12

Bereits eine Stunde später saß mir Xaver Seligmann wieder gegenüber. Diesmal jedoch nicht in seinem Wohnzimmer, sondern in meinem Büro.

»Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, falls Sie sich dadurch selbst belasten könnten«, leierte ich die übliche Eröffnungslitanei jedes Verhörs herunter. »Und es steht Ihnen natürlich frei, einen Anwalt hinzuzuziehen.«

»Und Ihnen steht es frei, mich irgendwo zu lecken«, knurrte er.

»Wir haben in Ihrem Wagen ein Handy gefunden, das vermutlich zur Vorbereitung eines Bankraubs diente, und außerdem einen Packen Geldscheine, ungefähr tausend Euro, die – auch das ist zugegeben noch eine Vermutung – aus der Beute dieses Bankraubs stammen. Wie erklären Sie das?«

»Das ist ganz einfach.« Gelassen fummelte er eine Zigarette aus der Packung. »Sie und Ihre feine Kollegin haben Ihre sogenannten Beweismittel in meinem Auto deponiert, nur um sie dann gleich darauf zu finden. Ich weiß zwar noch nicht, was für ein Spiel Sie spielen, aber eines kann ich Ihnen sagen: es wird nicht klappen. Sie suchen einen Dummen, den Sie der Öffentlichkeit als Täter vorführen können, weil Sie nicht im Stande sind, den wahren Schuldigen zu ermitteln. Aber ich bin eindeutig der falsche Kandidat dafür. Ich werde mich von Ihnen nicht aufs Glatteis führen lassen. Und auf einen Anwalt kann ich verzichten, weil ich keinen brauche.«

»Solche Spiele, wie Sie es nennen, habe ich nicht nötig. Wenn Sie mit der Sache etwas zu tun haben, dann werde ich es Ihnen nachweisen, und zwar ohne Tricks. Also gestehen Sie lieber gleich.«

Seligmann steckte sich die Zigarette an, ohne hinzusehen. »Gesetzt den Fall, ich hätte tatsächlich irgendwas mit diesem Überfall zu tun, meinen Sie im Ernst, ich würde das Geld ausgerechnet im Handschuhfach verstecken?«

»Ach, Herr Seligmann.« Ich lachte ihn an. »Sie glauben nicht, was ich hier schon für Sachen erlebt habe. Einbrecher, die am Tatort Bier finden und sich nach dessen Vernichtung an Ort und Stelle schlafen legen. Ladendiebe, die noch im Kaufhaus vor Aufregung oder Blödheit ihren Personalausweis verlieren. Ein anderer hat seine Frau ermordet, weil sie ihn verlassen wollte. Er hat sie zerstückelt, eingefroren und dann nach und nach ins Klo gespült. Nur den Kopf, den hat er im Keller liegen lassen. Er konnte uns später nicht erklären, warum. Er hat ihn einfach dort liegen lassen und irgendwann vergessen. Erst drei Jahre nach dem Mord haben meine Leute den Kopf zufällig gefunden, auf der Suche nach Hehlerware. Er hatte nebenher einen schwunghaften Handel mit gestohlenen Handys betrieben. Dieser Mann hätte alle Zeit der Welt gehabt, den Kopf seiner toten Frau verschwinden zu lassen. Aber er hat es nicht getan.«

Seligmann blies Rauchringe in Richtung Decke. »Der wollte erwischt werden, das ist klar. Unbewusst hat er die ganze Zeit gehofft, dass Sie das Ding finden, damit er endlich bestraft wird.«

»Vielleicht wollten auch Sie bestraft werden? Vielleicht setzt es Ihnen zu, dass Sie zwei Menschenleben auf dem Gewissen haben?«

Er musterte mich verwundert. »Jetzt soll ich also auch noch jemanden umgebracht haben? Darf ich wenigstens erfahren, wen?«

Ich erzählte ihm von Bonnie and Clyde und ihrem Ende. Und dass er als Anstifter und Organisator ja wohl nicht ganz unschuldig war an ihrem Schicksal. Seligmann betrachtete die Glut seiner Zigarette und schwieg.

