3
Die morgendliche Routinebesprechung am Montag hatte eben begonnen, noch hatten nicht alle meine Mitarbeiter Platz genommen, da klingelte das Telefon. Sönnchen, meine unersetzliche Sekretärin, hatte sich unter zahllosen Entschuldigungen krank gemeldet, deshalb hatte ich unter ihrer telefonischen Anleitung die Gespräche direkt auf meinen Apparat geschaltet. Obwohl der Sommeranfang nicht mehr weit war, grassierte in Heidelberg die Grippe.
Den Namen der Frau verstand ich wegen der Unruhe im Raum nicht. Nur, dass sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte und sehr aufgeregt war. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass weder sie noch sonst jemand in akuter Gefahr schwebte, bat ich sie, in einer halben Stunde wieder anzurufen.
Als sie hereinkam, war mir sofort aufgefallen, dass Klara Vangelis sich übers Wochenende äußerlich sehr verändert hatte. Wie üblich kam sie edel gekleidet, heute in einem Designerkostüm aus sandfarbenem Leinen. Auch dieses hatte sie bestimmt selbst geschneidert, wie die meisten ihrer Sachen, die sie sich von ihrem Gehalt niemals hätte leisten können. Dazu trug sie halbhohe, farblich perfekt abgestimmte Pumps und einen absolut unpassenden, dicken Stützverband ums Genick. Und sie machte nicht die Miene, als wollte sie gefragt werden, was ihr zugestoßen war.
In der üblichen Montagmorgen-Muffeligkeit berichteten meine Leute unter häufigem Gähnen von den bescheidenen Fortschritten ihrer Arbeit. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und war mit meinen Gedanken und Gefühlen noch im Wochenende. Und auf Sylt.
Beim sonntäglichen Mittagessen hatten meine Töchter mir nämlich eröffnet, sie seien ab Mittwoch verreist. Klassenfahrt nach Sylt, sechs Tage lang und zweimal zweihundertneunzig Euro teuer, all inclusive außer Getränke und Privatvergnügen. Einer der Vorteile von Zwillingen ist, dass man über viele Dinge nur einmal nachzudenken braucht. Einer der Nachteile ist, dass alles das Doppelte kostet. Auf meine Frage, wieso um alles in der Welt ich das erst jetzt erfuhr, erhielt ich zur patzigen Antwort, vor ungefähr acht Wochen hätte ich einen Wisch unterschrieben, auf dem alles haarklein erklärt sei, und sie könnten ja wohl nichts dafür, dass ich immer alles vergaß. Am Mittwoch würden sie in aller Frühe fahren und – dieser Halbsatz versöhnte mich augenblicklich – erst am Montagabend zurückkommen.
Ein töchterfreies Wochenende! Welche Möglichkeiten! Wenn ich ein wenig Glück hatte, dann war auch Liebekind unterwegs, was wegen seiner Lehrverpflichtungen an der Polizei-Führungsakademie in Münster gar nicht so selten vorkam, und Theresa und ich konnten noch heute daran gehen, Pläne zu schmieden für zwei herrliche freie Tage.
Ich bemühte mich, nicht an unpassenden Stellen zu lächeln, während meine Leute ohne mich diskutierten.
Die Pizza am Sonntag war mir ganz gut geraten, wenn auch der Teig ein wenig zu dick war, was jedoch nur mich störte. Meine Töchter hatten mehr der Form halber ein wenig herumgenörgelt, weil ich nach ihrer Ansicht mit der Salami zu sehr gegeizt hatte. Den Salat, dessen aufwändige Sauce mich eine halbe Stunde Arbeit gekostet hatte, rührten meine Mädchen – wie befürchtet – nicht an. Sarahs Zahnschmerzen waren schon am Samstag verschwunden gewesen, und natürlich sah sie nicht ein, wozu ein Mensch, dem überhaupt nichts fehlte, einen Arzttermin brauchte.
Das Heidelberger Wochenende war einigermaßen ruhig gewesen, schnappte ich nebenbei auf. Zwei Kneipenschlägereien, eine Festnahme wegen Hehlerei, ein paar Bagatellen, die alle mit Alkohol oder anderen Drogen zu tun hatten. Und mit den Touristenströmen waren natürlich die Taschendiebe zurückgekommen.
