eingenommen. Er war kampfbereit. Ich nickte Nikhil zu. »Okay, Yaar, okay«, sagte er. »Wir gehen. Kein Problem. Danke für den Chai. Hier ist meine Nummer, geben Sie sie Ihrem Saab, für den Fall, daß er doch interessiert ist.«
Er hielt Kirpal Singh eine Karte hin, die dieser schließlich unwillig entgegennahm. Dann gingen wir einer nach dem anderen die Treppe hinunter. Ich spürte diesen Trampel hinter mir, er atmete heftig. Warum war er so nervös? Er folgte uns bis ganz nach draußen, durch den Gang, die Galerie, das Tor. Nikhil ließ den Motor an und wendete, und ich wartete direkt an der Mauer. Zu meiner Rechten lag Kirpal Singhs Fahrrad auf dem Boden, so wie er es hingeworfen hatte. Ein großer Pestizidkanister war auf den Gepäckträger geschnürt. Auf dem Kanister war ein roter Totenkopf zu sehen. Und eine rote Ratte, die auf dem Rücken lag, tot, den Schwanz über sich eingerollt. »Fressen die das Getreide?« fragte ich Kirpal Singh. »Die Ratten?«
Er sah erleichtert aus, jetzt, wo die Jungs ins Auto einstiegen. »Ja, Saab.« Er versuchte seine vorherige Unhöflichkeit wettzumachen. »Nicht nur den Weizen. Die fressen alles. Auch die Stromkabel, da nagen sie das Plastik ab. Die sind nicht aufzuhalten.«
»Bringen Sie sie alle um«, sagte ich, und nun lächelte er sogar. Ich stieg ein, und wir fuhren weg.
Nikhil schaute in den Rückspiegel. »Was meinen Sie, Saab?«
»Da ist was faul.«
»Ja. Wenn das nur ein Bauernhof wäre, würde dieser Kerl nicht dermaßen die Zähne zeigen.«
Wir hatten uns das Haus oberflächlich angeschaut und nichts gefunden. Lohnte es sich, noch einmal herzukommen und sich mit Kirpal Singh herumzuschlagen, damit wir es gründlich durchsuchen konnten? Ich fühlte mich seltsam mutlos. Die Straße zog sich dahin - vielleicht war es besser, ihr wieder bis nach Amritsar zu folgen, von dort aus nach Delhi zu fliegen und dann weiter nach Bangkok, um zu meinem normalen Leben zurückzukehren. Aber das wäre unerträglich. Ich hatte kein normales Leben, zu dem ich zurückkehren konnte, jedenfalls nicht, solange ich Guru-ji nicht gefunden hatte. Selbst jetzt noch, bei all meiner Wut auf ihn, wollte ich eigentlich nichts anderes, als wieder zu seinen Füßen zu sitzen. Ich mochte ihn verfluchen, einen Schwindler schimpfen, behaupten, ich sei fertig mit ihm, doch in Wirklichkeit wollte ich einfach nur wieder seine gewölbte Hand auf meinem Kopf spüren, den Segen seiner Stimme empfangen. Ich hatte Fragen. Ich wollte erfahren, warum er weggegangen war, warum Gaston und Pascal gestorben waren, was er uns hatte transportieren lassen, was er tat, was er plante. Irgendwie lag in diesen Fragen der Sinn meines Lebens verborgen. Doch wenn er sich weigerte, auch nur eine meiner Fragen zu beantworten, würde ich auch das akzeptieren, Hauptsache, er kam zurück. Hauptsache, er ließ mich nicht so weiterleben, allein, ohne ihn, ohne seine Fürsorge und Führung. Ich mußte ihn finden. Doch Guru-ji war zu weit fortgeschritten, zu weit in seinem Sein verwirklicht. Mochte ich in meinem Leben auch noch so viele Lektionen gelernt haben, mochte ich auch noch so gerissen sein, ich würde ihn niemals finden. Ich konnte die Sache auf sich beruhen lassen, konnte weiterfahren, fort von hier. Aber warum hatte ich solche Angst? Wenn ich in meinem Leben irgend etwas gelernt hatte, dann meiner Angst zu vertrauen. Andererseits war ich sterbensmüde. Die Straße erhob sich über die Felder, Wellen tiefen Grüns folgten stetig aufeinander. Ich könnte schlafen. Die Stromkabel schwangen sich sanft hinauf und hinab. Sie kamen auf mich zu, von der sinkenden Sonne mit Lichtdiamanten behängt. Die Ratten fraßen sie. Die Ratten fraßen Kabel.
»Halt an«, sagte ich.
»Bhai?«
Das Auto kam neben dem Kanal zum Stehen. Über dem Gurgeln des Wassers hörte ich, wie ein leiser Wind durch die wogenden Getreidehalme strich. Ich drehte mich auf dem Sitz um und schaute zurück auf die hinter uns liegende Straße und die in der Ferne verschwindenden Strommasten. An einer Stelle zweigte eine Kette von Masten ab und führte, durch die Felder und an der Mangoplantage vorbei, zu Guru-jis Hof. Genau: Dort auf dem Dach stand ein Mast, in den drei Stromleitungen mündeten. Wozu brauchte dieses altmodische Haus mit seinen quietschenden Tischventilatoren so viel Strom? In den Innenräumen hatte ich nirgends Stromleitungen gesehen, was also fraßen die Ratten da?
Ich wandte mich wieder zu Nikhil um und legte ihm meine Überlegungen dar. »Schon richtig, Bhai«, sagte er. »Aber vielleicht brauchen die den Strom für die Bewässerung. Für Wasserpumpen und so was.«
Vielleicht. Vielleicht. Aber da war eben auch noch dieses neue Haus, das bloß so aussah, als wäre es alt. »Dreh um«, sagte ich. »Wir fahren zurück.«
Und so sausten wir abermals an der Mangoplantage vorbei, während der Abend sich niedersenkte. Diesmal kam Kirpal Singh heraus und nahm uns in Empfang. Er stellte sich mit gespreizten Beinen mitten auf die Straße. Nikhil hielt an, und wir stiegen alle aus. »Are«, sagte ich. »Haben Sie vielleicht meine Brille gefunden? Eine schwarze.«
»Nein«, sagte er. »Keine Brille.«
»Ich würde gern mal nachschauen«, sagte ich. »Vielleicht liegt sie noch auf dem Dach.«
Kirpal Singh war verwirrt. Er wollte uns nicht wieder dahaben, doch genausowenig gefiel ihm die Vorstellung, daß sich in diesem Haus, das er bewachte, irgend etwas von mir befinden könnte. Er war ein nettes Scheusal. Ich faßte ihn am Arm. »Ohne meine Brille sehe ich nichts, Yaar. Ich bin halb blind.« Ich drehte ihn zum Tor hin. »Schauen wir doch mal nach.«
Er war dumm, aber schnell. Chandar erschien rechts neben ihm, und unser Timing war absolut präzise. Wir hatten diese Nummer in den letzten Wochen so oft abgezogen, daß wir perfekt aufeinander eingespielt waren. Ich redete mit dem Betreffenden und lenkte ihn ab, so daß Chandar ihm seinen eisernen, mit Leder überzogenen Totschläger von hinten über den Schädel ziehen konnte. Doch Kirpal Singh ahnte etwas, zuckte zurück und wandte sich um. Der Schlag traf seitlich am Kopf und riß ihm das rechte Ohr halb ab. Doch er kämpfte wie ein Dämon. Wir waren zu fünft gegen ihn allein, doch er machte uns schwer zu schaffen. Er brach Chandar drei Finger und schleuderte Nikhil mit einem einzigen Hieb, der ihm die Nase brach und ihn fast außer Gefecht setzte, nach hinten. Jatti lag auf dem Boden und umklammerte ächzend und hustend seinen Hals. Auch ich fand mich auf der Straße wieder, atemlos und mit schmerzendem Unterleib. Ich kroch ein Stück von dem Knäuel keuchender Gestalten weg und zog meine Pistole, doch die Schußbahn war nicht frei. Und dann stürzte sich Kirpal Singh auf mich. Ich hatte gerade noch Zeit abzudrücken, der Schuß traf ihn am Schlüsselbein und lenkte ihn mitten im Sprung ein wenig ab. Er hielt sich an mir fest, und sein Mund stand weit offen, tiefrot und gräßlich. Ich spürte, wie weitere Schüsse in seinen Körper eindrangen, wie seine Muskeln vibrierten. Schließlich lag er mit seinem ganzen Gewicht auf mir.
Die anderen zogen ihn weg, und ich rappelte mich hoch. »Wie viele Schüsse?« fragte ich.
Jattis Atem ging pfeifend, und sein Gesicht war tränenüberströmt. »Dieser Gaandu war wohl mal bei irgendeiner Spezialeinheit.«
»Vier Schüsse, Bhai«, sagte Nikhil. Sein weißes Hemd war bis zur Hüfte mit Blut aus seiner gebrochenen Nase verschmiert.
Vier Schüsse, das war viel, andererseits war es ein großer Hof. Vielleicht hatte uns keiner gehört. Vielleicht würde keiner reagieren. »Jatti«, knurrte ich, »geh ins Haus, und sorg dafür, daß der Alte das Maul hält.«
»Bhenchod«, fluchte Jatti und riß die Augen auf. Er rannte zum Haus.
Wir anderen packten Kirpal Singh und schleiften ihn durchs Tor. Es war äußerst mühsam, denn wir waren alle durch unsere Verletzungen geschwächt.
»Halt durch, Beta«, sagte ich zu Chandar, dessen gebrochene Knochen mit jedem Schritt schmerzhaft erschüttert wurden. »Es dauert nicht mehr lange.« Wir ließen die Leiche neben dem Kuhstall fallen. Ich befahl Chandar, die Blutspuren auf der Straße mit Schotter zu bedecken und danach am Tor Wache zu halten. Wir anderen wandten uns der Durchsuchung des Hauses zu. Jatti hatte Jagat Narain im Innenhof gefunden, wo er an der Pumpe unbekümmert Geschirr spülte. Er mußte die Schüsse gehört haben, doch sie hatten ihn offenbar nicht sonderlich beeindruckt. Wir schlössen ihn in einem der leeren Zimmer ein, dann machten wir uns auf die Suche.
Ich sagte den Jungs, wir müßten dem Strom nachgehen. Wir folgten den Leitungen, die von dem Mast auf dem Dach ausgingen und, in der Wand verlegt, zu dem Verteilerkasten im Erdgeschoß führten. Dieser Verteilerkasten befand sich in einem eigenen kleinen Raum hinten im Haus, der mit zwei Stahlschlössern gesichert war. Wir mußten Jagat Narain aus seiner Zelle holen, damit er uns die Schlüssel für diese Schlösser gab. Inzwischen begriff er, daß er Grund hatte, sich zu fürchten. Er war kooperativ und leistete keinen Widerstand, doch seine Hände zitterten, und er flüsterte: »Wo ist Barjinder? Laßt Barjinder nicht zurück.«
»Wer ist Barjinder, Kaka?« fragte Nikhil und tätschelte ihm die Schulter. »Was reden Sie da?«
Jagat Narain schüttelte den Kopf. »Wir müssen irgendwie nach Amritsar«, sagte er. »Unser Haus ist abgebrannt. Wir müssen nach Amritsar.« Noch als Nikhil die Tür wieder hinter ihm abschloß, wiederholte er diese Worte.
Auch ich zitterte ein wenig, als wir nun erneut in die Dämmerung hinaustraten, wo die Vögel ein Höllenspektakel veranstalteten. Ich war völlig überdreht. Ich wußte, daß ich auf eine heiße Spur gestoßen war, was sich bestätigte, als wir die Tür des kleinen Raums öffneten und den Verteilerkasten, den Überlastschalter und die Stromzähler sahen. Die glänzend sauberen Armaturen entsprachen dem neusten Stand der Technik, und sie funktionierten reibungslos: Das Zählwerk lief langsam, aber stetig. Irgend etwas schluckte hier gehörige Mengen Strom.
Wir folgten den Leitungen. Man hatte versucht, ihren Verlauf unter dem Putz und durch die Backsteinwände hindurch zu verbergen, so daß wir uns mit Hacken und Spaten ans Werk machen mußten. Es gab einen Stromkreis, der das Haus versorgte, doch zwei weitere zweigten einen halben Meter unter der Erde nach draußen ab. Es war ein hartes, mühseliges Geschäft, den Erdboden unter dem Schotter aufzuhacken. Wir arbeiteten uns langsam in das Dunkel unter den Mangobäumen vor. Nikhil ging noch einmal ins Haus und kam mit zwei Petromax-Laternen wieder, in deren tanzendem Licht wir weitergruben. Es war tiefe Nacht, als wir schließlich den unterirdischen Komplex fanden. Mitten in der Obstplantage befand sich eine quadratische freie Fläche, die man nur als das Fehlen von Bäumen wahrnahm. Sie wirkte völlig harmlos, bis man das PVC-ummantelte Kabel entdeckte, das an einer Stelle senkrecht nach unten führte. Wir tappten suchend im Kreis herum. Dann stieß Jatti, vom leisen Zischen der Luft angezogen, auf eine Lüftung. Daneben, unter einer Matte aus Gräsern und Ranken, entdeckten wir eine kleine Metallplatte, die in Tarnfarben angestrichen war. Nikhil legte das Ohr daran.