»Ein Verbrechen zu begehen, ist für Ungeübte in der Regel viel kräfteraubender, als sie sich vorgestellt hatten«, fuhr ich fort. »Auf einmal kann man nicht mehr richtig schlafen. Nicht mehr klar denken. Überall sieht man plötzlich Feinde und Polizisten. Und irgendwann macht man den ersten Fehler. Unweigerlich. Das ist unser Glück, denn wenn es nicht so wäre, dann würden wir die meisten niemals erwischen.«

Wieder machte er seine Rauchkringel. »Wenn das stimmt, was Sie mir unterstellen, dann müssten ja wohl meine Fingerabdrücke auf den Sachen sein, auf dem Handy und auf den Geldscheinen, nicht wahr?«

»Und wenn nicht, dann werden wir andere Mittel finden, es Ihnen nachzuweisen.«

Er schwieg und rauchte.

Vangelis trat ein und setzte sich still neben mich. Sie sah mich an, und ihr Blick sagte: »Ja.« Dann wandte sie sich an den Verdächtigen.

»Ich komme eben aus unserem kriminaltechnischen Labor«, begann sie freundlich. »Das Handy ist definitiv das gesuchte. Mit diesem Ding haben Sie das Bankräuberpärchen vor dem Überfall ungefähr zwanzig Mal angerufen. Die Geldscheine werden zurzeit noch überprüft, aber ich würde jede Wette eingehen …«

»Worum geht diese Wette?«, fiel Seligmann ihr kalt ins Wort. »Ich halte dagegen.«

»Wenn Sie jetzt ein Geständnis ablegen, dann wird das später im Prozess zu Ihrem Vorteil sein«, mischte ich mich ein. »Ab jetzt können Sie nur noch Punkte sammeln, indem Sie mit uns zusammenarbeiten. Mit Leugnen reiten Sie sich nur immer weiter rein.«

Er sah abwechselnd mich und Vangelis an. »Das haben Sie ja wirklich hübsch eingefädelt, alle Achtung«, brummte er dann und zerquetschte seine erst halb gerauchte Zigarette. »Ab sofort sage ich nichts mehr ohne meinen Anwalt.«

Endlich zitterten seine Finger doch ein wenig. Auch sein Blick war nicht mehr so ruhig wie heute Morgen.

»Woher kannten Sie Jannine von Stoltzenburg und Thorsten Kräuter?«, wollte Vangelis wissen.

»Wenn das die zwei sind, die die Bank ausgeraubt haben, dann kann ich nur sagen, ich hab sie überhaupt nicht gekannt«, versetzte er wütend. »Und ich sagte doch eben laut und deutlich, ich verlange einen Anwalt!«

»Herr Seligmann.« Ich sah ihn fest an. »Jedes Detail, das wir ab jetzt ohne Ihre Unterstützung herausfinden müssen, kann ein halbes Jahr mehr bedeuten für Sie. Überlegen Sie sich das.«

»Ein halbes Jahr?«, fragte er mit verkniffenem Mund. »Dann spielt Beamtenbeleidigung ja jetzt keine große Rolle mehr.« Plötzlich grinste er mich an. »Sie sind ein Arschloch, Herr Gerlach. Zwei Jahre Knast ist mir das Vergnügen wert: Sie sind das größte Arschloch, das mir je über den Weg gelaufen ist.«

Er lehnte sich zurück, verschränkte fest die Arme vor der Brust und sah auf seine Knie in der hellgrauen, ungebügelten Schlabberhose.

 

»Wie heißt dieser Wein?«, fragte meine Sekretärin. »Das müsste ich natürlich schon wissen.«

Endlich war ein wenig Ruhe eingekehrt. Seligmann saß in U-Haft, das Labor arbeitete noch an der Untersuchung seines Handys und der Geldscheine.