Als die Sprache auf den Bankraub kam, den Klara Vangelis und Sven Balke bearbeiteten, meine besten Mitarbeiter, zwang ich mich zuzuhören. Vangelis, eine ebenso spröde wie verlässliche und intelligente Kollegin, war trotz ihrer jungen Jahre schon Erste Hauptkommissarin. Ansonsten war sie griechischer Abstammung, hübsch, stets sehenswert korrekt gekleidet und mit einem Vater gestraft, in dessen gut gehender Taverne sie abends und an den Wochenenden regelmäßig aushelfen musste. Humor war nicht ihre Stärke. Schon gar nicht, wenn sie mit einem Genickverband verunstaltet war, der das Design ihres Outfits gründlich aus dem Gleichgewicht brachte. Ich entdeckte, dass sie auch eine gut überschminkte Beule an der linken Schläfe hatte. Bei passender Gelegenheit musste ich unbedingt ihren Bürogenossen Balke fragen, was da passiert war.
Balke nahm das Leben eher von der leichten Seite. Bis vor wenigen Monaten hatte sein Diensteifer unter seinen ständig wechselnden Liebschaften gelitten. Aber seit er mit seiner Nicole zusammenlebte, wirkte er ausgeglichener, friedlicher und schien sogar ein wenig zuzunehmen. Morgens kam er ordentlich rasiert zum Dienst, und an Montagen wirkte er nicht mehr, als hätte er seit Freitagabend durchgemacht. Dafür achtete er seit neuestem auf die Einhaltung der Dienstzeiten und pünktlichen Feierabend. Balke stammte aus Norddeutschland, was man bei jedem Wort hörte, das er sprach.
»… eine Spur von Bonnie and Clyde«, hörte ich Vangelis sagen.
Ich setzte mich gerade hin.
»Der Saab steht in Malaga auf einem Hotelparkplatz nur wenige Kilometer von der Bank entfernt, wo der erste Schein aus der Beute aufgetaucht ist. Und die zwei – wenn sie es denn sind – haben anscheinend ein Zimmer in diesem Hotel, schreiben die spanischen Kollegen.«
Irgendein Witzbold bei uns hatte das junge Bankräuber-Pärchen Bonnie and Clyde getauft, da wir bisher nicht einmal ihre Namen kannten. An einem frühen Mittwochmorgen vor gut vier Wochen hatten die beiden den Leiter der Eppelheimer Sparkassen-Filiale mitsamt seiner Frau aus dem Bett geklingelt, ihm zwei großkalibrige Pistolen unter die Nase gehalten und ihn sehr rasch davon überzeugt, dass mit ihnen nicht zu spaßen war. Offenbar nur um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, schoss der männliche Täter den Filialleiter in den Oberarm. Die Verletzung war zum Glück nicht weiter schlimm gewesen, aber danach erfüllten die Überfallenen jede Forderung des Gangsterpärchens ohne Zögern oder gar Widerspruch.
Die Frau, nach Aussage des Ehepaars höchstens Anfang zwanzig, blieb mit der Gattin im Haus zurück, während der einige Jahre ältere Mann zusammen mit dem Filialleiter zur Bank fuhr. Die ganze Zeit über, fast neunzig Minuten lang, hatten die Täter per Handy in Verbindung gestanden, und ihre Drohung war so unmissverständlich wie glaubhaft gewesen: Wenn während der Fahrt oder in der Bank irgendetwas schiefging, dann war der Filialleiter Witwer.
Es war nichts schiefgegangen.
In der Bank hatte der Täter zusammen mit seiner Geisel einige Minuten auf die Kassiererin warten müssen, da auch der Filialleiter den Safe nicht alleine öffnen konnte, und die beiden dann gezwungen, die Beute in zwei mitgebrachte Müllsäcke zu stopfen. Am Ende schloss er alle beide im Safe ein und wünschte noch einen angenehmen Aufenthalt, und Minuten später waren Bonnie and Clyde mit etwas über anderthalb Millionen Euro im Kofferraum spurlos verschwunden. Fast spurlos.
Den Fluchtwagen, einen klapprigen schwarzen Fiesta älteren Baujahrs, entdeckten Spaziergänger gegen Mittag desselben Tages in einem Wäldchen östlich von Lampertheim. Und am nächsten Morgen hatte sich ein Zeuge gemeldet, ein zappeliger Herr in den Siebzigern, der dort oft seinen afghanischen Windhund spazieren führte. Er behauptete, das Fahrzeug gesehen zu haben, mit dem das Pärchen seinen Weg fortsetzte. Ein zwei Tage zuvor in Koblenz gestohlener Saab sei es gewesen, der fast einen Tag lang einsam in einem Waldweg parkte, ganz in der Nähe der Stelle, wo wir später den Fiesta sicherstellten. Und nun stand dieser Saab also seit über einer Woche unberührt auf dem Parkplatz eines sündteuren Hotels am Strand westlich von Malaga.