»Hier ist die Klimaanlage drunter«, sagte er.
Ich legte die Hand darauf und spürte das Summen bis in meine Schultern. Die Jungs scharrten im Boden, rissen am Gras, riefen nach den Laternen. Ich verließ den Lichtkreis, kroch über Steine und Wurzeln, ignorierte das Brennen in meinen Knien. Das Geheimnis war unter uns, ganz nah, ich fühlte es. Das Gold war nah. Ich hatte es noch jedesmal aufgespürt - die Belohnung, den Gewinn. Und auch diesmal wurde ich fündig.
Eine Platte aus dem gleichen Metall, aus dem auch die Verkleidung der Klimaanlage war, bildete eine leichte Erhebung zwischen zwei alten Bäumen. Eine dünne Schicht aus Blättern und Zweigen bedeckte den genieteten Stahl. »Hier«, rief ich. »Hier.«
Wir schoben das Laub weg, und im Licht der Lampen sahen wir, daß es sich um eine Falltür handelte. Anderthalb Quadratmeter groß und auf einer Seite zum Hochziehen mit Schlitzen versehen. Jatti rüttelte versuchsweise daran. » Abgeschlossen«, sagte er und deutete auf ein Schlüsselloch.
»Schau mal bei dem toten Chutiya nach«, sagte ich.
Ich landete an diesem Abend nur Volltreffer. Sie fanden den Schlüssel an einer schmutzigen Nada um Kirpal Singhs Hals. Es war ein schwerer, acht Zentimeter langer Stahlstreifen, einer dieser programmierbaren Schlüssel, jetzt blutverschmiert. Doch er drehte sich problemlos im Schloß. Eine Leiter führte nach unten. Durch einen Druck auf einen direkt neben der Falltür angebrachten Schalter wurde alles in ein sauberes, gleichmäßiges blauweißes Licht getaucht. Drei große Räume folgten aufeinander, der letzte war der kleinste. Die ersten beiden waren zweckmäßig mit Bücherregalen, Aktenschränken und Computertischen eingerichtet. Doch die Regale waren leer, und es gab weder Aktenordner noch Computer. Die Verlängerungsschnüre waren allerdings noch da, und hinter den Tischen knäuelten sich weitere Kabel. Auf der weißen Oberfläche der Tische zeichneten sich undeutliche Umrisse ab, wo die Computer gestanden hatten. Nikhil fuhr mit dem Finger den braunen Ring nach, den eine Teetasse auf einer der Tastaturablagen hinterlassen hatte. In einer Ecke des zweiten Raums stand ein sehr großer Drucker, das einzige Gerät, das sie dagelassen hatten.
Der dritte Raum war ein Lagerraum. Ein Drahtpapierkorb enthielt nur die leeren Umhüllungen zweier Packen Druckerpapier. Jatti ging herum und öffnete Schranktüren. Vor der letzten blieb er stehen. »Bhai.«
Auf dem untersten Schrankbrett stand eine große Stahlkassette, keines dieser klapprigen Dinger, die man auf jedem Bazaar kaufen kann, sondern ein eleganter silberner Kasten, ein ausländisches Fabrikat, wie man schon allein an den Schlössern erkannte, die in die Kassette eingearbeitet waren. »Hol sie raus«, sagte ich.
Die Kassette war schwer. Sie mußten sie zu zweit in den Hauptraum schleppen. »Der Kerl von der Spezialeinheit hatte bloß den einen Schlüssel, Bhai«, sagte Nikhii.
Also zog Jatti seine Ghoda, hielt sie vor das eine Schloß und drückte ab. Etwas sauste heulend durch die Luft und an meinem Kopf vorbei, und wir ließen uns alle fluchend fallen. »Maderchod«, stieß ich hervor. »Seid ihr okay?«
Sie nickten. Der Drucker hatte jetzt ein Loch, das Schloß der Kassette hingegen nur eine winzige Delle.
Jetzt wollten wir es wissen. Wir schauten erst einander, dann die glänzenden rundlichen Formen der Kassette an. »Holt mir eine Stange«, sagte ich. »Oder irgend so was.«
Wir bearbeiteten die Schlösser vierzig Minuten lang mit Hacken und Spaten, bis ein Spalt entstanden war und man die Schweißnaht sah, die sich um die ganze Kassette zog. Dann schoben wir zwei Brechstangen in den Spalt und drückten in entgegengesetzten Richtungen. Kreischend sprang der Deckel auf, und wir fielen alle zu Boden. Und verstummten.
Die Stahlkassette war zu drei Vierteln voll, und zwar mit Dollarscheinen. Ich streckte die Hand aus - sie war abgeschürft, blutete und zitterte - und griff nach einem der kleinen Bündel, die jeweils von einer Banderole umgeben waren. Es waren lauter Hundert-Dollar-Scheine.
»Wieviel ist es, Bhai?« fragte Nikhil.
»Sehr viel.«
Nun trieb ich die Jungs zur Eile an. Wir nahmen die Kassette mit, machten die Falltür zu, gingen zum Haus zurück. Ich sorgte dafür, daß sich alle unter der Pumpe wuschen, bevor wir ins Auto stiegen. Wir würden am frühen Morgen in der Nähe der Grenze unterwegs sein, und ich wollte keine Schießerei wegen eines blutigen Hemdes riskieren, falls man uns anhalten würde. Was Chandars Hand betraf, die mittlerweile zu einem Fußball angeschwollen war, konnten wir nicht viel unternehmen. Er hatte jetzt auch noch Fieber bekommen. Wir hüllten ihn in eine Decke, und er legte sich auf die Rückbank. Wir waren startklar. Jedenfalls fast. Eins blieb noch zu tun, wir wußten es alle. Jatti sprach es schließlich aus.
»Was ist mit dem Alten, Bhai?«
Ja, der Alte. Er war senil und halb verrückt, aber er hatte unsere Gesichter gesehen. Im Haus lag eine Leiche, und der Alte würde uns vielleicht damit in Verbindung bringen. Ich hatte den Jungs beigebracht, was in solch einer Situation zu tun war. »Ich übernehme das«, sagte ich und ging wieder hinein, an der schnaufenden Kuh vorbei, durch den Gang -auf das langsame Tropfen des Wassers zu - und in den Innenhof. Ich öffnete eine Tür, und da saß Jagat Narain auf dem Bett, die Hände auf den Oberschenkeln, und guckte mich an. Er erwartete mich.
»Kommen Sie«, sagte ich. »Wir fahren jetzt. Sie können herauskommen.«
Er rührte sich nicht. Ich ging hinein, nahm ihn am Arm, und nun stand er bereitwillig auf. Ich führte ihn hinaus, und als wir über die hohe Schwelle stiegen, flüsterte er: »Wieviel Uhr ist es?«
»Gleich fünf.«
»Morgens oder abends?«
Im Licht der Sterne konnte ich jetzt seine hohe Stirn und seinen dichten weißen Schopf sehen. In seinem gesprungenen Brillenglas spiegelte sich, zweigeteilt, mein Gesicht. »Morgens«, erwiderte ich, plötzlich von zärtlichen Gefühlen für die Hilflosigkeit des Alters übermannt. Er wußte nicht, ob es Tag oder Nacht war, wo er sich befand, wo er hinging. Für ihn war das alles eins. »Schauen Sie, da oben ist der Mond.«
Er hob das Gesicht und tappte mit emporgereckten Armen von mir weg. »Ja«, sagte er und deutete mit beiden Händen nach oben. Ein kleines Stückchen der Mondsichel war zu sehen.
Ich trat einen Schritt zurück, hob die Ghoda, zielte und drückte ab. Einen Moment lang war ich geblendet, dann sah ich den Alten mit ausgebreiteten Armen auf dem Ziegelboden liegen. Ich beugte mich über ihn und schoß ihn noch einmal in den Kopf.
Und dann rannte ich los. Ich weiß nicht, warum, doch ich rannte die ganze Strecke bis zum Auto. Ich sprang hinein und mußte nichts zu Nikhil sagen, er drehte das Lenkrad um, und schon fuhren wir. Doch selbst durch den aufspritzenden Schotter und den plötzlichen Abgasgestank hindurch folgte mir der Geruch nach Mogra, folgte mir bis zum Kanal. Wir rasten durch die Dämmerung und kamen wohlbehalten in Amritsar an. Wir machten nur kurz bei einem Arzt halt, dann teilte ich das Team auf und schickte alle ihres Weges. Dies war das Ende unserer Mission. Zwar hatten wir Guru-ji nicht gefunden, aber dafür etwas anderes, das wertvoll genug war, um beträchtliche Aufmerksamkeit zu erregen. In der Kassette befanden sich genau 984322 Dollar. Die Jungs sprachen von einer Million, aber tatsächlich war es etwas weniger. Nikhil und Jatti fuhren mit dem Zug nach Delhi, Chandar nahm ein Flugzeug nach Bhopal, und ich flog abends mit dem Geld nach Bombay. Am Flughafen erwartete mich ein Auto und in Juhu ein neues sicheres Haus. Wir kämpften uns gerade durch den Verkehr auf der Schnellstraße, da hörte ich mein Handy klingeln, gedämpft, aber deutlich. Es war mein Guru-ji-Handy, mein neuestes mit Verschlüsselungstechnik ausgestattetes Satellitentelefon. Ich schrie den Fahrer an, er solle sofort an den Rand fahren, schlug ihm auf den Hinterkopf, weil er uns zu langsam durch den mehrspurigen Verkehrsstrom manövrierte, und zerrte ihn dann aus dem Wagen, damit er mir den Kofferraum aufmachte. Ich wußte genau, wo das Handy war, im Außenfach meiner Schultertasche, und endlich hatte ich es am Ohr.
»Hallo?«
»Du hast mein Geld gestohlen.«
»Ja.« Es war Guru-ji. Die vertraute Stimme, dieses sonore Dröhnen, das so wohltuend, so beruhigend war. Ja, da war diese typische exakte Artikulation jedes einzelnen Wortes -in diesem Fall besonders des letzten. Endlich, nach meiner ewigen Sucherei, hatte ich Guru-ji gefunden, ich hatte ihn wieder zu mir zurückgeholt. »Wo sind Sie?«
»Warum hast du das Geld gestohlen, Ganesh?«
»Warum sind Sie weggegangen?«
»Ich habe dir doch gesagt, daß wir uns nie mehr wiedersehen würden.«
»Aber nicht, daß Sie verschwinden würden.«
»Ganesh«, seufzte er. »Ganesh. Du hast die grundsätzliche Lehre, die ich dir zu vermitteln versucht habe, immer noch nicht verstanden, nach all den Jahren. Wir sind alle längst füreinander verloren. Sich in Liebe aneinanderzuklammern bedeutet, die Liebe schlechthin zu verraten.«
»Hehre Worte«, sagte ich. »Hehre, hehre Worte.« Da stand ich nun, ich, Ganesh Gaitonde, stand an der Schnellstraße, wo mich Hunderte von Männern und Frauen auf ihrem Weg nach Hause oder zur Arbeit sehen konnten, und stampfte mit den Füßen auf. Scharen schnatternder Schulmädchen in blauen Röcken kamen vorbei und sahen die Tränen, die ich mir aus den Augen wischte, doch das war mir egal. »Ich habe immer wieder versucht, Sie anzurufen, und Sie haben nie reagiert«, sagte ich. »Erst jetzt, wo Sie ein paar Dollar verloren haben, rufen Sie mich an.«
»Es geht nicht um das Geld, Ganesh«, sagte Guru-ji. »Sondern um die Umstände, die mir das bereitet. Ich befinde mich mitten in einem großen Projekt. Ich brauche dieses Bargeld, um gewisse Zahlungen zu leisten. Mir persönlich ist das Geld egal, aber der Rest der Welt will harte Währung.«
»Was ist das für ein Projekt?«
»Ein sehr großes Projekt, Ganesh, soviel kann ich dir sagen.«
»Haben Sie mich in dieses Projekt einbezogen?«
»Jeder ist darin einbezogen.«
»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Antworten Sie. Antworten Sie.« Ich rang um Fassung, sprach leiser. »Sie haben uns radioaktives Material transportieren lassen. Streiten Sie das nicht ab. Meine Männer sind daran gestorben.«
Er seufzte. »Ja, Ganesh. Das stimmt durchaus.«
»Was haben Sie damit vor?« Er schwieg. »Sagen Sie es mir, dann gebe ich Ihnen das Geld zurück.«
»Wirklich, Ganesh? Wirst du es mir wirklich zurückgeben, wenn ich es dir sage?«
»Ja«, sagte ich. »Das werde ich.«
»Ich bezweifle, ob du den Mut dazu haben wirst. Aber warum fragst du überhaupt, Ganesh? Ich glaube, du weißt die Antwort schon.«
Einen Moment lang war ich empört, daß dieser alte Mann meinen Mut in Zweifel zog. Ich hatte so viel für ihn riskiert. Doch ich bremste mich, sagte nichts. Wofür würde ich nicht den Mut haben? Ich drehte mich um und schaute auf die wirren Dächer eines Bastis, das sich unterhalb der erhobenen Straße erstreckte, und auf die zusammengedrängten Gebäude dahinter. Dieser Mann hatte sich ursprünglich an mich gewandt, weil er Waffen wollte. Er bereitete einen Krieg vor. Ich hatte keine Angst vor Gefechten, ich hatte mich mein Leben lang in den Kampf gestürzt. Doch wenn sein Krieg ausbrach, würde es ein gewaltiger sein, der in jedem Winkel Indiens toben würde. Es wird schmerzhaft sein, hatte er mir gesagt, doch hinterher wird es uns besser gehen. Wir werden Frieden finden. Und dann fiel mir ein, wie ich auf dem Dach des von ihm nah der Grenze erbauten Hauses gestanden und endloses Grün gesehen hatte und wie mich, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, eine Ahnung von vollkommener Glückseligkeit überkam - alles war frisch und neu und makellos, ich selbst wieder jung und voller Hoffnung, die Welt neugeboren und unermeßlich. Und ich erinnerte mich an mein Lächeln.
