5
Unser Labor brach diesmal alle Rekorde. Bereits am späten Montagnachmittag, nur sieben Stunden nach Rebecca Brauns Anruf, flatterte ein erster, vorläufiger Bericht auf meinen Schreibtisch. Die Blutspuren in Xaver Seligmanns Wohnzimmer waren zwischen drei und fünf Tage alt. Und das Blut stammte mit großer Wahrscheinlichkeit von nur einem Menschen.
»Ob der Seligmann heißt, wissen wir natürlich erst nach den weiteren Analysen«, sagte Vangelis, als wir uns am nächsten Morgen noch vor dem Kaffee wieder gegenübersaßen. Heute schien es ihr schon wieder etwas besser zu gehen. Die Beule war abgeschwollen, hatte dafür allerdings deutlich an Farbigkeit gewonnen. Noch immer war es mir nicht gelungen, Balke auszuhorchen. Sönnchen wusste jedenfalls nichts, das hatte ich schon herausgefunden, und die erfuhr in der Regel jeden Klatsch, der im Haus zirkulierte.
»Wissen wir inzwischen, wann genau er verschwunden ist?«
»Offenbar in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag.« Vangelis blätterte in ihrem Notizbüchlein, das sie vermutlich sogar mit ins Bett nahm. »Ich habe gestern mit dem Briefträger gesprochen. Er hat Seligmann am Mittwochvormittag ein Einschreiben ausgehändigt, und anscheinend ist er der Letzte, der ihn gesehen hat. Seligmann hätte einen ziemlich verstörten Eindruck gemacht, sagte er.«
»Und eine mächtige Fahne gehabt«, ergänzte Balke.
»Dieses Einschreiben, haben Sie das gefunden?«
»Ja. In kleine Fetzen zerrissen im Papierkorb. Es war vom Ordnungsamt. Er weigert sich seit Monaten, ein Strafmandat zu bezahlen, und steht kurz vor der Klage. Er soll irgendwo zu schnell gefahren sein.«
»Finden Sie bitte heraus, wann und wo.«
Vangelis schenkte mir einen dieser Blicke, die mir hin und wieder bewusst machten, wie oft wir unser Überleben nur der abendländischen, christlichen Kultur verdanken. Du sollst nicht deinen Vorgesetzten erschlagen, nur weil er hin und wieder dämliche Bemerkungen macht.
»Haben Sie schon alle Nachbarn erreicht?«, fragte ich Balke, der heute ein wenig abwesend wirkte.
»Alle bis auf das Ehepaar Habereckl«, antwortete mir Vangelis, bevor er den Mund aufbekam. »Die wohnen genau gegenüber von den Brauns und sind zur Zeit in Urlaub. Mit einem Wohnmobil und leider ohne Handy.«
»Dieser Seligmann soll schon die Tage vor seinem Verschwinden irgendwie komisch gewesen sein.« Balke setzte sich aufrecht hin. »Ein besonders aufmerksamer Nachbar schräg gegenüber hat spät nachts noch Licht bei ihm gesehen. Das hat ihn gewundert, weil man sonst die Uhr nach seinem Wohnzimmerlicht stellen konnte. Und nach dem Mittwoch hat ihn dann definitiv niemand mehr gesehen.«
Sönnchen kam und brachte unseren Frühstückskaffee. Ihr Blick war schon wieder ein wenig klarer als gestern, aber ihre Nase leuchtete wie die von Rudolph, dem Rentier. Als sie wieder draußen war, verschränkte ich die Hände im Genick und streckte die Beine unter den Schreibtisch.
