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Noch eine Minute.
In sechzig Sekunden wird einer der beiden Männer dort drüben tot sein. Und ich soll entscheiden, welcher. Da stehen sie am Fenster, jenseits der breiten Straße, die seit einer Weile gesperrt ist und ganz menschenleer und totenstill.
Der schwarz vermummte Scharfschütze kniet vor mir und ist die Ruhe selbst. Sein schweres Präzisionsgewehr hat er auf der Fensterbank aufgelegt. Verschmolzen mit seiner Waffe, ein verlässlicher Handwerker des Todes. Balke, bleich wie noch nie, sieht fassungslos mit halb offenem Mund abwechselnd zu mir und auf dieses offene Fenster jenseits der Straße. Klara Vangelis, die sonst gar nichts umwirft, hat sich abgewandt, kann nicht mehr hinsehen. Und Seligmann, dieser Idiot, er hat mir das eingebrockt. Der Mann, der so viele Menschen ins Unglück gebracht hat. Er oder der Zahnarzt, dessen Namen ich mir einfach nicht merken kann, einer von beiden soll nun also sterben.
In spätestens fünfzig Sekunden.
»Chef!«, flüstert Balke mahnend, als hätte er Sorge, ich hätte stehend das Bewusstsein verloren. »Chef!«
Die Gewehrmündung bewegt sich kaum merklich und unendlich langsam ein klein wenig nach rechts.
Aber ich kann das doch nicht! Ich kann diese Entscheidung nicht treffen. Ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu beschützen, Leben zu retten und nicht, über ihren Tod zu bestimmen. Ausgerechnet jetzt fällt mir der Moment ein, als ich den Namen Seligmann zum ersten Mal hörte und natürlich nicht ahnte, was auf mich zukam. Wann? Vor drei Wochen? Vor vier? Eines weiß ich noch, es war an einem Freitag. Und plötzlich ist diese Wut da. Diese alles vernichten wollende, gnadenlose Wut, die meine Zähne ganz von alleine knirschen lässt. Sollen sie doch alle beide verrecken dort drüben! Was geht es mich an?
»Noch zwanzig Sekunden«, sagt Balke leise.
Diese Wut, die mich in der nächsten Sekunde zum Platzen bringen wird.
Wut auf wen?
Ja, auf wen eigentlich?
Ich hatte es eilig an jenem Freitag, daran erinnere ich mich noch gut. Es war schon später Nachmittag, und ich kam von einer nervtötend langen Besprechung mit der Staatsanwaltschaft, wo man dringend auf irgendwelche Akten und Ermittlungsergebnisse meiner Leute wartete, denn nächsten Mittwoch sollte die Hauptverhandlung beginnen. Außerdem waren die Herrschaften natürlich nicht begeistert, dass wir den Bankraub mit Geiselnahme noch immer nicht aufgeklärt hatten, der jetzt schon vier Wochen zurücklag. Immerhin gab es hier eine erste kleine Spur.
Ich hetzte die lichten Treppen der Polizeidirektion hinauf zum zweiten Stock, zur Chefetage, wo auch mein Büro lag. Um fünf, in zwei Minuten, hatte ich einen Termin bei Polizeidirektor Liebekind, meinem Vorgesetzten. Der schätzte es nicht, wenn man ihn warten ließ, und ich hatte meine ganz speziellen Gründe, ihn bei Laune zu halten.
Ein schlanker junger Mann kam mir entgegen. Er trug eine derbe Lederjacke, die nicht recht zu seinem schmalen Gesicht passen wollte, und einen schwarzen Motorradhelm unterm Arm. Unsicher sah er mir ins Gesicht, als wäre er sich unschlüssig, ob er es wagen durfte, mich anzusprechen. Sein Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig, intelligente, wache Augen und weiches, langes Haar – meine Töchter wären entzückt gewesen.
Mein Gefühl täuschte mich nicht.
»Sind Sie nicht von der Kripo?«, fragte er, als ich an ihm vorbeiwollte. »Ich kenn Sie aus dem Fernsehen.«
»Ja«, keuchte ich, vom Laufen ein wenig außer Atem.