In diesem Moment begriff ich.
Inmitten der lärmenden Lebendigkeit der Stadt hörte ich mich sagen: »Sie wollen einen größeren Krieg.«
»Sehr gut, Ganesh. Einen größeren Krieg als den, auf den wir uns in deinen Augen vorbereitet haben.«
»Haben Sie eine ... eine Bombe gebaut?«
»Stell mir nicht solche Fragen, Ganesh. Die kann ich nicht beantworten. Ich habe dir doch gesagt, du weißt es bereits. Was würde ich mit so einem Ding wohl anstellen?«
»Sie zünden. In irgendeiner Stadt. In Mumbai.«
»Und wen würde man dafür verantwortlich machen?«
»Sie würden dafür sorgen, daß man eine muslimische Organisation dafür verantwortlich macht.«
»Sehr gut. Und dann?«
Dann? Blutvergießen. Mord und Totschlag. Falls es Spannungen an der Grenze gab, vielleicht Vergeltungsmaßnahmen. Möglicherweise würde es selbst ohne Spannungen zu einem Krieg kommen, zu einem echten Krieg, einem Krieg, der Millionen vernichten würde, einem Krieg, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Aber das waren alles bloß "Worte. Ich versuchte es mir vorzustellen, doch es gelang mir nicht. Ich spürte nur ein tiefes Loch in meinem Innern, eine so bodenlose Leere, daß sie ganz Mumbai hätte verschlucken können, das ganze Land, alles.
»Hören Sie«, sagte ich. »Sie sollten das nicht tun.«
»"Warum denn nicht?« fragte er. »Hast du Angst vorm Sterben? Du bist dem Tod so oft so nahe gewesen, daß du dich wohl kaum davor fürchten wirst. Und du weißt, daß du irgendwann sterben mußt, wenn nicht heute, dann morgen. Du hast sehr vielen Menschen ihr Grab geschaufelt, Ganesh, und irgendwann wird dir jemand dein Grab schaufeln. Das hast du mir selbst einmal gesagt.«
»Mein eigener Tod ist mir egal.«
»Aber der Tod von vielen nicht? Der Tod von ein paar tausend oder ein paar Millionen? Warum, Ganesh? Du hast selbst ein paar hundert Menschen umgebracht, mindestens. Was machen da ein paar mehr schon aus?«
Ich hatte darauf keine Antwort. Ich wußte nicht, warum, doch es machte etwas aus. Ich stellte mir vor, wie diese Stadt, dieser wuselnde Ameisenhaufen, von einer Feuersbrunst vernichtet wurde, sich krümmte, schwärzte, in sich zusammenfiel und verschwand. Sie führten ein erbärmliches Leben, diese wimmelnden Millionen. Wenn sie weg waren, nach dem gewaltigen, reinigenden Wind, der nicht nur diese Stadt erfassen würde, sondern auch alle anderen, würde es Raum für einen Neuanfang geben. Aus all den Predigten, die ich gehört hatte, aus Bruchstücken von Unterrichtsstunden und Fetzen von Sanskrit erwuchs mir die sichere Erkenntnis: Das war es, was Guru-ji wollte, die Auslöschung von allem, was ich kannte. Und ich hatte Angst. Ich bekam kein Wort über die Lippen.
Er verstand das. »Du bist schwach, Ganesh«, sagte er. »Trotz all meiner Bemühungen fehlt es dir an Stärke. Du bist selbstherrlich und brutal, doch das ist nur ein dünner Firnis über deiner Schwäche. Darunter bist du so sentimental wie eine Frau. Aber es ist nicht deine Schuld. Es ist die Grundverfassung des Menschen im Kaliyug, Ganesh. Die Vereinten Nationen, all diese verträumten Gutmenschen, die jeden Konflikt so schnell wie möglich beilegen wollen, verstehen nicht, daß manche Kriege geführt werden müssen, daß gemordet werden muß. Sie glauben, sie hätten dem Krieg ein Ende gesetzt, doch in Wirklichkeit sorgen sie nur für einen dauerhaft schwelenden Kriegszustand. Sieh dir Indien und Pakistan an, die einander seit über fünfzig Jahren zusetzen. Anstelle des einen entscheidenden, glorreichen Kampfes haben wir eine ewige, schmutzige Quälerei. Diese wohlmeinenden Idioten lassen sich endlos über den Fortschritt der Menschheit aus, doch sie begreifen nicht, daß Fortschritt nicht ohne Zerstörung möglich ist. Jedem Goldenen Zeitalter geht eine Apokalypse voraus. So ist es immer gewesen, und so wird es wieder sein. Doch wir sind zu feige geworden, um der Zeit ihren Lauf zu lassen. Wir blockieren ihre Räder, hemmen sie durch unsere Angst. Denk mal darüber nach, Ganesh. Seit über fünfzig Jahren vermeiden wir den Krieg an unseren Grenzen und erdulden statt dessen tägliche kleine Demütigungen und tägliches vereinzeltes Blutvergießen. Man hat uns entehrt und herabgewürdigt, und wir haben uns daran gewöhnt, mit dieser Schmach zu leben. Wir sind zu einem ganzen Volk verzagender Arjuns geworden, die vor dem fliehen, was wir als unsere Pflicht erkennen. Doch genug. Jetzt werden wir kämpfen. Diese Schlacht ist unumgänglich.«
»Aber dann wird alles vorbei sein«, sagte ich mit der zitternden Stimme eines Kindes. »Alles.«
»Genauso ist es. Jede große religiöse Tradition prophezeit dieses gewaltige Feuer, Ganesh. Wir wissen alle, daß es kommen wird.«
»Aber warum? Warum?«
»Du hast es mir selbst gesagt, als du deinen Film gedreht hast. Wie hieß er doch gleich?«
»International Dhamaka.«
Er gluckste wieder vor Freude. »Genau, Dhamaka. Damals hast du mir gesagt, jede Geschichte verlange nach einem Höhepunkt, und eine große Geschichte verlange nach einem großen Höhepunkt. Lies die Zeichen, die auf dieser Welt, die Zeichen, die in unserem Leben allüberall zu finden sind, und du wirst erkennen, was nötig ist. Diese Welt verlangt nach einem Ende, Ganesh. Nach einem Abschluß, damit sie wieder neu beginnen kann. Du hast bloß Angst, weil du das Ganze von innen heraus betrachtest. Tritt hinaus, schau noch einmal hin, und du wirst erkennen, daß kein anderes Ende möglich ist.«
»Ich werde Sie aufhalten.«
»Wie denn, Ganesh? Ich habe von dir gelernt, wie man Sicherheitsvorkehrungen trifft. Und du warst ein guter Lehrer. Du hast mich einmal gefunden, vor langer Zeit, weil meine Leute nicht aufgepaßt haben. Aber du wirst mich kein zweites Mal finden. Auch nach monatelangem Suchen hast du mich nicht gefunden. Du kannst nichts machen. Niemand kann etwas machen. Die Zeit wird ihren Lauf nehmen. Das Unvermeidliche wird geschehen. Du hast mein Geld gestohlen, doch damit hast du nur verzögert, was in jedem Fall geschehen wird. Das ist alles.«
»Was wollen Sie also von mir?«
»Kämpf nicht gegen mich. Stell dich nicht gegen die Mechanismen der Geschichte. Gib mir mein Geld zurück.«
»Nein. Ich will an dieser Sache nicht beteiligt sein.«
»Du bist längst daran beteiligt, Ganesh. Du hast das Ganze erst möglich gemacht, du hast einen Teil der Vorbereitungen selbst durchgeführt, und was immer du jetzt auch tust, du wirst dazu beitragen, daß es passiert. Ob du handelst oder nicht, der Krieg wird kommen, das Blut wird fließen. Du kannst den Gang der Dinge nicht aufhalten. Du kannst dich selbst nicht aufhalten, Ganesh.«
»Ich werde es ... ich werde es der Polizei melden.«
»Und du meinst, die werden dir glauben? Einem Gangster, der sie hundertmal angelogen, der tausend Männer umgebracht hat?«
»Ich werde noch mehr von Ihren Sadhus umbringen.«
»Irgendwann müssen sie ohnehin alle sterben. Was machen da schon ein paar Tage aus?«
Ich hatte nichts, womit ich ihm drohen konnte.
»Was machen überhaupt ein paar Tage aus, Ganesh?« fragte er. »Je schneller diesem Schmutz, in dem wir leben, ein Ende bereitet wird, desto besser. Denk an die Zukunft, Ganesh. Die Zukunft. An das, was danach kommt.«
Dann klickte es, und er war weg.
Die Autos rasten an mir vorbei, zogen ihre blutroten Lichtspuren durch die Dämmerung. Mir wurde schwindelig. Und in diesem Moment dachte ich nicht mehr an meine Jungs, an Millionen anderer Menschen, an das Land oder die ganze Welt. Ich dachte nur an mich. Dieses schwache metallische Knacken in meinem Ohr fuhr mir durch den Magen und ließ mich allein zurück. Ich wußte, daß er nicht wiederkommen würde. Ich würde ihn nicht finden, und er würde nicht mehr anrufen. Ich war allein. Ich war wieder Ganesh Gaitonde, der mit einem Messer unterm Hemd allein in die unbekannte Welt hinauszog. Galle stieg mir in den Mund. Ich drehte den Kopf zur Seite, spuckte aus, und eine bräunliche Flüssigkeit rann das weiße Mäuerchen hinab, das parallel zur Straße verlief. Während ich zusah, spürte ich, wie abermals etwas in mir zerbrach, wie sich in meinem Innern ein endloser, scharfkantiger Abgrund auftat, in den ich hinunterstürzte. Ich war allein. Auf der anderen Straßenseite stieg Rauch von einem Müllhaufen auf. Ein heftiges Zittern erfaßte mich, ich bebte an Armen und Beinen und Schultern. Der Fahrer vermied es sorgfältig, mich anzusehen, und wir fuhren weiter. Ich lag auf dem Rücksitz und hielt mich selbst umschlungen.
Das neue sichere Haus in Juhu war ein Apartment im oberen Geschoß eines zweistöckigen Bungalows mit Blick auf den Strand. Bunty hatte das Gebäude durchchecken und sichern lassen und ein Wachteam dort postiert. Die Jungs veranstalteten eine kleine Führung mit mir, zeigten mir die beiden Hinterausgänge mit jeweils eigener, ebenfalls bewachter Treppe. Ich ging nach oben, machte zwei Türen hinter mir zu und ließ mich aufs Bett fallen. Du bist völlig erschöpft, sagte ich mir. Das wochenlange Reisen, die Anspannung dieser Jagd, immer wieder anderes Essen, anderes Wasser. Du mußt dich ausruhen. Doch ich zitterte nach wie vor, war von einer wilden Energie erfüllt, die unter meiner Haut tobte, sie jucken und zucken ließ. Und dann war da wieder dieser Geruch, diesmal nicht nur nach Mogra, sondern noch nach etwas anderem, etwas Schwelendem, einer Masse verkohlenden Fleisches. Irgendein Idiot hatte wohl am Strand eine tote Ratte oder so was in ein Lagerfeuer geworfen. Ich würde die Jungs losschicken, die würden sich diesen Maderchod schon vorknöpfen. Ich wankte ans Fenster. Nein, kein Feuer weit und breit, nur die Wellen, die gleichmäßig auf den Sand trommelten. Aber diese Fenster. Die Wand zum Meer hin war komplett verglast, vom Boden bis zur Decke. Und an der gegenüberliegenden Wand gingen weitere Fenster auf ein Gebäude auf der anderen Straßenseite hinaus. Das sollte ein sicheres Haus sein? Von dem Dach gegenüber konnten mich Suleiman Isa und seine gesamte Company beobachten. Und die Polizei konnte ein ganzes Bataillon von Heckenschützen auf dem Strand postieren, die mich einen Kopf kürzer machen würden. Ich rief meine Jungs im unteren Stockwerk an. Ihr Mistkerle, kommt hoch und verschließt diese Fenster.