»Ich weiß nur, es war ein Kerner, und er war aus der Gegend von Meersburg und hat göttlich geschmeckt. Und da dachte ich, wo doch Ihre Schwester da unten wohnt …«

»Ich werd sie nachher gleich mal anrufen. Das macht sie bestimmt. Meine Schwester ist nämlich ein großer Fan von Ihnen.«

»Ein Fan?«, fragte ich verblüfft. »Sie kennt mich doch überhaupt nicht.«

»Aber doch«, erwiderte die beste Sekretärin von allen mit strahlendem Lächeln. »Sie liest so gerne Krimis und ist immer ganz verrückt darauf, dass ich ihr von unseren neuesten Fällen erzähle.«

Sie sprang auf. »Es hat geklopft. Das wird die Lehrerin sein.«

Frau Hellhuber hatte darauf bestanden, zu mir ins Büro zu kommen, obwohl ich angeboten hatte, sie aufzusuchen.

»Aber das ist doch interessant für unsereinen«, hatte sie mir am Telefon erklärt. »Wann hat man schon einmal Gelegenheit, die Kriminalpolizei von innen zu sehen?«

Augenblicke später saß sie vor mir. Groß, hager, gerade. Zeige- und Mittelfinger ihrer knochigen Hand verrieten die Kettenraucherin. Ihr Blick war neugierig und freundlich. Sie unterrichtete am Hölderlin-Gymnasium Musik und Geschichte und roch nach preiswerter Seife.

Sönnchen brachte uns Kaffee. Die Lehrerin hatte einen Cappuccino gewünscht, ich einen doppelten Espresso. Seit wir im Vorzimmer diesen Kaffeecomputer stehen hatten, konnten wir jedem Café der Stadt Konkurrenz machen.

»Unser Direktor sagte mir, Sie wollten mit jemandem sprechen, der Xaver noch aus seiner aktiven Zeit kennt. Nun – hier bin ich also.« Sie strahlte mich an. Um ihre Augen bildeten sich Fältchen, die verrieten, dass Frau Hellhuber gerne lachte.

»Im Grunde hat sich das Thema schon erledigt. Wir haben ihn nämlich heute Vormittag festgenommen.« Ich nahm einen Kuli in die Hand und einen Block auf die Knie. »Aber trotzdem, erzählen Sie mir doch einfach ein bisschen von ihm. Ich werde nicht so recht schlau aus dem Mann. Was ist er für ein Mensch? Wie war er als Lehrer? War er beliebt?«

»Bei den Schülern oder bei den Kollegen?« Die Lehrerin lachte mit blitzenden Augen. »Das ist ja oft ein gravierender Unterschied.«

»Beides würde mich interessieren.«

Frau Hellhuber spielte mit ihren knochigen Fingern. »Sehen Sie, ich bilde mir ein, ein ganz gutes Gespür für Menschen zu haben. Aber an Xaver bin auch ich immer gescheitert. Ihn habe ich nicht verstanden. Er legte natürlich auch keinerlei Wert darauf, verstanden zu werden, sich mitzuteilen. Das hat ihm im Kollegium nicht nur Freunde gemacht. Die Schüler dagegen, die haben ihn geliebt.« Plötzlich war ihr Blick traurig. »Xaver war in der Lage, eine außer Rand und Band geratene Neunte innerhalb einer Minute stillzukriegen, ohne dass ein lautes Wort fiel. Man konnte einfach nicht anders, als ihm zuzuhören, wenn er sprach. Man hätte sich im anderen Fall … ja, schlecht gefühlt. Er kann eine solche Ruhe und Souveränität ausstrahlen – ich habe so etwas bei keinem anderen Menschen erlebt. Andererseits …« Sie verstummte.