»Sie sollen übrigens kaum aus dem Bett kommen, unsere zwei Süßen«, meinte Balke fröhlich. »Wir müssen den Spaniern nur noch bestätigen, dass es die Richtigen sind, und wir haben einen Fall weniger auf der Liste.«
»Und, sind sie es?«
Wortlos reichte er mir einige großformatige Fotografien über den Schreibtisch. Das junge Paar eng umschlungen beim Bummel über irgendeine südliche Einkaufsmeile. Auf dem zweiten Foto saßen sie entspannt plaudernd auf einer Parkbank im Schatten einer großen Platane, auf dem dritten waren sie lachend beim Taubenfüttern, und auf den restlichen Bildern aßen sie königlich zu Abend auf einer Terrasse mit Meerblick und Sonnenuntergang.
Der Mann war groß gewachsen, überschlank und hatte einen mürrischen, leicht hochmütigen Zug um den Mund. Sie dagegen – ein Kind von zwanzig Jahren, das schwarze Haar im praktischen Pagenschnitt, die dunklen Augen voller Staunen und Lebensfreude. Zwei gefährliche Straftäter, beide sicherlich noch immer bewaffnet, strahlend glücklich, sehr verliebt – Bonnie and Clyde.
»Wie soll man da nicht neidisch werden?«, maulte Balke. »Wir sitzen hier im Dauerregen, und dieses Ganovenpärchen macht sich ein lockeres Leben in der Sonne. Manchmal frage ich mich echt, ob ich mir nicht die falsche Seite ausgesucht habe.«
»Fragen Sie sich das übermorgen noch mal, wenn die zwei in U-Haft sitzen«, erwiderte ich. »Hat der Filialleiter die Fotos schon gesehen?«
Vangelis nickte, soweit es ihr Verband zuließ. »Herr Braun hat sie eindeutig identifiziert. Seine Frau mussten wir gar nicht bemühen. Er hat uns gebeten, sie zu schonen. Sie leidet anscheinend immer noch sehr unter den Ereignissen.«
»Unter welchen Namen sind die zwei im Hotel angemeldet?«
»Unter falschen«, erwiderte Vangelis. »Das habe ich gleich abklären lassen. Sie reisen mit gefälschten Papieren. Susanne Bick und Horst Schröder.«
Wieder läutete mein Telefon. Wieder war es diese Frau. Seit ihrem ersten Anruf waren exakt dreißig Minuten vergangen.
Ich legte die Hand vors Mikrofon, wechselte Blicke mit meinen Leuten, Balke sammelte seine Fotos wieder ein.
»Geben sie den Spaniern grünes Licht und bereiten Sie schon mal alles für den Auslieferungsantrag vor.«
Das allgemeine Stühlerücken begann, und ich wandte mich wieder dem Telefon zu. Die Stimme klang hell und jung. Die Frau wirkte nervös und sehr unsicher.
»Mein Sohn, er war am Freitag bei Ihnen, David, Sie erinnern sich? Ich spreche doch mit Kriminalrat Gerlach?«
»Das stimmt. Aber an einen David …«
»Ich bin Ihnen so zu Dank verpflichtet, dass Sie persönlich mit ihm gesprochen haben. Mein Mann sagt ja auch immer, man soll lieber gleich mit den wichtigen Menschen sprechen, wenn man nicht von Pontius zu Pilatus geschickt werden möchte. Deshalb nehme ich mir jetzt auch die Freiheit, mich direkt an Sie zu wenden und …«
»Bitte, Frau …«, im anfänglichen Durcheinander hatte ich ihren Namen wieder nicht verstanden. Endlich wurde es ruhiger. Vangelis war die Letzte, schenkte mir ein notdürftiges Lächeln und zog, wegen ihrer Halskrause streng erhobenen Hauptes, die Tür hinter sich zu. »Könnten Sie mich bitte noch einmal kurz darüber aufklären, worum es eigentlich geht?«
»Ach herrje, da stürze ich wieder einfach so mit der Tür ins Haus. Aber es ist … Ich bin so in Sorge, es geht um unseren Nachbarn, Herrn Seligmann.«
Jetzt erinnerte ich mich. »Ist er immer noch nicht aufgetaucht?«
»Ich komme mir so dumm vor. Sie haben ja gewiss viel zu tun, und nun komme ich und …«
»Was ist denn mit Ihrem Nachbarn?«, fragte ich beruhigend. Es hatte keinen Zweck, sie ausreden zu lassen, sonst würde ich vermutlich vor dem Mittagessen zu nichts anderem mehr kommen.