Ich ließ sie die Fenster verriegeln und die Vorhänge zuziehen - der Geruch nach Blumen und brennendem Fleisch blieb. Ich rief abermals nach den Jungs, ließ sie Isolierband mitbringen und die Fensterritzen abkleben. Sie waren verblüfft, und einige von ihnen konnten trotz des jahrelang vor mir empfundenen Respekts und trotz der Angst, die sie vor mir hatten, ihre Skepsis und Belustigung nicht verbergen. Dessen ungeachtet, befahl ich ihnen, am Strand nach Lagerfeuern Ausschau zu halten und auch auf den Grundstücken der Gebäude ringsum nachzusehen. »Wenn ihr ein Feuer findet«, sagte ich, »tretet es aus.« Sie nickten: »Ja, Bhai, ja, Bhai«, und dann schlurften sie hinaus. Ich machte die Tür zu und klebte jeden Spalt und selbst das Schlüsselloch mit dem breiten schwarzen Band ab. Dann zog ich einen Sessel genau in die Mitte des Zimmers und setzte mich, die Hände an den Knöcheln. Keine Frage, der Geruch war immer noch da. Warte noch etwas, sagte ich mir, die Kontamination dieses Raums wird nachlassen, und dann bist du von dem Geruch erlöst. Die Minuten schleppten sich zäh dahin, und ich atmete langsam ein und aus. Ich schloß die Augen, konzentrierte mich auf mein Pranayama. Ich wollte Ruhe, nichts als ein wenig Frieden. Doch Licht drängte gegen meine Augenlider, ein aufgellendes Karottenorange vor einem helleren safrangelben Hintergrund. Es war dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren dick und golden, eine Art Brokat. Wo kam dieses Licht her? Mir wurde plötzlich bewußt, wie fragil dieses Gebäude war, wie zerbrechlich das Fensterglas. Ich hätte mich genausogut im Schneidersitz auf meinen eigenen Scheiterhaufen setzen und darauf warten können, daß mich meine Feinde oder irgendeine Katastrophe, die sich vom Horizont heranwälzen mochte, in den Tod beförderten. Ich mußte mich schützen.
Bunty hatte sein Handy ausgeschaltet. Ich rief ihn in den folgenden zwei Stunden bestimmt dreißigmal an, immer wieder säuselte mir nur diese bhenchod Stimme mit dem ausländischen Akzent ins Ohr. Irgendwann rief er schließlich voller Panik zurück. »Sorry, Bhai, sorry. Ich hatte es bloß auf Vibrieren gestellt, und es lag unter ein paar Klamotten. Sorry, tut mir wirklich leid.«
Die Beine dieses Mistkerls versahen ihren Dienst nicht mehr, ein anderes Teil schien jedoch noch einigermaßen funktionstüchtig zu sein. Wie sich herausstellte, war er mit einer Sechzehnjährigen zusammen gewesen und hatte sich so konzentrieren müssen, daß er darüber seine Arbeit und seine Verpflichtungen völlig vergessen hatte. Ich hielt ihm einen langen Vortrag, was für ein gedankenloser Chutiya er doch geworden sei, und sagte ihm, was ich von ihm wollte. Woraufhin er noch kriecherischer und unterwürfiger wurde. Er gestand, daß er die Schlüssel zu meinem Bunker, den ich für Jojo in Kailashpada hatte bauen lassen, nicht mehr hatte. Er erzählte mir eine lange Geschichte, der zufolge die Bauarbeiter die Schlüssel benötigt hätten, um die elektrischen Leitungen fertig zu verlegen, und sie dann an einen gewissen Soundso weitergegeben hätten und dies und das und jenes. Ich schnitt ihm das Wort ab und sagte, ich wolle am nächsten Morgen um neun in meinem Bunker sein, und wenn das nicht klappe, werde er außer seinen Beinen noch etwas anderes verlieren.
»Aber Bhai«, wandte er ein. »Wollen Sie denn nicht nach Hause?«
»Nach Hause? Wo soll das sein?«
»In Thailand, Bhai. Auf Ihrer Yacht. Jetzt, wo die Mission abgeschlossen ist.«
Ich sagte ihm, er solle sich gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern, und legte auf. Sollte ich wieder aufs Wasser? Weit weg, in die Sicherheit? Aber wo gab es schon Sicherheit? Klar, ich konnte natürlich nach Neuseeland fahren oder auf irgendeine noch fernere Felseninsel. Aber wenn das große Feuer kam, wenn Guru-jis gewaltige Zerstörungswelle erst einmal übers Land rollte, was würde dann noch bleiben?
Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, lief im Kreis, ballte die Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder, versuchte den Krampf in meinen Schultern zu lösen. Wo würde man zu Hause sein, wenn man kein Zuhause mehr hatte? Konnte man fern der Heimat eine Heimat finden, wenn es keine Heimat mehr gab? Wonach würde man sich sehnen, wovon würde man träumen, wenn man in den Schlaf sank? Was würde man antworten, wenn jemand einen fragte: Wo kommen Sie her? Nein, ich konnte nicht weggehen, ich konnte nirgendwohin. Ich würde hierbleiben, in der Nähe des Schlachtfelds, ja auf dem Schlachtfeld, und ich würde Guru-ji Einhalt gebieten. Er war davon überzeugt, daß mir das nicht gelingen würde - »Du kannst den Gang der Dinge nicht aufhalten« -, aber ich war Ganesh Gaitonde. Er mochte in der Zeit vor-und zurückschauen können, aber ich war dem Schicksal schon oft entronnen. Ich hatte über das, was geschrieben stand, triumphiert, hatte seinen Kurs geändert. Ich hatte überlebt. Ich würde wieder überleben. Ich würde meine Heimat retten. Und um das tun zu können, mußte ich mich in vollkommener Sicherheit befinden.
Bunty kam dem Ablauf seiner Frist um drei Stunden zuvor. Er rief mich um sechs an und ließ mich um halb sieben abholen. Ich hatte kein Auge zugetan, doch ich fühlte mich munter und stark, als wir durch die erwachende Stadt fuhren. Ich sah zu, wie sich ein Rikschafahrer von seiner Rückbank hochrappelte, wie eine Mutter ihren stolpernden Sohn zu einer öffentlichen Toilette trieb. Ein paar ältere Menschen gingen in einem Park spazieren, flott die Arme schwingend. Die ersten Sonnenstrahlen erleuchteten die Baumwipfel. Auf irgendeinem Radiosender lief ein Bhajan, und während wir eine lange Reihe von Kholis passierten, hörten wir immer wieder Fetzen davon.
Dann bogen wir nach links ab und hielten auf einen Marktplatz zu. Die meisten Geschäfte waren noch geschlossen. Nur ein gähnender Seth und sein Lehrjunge mühten sich mit einem Fensterladen ab und beachteten uns nicht, als wir neben dem weißen Würfel parkten, der mitten auf einem ansonsten leeren Grundstück stand. Ich ließ die Hand über die perfekte weiße Mauer gleiten, während wir zur Tür gingen, und fühlte mich gleich besser. Die technischen Daten kamen mir in den Sinn, die exakte Dicke der verstärkten Mauern, der Preis des Zements, den wir verwendet hatten. Einer von Buntys Jungs fuhrwerkte ewig mit dem Schlüssel herum, bis ich ärgerlich wurde und ihn zur Seite schob. Es war ein computergefertigter Schlüssel mit kleinen Vertiefungen auf beiden Seiten, den man, wenn man ihn halb ins Schloß geschoben hatte, ein wenig nach links drehen mußte, bevor man ihn ganz hineinsteckte. Das Schloß gab butterweich nach.
»Okay«, meinte ich dann. »Sagt Bunty, daß ich ihn anrufen werde.«
»Wenn Sie noch irgendwas brauchen, Bhai ...«
Ich schob die schwere Tür zu - ich mußte mich mit der Schulter dagegenstemmen -, und plötzlich stand ich in willkommener absoluter Dunkelheit. Unter meinen Füßen hörte ich das leise Summen einer technischen Anlage, das Krächzen der Krähen draußen hingegen war verstummt, wie abgeschnitten. Aus den Bauplänen wußte ich, wo der Lichtschalter war, zu meiner Rechten an der Wand, doch ich wollte ihn noch nicht betätigen. Für den Moment war ich es zufrieden, von dieser Sicherheit umfangen zu sein, zu wissen, daß mich hier nichts belangen konnte. Meine Gedanken kamen zur Ruhe, ich stand einfach da.
Jäh schrak ich aus meiner Träumerei auf. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, eine Minute oder eine halbe Stunde. Richtig geschlafen hatte ich nicht, aber irgendwie doch geruht. Ich setzte mich in Bewegung, schaltete das Licht an und öffnete die metallene Falltür mitten im Raum. Eine kurze Leiter führte in den Kontrollraum hinunter. Alles war so, wie ich es geplant hatte, die diversen Monitore und die Computer, die Radios und die Gasmasken. Die Techniker und Bauarbeiter hatten die Anweisungen genau befolgt, bis hin zu dem Vorrat an Trockenobst und versiegelten Wasserflaschen. Es gab einen kleinen Fitneßbereich und ein Regal voller DVDs mit alten Dev-Anand- und Dilip-Kumar-Filmen. Ein Stahlschrank enthielt ein ganzes Waffenarsenal, AK-56 und Glocks. Hier ließ es sich leben.
Und so lebte ich denn auch zwei Wochen dort, in meinem unterirdischen Heim. Ich kommunizierte mit Bunty und den Jungs, nahm morgens und abends Nikhils Anrufe aus Thailand entgegen und tätigte Geschäfte mit Brüssel und New York. Die Jungs brachten mir meine Unterlagen, und alle wichtigen eingehenden Dokumente wurden an mich weitergeleitet. Alles war wie früher, mit dem kleinen Unterschied, daß ich nicht in fremden Gewässern unterwegs war oder von einer ausländischen Stadt in die andere flog. Ich tat meine Arbeit, sicher aufgehoben im Bauch von Mumbai. Nicht, daß es mich leichtsinnig gemacht hätte, wieder zu Hause zu sein. Ich hielt an meinen Sicherheitsvorkehrungen fest und trug immer ein bequemes Schulterhalfter aus Nylon mit einer entsicherten Glock .34. Ich befand mich mitten im Kampfgebiet und schützte mich entsprechend.
Aber ich konnte nicht schlafen. Ich legte mich ins Bett oder auf den Boden oder auf eine spezielle, anatomisch angepaßte Matratze, die Buntys Jungs mir besorgt hatten, doch ich tat kein Auge zu. Ich schluckte ganze Hände voll Calmpose und Mandrax, und man flog sogar ein Fläschchen Ambien aus New York für mich ein. Doch nicht einmal die amerikanischen Pillen beförderten mich in die Bewußtlosigkeit. Ich erreichte nur einen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, eine Art vorübergehender Lähmung, bei der mein Körper schwer und unbeweglich war, mein Geist jedoch wach. Durch meine halbgeschlossenen Augen sah ich Feuertropfen die Wände hinaufkriechen. Ich wußte, daß es nicht brannte, daß die vermeintlichen Funken tatsächlich Lichtreflexe von den Computerbildschirmen und den kleinen roten Lämpchen an den Diskettenlaufwerken waren, doch selbst nachdem die Wirkung der Chemie nachgelassen hatte, roch ich - ja: Mogra und verkohltes Fleisch. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß die Luftaustauschanlage die Gerüche der Stadt nicht völlig tilgen konnte. Schließlich erzeugten die Kohlefilter keine neue Luft, sie konnten nicht entfernen, was die Luft zuinnerst erfüllte. Was ich da roch, war die Luftverschmutzung der Millionen über mir, es waren die Ausdünstungen ihres Lebens. Da gab es kein Entrinnen, es konnte keines geben, und ich lernte, mich daran zu gewöhnen. Es war nur ein kleines Stechen in meiner Kehle, ein leichtes Brennen in den Augen. Ich war Ganesh Gaitonde, ich hatte schlimmere Schmerzen ertragen.