»Nehmen wir mal an, Seligmann hat wirklich was mit diesem Bankraub zu tun. Er hätte die Brauns monatelang mit dem Feldstecher beobachten können, vielleicht sogar ihre Gespräche belauschen, ohne dass irgendwer etwas gemerkt hätte.«
Vangelis nippte an ihrem Cappuccino. »Er ist übrigens Kunde der betroffenen Filiale. Ich habe die Kontoauszüge in seinem Schreibtisch gesehen.«
»Vielleicht ist er auch mal zufällig dabei gewesen, wie dort über die viele schöne Kohle geredet wurde, die demnächst im Tresor liegt?« Balke hatte sich einen doppelten Espresso machen lassen und leerte ihn in einem Zug. »Und nachdem der Überfall so wunderbar geklappt hatte, hat er noch eine Weile gewartet, damit es nicht so auffällt, wenn er sich verkrümelt.«
»Klingt gut, erklärt aber nicht die Blutspuren im Haus«, gab Vangelis zu bedenken. »Was halten wir denn von dieser Version: Vielleicht hat er sein Haus gar nicht freiwillig verlassen? Vielleicht wusste jemand, dass er einen Teil der Beute in seinem Haus versteckt hatte?«
»Die Kontoauszüge«, sagte ich. »Hat er vielleicht Schulden gehabt?«
»Es war zwar nicht viel Geld auf seinem Konto, aber Schulden hat er keine.« Vangelis platzierte ihre Tasse vorsichtig auf meiner Schreibtischecke und erhob sich. »Wenn unsere Überlegungen stimmen, dann suchen wir ab sofort eine Verbindung zwischen Seligmann und Bonnie and Clyde.«
Als die beiden gegangen waren, legte ich die Füße auf meinen Schreibtisch, zog den Laptop auf meinen Schoß und ließ meinen Sessel gemütlich nach hinten kippen. Seit unsere Computer vernetzt waren, konnte ich jederzeit den Terminkalender meines Chefs einsehen. Das hatte ich natürlich schon gestern getan, aber auch jetzt wurde ich wieder enttäuscht – für das kommende Wochenende hatte Liebekind nichts eingetragen. Also war er zu Hause, und aus meinem geplanten Kurzurlaub mit Theresa würde nichts werden. Im E-Mail-Eingang befand sich außer einigen Angeboten für preiswerte Penisverlängerung und todsicher wirkende Potenzmittelchen nach uraltem indischen Geheimrezept nichts von Interesse. Ich schickte Theresa eine kurze Mail mit ein paar virtuellen Küsschen und dem erneuten Hinweis, dass ich am Wochenende für alle Arten von Schandtaten zur Verfügung stünde.
Nebenan diskutierte Sönnchen eifrig am Telefon über Hausmittel gegen Schnupfen.
Nur zum Zeitvertreib suchte ich im Internet ein wenig nach Rezepten für das Wochenende. Theresa liebte die französische Küche, aber das Angebot an appetitanregenden Menüvorschlägen war so gewaltig, dass ich erst den Überblick und bald auch die Lust verlor.
So stellte ich den Laptop an seinen Platz zurück und betrachtete eine Weile missmutig die Unordnung auf meinem Schreibtisch. Schließlich nahm ich die Füße vom Tisch und zog mein Jackett über. Die Unordnung hatte Zeit bis morgen, und um die Menüfolge am Wochenende konnte ich mich auch noch kümmern, wenn klar war, dass Theresa wirklich kam.
Mein Vorzimmer duftete nach Eukalyptus und Kamille.
»Ich bin mal für eine Weile außer Haus«, erklärte ich meiner Sekretärin. »Wenn Liebekind anruft, bin ich bei der Staatsanwaltschaft.«
»Und wenn er nicht anruft?«, fragte sie aus tränenden Augen blinzelnd. »Wo sind Sie dann?«
»Bei diesem Bankmenschen in Eppelheim, der letzten Monat überfallen wurde.«
»Ich werd’s niemandem verraten.« Meine unübertreffliche Sekretärin tupfte sich die entzündete Nasenspitze. »Aber nur, wenn Sie mir hinterher erzählen, was Sie rausgefunden haben!«
Heribert Braun trieb Sport, das sah ich sofort. Allein vom Rasenmähen hatte er diese breiten Schultern nicht. Blick und Händedruck waren die eines Menschen, der im Großen und Ganzen mit sich und seinem Leben zufrieden ist. Obwohl ein paar Jahre jünger als ich, hatte er schon eine beachtliche Stirnglatze. Vielleicht als Ausgleich trug er einen kräftigen und sauber ausrasierten Schnurrbart im gut gebräunten Gesicht. Die kleine Sparkassen-Filiale, der er vorstand, lag schräg gegenüber dem Eppelheimer Wasserturm an der Hauptstraße. Draußen im Schalterraum, den ich eben durchquert hatte, warteten zwei adrette junge Damen und ein älterer, ein wenig griesgrämig dreinschauender Mann dezent gähnend auf Kundschaft. Braun konnte seine Leute durch gläserne Wände im Auge behalten. Nur deshalb trauten sie sich vermutlich nicht, sich zu setzen.