»Ich habe getan, was Sie mir geraten haben. Erst habe ich mich nicht getraut, aber dann war ich heute Morgen doch in seinem Haus. Die Tiere müssen doch versorgt werden. Nein, ich habe nichts von ihm gehört. Sein Wagen ist auch verschwunden, ich habe in der Garage nachgesehen. Und jetzt möchte ich eine Vermisstenanzeige aufgeben. Man nennt das doch so?«
»Wie war noch mal Ihr Name?«
»Braun«, erwiderte sie. »Rebecca Braun.«
Ich notierte mir die Adresse, damit sie das Gefühl hatte, ernst genommen zu werden.
»Frau Braun«, sagte ich dann ruhig. »Es ist wirklich sehr lobenswert, dass Sie sich so um Ihren Nachbarn sorgen. Wenn es das öfter geben würde, dann müssten manche alten Menschen nicht wochenlang tot in ihrer Wohnung liegen, bis jemand etwas merkt. Aber auf der anderen Seite, bitte verstehen Sie mich richtig, Herr Seligmann ist ein erwachsener Mensch. Er ist nicht geistig verwirrt, hat mir Ihr Sohn gesagt. Und deshalb darf Herr Seligmann verreisen, wohin und so oft er will. Jahr für Jahr verschwinden in Deutschland zigtausend Personen, und die allermeisten tauchen früher oder später kerngesund und in bester Verfassung wieder auf.«
»Aber hier ist es anders, bitte, so glauben Sie mir doch. Ich sagte Ihnen doch, ich war in seinem Haus und …« Ihre Stimme erstarb.
»Haben Sie dort irgendwas gefunden, was Ihre Sorge bestätigt?«
»Ja«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Blut.«
Jetzt endlich fiel bei mir der Groschen. »Frau Braun, Sie wohnen in Eppelheim in der Goethestraße. Ihr Mann arbeitet doch nicht etwa bei einer Bank?«
»Aber ja. Natürlich.«
Ich drückte die Kurzwahltaste, die mich mit Klara Vangelis verband.
»Lassen Sie alles stehen und liegen. Wir treffen uns unten auf dem Parkplatz.«
Rebecca Braun, eine zierliche, ernste Person, hatte dieselben wachen, dunklen Augen wie ihr Sohn. Die Farbe ihres schlicht geschnittenen Kleids, ein dunkles Grün, harmonierte mit ihrem lockigen, rötlich-braunen Haar, das sie im Nacken zu einem losen Knoten gesteckt hatte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Ihren Sohn hatte ich auf fünfundzwanzig geschätzt, also musste sie die vierzig schon hinter sich haben. Manche beneidenswerten Menschen altern eben langsamer als andere – ich zählte leider nicht dazu.
Das graue Haus ihres Nachbarn in der Eppelheimer Goethestraße war Stein gewordener Durchschnitt. Nicht besonders klein, nicht auffallend groß. Nicht ärmlich, aber auch nicht teuer. Das zweistöckige Gebäude mit spitzem Giebel stammte vermutlich aus der Nachkriegszeit, als Wohnungsnot und knappe Mittel den Baustil diktierten. Ob es schon immer grau gewesen oder nur lange nicht gestrichen worden war, konnte ich nicht erkennen. Von den hölzernen Fensterrahmen blätterte der Anstrich.
Rebecca Braun führte uns über einen halb zugewachsenen Kiesweg zum Hauseingang. Alles wucherte hier, blühte, wie es gerade passte.
Damals hatte man sich noch ordentliche Grundstücke leisten können. Die neueren Häuser in der Umgebung standen auf deutlich kleineren Flächen. Dort wuchsen auch keine riesigen alten Bäume und ungebändigten Rosenbüsche wie hier. Die Familie Braun selbst bewohnte einen ebenso großzügigen wie gesichtslosen Bungalow, dessen regelmäßig gemähter Rasen an die Wildnis grenzte, die wir gerade durchquerten. Weiter hinten schimmerte nebenan bläulich ein Pool.