»Andererseits?«

»Er kann auch ziemlich ungehalten werden, vorsichtig ausgedrückt. Ich erinnere mich da an zwei äußerst unschöne Vorfälle. Und früher, bevor ich ihn kannte, soll er sogar einmal versetzt worden sein, weil er einen Kollegen ohrfeigte.«

»Was waren das für unschöne Vorfälle?«

»Einmal, das weiß ich noch genau, hatten wir Notenkonferenz, und ein Kollege wollte einer Schülerin eine schlechtere Note geben, als sie nach Xavers Meinung verdiente. Sie wäre sitzen geblieben, und das fand er nicht in Ordnung. Der Kollege hat dann auch noch eine abfällige Bemerkung gemacht, und da ist Xaver völlig außer sich geraten. Er hat herumgebrüllt wie von Sinnen, und wir haben gefürchtet, er würde seinem Kontrahenten an die Kehle gehen. Aber so weit ist es zum Glück nicht gekommen. Es ist mir gelungen, ihn zu besänftigen. Aber es war für uns alle äußerst unangenehm.«

»Und das andere Mal?«

»Da ist er mit jemandem vom Oberschulamt in Streit geraten. Den Anlass weiß ich nicht mehr. Aber die Situation war ähnlich. Es war peinlich. Ja, peinlich.«

»Wenn jemand mit achtundvierzig in Pension geht, dann ist sein Einkommen anschließend nicht gerade üppig. Könnten Sie sich vorstellen, dass er Geldsorgen hat?«

»Haben wir die nicht alle mehr oder weniger?« Wieder dieses Lachen, bei dem einem warm ums Herz wurde. »Xaver lebte schon immer sehr bescheiden in seinem geerbten Häuschen. Außerdem kann er rechnen und neigt gewiss nicht zur Verschwendung.«

»Er gibt sein Geld jeden Monat bis auf den letzten Rest aus. Wenn ich seine Ausgaben überschlage – es passt nicht mit den Einnahmen zusammen. Da bleiben Monat für Monat ungefähr fünfzehnhundert Euro, die scheinbar spurlos verschwinden. Ob er sich ein teures Hobby zugelegt hat? Glücksspiel? Eine kostspielige Freundin? Seit Jahren fährt er zwei Mal die Woche irgendwohin und bleibt für Stunden weg. Aber er will uns nicht verraten, was sein Ziel ist.«

»Auch wenn er mal cholerisch werden kann, Xaver ist im Grunde kein sehr leidenschaftlicher Mensch«, erwiderte sie nach einigem Nachdenken. »Nein, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er der Spielsucht oder einer Frau verfallen sein sollte.« Mit offenem Blick sah sie mich an. »Worum geht es eigentlich? Er wird doch nicht etwa eines Verbrechens verdächtigt?«

»Doch. Leider. Worum es geht, darf ich Ihnen im Augenblick noch nicht verraten. Nur so viel: Einige Indizien sprechen sehr gegen ihn. Auf der anderen Seite werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt bei dieser Geschichte. Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt mit ihm?«

»Vor acht Jahren? Oder neun? Ich weiß es nicht mehr.«

Im Vorzimmer telefonierte Sönnchen lautstark. Nach dem Ton und dem häufigen Lachen zu schließen, war es kein Dienstgespräch. Einmal fiel das Wort »Kerner«.

»Weshalb ist er so früh aus dem Dienst ausgeschieden? Ihr Chef machte eine Andeutung, es ging um eine psychische Erkrankung.«

»Die Psyche, ja.« Ihr Miene wurde bitter. »Es war eine Depression mit allen Symptomen, die man sich denken kann. Schrecklich, das mit ansehen zu müssen. Er war doch so gerne Lehrer, die Schüler haben ihn gemocht. Und er wollte ja auch gar nicht in Pension. Im Gegenteil, das Oberschulamt musste ihn geradezu zwingen.«

»Depressionen haben manchmal einen Anlass«, warf ich leise ein.

»Einen Anlass«, wiederholte sie ebenso leise und sah an mir vorbei auf die Aktenordner hinter meinem Rücken. An den Händen trug sie verschiedene Ringe, alle hübsch, alle nicht sonderlich wertvoll. Ihr dezent gemustertes langes Baumwollkleid ließ vermuten, dass Frau Hellhuber hin und wieder vom einfachen, gesunden Leben träumte. Ihr Gesicht war ungeschminkt, das für meinen Geschmack zu lange und schon stark ergraute Haar trug sie offen.

Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem inzwischen kalten Cappuccino.

»Seltsam, dass Sie das ansprechen. Ich habe nämlich oft über diesen Punkt nachgedacht. Es ist damals tatsächlich etwas geschehen, was vielleicht den Anlass gab für seine Erkrankung.«

Draußen legte Sönnchen mit einem Lachen auf, und es wurde wieder still.

»Seine Frau hat ihn damals verlassen, nach nicht einmal zwei Jahren Ehe. Aber da hat man ihm nichts angemerkt, das ließ ihn merkwürdigerweise völlig kalt. Richtig schlimm wurde es erst, nachdem er einem Mädchen das Leben gerettet hatte.«

»Jule Ahrens.«

»Sie kennen die Geschichte.«

»Einem Menschen das Leben zu retten, ist eigentlich kein Grund, depressiv zu werden.«

»Das ist natürlich wahr.« Traurig lächelte sie mich an. »Und ich verstehe es auch nicht. Aber es ist so: Wenige Wochen nach diesem Ereignis hat er zum ersten Mal gefehlt. Danach hat er sich rapide verändert. Bald kam auch noch der Alkohol dazu. Zuvor war mir nie aufgefallen, dass er trank. Man riecht das ja.«

Ein Hubschrauber knatterte im Tiefflug über uns hinweg in Richtung Westen, und sie musste kurz unterbrechen.

»Dann war er immer öfter krank, kam zu spät, seine Wutausbrüche wurden immer häufiger und sinnloser. Und nach einem halben Jahr ungefähr ging es wirklich nicht mehr.«

Mein Telefon klingelte. Mit einer gemurmelten Entschuldigung hob ich ab. Es war Rolf Runkel, wie ich am Display erkannte. Er war der Einzige im ganzen Amt, der aus unerfindlichen Gründen eisern seine Nummer unterdrückte, so dass ich auch ohne Brille sofort erkannte, wer anrief.

»Der Anwalt von diesem Seligmann hat angerufen. Er will mit Ihnen reden.«

»Und warum wendet er sich dann nicht an meine Sekretärin?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Er soll sich an Frau Walldorf wenden und sich einen Termin geben lassen.«

»Das geht aber nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich hab mir seine Nummer nicht aufgeschrieben.«

»Dann sehen Sie doch einfach im Telefonbuch nach.«

Betretenes Schweigen. Also hatte er sich auch den Namen nicht notiert. Runkel war nicht der intelligenteste meiner Mitarbeiter. Aber nun gut, der Anwalt würde sich irgendwann von selbst wieder melden.

Als ich seufzend auflegte, sah Frau Hellhuber mir ratlos ins Gesicht.

»Die Zeitungen haben Xaver damals als Helden gefeiert. Er sollte sogar irgendeine Medaille bekommen, für vorbildliches Verhalten. Aber das hat er abgelehnt, davon wollte er nichts hören. Stattdessen fing er mit dieser elenden Trinkerei an.«

»Die menschliche Seele funktioniert nun mal nicht wie ein Computer.«

»Und selbst die verstehen wir ja nicht immer, nicht wahr?«, meinte sie lächelnd.

Ich warf meinem Laptop einen schiefen Blick zu, der sich oft genug verhielt, als hätte er eine böse Seele voller fieser Launen.

»Haben Sie Herrn Seligmann auf das Thema angesprochen?«

»Das war völlig unmöglich.« Fast erschrocken schüttelte sie den Kopf. »Er war ja ohnehin nicht übermäßig kommunikativ. Aber darüber war überhaupt nicht mit ihm zu reden. Da war er wie …« Sie lehnte sich zurück, sah zur Decke. »Er wurde regelrecht wütend, wenn man ihn darauf ansprach. Man konnte fast den Eindruck haben, er fühlte sich …« Sie schluckte. Sah mir ins Gesicht. Sah wieder weg. »Schuldig«, sagte sie leise. »Ja, schuldig. Merkwürdig, nicht?«

Der Kaffee war getrunken. Die Uhr zeigte halb vier. Die Lehrerin erhob sich.