An die Sorgen hingegen gewöhnte ich mich nicht. Da ich Tag und Nacht wach war, hatte ich mehr als genug Zeit, herumzusitzen und nachzudenken. Wenn ich das Geschäftliche erledigt, meine Listen abgearbeitet und die Konten überprüft hatte, saß ich noch lange in meinem Drehstuhl vor den Computern und Bildschirmen und grübelte. Ich forderte meinem Gedächtnis jedes noch so geringe Detail unserer Suche nach diesem Mistkerl ab, der sich einen Guru schimpfte, ich ging gewissenhaft die Aktenordner und Papiere durch, die wir aus seinen Ashrams mitgenommen hatten, ich versuchte mir jeden einzelnen Satz, den er während unseres letzten Gesprächs gesagt hatte, Wort für Wort in Erinnerung zu rufen. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, den ich bisher übersehen hatte, eine Öffnung, durch die ich mich zwängen konnte. Ich wendete unsere gemeinsame Geschichte hin und her, ging sie endlos von vorne bis hinten durch, gab mich schließlich geschlagen. Und dann machte ich mir Sorgen. Ich versuchte mich mit mehreren parallel laufenden Fernsehsendern abzulenken, Nachrichten, einem Film und Musik, allem zugleich, doch meine Sorgen stiegen aus den Landkarten hinter den Nachrichtensprechern auf, aus dem Tanz der Filmstars, aus dem Frieden in Latas Stimme.
»Worüber machst du dir denn nun schon wieder Sorgen, Gaitonde?« fragte Jojo. Sie glaubte mir endlich, daß ich im Ausland war, weil ich sie aus dieser Stille anrief. Und wie immer spürte sie gleich bei meinem ersten Wort, merkte es schon vorher an meinem Schweigen, in welcher Stimmung ich war.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte ich. Es stimmte. Ich würde in meinem Bunker überleben, wenn der Krieg losbrach. Aber wenn Jojo zu diesem Zeitpunkt da draußen war, würde ich sie verlieren. Ich war in meiner Jugend auf mich selbst gestellt gewesen, bitterarm, unwissend und allein, doch diese Einsamkeit hatte leicht auf meinen Schultern geruht, wie der fesche, flatternde Umhang eines schneidigen Helden. Das Drehbuch meines Lebens hatte mich in einer bogenförmig ansteigenden Bewegung stetig nach oben geführt, und ich hatte Geliebte, Yaars und Feinde gleichermaßen ohne Bedauern hinter mir gelassen. Es war notwendig gewesen. Es war ein integraler Bestandteil meines Charakters, ohne den ich niemals Ganesh Gaitonde hätte werden können. Aber jetzt war Jojo in mir, und ohne sie würde ich zerbrechen. »Ich mache mir nur Sorgen um dich, Jojo«, sagte ich ihr. »Obwohl du so eine Kutiya bist. Ich weiß wirklich nicht, warum.«
»Du bist senil geworden«, sagte sie. »Wenn du nicht weißt, warum du dir Sorgen machst, wieso machst du dir dann Sorgen?«
»Nein, nein. Ich weiß schon, warum ich mir Sorgen mache. Ich weiß nur nicht, warum ich mir gerade um dich Sorgen mache. Wo du doch so ein ungehobeltes, schamloses, übellauniges Biest bist.«
Sie brach in ihr schallendes Gelächter aus. »Are, Gaitonde, nach all den Jahren weißt du das immer noch nicht? Wirklich nicht? Okay, okay, schon gut. Lassen wir das. Aber sag mir, was für eine Sorge das ist.«
»Du solltest an einem sichereren Ort leben.«
Woraufhin sie, wie immer, vollkommen irrational wurde. Sie beschimpfte mich lautstark und sagte, ich solle mal meinen Kopf untersuchen lasen oder meine Golis oder beides. Ihr Leben sei prima, die Geschäfte liefen gut, und sie fürchte sich vor gar nichts. Ich solle endlich von diesem verdammten Gleis runterkommen, sonst schiebe sie es mir höchstpersönlich in den Gaand.
Ich dagegen blieb völlig rational. Ich wies sie auf die steigende Kriminalitätsrate in der Stadt hin, auf die beunruhigende Anzahl von Raubüberfällen und die Vergewaltigungen, ebenso aber auf das aggressive Auftreten von Regierungen und militanten Gruppen, das Bombenexplosionen in Restaurants nach sich zog, und auf deren mögliche Auswirkungen hinsichtlich der Lage an der Grenze. Daraufhin flüsterte sie zornig: »Ich wünschte, die würden eine ihrer Bomben in deinem Hirn explodiere lassen«, und legte auf.
Seit ich im Bunker wohnte, schienen unsere Unterhaltungen häufiger denn je auf diese Weise zu enden. Wir diskutierten über die Mädchen, die Jojo vertrat, über die Fernsehshows, die sie produzierte, oder über die Entwicklung des Geschäftsklimas, doch irgendwann brachte ich das Gespräch jedesmal auf das Wesen dieser Welt, in der wir lebten, und auf die tödlichen Gefahren, denen wir bald ausgesetzt sein würden. Dann stöhnte oder fluchte oder brüllte sie und legte auf. Und ich machte mir wieder Sorgen.
Ich begann über Alternativen für Jojo nachzudenken. Ich konnte ihr einen Bunker schenken, der aussah wie ein Haus, und sie so in die Sicherheit locken. Doch wie sollte ich sicherstellen, daß sie die Türen immer schloß, und wie sie davon abhalten, nach den Fenstern zu fragen? Nein, nein. Ich zappte etwas herum und sah eine Reklame für einen Urlaub in einem exotischen Land. Ein glückliches Paar spazierte einen Strand entlang. Ich konnte sie in die Ferne schicken, ihr ein First-Class-Flugticket zu irgendeiner Südsee-Insel schenken. Ja, genau. Zu irgendeinem Ferienort mit Scharen von muskelbepackten Beachboys und jeder Menge Luxusboutiquen. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie gerade ein Paar Stöckelschuhe kaufte. Sie trug einen kurzen roten Rock, und ihre Beine waren jung und muskulös. Hinter ihr standen zahlreiche Einkaufstüten, und sie war glücklich. Neben ihr lag eine kleine schwarze Handtasche aus sehr weichem Leder. Und in dieser Handtasche steckten zwei Handys, eins für ihr normales Leben und ein rotes mit Verschlüsselungstechnik: ihre Verbindung mit mir. Sie war zufrieden und in Sicherheit, und das war eine beglückende Vorstellung für mich. Selbst wenn etwas passierte, selbst wenn sich das Feuer hinter dem Horizont erhob, würde ihr nichts geschehen.
Allerdings ... wenn etwas passierte, eben das passierte, dann würden die Handys nicht mehr funktionieren. Es würde keine Flüge, vielleicht nicht mal mehr Flugzeuge geben. Die Systeme, die Flugzeuge und Handys unterstützten, würden zusammenbrechen. Ich kannte mich inzwischen aus, wußte aus all den Filmen und Fernsehsendungen, die ich gesehen hatte, daß mit einem solchen Totalzusammenbruch zu rechnen war. Selbst die Maschinen, die an sich noch funktionierten, würden aufgrund mangelnden Energienachschubs nicht mehr laufen. Deswegen hatten wir für den Bunker drei Notstromaggregate aus Generatoren mit Batterien installiert, hatten die Verbindungen zum Stromnetz verstärkt und Sonnenkollektoren bereitgestellt. Jojo würde also auf ihrer Insel sitzen und ich in meinen unterirdischen Räumen. Und zwischen uns würden gewaltige Ozeane liegen, von der erbarmungslosen Sonne bestrahlt. In all unseren gemeinsamen Jahren hatte mir die Entfernung zwischen uns nie etwas ausgemacht, denn ich wußte, selbst wenn ich eine Straße in Belgien entlangspazierte oder über eine arabische Wüste flog, Jojo war bei mir. Sie war dicht an meinen Oberschenkel geschmiegt, nur einen Tastendruck entfernt. Ich konnte sie jetzt wegschicken, doch wie würde ich sie wieder zurückholen? Ich schritt im Kontrollraum auf und ab, von einem Ende zum anderen, und machte mir bewußt, welche Anstrengung es kostete, einen Kilometer zu gehen. Jahrelang hatten mir Entfernungen überhaupt nichts bedeutet, und ich hatte nur in zeitlichen Kategorien gedacht. Ich hatte Städte nach der Zahl der zwischen ihnen liegenden Flugstunden verortet, hatte gelernt, das Datum um einen Tag zurückzusetzen oder eine halbe Nacht zur Morgenstunde zu addieren. Jetzt sah ich auf dem Boden unter meinen Füßen die Breiten- und Längengrade verlaufen, sah, wie sie sich jenseits der Mauern hinzogen, sah die entsetzliche Krümmung der Erde und die steinige Leere, die zwischen Jojo und mir klaffte. Wir waren so klein, und diese Welt war so riesig. Und ohne Jojos Stimme im Ohr war ich noch kleiner.
Ich mußte sie herholen. Genau. Sie würde Widerstand leisten, würde zunächst verärgert sein, aber schließlich würde sie mich verstehen. Ich würde ihr das ganze Ausmaß unseres Problems darlegen, ihr die Gefahr begreiflich machen, die Beweise zeigen, und sie würde mich verstehen. Wir hatten immer miteinander reden können, von Anfang an. Sie war ein sturer alter Drache, aber sie war auch vernünftig. Ihr lag daran, ihre eigenen Interessen zu wahren, und ich würde ihr zeigen, daß sie unmöglich da draußen bleiben konnte. Sie würde mir zustimmen.
Ich griff nach einem Handy, rief Bunty an und erteilte ihm meine Anweisungen. »Schafft sie her«, sagte ich.
Sie würde verängstigt und wütend sein, wenn sie sie herbrachten, aber ich hatte keine Wahl. Wenn ich sie eingeladen hätte, sich mit mir zu treffen, hätte sie abgelehnt, wie sehr ich sie auch angefleht hätte. Also taten die Jungs, was sie tun mußten: Sie warteten vor Jojos Haus, bis sie um halb elf schließlich aus der Garage gefahren kam, allein in ihrem blauen Toyota. Sie folgten ihr die Yari Road entlang und dann nach Norden, Richtung Goregaon. Sie waren in zwei Pkws und einem Transporter unterwegs und brauchten nicht mehr als zehn Minuten, um sie einzukeilen. Dann bremste der vordere Wagen scharf ab, der Transporter knallte von hinten gegen ihre Stoßstange und schob sie zu einem sanften dreifachen Auffahrunfall vor. Alle fuhren langsam, es bestand keine Verletzungsgefahr, doch Jojo sprang aus dem Auto und fluchte, was das Zeug hielt. Sie war so wütend auf das Mädchen, das den Transporter gefahren hatte, daß sie weder die drei Männer bemerkte, die aus dem vorderen Auto ausstiegen, noch die beiden anderen in dem Auto neben ihrem. Ich hatte angeordnet, daß Jojo nicht geschlagen werden sollte, und ich war mir nicht sicher, ob der Anblick einer Ghoda, selbst wenn sie ihr an den Kopf gesetzt würde, sie davon abhalten würde, sich zu wehren und herumzuschreien. Deshalb benutzten die Jungs eine Omega-Elektroschockpistole. Während Jojo das Mädchen anschnauzte, drückte ihr einer der Jungs diese Pistole in die Hüfte, knapp über dem Gürtel, und verpaßte ihr einen halb-minütigen Stromstoß. Ein knisterndes Geräusch ertönte, Jojo stieß einen kleinen Schrei aus, der in ein Wimmern überging, und fiel dann zu Boden. Eine Elektroschockpistole zu verwenden ist riskant - manche Leute, die man ihren heftigen Schlangenbiß spüren läßt, werden dadurch nur wütender und brechen einem den Schädel. Ich hatte befürchtet, Jojo würde den Jungs in die Golis treten, aber sie brach zuckend zusammen, verdrehte die Augen und war volle zehn Minuten weggetreten. Als sie wieder zu sich kam, lag sie mit locker gefesselten Händen und Füßen im Transporter, zu groggy, um irgend etwas anderes zu tun, als auf den Sitz zu sabbern. Die anderen Wagen - einschließlich Jojos Toyota - folgten, und diese kleine Prozession brachte sie dann zu mir.