Hier, bei Seligmann, schimmerte nichts.
Das Wetter war endlich erträglich geworden. Nachdem es in den letzten Tagen fast ohne Pause geregnet hatte, wagte sich heute eine kraftlose Sonne heraus, und ich begann zu schwitzen, obwohl es noch keineswegs warm war. Dieser verwirrte Sommer wusste einfach nicht, wofür er sich entscheiden sollte. Aber das war kein Wunder, er war ja noch jung.
Die Ähnlichkeit unserer Führerin mit ihrem Sohn war selbst von hinten unübersehbar. Auch sie war zart gebaut, hatte dasselbe weiche Haar, dieselbe sympathische Zurückhaltung und leichte Nervosität. Außer dem vielleicht etwas zu breiten Ehering trug sie keinerlei Schmuck. Ihr Parfüm war dezent und frisch wie das einer sehr jungen Frau.
Als sie uns die Tür ihres verschwundenen Nachbarn aufschloss, zitterten ihre schmalen Hände.
»Bitte«, sagte sie so verhalten, als würden wir einen heiligen Ort betreten, und ließ uns den Vortritt. Wir durchquerten einen im Dämmerlicht liegenden, schmucklosen Flur und betraten einen überraschend geräumigen Wohnraum. Hohe Bäume und ewig nicht beschnittene Büsche vor der Terrassentür und den beiden Fenstern verdunkelten das Zimmer. Hier war lange nicht gelüftet worden.
»Puh«, seufzte Vangelis. »Wenn ich in dieser Finsternis wohnen müsste, würde ich auch eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwinden.«
Frau Braun drückte einen Lichtschalter, Energiesparbirnen flackerten auf, und es wurde ein wenig heller. Das Erste, was mir ins Auge fiel, waren die Terrarien, eines neben dem anderen, die ganze Seitenwand entlang. Dort raschelte es hin und wieder, aber Tiere konnte ich aus der Entfernung keine entdecken. Dennoch grauste mir vor diesen gläsernen Gefängnissen.
Der Rest der Einrichtung war schlicht, ein wenig heruntergekommen, jedoch nicht verwahrlost. In weitläufigen Regalen standen und lagen Bücher über Bücher in sehenswerter Unordnung. Eine in die Jahre gekommene, ehemals kostbare Stereoanlage mit riesigen Boxen, achtlos hingeworfen ein guter Sennheiser-Kopfhörer, daneben eine beeindruckende Sammlung von Langspielplatten, auch einige wenige CDs. Ansonsten angenehm wenig Technik. Der Fernseher stammte vermutlich noch aus der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition, das grüne Telefon mit schwarzen Tasten hing noch an einer Schnur. In diesem Haus schien die Zeit vor vielen Jahren zum Stillstand gekommen zu sein.
Wir betraten die altmodisch und zweckmäßig eingerichtete Küche.
»Sehen Sie«, sagte unsere Führerin im Flüsterton. »Das ist doch Blut, nicht?« Mit Schaudern deutete sie auf einige große, dunkle Flecken auf den blassgrauen, an vielen Stellen gesprungenen Fliesen. Im Raum hing ein Geruch, als gehörte der Mülleimer dringend geleert.
Vangelis ging mit einem unterdrückten Seufzer in die Hocke. Vielleicht hatte sie auch Verletzungen an Stellen, die man nicht sah?
»Haben Sie irgendetwas angefasst?«, war meine erste Frage an Frau Braun.
Erschrocken verschränkte sie die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.
»Stimmt.« Meine Kollegin strich sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. »Das könnte wirklich Blut sein. Es ist schon einige Tage alt.«
Ich zückte das Handy und forderte Verstärkung an sowie die Kollegen von der Spurensicherung. Dann ging ich mit Frau Braun zurück ins Wohnzimmer.