»Anfangs habe ich noch hin und wieder versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber meist hat er nicht einmal das Telefon abgenommen. Zwei, drei Mal habe ich ihm sogar einen Brief geschrieben, einmal eine Karte zum Geburtstag. Aber er hat nie geantwortet.«

»Sie haben ihn gemocht, nicht wahr?«, fragte ich.

»Gemocht?«, erwiderte sie mit verlegenem Lächeln und senkte den Blick. »Ein bisschen zu sehr vielleicht.«

Als Frau Hellhuber gegangen war, streckte Sönnchen den Kopf herein.

»Der Herr Runkel lässt ausrichten, der Name von dem Anwalt ist ihm wieder eingefallen, aber er kann ihn im Telefonbuch nicht finden. Und meine Schwester sagt, es ist ihr eine Ehre, den Wein für Sie zu besorgen, und wie viele Kartons es denn sein dürfen.«

»Fünf«, bestellte ich ohne zu überlegen oder nach dem Preis zu fragen.

»Sie kennt nämlich wen in der Winzergenossenschaft. Da kriegt sie ordentlich Prozente.«

Na, dann konnte der Wein ja so teuer nicht sein. Mindestens einen Karton würde ich in der Wohnung von Theresas Freundin deponieren.

Dann war es auf einmal still. Das passierte hin und wieder: Nachdem man stundenlang telefoniert und Gespräche geführt und Anweisungen gegeben hatte, war es plötzlich still. Das waren schöne Momente, die man genießen musste. Draußen war Wind aufgekommen, und es sah nach Gewitter aus. Ich setzte mich bequem hin und schloss die Augen.

Manchmal gehen unsere Gedanken seltsame Wege. Blitzschnelle Assoziationsketten, die uns im Rückblick völlig unlogisch erscheinen, aber dennoch punktgenau zum Ziel führen. Vielleicht war es das Stichwort Wein. Eigentlich lag schon wieder genug auf meinem Schreibtisch, was erledigt werden wollte, aber es gelang mir nicht, mich aufzuraffen. Etwas rumorte in mir, wollte an die Oberfläche. Wein. Wein? Ich musste unbedingt welchen kaufen, wenn ich heute Abend nicht auf dem Trockenen sitzen wollte. Meine Vorräte waren zu Ende. Die fünf Flaschen, die Theresa mitgebracht hatte, hatten wir gemeinsam geleert. Heute vor einer Woche hatte ich zum letzten Mal welchen gekauft, drei Flaschen Nero d’Avola in dem Lädchen, wo auch Seligmann üblicherweise seine Besorgungen erledigte.

Der Ladenbesitzer war definitiv nicht erfreut über meinen Anruf. Er habe inzwischen genug von der Polizei, erklärte er mir barsch, im Lauf der Woche habe er noch zwei weitere Male Besuch gehabt von Kollegen mit sehr, sehr vielen sehr, sehr lästigen Fragen, und nun sei es doch wohl wirklich genug. Noch weniger begeistert war er, als er hörte, dass ich nicht ihn, sondern seine Angestellte hinter der Fleisch- und Wursttheke zu sprechen wünschte.

»Tine hat aber Kundschaft.«

»Nur eine einzige Frage. Es dauert bestimmt nicht lange.«

Leise vor sich hinmaulend gab er schließlich nach. Ich vermutete, er ließ mich absichtlich lange warten. Endlich meldete sich die junge Frau. Ich erkannte ihre Stimme sofort wieder.

»Sie haben letzten Montagvormittag Herrn Seligmann bedient. Wir haben darüber gesprochen.«

»Ah, Sie sind das! Ja, stimmt. Ein Achtel grobe Leberwurst hat er gekauft und ein Putenschnitzel.«

»Kam er Ihnen an dem Tag irgendwie merkwürdig vor? Vielleicht zerstreuter als sonst? Deprimiert?«

»Nein, gar nicht. Im Gegenteil, er hat sogar eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Für seine Verhältnisse war der richtig geschwätzig.«

»Das waren jetzt aber schon mindestens drei Fragen!«, hörte ich eine Männerstimme im Hintergrund grummeln.