Ich nahm sie an der Tür in Empfang, durch den Transporter vor den Blicken der Ladenbesitzer geschützt, schloß die Tür und trug sie die Treppe hinunter. Ich legte sie aufs Bett, schob ihr ein weiches Kissen unter den Kopf und brachte ihr ein Glas kaltes Wasser. Ich hielt ihr das Glas an die Lippen und wischte ihr den Speichel von Hals und Kinn. Sie murmelte etwas mit belegter Stimme und ziemlich feuchter Aussprache. Ihr Mund war schlaff, ich merkte, daß sie ihn nicht unter Kontrolle hatte, doch ihr Blick war jetzt konzentriert und sehr lebendig. Sie sah mich an und ließ dann die Augen nach rechts und links wandern, um den Raum zu erfassen.
»Entspann dich, Jojo«, sagte ich. »In ein paar Minuten ist alles okay. Hier, trink ein bißchen Wasser.«
Aber sie biß die Zähne aufeinander und starrte mich mit einem bösen, so schneidenden Blick an, daß sie mir damit glatt den Kopf hätte absäbeln können. Sie versuchte etwas zu sagen, doch es kam wieder nur ein speicheltropfendes Lallen. Ich säuberte sie abermals, und dann lehnte ich mich zurück und betrachtete sie. Sie war dünner, als ich sie von den Fotos in Erinnerung hatte, und um den Mund herum etwas verkniffen. Auf den Bildern hatte sie einen üppigen roten Mund, und genauso hatte ich sie mir in all den vergangenen Jahren immer vorgestellt, Tag für Tag. Aber das war schon okay. Für sie war es noch früh am Morgen, sie war gerade aufgestanden und auf dem Weg ins Fitneßstudio gewesen, hatte keine Zeit gehabt, Lippenstift aufzulegen. Mit Frauen und ihrem Make-up kannte ich mich aus. Jojo wirkte etwas älter, als ich erwartet hatte - von den Falten an ihrem Hals oder der runzligen Haut an ihren Händen hatte ich nichts geahnt. Sie war trotzdem attraktiv, ein knackiges Weib mit dichten, gesträhnten braunen Haaren und schlankem Körper. Da ihr Oberteil über den tiefsitzenden Jeans etwas hochgerutscht war, konnte ich ihren flachen Bauch sehen.
Sie bemerkte meinen Blick und hob den Kopf vom Kissen. Diesmal hielt sie vor jedem Wort inne, um es mit größter Mühe deutlich zu artikulieren. »Wer. Sind. Sie?«
Ich schlug mir aufs Kinn und lachte. »Are, Jojo. Tut mir leid, Yaar. Ich habe dir nie davon erzählt. Ich habe mein Gesicht ändern lassen. Aus Sicherheitsgründen. Ich bin Ganesh. Ganesh Gaitonde. Gaitonde.«
Sie schüttelte den Kopf. »Weiß. Ich. Von. Zo-ya.«
Zoya hatte ihr also von meiner kosmetischen Operation erzählt. Kutiya. Man sollte seine Sicherheit nie einer Frau anvertrauen. Vielleicht hätte ich sie erschießen lassen sollen, nachdem ich ihr den Laufpaß gegeben hatte. Aber sollte diese Randi doch bleiben, wo sie war - vor mir saß Jojo und war nach wie vor verängstigt, mißtrauisch und feindselig. Ich mußte sie davon überzeugen, daß ich ich war, der Ganesh Gaitonde, der jeden Tag mit ihr telefonierte. War meine Stimme denn so anders, wurde sie durch Entfernung und Elektrizität dermaßen verwandelt? Egal. Ich mußte in dieser persönlichen Begegnung für Jojo zu Ganesh Gaitonde werden, auch wenn unsere Gesichter mittlerweile anders aussahen, als wir sie uns während unserer langjährigen Freundschaft vorgestellt hatten. Ich erzählte ihr, wie wir vor so langer Zeit das erste Mal miteinander geredet hatten und wie wir Yaars geworden waren. Ich erzählte ihr von den Mädchen, die sie mir geschickt hatte, und unserem Gewitzel danach. Ich erzählte ihr von den Jungfrauen, die ich genommen, und dem Geld, das ich für ihre Unberührtheit gezahlt hatte. Ich erzählte Jojo von den Projekten, die ich für sie finanziert, und den Problemen, die ich mit ihr besprochen hatte. Ich erzählte ihr, wie sie mich immer beschimpfte und daß sie mich Gaitonde nannte.
Als ich mit meinem kleinen Rückblick fertig war, hatte sie sich auf dem Bett aufgesetzt, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen. Sie wußte, wer ich war. Doch ich hatte keinerlei Vorstellung davon, ob sie neugierig oder wütend, ängstlich oder verwirrt war. Ich konnte sie nicht lesen. Ich kannte ihre Stimme, ihren Körper jedoch nicht. Sie mußte etwas sagen, damit ich erkannte, wie es ihr ging. Ich wartete.
Sie öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu. Sie prüfte ihre Zunge und formte ihre Lippen und kam zu dem Schluß, daß alles wieder in Ordnung war. »Was ist mit dir passiert, Gaitonde?«
Ich hatte mit ein paar Verwünschungen und der verärgerten Frage gerechnet, warum ich sie hatte betäuben und ohne ihr Einverständnis in meinen Bunker bringen lassen. Ich hatte meine Erklärung parat, und jetzt quoll sie regelrecht aus mir heraus, ich erzählte Jojo von Yagnas und Bomben, von Dollars und Sadhus, vom Feuer und vom Ende eines Yugas. Während ich sprach, stand sie auf und ging zögernd im Zimmer herum. Sie war immer noch etwas wackelig auf den Beinen und mußte sich an der Wand abstützen. Aber sie war sehr aufmerksam und inspizierte den Raum: was darin war, wo die Türen waren. Während ich noch vor mich hin brabbelte, überkam mich Stolz auf sie. Sie tat genau das, was ich auch getan hätte. Sie schaute sich den kleinen Fitneßbereich an, machte die Toilettentüren auf. Dann ging sie durch die Tür, die in den Kontrollraum führte. Ich folgte ihr, immer noch redend.
»Wo sind wir?« fragte sie. »Warum trägst du diese Pistole?«
Ich verstand ihre Verwirrung. Vier der Monitore waren an, auf dreien liefen Nachrichtensendungen aus Amerika, Indien und China, und einer war mit dem Internet verbunden. Sie war desorientiert, hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrichen war. Sie dachte womöglich, sie sei in Malaysia oder in Spanien. Wir konnten überall sein.
»Keine Sorge, Jojo«, sagte ich. »Wir sind immer noch in Bombay. Aber wir sind in Sicherheit. Mach dir keine Gedanken.«
Jetzt wandte sie sich mir zu. Sie war kleiner als ich, aber sie stand sehr gerade, zog die Schultern nach hinten und warf mit einer schwungvollen Kopfbewegung das Haar zurück. Als ich diese eine kleine Bewegung sah, begriff ich sofort, warum die Männer bei ihr Schlange standen, um ihr nächster Thoku zu werden. Es war eine ganz nüchterne Feststellung. In meiner aktuellen Verfassung verspürte ich keinerlei körperliches Verlangen, am allerwenigsten nach Jojo. Ich wollte nur, daß sie mit mir redete.
»Gaitonde«, sagte sie, »du bist übergeschnappt.« Sie sprach in demselben Ton zu mir, in dem sie auch ihre Bediensteten tadelte, leise, bestimmt, unerbittlich. »Du mußt zum Arzt und dein Bheja081 untersuchen lassen. Ach was, dafür ist es längst zu spät, am besten weist du dich einfach selbst in die Irrenanstalt ein. Sag den Schwestern, sie sollen dir Hände und Füße fesseln, damit du niemanden belästigst ...«
»Jojo, hör mir zu.«
»Nein, hör du mir zu. Wofür hältst du dich eigentlich? Du meinst wohl, du bist der große King und kannst einfach so Leute kidnappen, nach Lust und Laune? Mich wie ein Tier zu betäuben und hier runterzuschleifen! Du Dreckskerl, du glaubst wohl, bloß weil alle Welt Angst vor dir hat, kannst du dir alles erlauben. Aber ich habe keine Angst vor dir, Maderchod.«
Sie hatte das Gesicht zu mir emporgereckt und stieß mit den Fingern in Richtung meiner Augen. Sie verfluchte mich noch einmal, und dann traf eine Ladung Spucke meine Wange, gefolgt von einer zweiten.
Ich hätte sie am liebsten geschlagen.
Aber es war Jojo, und ich wollte mich um sie kümmern. Ich trat einen Schritt zurück, hob die Hände, holte tief Luft. »Du bist jetzt aufgebracht, Jojo. Das verstehe ich. Aber ich kann dir alles erklären. Überleg mal - wir sind seit vielen Jahren befreundet. Ich hätte so etwas jederzeit veranlassen können und habe es nie getan. Also hör mir erst mal ruhig zu. Wenn du danach immer noch nicht einverstanden bist, kannst du tun, was du willst.«
Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte mich. Ich merkte, daß sie ihre Lage abwog, mich, den Raum und ihre Möglichkeiten abschätzte. Aber ich konnte nicht erkennen, ob sie klein beigeben oder mir eher eine Ohrfeige verpassen würde. Ich hätte immer per Videokonferenz mit ihr telefonieren sollen, dann hätte ich ihren Hals und ihre zornigen Schultern beobachten können. Ich hatte gemeint, sie zu kennen, aber ich hätte sie gründlicher kennenlernen sollen.
»Okay«, sagte sie. »Aber mach schnell. Ich habe heute viel zu tun.«
Ich ließ sie in einem Sessel im Kontrollraum Platz nehmen und holte ihr ein frisches Glas Wasser. Ich fragte sie, ob ihr kalt sei, und drehte die Klimaanlage herunter. Dann konfrontierte ich sie mit der Realität. Ich erzählte ihr alles, Punkt für Punkt. Ich legte ihr eine Tabelle aus einer alten Ausgabe von India Today vor, in der die zu erwartende Anzahl von Toten und Verletzten nach einer Atombombenexplosion in Mumbai verzeichnet war. Ich zeigte ihr im Internet echte Filmaufnahmen von Explosionen und zitternden Überlebenden. Ich informierte sie über die empfohlenen Sicherheitsvorkehrungen und zeigte ihr Listen der überlebensnotwendigen Materialien.
»Augenblick«, sagte sie. »Augenblick.«
»Was ist?«
»Du willst, daß ich hier unten bleibe? Daß ich in diesem Ding hier lebe?«
Sie war ungläubig, fassungslos und dann verächtlich. Diesmal fiel es mir nicht schwer, die Furchen auf ihrer Stirn zu entziffern, ihre finstere Miene zu interpretieren. Und plötzlich erschien mir diese zerstörungssichere Zuflucht, in die ich truhenweise Geld investiert hatte, ungastlich und eng. »So schlecht ist es hier gar nicht«, sagte ich. »Es ist sogar sehr komfortabel. Die Betten sind hervorragend, und alles ist klimatisiert. Es gibt einen Fitneßraum, man kann Sport treiben. Es gibt gefiltertes Wasser. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind exzellent. Du kannst problemlos von hier unten aus arbeiten.«
»Bis wann?«
»Was?«
»Wie lange willst du hier unten bleiben?«
Ich war überrascht. Die Antwort lag doch auf der Hand. Die Jojo am Telefon war immer klüger gewesen als diese hier, sie hatte nie so viele Erklärungen gebraucht. »Bis es vorbei ist«, sagte ich. »Oder eben nicht.«
Jetzt verschwand Jojo. Sie verschwand hinter diesem unergründlichen Gesicht, und ich hatte keine Ahnung, was sie dachte. Erst als sie sprach, erkannte ich sie wieder. Sie war jetzt freundlich, die sanfte, großherzige Frau, die mit mir über meine Probleme, meinen Streß und die richtige Ernährung sprach. »Gaitonde, willst du dich nicht setzen? Du mußt dich entspannen, sonst kriegst du wieder Hämorrhoiden.«
Sie grinste, und ich dachte, so sieht sie also aus, wenn sie dieses glucksende Lachen lacht. Mir war nicht bewußt gewesen, daß ich stand. »Ja, ja.« Ich setzte mich.