»Sehen Sie nur.« Ratlos wies sie in die Runde. »Sonst ist er so ordentlich.«
Inzwischen hatten sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Ein gläserner Aschenbecher lag am Boden, in zahllose Scherben zerborsten. Daneben eine zerbrochene Flasche, die einmal einen Dreiviertelliter billigen Birnenschnaps enthalten hatte, Zeitungen, Bücher, sogar einige Schallplatten ohne Hüllen und schonungslos zertrampelt, was mir fast körperliche Schmerzen bereitete. Auch hier entdeckte ich auf dem matten Linoleumboden die gleichen dunklen Flecken wie in der Küche. Unter einem der Heizkörper schließlich zusammengeknüllt ein kariertes Flanellhemd, das mit Blut besudelt war.
»Ich kenne es«, murmelte Rebecca Braun erbleichend. »Es gehört ihm.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass der Teller des Plattenspielers sich noch drehte. Lämpchen glimmten, die Anlage war eingeschaltet. Ich betrachtete die Platte, die da seit Tagen Karussell fuhr. Mozart, das Requiem. Wie passend.
Als ich näher herantrat, entdeckte ich in einem der Glaskästen den Kopf einer großen Schlange, die zusammengerollt halb unter einem Stein verborgen lag. Ich wurde mir nicht klar darüber, ob sie mich beobachtete oder einfach nur im Halbschlaf vor sich hinstarrte. Als ich jedoch einige Schritte zur Seite trat, bewegte sich der Kopf mit. Nach und nach erwiesen sich auch andere Terrarien als belebt. In dem einen lebte eine fette schwarze Spinne, die sensibler veranlagten Menschen wochenlang Alpträume beschert hätte. In einem anderen klebte ein regloses Reptil kopfüber an der Frontscheibe und beobachtete mit äußerster Konzentration etwas, was für den Rest des Universums unsichtbar blieb.
»Hübsch, nicht?«, meinte Frau Braun, als sie meinen Blick bemerkte. »Ich finde das Grün so schön.«
»Na ja.« Ich räusperte mich.
Vangelis kam aus der Küche. Mit leiser Genugtuung bemerkte ich, dass auch sie Abstand zu den Tieren hielt.
»Was halten Sie davon?«, fragte sie missmutig. »Diese längliche Blutspur auf dem Couchtisch, die könnte von einer Messerklinge stammen.«
Während wir auf die Kollegen warteten, besah ich mir den Inhalt der Bücherregale. Xaver Seligmann musste im Lauf seines Lebens ein Vermögen für Literatur ausgegeben haben. Etwa die Hälfte waren Sachbücher. Eine Sammlung, die einem Professor für Zoologie Ehre gemacht hätte. Beim Rest handelte es sich um ein wildes Kunterbunt von Romanen, längst veralteten Reiseführern, Bildbänden und Zeitschriften, alles ohne erkennbares System in die Regale gestopft. Vangelis öffnete die Terrassentür, um Luft hereinzulassen.
Die Plattensammlung verriet Ordnungssinn und Liebe zur Klassik. Sie begann links oben mit Gregorianischen Gesängen, ging durch alle Epochen, um rechts unten mit Orff, Schönberg und Riehm zu enden. Unterhaltungsmusik kam nicht vor. Nicht einmal Jazz. Der Verschwundene musste ein ernster und nachdenklicher Mensch sein.
Draußen bremste der graue Kombi der Spurensicherung.
Rebecca Braun sollte Recht behalten. Schon nach wenigen Minuten war klar, dass es sich bei den Flecken im Haus ihres Nachbarn tatsächlich um Blut handelte. Die Frage war: Hatte er sich – vielleicht bei der Küchenarbeit versehentlich – geschnitten, oder hatte es hier eine Messerstecherei gegeben? Hinweise auf einen Kampf fanden die Kollegen allerdings nirgendwo im Haus. Die Spur auf dem Couchtisch passte zu einem schmalen Ausbeinmesser, das im Messerblock auf dem Kühlschrank fehlte. Es war verschwunden, ebenso wie der Wagen des Vermissten. War er selbst damit gefahren, oder lag er im Kofferraum? Tot oder nur verletzt? Wie immer am Beginn einer Ermittlung sagten wir ziemlich oft »vielleicht« und »vermutlich« an diesem Vormittag.
So wurde Xaver Seligmann, vor seiner Pensionierung Lehrer für Mathematik und Biologie, offiziell als vermisst gemeldet. Auch die Beschreibung seines uralten babyblauen Mazda Coupé wurde in einen Polizeicomputer getippt, und die üblichen Prozeduren begannen, während ich und meine Leute immer noch in Eppelheim waren und nach Spuren, Hypothesen, Erklärungen suchten.