»Hätten Sie vielleicht ein paar Sekunden Zeit für mich?«
»Nein«, sagte ich und blieb stehen. »Ja, wenn es wirklich nur ein paar Sekunden sind. Worum geht’s denn?«
»Um meine Mutter.« Er sprach mit angenehm leiser Stimme, senkte den Blick, spielte mit zartgliedrigen Fingern an seinem furchterregenden Helm mit dunklem Visier herum, der zu ihm passte wie ein Hammer in ein Nähkästchen. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie aufhalte. Aber sonst will ja hier keiner mit mir reden.«
»Aber machen Sie es bitte kurz.«
Aus irgendeinem Grund mochte ich den ratlosen Kerl. Ich war Vater zweier Töchter, und für weitere Kinder war es mit meinen vierundvierzig Jahren schon ein bisschen spät. Aber wenn ich jemals noch einen Sohn haben sollte, dann bitte einen wie diesen hier. Wäre es anders gewesen, ich hätte ihn vermutlich stehen lassen. Jemand ging in meinem Rücken die Treppe hinunter, grüßte und wünschte mir ein schönes Wochenende. Ich grüßte zurück, ohne hinzusehen.
»Was ist mit Ihrer Mutter? Steckt sie in Schwierigkeiten?«
»Nicht wirklich«, erwiderte der junge Mann ernst und sah mir endlich ins Gesicht. Seine Augen waren dunkel, die Wimpern ungewöhnlich lang, der Blick verzagt. »Es ist wegen unserem Nachbar. Sie macht sich solche Sorgen um ihn.«
»Warum?«
»Er ist verschwunden. Und Mom ist total durch den Wind deswegen. Ich hab ihr gesagt, dann ruf doch die Polizei an, sollen die sich drum kümmern. Aber sie traut sich nicht. Und da hab ich gedacht, bevor sie mir noch völlig durchdreht, mach ich’s eben.« Er schluckte. »Ich meine, wenn einer auf einmal spurlos verschwunden ist, dann sind Sie ja wohl zuständig, oder nicht?«
Ich sah auf die Uhr. Noch eine Minute. Ich hatte keine Ahnung, was Liebekind von mir wollte. Aber wenn er mich zu so unchristlicher Zeit zu sich bestellte, dann war es wohl wichtig.
»Seit wann ist Ihr Nachbar denn weg?«, fragte ich ungeduldig.
»Seligmann heißt er. Seit zwei oder drei Tagen. Genau weiß Mom es auch nicht. Bestimmt ist er bloß verreist, mal ein bisschen weggefahren, hab ich ihr schon tausendmal erklärt. Er ist ja alt genug, er ist nämlich schon Rentner. Aber Mom ist völlig aufgelöst, weil er ihr nichts gesagt hat.«
»Ist er denn gesund?« Ich tippte mir an die Schläfe. »Hier?«
Mein Gegenüber schenkte mit ein Lächeln, bei dem meinen Töchtern die Luft weggeblieben wäre. »Er ist nicht verrückt oder so was. Ein komischer Vogel, okay. Aber er weiß, wer er ist und wo er ist.«
»Aber warum ist Ihre Mutter dann so beunruhigt?«
»Tja, wenn ich das wüsste.« Betreten senkte er den Blick. Zuckte die Achseln. »Sonst sagt er eben immer Bescheid, wenn er mal länger wegbleibt. Er hat Haustiere, irgendwelche Amphibien, Spinnen, solches Zeug, und Mom versorgt die dann normalerweise. Aber diesmal hat er ihr nichts gesagt.«
Nun hatte ich wirklich keine Zeit mehr.
»Hat jemand in der Nachbarschaft einen Schlüssel zu Herrn Seligmanns Haus?«
»Mom hat einen. Meinen Sie denn, sie dürfte mal reingucken? Auch wenn er sie nicht drum gebeten hat? Das würde sie bestimmt beruhigen.«
»Sagen Sie Ihrer Mutter, sie soll ruhig in das Haus gehen und nach den Tieren sehen. Und falls Ihr Nachbar später Ärger macht, dann soll er sich an mich wenden.«
»Danke.« Der junge Mann wirkte sehr erleichtert. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Mom wird bestimmt froh sein.«
Ich nickte ihm zu und wandte mich zum Gehen.
»Wie ist eigentlich Ihr Name?«, rief er mir nach. »Und warum sieht man Sie im Fernsehen?«
»Gerlach«, erwiderte ich über die Schulter. »Ich bin hier der Kripo-Chef.«
Als er ging, bemerkte ich, dass er das eine Bein ein wenig nachzog.