»Was hat Herr Seligmann gemacht, nachdem er bei Ihnen fertig war?«

»Erst ist er zu den Nudeln«, erwiderte sie ohne Zögern. »Makkaroni hat er genommen und Reis, zum Putenschnitzel vielleicht. Anschließend war er beim Regal mit den Soßen. Dahin kann ich aber von hier aus nicht gucken. Ich hatte dann auch wieder Kundschaft. Später hab ich ihn am Weinregal gesehen.«

Ich erinnerte mich an die Aufteilung des Ladens. Die alkoholischen Getränke stehen ja aus irgendeinem Grund immer am Ende des erzwungenen Rundgangs.

»Und dann ging er zur Kasse?«

»Genau. Nein, warten Sie. Erst hat er noch die Zeitung genommen. Den Kurier.«

»Und den hat er in seinen Korb gelegt zu den anderen Sachen?«

»Nein«, kam es jetzt auf einmal sehr zögernd. »Er hat die Zeitung aufgeschlagen. Das macht er oft. Schon mal kurz reingucken. Aber er kauft sie dann immer trotzdem. Der Seligmann ist keines von den Sparschweinen, die die Zeitung gleich hier im Laden lesen und dann wieder zurückstecken. Tschuldigung, ich meine, Sparschweine nennen wir hier die Leute, die …«

»Und weiter?«

»Ich hab dann nicht mehr auf ihn geachtet. Hab Kundschaft gehabt, wie gesagt. Die Frau Völler. Die will immer nur Maultaschen. Irgendwann stirbt die todsicher an einer Maultaschenvergiftung.«

An der Wursttheke war Seligmann also noch guter Dinge gewesen. Für seine Verhältnisse geradezu ausgelassen, hatte eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Und wenige Minuten später, an der Kasse, war er so blass und abwesend, dass Herr Widmer sich Sorgen um seine Gesundheit machte. Dazwischen lagen Makkaroni, Reis, zwei Flaschen Trollinger und eine Zeitung.

»Sönnchen«, rief ich durch die offenstehende Tür ins Vorzimmer, »könnten Sie mir bei Gelegenheit ein Exemplar des Kurpfalz-Kuriers vom vergangenen Montag besorgen?«

»Vielleicht find ich das Ding noch im Altpapier«, rief sie fröhlich zurück. »Ich les das Käseblatt zwar nicht, aber abonniert hab ich’s komischerweise trotzdem seit zwanzig Jahren.«

»Irgendwann werde ich Sie fürs Bundesverdienstkreuz vorschlagen müssen.«

»Eine Gehaltserhöhung würd’s auch tun, Herr Kriminalrat.«

Die restlichen Stunden des Nachmittags und Abends arbeitete ich liegen gebliebene und immer wieder zur Seite geschobene Dinge auf. Irgendwann kam eine SMS von Sarah. Pünktlich zur Abreise waren ihre Zahnschmerzen verschwunden, und auch Louise war wieder fit. Gegen zehn würden sie ankommen. Ich schrieb zurück, wünschte eine gute Fahrt und erhielt keine Antwort.

Draußen begann es zu donnern und kurze Zeit später zu regnen. Es wurde Abend, Sönnchen verabschiedete sich, das Gewitter zog weiter, verirrte sich irgendwo im verwinkelten Neckartal, und ich kam erstaunlich gut voran mit meinem Papierkram. Es gibt Stunden, da läuft es, und die muss man nutzen. Als ich um halb zehn endlich meine Tür abschloss, war mein Schreibtisch aufgeräumt wie lange nicht mehr, die Polizeidirektion lag still und wirkte verlassen. Nur unten, wo der Bereitschaftsdienst saß, brannte noch Licht. Ein Radio dudelte dort, und eine Frauenstimme lachte kreischend.