Sie zog einen Stuhl neben meinen und setzte sich im Schneidersitz darauf. Ich mußte lachen, denn sie hatte mir einmal erzählt, daß sie bei förmlichen Treffen mit wichtigen Personen manchmal vergaß, wo sie war, und diese Haltung einnahm, ganz die Dörflerin aus Konkan. Sie nickte und lächelte mich an. Ich fühlte mich sofort besser. Das war die Jojo, die ich kannte. »Okay, Gaitonde«, sagte sie. »Und jetzt sag mir: Bis was vorbei ist?«
»Hast du mir denn nicht zugehört? Diese ganze Geschichte«, antwortete ich. »Wenn ich ihn finde, kann ich ihn aufhalten. Und dann ist es vorbei. Wenn ich ihn nicht finde, macht er weiter. Und dann ist irgendwann alles vorbei.«
»Gut«, sagte sie. »Es gibt also diesen Guru-ji. Und den mußt du finden. Okay. Wie lange wird das dauern?«
»Ich weiß nicht. Es kann jederzeit passieren.«
»Heute, meinst du?«
»Oder morgen.«
»Oder in ein paar Tagen?«
»Vielleicht auch in ein paar Monaten. Aber wenn ich ihn nicht finde, wird irgendwann alles enden. Es ist unumgänglich. Das siehst du doch wohl ein.«
»Aber Gaitonde, ich kann nicht so lange hierbleiben. Ich habe meine Agentur. Die kann ich nicht von hier unten aus führen. Ich muß mich mit Leuten treffen, muß mir Mädchen ansehen. Ich bin ständig unterwegs.«
»Du kannst von hier aus telefonieren. Wir können oben einen Raum als Empfangsraum einrichten. Mit Sofa und Schreibtisch. Kein Problem.«
»Aber ...«, sagte sie. »Aber Gaitonde.«
Sie kämpfte nicht mehr gegen mich an, aber natürlich dachte sie, die Aufgabe, die vor uns lag, sei nicht zu bewältigen. So wie es jeder denken würde, der nicht mein Leben gelebt, ein so tiefgreifendes Verständnis wie ich entwickelt und so viele als Illusionen entlarvte Gewißheiten hinter sich gelassen hatte. Ich kannte die Wahrheit, daß nämlich Sicherheit letztlich nur in der Kabine einer Yacht oder in einem unterirdischen Bau zu haben war. Ich mußte sie langsam an diese Tatsache heranführen. »Jojo«, sagte ich, »versuch es einfach mal für einen Tag.«
»Nur für einen Tag?«
»Für einen Tag und eine Nacht. Morgen kannst du nach Hause gehen, wenn du willst.«
»Versprochen?«
»Du brauchst ein Versprechen? Wenn Ganesh Gaitonde sagt, daß er etwas tun wird, dann hält er sich auch daran. Aber für dich, Jojo, schwöre ich es sogar.«
Ich zeigte ihr den Hometrainer und die Hanteln. Aber sie wollte jetzt nicht mehr trainieren, sie sagte, es sei zu spät, sie müsse ein paar Telefonate führen und Termine wahrnehmen. Also räumte ich ihr einen Schreibtisch frei - schob Zeitungen und Landkarten, Magazine und Börsencharts beiseite - und wies ihr ein eigenes Telefon zu. Während sie ihre Anrufe tätigte, erledigte ich meine Arbeit. Um zwei, zu ihrer bevorzugten Zeit, brachte ich ihr etwas zum Mittagessen. Es war konkanische Küche, die sie liebte, feurigscharfer Fisch mit viel Kokumbutter. Sie pickte in ihrem Essen herum, und ich sah ihr zu. Irgendwie war es schwierig, mit ihr zu reden. Wir hatten schon früher zusammen zu Mittag gegessen, ich auf der Yacht und sie bei sich zu Hause. Damals hatten wir einander in die Ohren geschmatzt und geschlürft und dabei endlos geplaudert. Jojo hatte das unsere Ghasel-Sitzungen221 genannt - sie hatte mir immer den neusten Tratsch über ihre Freunde erzählt, und ich hatte sie mit den jüngsten Dummheiten meiner Jungs zum Lachen gebracht. Es gab keinen Grund, warum dieses entspannte Scherzen, dieses Gelächter nicht wieder möglich sein sollte. Ich hatte neue Eskapaden meiner Jungs auf Lager, wollte ihr von einer Idee für eine Fernsehserie berichten. Doch das Schweigen saß zwischen uns wie ein großer schwarzer Hund. Ich war Ganesh Gaitonde, ich hatte vor nichts Angst, also wischte ich das Unbehagen weg. »Jojo«, sagte ich, »wollen wir uns heute abend einen Film anschauen? Ich kann uns Vorabversionen von den allerneusten Streifen besorgen.«
Sie schob ihren Teller in die Mitte des Tischs. »Wie du willst.«
»Nein«, sagte ich. »Wie du willst - ich will wissen, was du gern willst.«
»Ist mir egal. Ich richte mich nach dir.«
»Aber du wirst doch eine Meinung haben.«
»Ich hab dir doch gesagt, es ist mir egal.«
Sie hatte die Füße wieder auf den Stuhl hochgezogen, und ihr Haar fiel ihr wie ein Vorhang vors Gesicht. Ich drehte ihren Stuhl zu mir, doch ich konnte nur ihre Jeans und ihre einander umkrampfenden Hände sehen. »Are, Baba«, sagte ich sanft. »Es ist dir nicht egal. Es hat noch nie einen Film gegeben, den du nicht schon vor der Veröffentlichung toll oder furchtbar fandest.«
Sie schnauzte mich an. »Maderchod, Gaitonde, ich hab dir doch gesagt, es ist mir scheißegal.« Ihre Wangen waren dunkelrot angelaufen. »Schau dir an, was du willst, Chutiya!«
So redete keiner mit mir. Mich schrie man nicht an. Wieder hätte ich sie am liebsten geschlagen.
Statt dessen stand ich auf, ging hinaus und sagte dabei, ohne sie anzusehen: »Ich ruhe mich ein bißchen aus.«
Ich legte mich aufs Bett, den Arm überm Gesicht. Nebenan hörte ich Jojo durchs Zimmer gehen. Dann ein Klicken, Plastik an Plastik. Rief sie jemanden an? Wen? Meine Feinde? Oder die Polizei? Würde sie ihnen sagen, wo ich war, damit sie hier herauskam? Nein, das würde sie nicht tun. Das konnte sie nicht tun. Bei aller Aufregung, aller Nervosität, die bebend durch ihren Körper lief, das würde sie mir nicht antun. Sie war Jojo, und ich war Ganesh Gaitonde. Wir waren zusammen, wir brauchten einander. Sie ging hin und her. Was machte sie? Holz scharrte über Beton. Verschob sie einen Tisch? Warum? Jetzt war sie still. Wo war sie? Ein dünnes metallenes Quietschen. Ah, sie stieg die Treppe hinauf. Sie wollte raus. Sie würde es versuchen. Na, egal. Ich hatte die stählerne Falltür abgeschlossen. Sie ließ sich nur über eine neunstellige Tastenkombination öffnen oder - bei Stromausfall - indem man eine Klappe öffnete und zwei Räder gleichzeitig drehte. Wahrscheinlich zog sie gerade an dem Griff unten an der Falltür. Sollte sie nur.
»Gaitonde.« Sie stand in der Tür. »Gaitonde, willst du Frauen?«
»Was?«
Sie trat aus dem Schatten. »Ich habe zwei neue hübsche Küken. Direkt aus Delhi.« Ihr Gesicht und ihre Schultern glänzten vor Schweiß. »Die sind besser als alles, was du je hattest, das schwör ich dir. Dagegen wird dir Zoya wie eine drittklassige Randi vorkommen, die hinter dem Bahnhof von Andheri anschaffen geht.«
»Ich will keine Küken.«
»Aber Gaitonde, die kommen sogar hier runter und wohnen bei dir. Beide. Überleg dir das mal. Die eine ist sechzehn, die andere siebzehn, und du kannst sie beide haben. Sie werden gern hier unten sein. Wirklich. Sie werden bei dir bleiben, solange du willst.«
»Ich will sie nicht.«
»Der Sechzehnjährigen werde ich die Haare golden färben lassen. Sie sieht aus wie ein ausländisches Model, Gaitonde, sie hat Haut wie Sahne.«
»Nein.«
Wenn sie versuchte, einen zu irgend etwas zu überreden, senkte sie den Kopf, so daß ihr Haar ihn umschmiegte wie ein dunkler Helm, und schaute durch ihre Wimpern zu einem auf. »Ich will nicht hier sein.«
»Versuch es doch einfach mal bis morgen früh ...«
»Gaitonde, ich sage es dir jetzt: Ich will nicht hier sein.«
»Versuch es wenigstens für ein paar Stunden.«
»Ich weiß schon jetzt, was ich will. Ich muß hier raus.«
»Warum?«
»Weil ich hier durchdrehe. Und das wird nicht besser, sondern nur immer schlimmer.«
»Wir können alles hier unten verändern, wir können runterholen, was immer du willst.«
Sie schrie. Ihr ganzer Körper krampfte sich zum Mittelpunkt hin zusammen, sie beugte sich vor, und ein langes, rasendes Geheul stieg aus ihr auf, das mich hochfahren ließ. »Sei still«, befahl ich. Doch ihre Augen waren wäßrig und ausdruckslos, sie holte tief Luft und stieß dann abermals diesen gequälten Schrei aus, der mir ins Gesicht fuhr wie eine Ohrfeige.
Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Sie wehrte sich, wand sich in meinen Armen und stieß mir ihre scharfen Ellbogen in die Rippen. Ich spürte einen brennenden Schmerz an meinem Kinn, ließ sie los und faßte mir an die schmerzende Stelle. Meine Finger wurden glitschig und rosa. Diese bhenchod Kutiya hatte richtige Krallen.
Ihre Hände beschrieben Kreise vor ihrer Brust. »Kapierst du das nicht? Ich kann hier nicht bleiben. Ich kann nicht. Ich muß raus. Du kannst mich hier nicht gefangenhalten.«
»Aber begreifst du denn gar nichts? Da oben wirst du sterben.«
»Na und? Ich sterbe lieber, als in diesem Loch zu bleiben.«
Ich wandte mich angewidert ab. »Das ist vollkommener Blödsinn. Du bist momentan nicht zurechnungsfähig. Du weißt, daß das nicht stimmt. Du willst nicht sterben.«
Sie kam mir nach. »Soll ich dir die Wahrheit sagen, Gaitonde? Du bist ein Feigling. Früher hast du mal was dargestellt, da warst du ein Mann, aber jetzt bist du nur noch ein angstschlotternder kleiner Irrer, der sich in einem dunklen Loch versteckt.« Sie stand direkt hinter mir, und ich spürte ihren säuerlichen Atem auf meiner Schulter, roch ihre Panik.
Ich drehte mich um und schlug ihr dabei mit dem Handrücken ins Gesicht. Es war ein heftiger Hieb, ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie taumelte nach hinten. »Ah«, stöhnte sie. »Ah.« Blut strömte aus ihrer Nase.
»Randi.« Sie wankte durch den Raum, und ich folgte ihr. »Du findest also, ich bin kein Mann? Soll ich dir zeigen, daß ich ein Mann bin? Na komm schon, komm her, ich zeig es dir. Wer schlottert jetzt vor Angst, hm? Wer zittert am ganzen Leib?«
Ihre Zähne leuchteten weiß durch das verschmierte dunkle Blut. »Du? Du bist kein Mann.« Sie bot mir die Stirn, spie mir ihr Gelächter ins Gesicht. »Du hast Frauen gekauft und hältst dich deshalb für einen großen Helden. Aber keine von ihnen hat dich gemocht, du Dreckskerl. Ohne deine Kohle hätte dich keine auch nur in ihre Nähe gelassen.«
»Bas«, warnte ich sie. »Es reicht. Halt den Mund. Und kapier endlich, daß ich versuche, dir zu helfen. Ich versuche, dein Leben zu retten.«
»Sie haben dich ausgelacht, Gaandu. Sie haben sich zusammen darüber lustig gemacht, was für eine jämmerliche, schwache kleine Ratte du bist. Du meinst, du könntest vor einer Frau wie Zoya bestehen? Sie hat uns erzählt, daß sie keine einzige tolle Nacht im Bett mit dir verbracht hat.«
»Das ist eine Lüge. Zoya mochte mich.«
Sie warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Zoya mochte mich«, krähte sie. »Zoya mochte mich.« Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. »Zoya mochte mich.« Blut tropfte auf den Boden, aber sie amüsierte sich köstlich. »Zoya mochte mich.«
»Das stimmt.« Die Stimme, die aus meiner Kehle aufstieg, war mir fremd, sie klang dünn und verloren. »Das hat sie mir in unserer ersten Nacht gesagt. Sie hat gesagt, ich wäre unglaublich. Wirklich. Wir haben es die ganze Nacht getrieben. Das ist die reine Wahrheit.«
»Gaitonde, du Idiot.« Jetzt triumphierte sie. »Du bist wirklich ein Trottel. Sie hat dich zum Chutiya gemacht. Das lag nicht an dir, du Simpel. Sie hat dir ein Glas Milch mit Mandeln gegeben. Und da hat sie eine zerdrückte Viagra reingerührt, eine ganze blaue Tablette. Sie wollte dir erst zwei geben, aber ich hatte Angst, daß dich das umbringen würde. Ich habe zu ihr gesagt, es ist okay, daß du vorwärtskommen willst, daß du zum Mond fliegen willst, ich verstehe das, aber mach nicht die Rakete kaputt, die dich da hochbringen soll. Und es hat funktioniert. Das warst nicht du, Saala. Es war das Viagra.«
Wut schob sich vor meine Augen, ein bläulicher Dunst. Durch ihn sah ich, wie Jojo aufrecht dastand und lachte. Sie hatte keine Angst vor mir.