»Was macht Ihre Verletzung?« Ich konnte keinen Verband entdecken.
»Nicht der Rede wert.« Demonstrativ machte er ein paar Verrenkungen mit der linken Schulter. »Ich kann sogar schon wieder ein bisschen Tennis spielen. Wenigstens hat dieser Gangster gewusst, wo er hinschießen muss, damit nichts Wichtiges kaputtgeht.«
Wir nahmen am Besprechungstisch Platz. Alles in seinem nicht übermäßig großen Büro sah exakt so aus, wie ich mir den Arbeitsplatz des Leiters einer kleinen Bankfiliale vorgestellt hatte. Nicht billig – kein Kunde soll das Gefühl haben, seine Bank müsse sparen –, aber auch keinesfalls kostspielig – er soll auch nicht fürchten, die Bank werfe sein sauer erarbeitetes Geld zum Fenster hinaus. Selbst Brauns Rasierwasser passte ins Konzept. Kaum zu riechen, aber angenehm.
Er zupfte einen Zahnstocher aus einem bunten Keramik-Töpfchen auf seinem beneidenswert aufgeräumten Schreibtisch und begann darauf herumzukauen.
»Ich gewöhne mir mal wieder das Rauchen ab«, erklärte er mit einem schmalen Grinsen. »Das hilft ein bisschen.«
Obwohl er unverkennbar zur Korpulenz neigte, waren seine Bewegungen kraftvoll, zielsicher und elastisch. Der Mann trieb nicht einfach Sport, er trainierte regelmäßig. Niemals werde ich Menschen verstehen, denen es Freude macht, in aller Herrgottsfrühe durch Wälder zu rennen und arme Tiere zu erschrecken oder abends auf einem staubigen Tennisplatz herumzutollen. Ich selbst habe nach dem Aufstehen nicht die geringste Lust auf körperliche Tätigkeit. Und abends, nach einem langen Bürotag, noch viel weniger.
»Wegen Seligmann kommen Sie?« Sein Grinsen erlosch. »Ihre hübsche Kollegin war gestern Abend noch bei uns daheim und hat mir ziemlich große Löcher in den Bauch gefragt. Aber ich kann nur wiederholen, was ich ihr auch schon gesagt habe: Ich kenne unseren komischen Nachbarn praktisch gar nicht. Er interessiert mich nicht besonders, und er ist mir auch nicht übermäßig sympathisch, wenn ich ehrlich bin.«
»Gibt es konkrete Gründe für diese Abneigung?«
»Selbstverständlich gibt es die.«
»Dürfte ich erfahren, welche?«
»Würde Ihnen das in irgendeiner Weise weiterhelfen?« Braun sah auf seine sehnigen Hände. »Wissen Sie, ich stecke da nämlich in einem kleinen Dilemma. Seligmann ist, oder besser war, Kunde bei uns. Und da werden Sie verstehen, dass ich … Man soll ja über Tote nichts Schlechtes reden. Und über Kunden schon zweimal nicht.«
»Was bedeutet das, er war Kunde?«, fragte ich. »Und warum sollte er tot sein?«
Braun sah wieder auf. »Ich weiß gar nicht … Sie haben Recht, das ist mir nur so rausgerutscht. Irgendwie hatte ich automatisch das Gefühl, den sehe ich nie wieder. Dass er Kunde war, bedeutet, dass er letzten Mittwoch seine Konten aufgelöst hat. Am Nachmittag ist er hier aufgetaucht und hat alles abgehoben. Alles in allem dürften das ungefähr … Aber das darf ich Ihnen ja eigentlich gar nicht sagen.«
»Er hat sein gesamtes Geld abgehoben?«
»Und die Konten aufgelöst. Das Girokonto und ein kleines Sparbuch.«
»Hat er irgendwelche Gründe genannt?«
»Nein. Und ich habe ihn auch nicht danach gefragt. Er ist als Kunde kein großer Verlust.«
Sein Telefon klingelte. Er sprang auf und sprach kurz mit einer Frau Hannemann, die sich nach irgendwelchen Zinssätzen erkundigte. Dann nahm er wieder Platz und sah mich auffordernd an. Das Service-Lächeln in seinem Gesicht verglimmte. Aus dem Schalterraum hörte ich Stimmen. Offenbar war inzwischen Kundschaft gekommen.