»Zoya mochte mich«, wiederholte sie. »Gaitonde, du Trottel, du denkst, sie wäre Jungfrau gewesen und von deiner gewaltigen Männlichkeit beeindruckt. Du Chutiya. Sie hat ein Dutzend Männer vor dir gehabt und viele danach, und du warst der jämmerlichste von allen. Wirklich, du warst der kleinste.«
»Du lügst. Sie war Jungfrau. Das hast du mir selbst gesagt. Und sie hat es mir auch gesagt.«
»Jungfrau?«
»Ja.«
»Du Idiot. Was meinst du wohl, wie sie in dieser Stadt überlebt hat, bevor sie zu dir gekommen ist? Ihr bhenchod Männer bezahlt für Jungfrauen immer mehr, also ist sie für dich zur Jungfrau geworden.«
»Das stimmt nicht. Ich habe das Blut gesehen.«
Sie lachte so heftig, daß sie sich an der Tischkante festhalten mußte. »Gaitonde, von allen aufgeblasenen Gaandus auf dieser Welt bist du mit der größten Blindheit geschlagen. Are, in einem Umkreis von fünfzehn Kilometern wirst du zwanzig Ärzte finden, die eine Frau jederzeit wieder zur Jungfrau machen können. Die Operation dauert eine halbe Stunde und kostet fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Rupien. Und drei Wochen danach kann die erneuerte Jungfrau auf einem weißen Laken die Beine breit machen, damit irgendein kleiner Gaitonde all das Blut sehen und sich für ganz groß halten kann.«
Ich erschoß sie.
Die Glock lag in meiner Hand. Es roch nach irgendeiner Blume, einem Blatt mit einer bitteren Note. Ich erinnerte mich nicht an den Knall, aber meine Ohren waren betäubt.
Sie lag in der Tür zu dem Raum mit den Betten. Ich schaute auf das tröstende schwarze Metall in meinen Fingern hinab, dann ging ich zu ihr. Ja, sie war tot. Es trat noch Blut aus. Ein leichtes Zittern ihrer Wimpern im stillen Luftzug der Klimaanlage. Ihre Pupillen waren reglos. Und in ihrer Brust war ein Loch. Ich hatte nicht danebengeschossen.
Ich setzte mich. Ich ließ mich niedersinken und setzte mich neben sie. Jojo. Jojo. Ich sah die Rückseite eines Computers, aus der ein weißes Kabel baumelte. Dahinter eine weiße Wand. Ich schloß die Augen.
Als ich wieder erwachte, lag ich auf dem Boden, ihren Fuß direkt vor meinem Gesicht. Mir war kein Wegsehen, kein Ignorieren meiner Tat vergönnt. Ich war unvermittelt und vollständig zu mir gekommen und hatte keine Erinnerungslücke. Ich wußte, daß ich auf dem harten Boden neben Jojo lag und daß ich sie getötet hatte. Was mir jedoch zum ersten Mal bewußt wurde, war, wie kompliziert so ein menschlicher Fuß doch gebaut ist. Er besteht aus kleinen Polstern und Bögen, aus einem verschlungenen Geflecht von Muskeln und Nerven und aus Knochen, so vielen Knochen. Er krümmt sich, streckt sich, bewegt sich, er geht und hält durch. Seine Haut nimmt die Farbe der durchwanderten Jahre an, bis die Risse und Falten ein Netz bilden, das so kompliziert ist wie das Leben selbst.
Ich hielt Jojos Fuß. Ich wölbte die Hand um ihre Ferse und spürte deren kalte Reglosigkeit. Die Uhr an meinem Handgelenk blinkte mir die Uhrzeit entgegen. Sechs Uhr sechsunddreißig. Wir hatten um zwei zu Mittag gegessen. Hatte ich nur die paar Stunden geschlafen? Ich fühlte mich ausgeruht und hatte einen klaren Kopf. Dann sah ich es, sah, daß das Datum gewechselt hatte. Ich hatte über vierundzwanzig Stunden geschlafen.
Mach weiter. Aber womit sollte ich weitermachen? Noch mehr Geld, noch mehr Frauen, noch mehr Morde. Das hatte ich alles schon gelebt, ich hatte kein Verlangen mehr danach. Womit also weitermachen? Das fragte ich mich, als ich auf dem Boden neben Jojo lag. Ich fühlte mich wiederhergestellt, durch mein langes Ruhen auf diesem blutverschmierten Boden von Benommenheit, Unruhe und Erschöpfung erlöst. In diesem Zustand der Luzidität erkannte ich, daß Shridhar Shukla - Guru-ji - recht gehabt hatte. Ich konnte ihn nicht aufhalten, konnte gar nichts aufhalten. Ich gab mich geschlagen. Er hatte mich besiegt, weil er mich besser kannte als ich selbst. Er kannte meine Vergangenheit und meine Zukunft. Was ich tat oder nicht tat, spielte keine Rolle. Oder schlimmer noch, es spielte in jedem Fall eine Rolle. Was immer ich mich zu tun entschied, es würde zu seinem Plan beitragen und im Feuer enden. Die Welt wollte enden, und ich hatte nachgeholfen. Er hatte das Opfer vorbereitet, und jegliche Handlung meinerseits war Brennstoff für sein Feuer. Ich konnte den Gang der Dinge nicht aufhalten.
Ich rieb sanft mit den Fingerspitzen über die Risse in Jojos Ferse. War auch ihr Tod vorhergesagt gewesen? Sie hatte kein einfaches Leben gehabt. Sie hatte ihre Füße mit Lotions zu pflegen versucht, aber durch ihr vieles Gehen war die Haut spröde geworden. All die Mühe, und dann dies. Durch einen Freund ein so plötzliches Ende zu finden. Aber das, dachte ich, ist die eine Entscheidung, die wir treffen können. Du kannst den Gang der Dinge nicht aufhalten, hatte Guru-ji gesagt, du kannst dich selbst nicht aufhalten.
Doch, das kann ich. Das ist das einzige und letzte, was mir zu tun offensteht. Darin kann ich sogar über Sie siegen, Guru-ji. Ich kann mich selbst, kann den Gang meines Lebens aufhalten.
Okay, Jojo. Okay. Ich setzte mich auf. Wo war die Pistole? Hier. Geladen und schußbereit. Eine Kugel, mehr brauchte es nicht. Ich wollte Jojo nicht ins Gesicht sehen. Den Blick auf ihre Füße geheftet, drehte ich mich um, bis ich mich an der Wand anlehnen konnte. Okay.
Ich konnte es nicht. Noch nicht. Noch nicht. Aber warum nicht? Ich wollte es tun. Ich hatte keine Angst, im Gegenteil. Vielleicht wartete Jojo auf der anderen Seite auf mich. Vielleicht würde sie mich beschimpfen und mich schlagen, aber schließlich und endlich würde sie mich verstehen. Ich würde mit ihr reden, und sie würde mich verstehen, so wie sie mich immer verstanden hatte. Es brauchte nur die richtigen Worte und etwas Zeit. Auch ich würde sie beschimpfen, weil sie mich verraten und angelogen hatte. Aber schließlich würde ich ihr verzeihen. Wir würden einander verzeihen. Und dennoch konnte ich es noch nicht tun, mir die Pistole in den Mund stecken. Warum nicht? Weil - ganz einfach deshalb: Was würden die Leute hinterher über mich sagen? Würden sie sagen, Ganesh Gaitonde ist in einem geheimen Raum verrückt geworden und hat eine Frau und sich selbst umgebracht? Würden sie sagen, er war ein feiger, schwacher Mann? Wenn ich ihnen nicht alles erklärte, würden sie es nicht verstehen. Sie würden Gerüchte und Lügen verbreiten, Motive erfinden und über Gründe spekulieren.
Doch wer würde mir zuhören? Jojo war tot, und Guru-ji war nicht da. Ich konnte natürlich einen beliebigen Reporter anrufen, und er würde herkommen, so schnell ihn seine Füße trugen. Aber Reporter waren abgefeimte Bhenchods, sie wollten Schlagzeilen und Action, Storys und Skandale. Es gab da so einen Typen beim Mumbai Mirror, der sehr gut war, aber selbst der würde nur Ganesh Gaitonde, den Mafiaboß und internationalen Ganoven in mir sehen. Nein, es mußte ein einfacher, guter Mensch sein. Jemand, der mir zuhören würde, so wie ein Mann auf einem Bahnsteig während der ein, zwei Stunden, bis der Zug schließlich kommt, einem anderen zuhört, voller Freundlichkeit und Anteilnahme. Jemand, der nicht nur Ganesh Gaitonde, sondern einen Menschen in mir sah.
Und da fielen Sie mir ein, Sartaj Singh. Ich erinnerte mich an das erste Mal, daß ich Guru-ji persönlich gegenübergesessen hatte. Mir fiel ein, wie Sie mir zu dieser ersten Begegnung verholfen hatten, wie Sie mit mir geredet und mich - an jenem letzten Tag - hineingebracht hatten, zu meinem Schicksal. Ich erinnerte mich an diese in jedem Fall ungewöhnliche, bei einem Polizisten jedoch unfaßbare Großzügigkeit. In Ihrem Blick, Sartaj, und in Ihrem stolzen Gang liegt die Grausamkeit des Polizisten, aber unter Ihrer gesuchten Gleichgültigkeit verbirgt sich ein gefühlvoller Mann. Mochten Sie auch der geschniegelte Sardar-ji sein, so waren Sie doch von mir angerührt. Unsere Lebenswege hatten sich gekreuzt, und meiner hatte sich für immer verändert.
Ich wußte also, was ich zu tun hatte. Ich stand unverzüglich auf, ging an meinen Schreibtisch und tätigte ein paar Anrufe. Eine Viertelstunde später hatte ich Ihre Privatnummer. Ich rief an und hörte Ihr verschlafenes Gemurmel. Und ich fragte: »Wollen Sie Ganesh Gaitonde?«
Sie kamen. Ich betrachtete Sie, während Sie forschend zu der Kamera aufblickten. Sie waren älter geworden, härter, aber immer noch derselbe Mann. Und ich erzählte Ihnen, was mit Ganesh Gaitonde geschehen war.
Aber Sie haben sich nicht alles angehört, Sartaj. Auch Sie sind nicht frei von Ehrgeiz. Sie wollen mich festnehmen, meine Verhaftung auf die Liste Ihrer Triumphe setzen. Sie haben sich vor die Stahltür des Bunkers gesetzt und mir zugehört, aber Sie haben einen Bulldozer angefordert. Jetzt haben Sie die Tür durchbrochen, und der zweite Monitor zu meiner Rechten zeigt, wie Sie sich vorwärts schleichen, die Pistole im Anschlag. Sie kommen herein. Ich rede noch immer, aber Sie hören mir nicht mehr zu. Ihre Augen funkeln. Sie wollen mich kriegen, Sie und Ihre Scharfschützen. Ich habe einen Wirbelwind von Erinnerungen im Kopf, eine Gemengelage lädierter Körper und Gesichter. Sie schwirren durcheinander, ich weiß, was sie verbindet und was sie trennt. Hören Sie mir zu. Wenn Sie Ganesh Gaitonde wollen, müssen Sie mich erzählen lassen. Sonst wird Ihnen Ganesh Gaitonde entschlüpfen, so wie er noch jedem entschlüpft ist, noch dem letzten Mörder. Selbst mir wäre Ganesh Gaitonde fast entschlüpft. Jetzt, in dieser letzten Stunde, ist er mir sicher, ich weiß, wer er war und zu wem er geworden ist. Hören Sie mir zu, Sie müssen mir zuhören. Aber Sie sind jetzt im Bunker. Ich habe die Falltür für Sie entriegelt. Unter jedem Ihrer Schritte sehe ich Dutzende meiner Jahre verstreichen. Ich sehe jetzt alles auf einmal, vom allerersten Anfang bis zu dem ersten Haus, das ich mir baute, meinem ersten Zuhause in Gopalmath, sehe alles, von einem Dorftempel bis nach Bangkok. Aber Sie sind schon drinnen, in diesem Bunker.
Hier ist die Pistole. Der Lauf paßt genau in meinen Mund. Ich stelle mir vor, was Jojo sagen würde: Du Dreckskerl, du hast wohl Angst, oder wie? Soll ich es für dich tun?
Nein, Jojo. Ich habe keine Angst.
Sartaj, wissen Sie, warum ich das tue? Ich tue es aus Liebe. Ich tue es, weil ich weiß, wer ich bin.
Bas. Es reicht.