»Können Sie mir wenigstens einen ungefähren Anhalt geben, über welche Beträge wir sprechen? Fünfstellig? Mehr?«
Braun zog eine schiefe Grimasse. »Okay, was soll’s. Circa neunzehnhundert hat er mitgenommen, alles in allem. In kleinen Scheinen, das wollte er ausdrücklich so. Er wollte immer kleine Scheine.«
»Das bedeutet aber doch, dass er sein Verschwinden geplant hat«, überlegte ich.
Braun erwiderte meinen Blick ruhig und nicht unfreundlich.
»Halten Sie es für denkbar, dass er etwas mit dem Bankraub zu tun hat?«
»Seligmann?« Er lachte auf. »Der Mann ist doch eine Memme! Der kann ja nicht mal eine Fliege erschlagen!«
»Das brauchte er auch nicht. Falls unsere Theorie stimmt, dann blieb er die ganze Zeit im Hintergrund. Irgendwer muss die Informationen beschafft haben. Die beiden Täter wurden vor der Tat nie auch nur in der Nähe Ihres Hauses gesehen.«
Die Miene meines Gesprächspartners verfinsterte sich allmählich. Im Schalterraum lachte eine Frau schrill auf. Ein Mann stimmte ein. Dann war es wieder still. Vermutlich wurde Heiterkeit hier nicht gerne gesehen. Geld ist schließlich eine ernste Sache. Braun warf den zerkauten Zahnstocher in den Aschenbecher und nahm einen neuen.
»Da ist natürlich was dran«, sagte er langsam. Mit zusammengekniffenen Brauen sah er hinaus in die Schalterhalle, nickte zerstreut jemandem zu.
»Halten Sie es für möglich, dass er von dem Geld in Ihrem Tresor wusste?«
»Denkbar ist alles. Er ist ja ziemlich oft hier gewesen. Auffallend oft, könnte man jetzt sogar sagen.«
»Wie oft?«
»Zweimal die Woche, Dienstag und Freitag, immer zur gleichen Zeit am Nachmittag, kurz bevor wir zumachen. Seligmann-Time haben meine Leute schon gesagt, wenn er draußen seinen alten Mazda abgestellt hat.«
»Der Mann hat wirklich merkwürdige Gewohnheiten.«
»Er hat immer nur kleinere Beträge abgehoben. Mal zweihundert, mal zweihundertfünfzig. Er ist einer von diesen altmodischen Käuzen, die EC-Karten für Teufelszeug halten. Der will Bargeld in der Hand haben.«
Ich verschwieg, dass auch mir große, vornehm knisternde Geldscheine wesentlich sympathischer waren als all dies langweilige, bunte und so offensichtlich wertlose Plastik.
»Vier-, fünfhundert Euro in der Woche …«, sagte ich nachdenklich.
»Hab mich auch schon gefragt, was er wohl anstellt mit dem Geld.« Braun nickte. »Ich weiß ja, wie er so lebt. Das Haus ist bezahlt, die letzte neue Hose hat er sich vor zehn Jahren geleistet, und sein Auto ist praktisch schon ein Oldtimer. Trotzdem hat er am Ende des Monats seine Pension immer komplett verbraten. Früher hat er sogar noch einiges an Ersparnissen gehabt. Aber die hat er über die Jahre auch ausgegeben. Vor ein paar Monaten hat er sogar mal nachgefühlt, ob er eventuell eine Hypothek auf seine Ruine kriegen könnte.«
»Wie kam es überhaupt, dass Sie am Tag des Überfalls so viel Geld hier hatten?«
»Ein Kunde hatte eine größere Menge Bargeld angefordert. Normalerweise haben wir hier höchstens fünfzigtausend liegen.«
»Zu welchem Zweck braucht ein Mensch anderthalb Millionen in bar? Kommt so was öfter vor? Und wer außer Ihnen wusste davon?«
»Ja, das kommt alle paar Wochen mal vor. Jeder meiner Mitarbeiter weiß davon. Und ich kann natürlich nicht kontrollieren, wem die es abends in ihrer Stammkneipe weitererzählen. Ich schätze mal, zehn Menschen kommen schon zusammen, wenn Sie mich dazurechnen, und meine Frau natürlich.«
»Ihre Frau?«
Braun knispelte an seinen kurz geschnittenen Fingernägeln. »Irgendwas muss man ja reden an den Abenden. Viel Aufregendes gibt’s ja sonst nicht.«
»Sie haben den ersten Teil meiner Frage noch nicht beantwortet.«
Braun lachte lautlos. »Wozu einer so viel Bargeld braucht? Das kann ich Ihnen sagen. Der Kunde hat eine Erbschaft gemacht. Und er hat nicht vor, mehr Steuern als unbedingt nötig auf seine Erträge zu bezahlen.«
»Das heißt, er wollte das Geld ins Ausland schaffen?«
»Was denken Sie denn?« Plötzlich war er sehr ernst. »Wir sind hier eine Bank und nicht das Finanzamt. Deshalb hat es mich nicht zu kümmern, was meine Kunden mit ihrem Geld anstellen.«
Brauns letzte Worte hatten scharf geklungen.
»Das ist mir natürlich klar«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Und selbstverständlich werde ich Sie nicht nach dem Namen des Auftraggebers fragen.«
Er entspannte sich und lächelte wieder. »Ihre Kollegin hat mir gestern erzählt, Sie sind dem Ganoven-Pärchen dicht auf den Fersen? Meinen Glückwunsch! Ich hoffe sehr, die zwei sitzen demnächst im Knast.«
»So weit sind wir leider noch nicht.« Ich berichtete ihm von den jüngsten Entwicklungen in Spanien.
»Sie haben die Dreckbacken praktisch schon gehabt, und sie sind Ihnen ausgebüxt?«, fragte Braun in einer Mischung aus Empörung und Mitleid.
»Ich kann nichts dafür. Südspanien liegt außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs«, erwiderte ich freundlich.
»Schade eigentlich.« Er war schon wieder halb versöhnt. »Ist recht nett da unten. Wir sind da vor Jahren mal im Urlaub gewesen.«
»Hier gefällt es mir bisher auch ganz gut.« Ich erhob mich, reichte ihm die Hand. »Ich hatte es mir nur ein bisschen ruhiger vorgestellt, ehrlich gesagt.«
»Tja«, meinte Braun mit listigem Grinsen. »Die Zeit der Romantik ist sogar in Heidelberg vorbei. Nur die Amis und die Japsen haben es anscheinend noch nicht gemerkt.«
Vangelis bat dringend um meinen Anruf, erklärte mir meine Sekretärin aufgekratzt. Es gebe gute Neuigkeiten.
Bonnie and Clyde waren endlich identifiziert. Gestern Nachmittag hatte unsere Pressestelle zwei der Fotos veröffentlicht, und tatsächlich hatte sich bereits am Vormittag eine junge Frau aus Wiesbaden gemeldet, die die beiden von früher kannte. Unsere beiden Bankräuber hießen Jannine von Stoltzenburg und Thorsten Kräuter.
»Er stammt aus Mainz, das Mädchen aus Wiesbaden«, berichtete mir Vangelis am Telefon. »Mit den Familien habe ich schon gesprochen. Die waren natürlich völlig aus dem Häuschen. Vor allem die von Stoltzenburgs hatten bisher keinen Schimmer von der Karriere ihrer vornehmen Tochter.«
»Da kann die Presse ja endlich mal wieder was Nettes über uns schreiben.«
Die Schlinge zog sich zu. Wir wussten, wie sie aussahen, wir kannten ihre Namen. Nun konnte es nur noch eine Frage von Tagen sein, bis die beiden hinter Gittern saßen. Beschwingt machte ich mich an meinen ungeliebten Aktenstapel, und ich kam erstaunlich gut voran. Als Sönnchen mich darauf hinwies, es sei längst Essenszeit, hatte die Unordnung auf meinem Schreibtisch bereits sichtbar abgenommen.
Mein Optimismus sank ein wenig, als ich von Vangelis erfuhr, die Spanier hätten das Fluchtfahrzeug der Gesuchten ausgebrannt in einem Steinbruch irgendwo nördlich von Malaga entdeckt. Er sank weiter, als um vier immer noch keine Antwort von Theresa da war und ich zudem entdeckte, dass mein Chef nach wie vor keine Reisepläne fürs Wochenende gemacht hatte. Und er verlosch endgültig, als die Leitende Oberstaatsanwältin Frau Doktor Steinbeißer anrief, um mich höchstpersönlich zur Schnecke zu machen, weil die versprochenen Akten immer noch nicht eingetroffen waren, was, wie ich zerknirscht zugeben musste, wirklich eine außergewöhnliche Schlamperei war. Es fiel mir nicht schwer, den Schuldigen zu ermitteln, Rolf Runkel natürlich, der mit seinen Gedanken vermutlich mal wieder mehr bei seiner vielköpfigen Familie war als bei seiner Arbeit.
Runkel schien von Verhütung nichts zu wissen oder zu halten, jedenfalls wurde seine Frau, eine nach Balkes Worten sensationell übergewichtige Filipina, exakt alle achtzehn Monate schwanger von ihm. Ich zitierte ihn zu mir und brüllte ihn eine Weile ohne viel Begeisterung an. Aber es half nichts. Hinterher fühlte ich mich kein bisschen besser.
Inzwischen regnete es draußen wieder.
Ich war in einer merkwürdigen, halb wehmütigen, halb wütenden Stimmung, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Sollte dies etwa das erste Anzeichen einer kommenden Erkältung sein? Vielleicht lag es einfach daran, dass ich hungrig war. Trotz Sönnchens Ermahnung hatte ich heute auf das Mittagessen verzichtet. Ich lag inzwischen drei Kilo über meinem absoluten persönlichen Alarmgewicht, zum Joggen war ich seit Wochen nicht mehr gekommen, und jetzt half eben nur noch Fasten.
Den Rest gab mir kurz vor sechs eine dünne SMS von Theresa, in der sie ohne Begründung oder gar schlechtes Gewissen unser abendliches Treffen absagte. Ich konnte ihr nicht einmal einen Vorwurf machen, denn wir hatten uns nichts versprochen, uns zu nichts weiter verpflichtet, als ehrlich miteinander zu sein. Aber gerade heute hätte ich sie gerne getroffen, geredet, mich ein bisschen trösten lassen. An Tagen wie diesem wurde mir bewusst, dass ich sie ein bisschen mehr liebte, als gut für mich war. Als ich mich später auf den Heimweg machte, gelang es mir nicht einmal, mich über meinen ordentlich aufgeräumten Schreibtisch zu freuen.
Meine Töchter traf ich zu Hause beim chaotischen und lautstarken Packen für die morgen früh beginnende Klassenfahrt. Natürlich hatten sie vorher nicht nachgedacht, so dass sie dreimal zum Drogeriemarkt flitzen mussten, um in letzter Sekunde irgendwelche in meinen Augen vollkommen unnötigen Dinge zu besorgen. Mitten in dem Tumult legten sie mir ein Dokument vor, das ich noch unterschreiben müsse. Ich sollte mein Einverständnis damit erklären, dass meine Mädchen bis zehn Uhr abends ohne Begleitung Erziehungsberechtigter durch Westerland ziehen durften. Dort solle es megacoole Discos und Boutiquen und obergeile Fast-Food-Schuppen geben, erklärten mir meine Zwillinge mit leuchtenden Augen. Und alle in der Klasse brächten natürlich diese Einwilligung der Eltern, absolut alle, das sei vollkommen normal.
Seufzend rang ich mich zur Unterschrift durch, und das lautstarke Einpacken, Umpacken und wieder Auspacken ging weiter. Dann, als die zahllosen Gepäckstücke endlich alle zu waren, fiel ihnen ein, dass sie pro Nase nur eine einzige Tasche mitnehmen durften, für die sogar ausdrücklich eine Maximalgröße angegeben war. Zeternd und streitend fingen sie an, alles wieder auszuräumen und großzügig im Flur zu verstreuen.
Ich verzog mich ins Wohnzimmer, weil ich müde war und das Chaos meiner ohnehin schlechten Laune nicht guttat. Noch acht Stunden, dann waren sie weg. Sechs Tage himmlische Stille lagen vor mir, ohne Genörgel, ohne Streit, ohne Katastrophen und Beschwerden. Und zur Not eben auch ohne Theresa.
Aber die erhoffte Ruhe wollte sich nicht einstellen. Alle zehn Sekunden flog die Tür auf, und ich wurde um einen Rat gefragt, der dann natürlich sofort dramatischen Widerspruch hervorrief und selbstverständlich in keinem Fall befolgt wurde. Als der Radau gegen elf endlich nachließ, erfuhr ich, dass Sarah noch immer nicht beim Zahnarzt gewesen war.
»Was kann ich denn dafür, dass man hier nirgends vor zwei Wochen einen Termin kriegt?«, fuhr sie mich an. »Bei unserem alten Zahnarzt ist man einfach hingegangen, und dann ist man drangekommen!«
»Nachdem man vorher vier Stunden lang gewartet hat«, brummte ich.
»Aber der war total nett und hat einem immer eine Spritze gegeben, wenn man wollte!«
»Die hiesigen Zahnärzte haben auch Spritzen und sollen auch sehr nett sein. Man muss nur hingehen.«
»Und außerdem hat es seit Samstag überhaupt nicht mehr wehgetan. Der Zahn ist ganz von selber wieder gesund geworden.«
»Zähne werden nicht von alleine wieder gesund.«
»Meine schon.«
Jetzt platzte mir der Kragen. »Dann hoffe ich, dass du auf Sylt mal so richtig üble Zahnschmerzen kriegst und an einen Quacksalber gerätst«, brüllte ich los. »So einer, der den Leuten auf dem Jahrmarkt die Zähne ohne Narkose zieht! Und jetzt ab in euer Zimmer! Ich will euch heute nicht mehr sehen!«
Türen knallend verschwanden sie. Endlich war es still. Augenblicke später fühlte ich mich schlecht. Meine Töchter verreisten zum ersten Mal in ihrem Leben alleine, und ich Grobian nahm ihnen schon vor der Abreise jede Lust, jemals wieder heimzukehren. Schweren Herzens klopfte ich an ihre Tür und entschuldigte mich.
»Das geht nicht!« Sarah funkelte mich an. »Du kannst dich gar nicht entschuldigen!«
»Was?«, fragte ich verdutzt. »Wieso geht das seit neuestem nicht mehr?«
»Du kannst uns höchstens um Entschuldigung bitten«, erklärte mir Louise spitz, die nicht nur eine halbe Stunde jünger, sondern zum Glück auch ein wenig friedfertiger war als ihre große Schwester. »Man kann sich nicht selber entschuldigen. Das wäre ja totaler Blödsinn.«
So hatte ich die Sache noch nie gesehen. Ab sofort würde ich diese so häufig benutzte Politiker-Formulierung ganz anders betrachten.
»Also gut, okay«, seufzte ich. »Dann bitte ich euch hiermit offiziell und in aller Demut um Verzeihung.«
Als sie sich nur schweigend ansahen, fügte ich hinzu: »Es tut mir wirklich leid. Mir geht’s heute nicht besonders.«
Sie sahen sich immer noch an. Sie überlegten. Sie überlegten lange. Dann wandten sie sich an mich.
»Wir müssen uns beraten«, erklärte Louise förmlich.
»Würdest du bitte draußen warten?«, ergänzte Sarah.
Ich versuchte, die Tür nicht allzu fest zuzuknallen. Nach kaum mehr als fünf Minuten wurde ich wieder vorgelassen.
»Dein Verhalten ist hiermit entschuldigt«, eröffnete mir Louise das gnädige Urteil.
»Aber wir sind trotzdem total sauer auf dich.«
»Mädels, ich hab wirklich einen schrecklichen Tag hinter mir, da können einem schon mal die Nerven durchgehen!«
»Du hast ja immer nur schreckliche Tage.«
Sie ließen nicht mit sich reden. Sie hörten mir nicht einmal mehr zu. Kein Wesen dieser Erde kann so nachtragend sein wie ein beleidigter weiblicher Teenager. Glücklicherweise hatte ich gestern genug Rotwein gekauft.
So setzte ich mich mit Flasche und Glas ins Wohnzimmer, zog den Kopfhörer über die Ohren, drehte die Lautstärke meiner Anlage so weit auf, wie ich es meinen Töchtern immer wieder verbot, und dröhnte mich mit einer alten Platte von Blind Faith zu. Danach fühlte ich mich ein klein wenig besser. Die Flasche war fast leer, mein Magen knurrte, weil ich noch immer kaum etwas gegessen hatte, mir war schwindlig, und ich ging ins Bett. Den Wecker stellte ich auf fünf.