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»Dieser Seligmann hat mit dem Bankraub nichts zu tun«, meinte meine hübsche Untergebene. »Er lügt wie gedruckt.«

»Sie haben also auch Ihre Zweifel an seiner Geschichte?«

»Zweifel?« Sie lächelte mich ungläubig an. »Ich bin überzeugt, spätestens morgen wird er sein Geständnis widerrufen. Keine Ahnung, welcher Teufel diesen Mann reitet.«

Ich nahm die Brille ab und rieb mir die Augen.

»So betrunken kann ein Mensch gar nicht sein, dass er Geld aus der Beute und ein ihn so belastendes Ding wie dieses Handy in seinem Auto vergisst. So, wie ich Seligmann einschätze, hätte er das Handy unmittelbar nach der Tat entsorgt. Und zwar so gründlich, dass es niemals wiederauftaucht.«

»Ich bin außerdem sicher, das Geld stammt nicht aus der Beute.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Bonnie and Clyde haben nur die großen Scheine mitgenommen. Ich habe noch mal in den Aussagen des Filialleiters nachgelesen. Alles unter Hundertern haben sie liegen lassen, damit ihre Tüten nicht zu schwer wurden.«

»Und in seinem Handschuhfach …«

»… lagen ausschließlich Fünfziger, Zwanziger und ein paar Zehner.«

Ich hörte noch Heribert Brauns Worte: Er wollte ja immer nur kleine Scheine …

Ich sah zum Fenster hinaus und seufzte vermutlich fast so dramatisch wie Sönnchen vorhin. Draußen schien warm die Spätnachmittagssonne. Augenblicke später verschwand sie hinter einem weißen Wölkchen, nur, um Sekunden später wieder hervorzukommen.

»Eine Weile spielen wir sein Spiel noch mit. Und nebenbei müssen wir herausfinden, warum er unbedingt ein Verbrechen gestehen will, das er nicht begangen hat.«

»Mir fallen spontan zwei mögliche Erklärungen ein«, sagte sie und reckte den Zeigefinger der rechten Hand. »Erstens, er deckt den wahren Schuldigen. Er weiß, wer es war, und will verhindern, dass es herauskommt.«

»Oder zweitens«, führte ich ihren Gedanken fort, »er hat etwas auf dem Gewissen, was noch viel schlimmer ist als ein Bankraub.«

Nachdem Vangelis gegangen war, beschloss ich, für heute Feierabend zu machen. Ich war müde, und meine Töchter würden sich bestimmt freuen, mich nach der langen Trennung wieder einmal beim Abendessen zu sehen. Gestern waren sie wegen eines Autobahnstaus erst kurz vor Mitternacht angekommen, hatten im Flur ihr Gepäck fallen lassen und waren nach ein paar mürrischen Worten sofort in die Betten gesunken. Bevor ich sie abholte, hatte ich die Wohnung noch einmal überprüft, ob nicht irgendwo verräterische Spuren von meinem Wochenende zurückgeblieben waren. Wie leicht übersieht man Lippenstift an einem Glas, eine Haarspange im Bad. Aber ich hatte nichts gefunden. Heute hatten sie schulfrei gehabt, um auszuschlafen. Und nun waren sie bestimmt hungrig und hatten viel zu erzählen.

Ich durfte nicht vergessen, meiner Sekretärin morgen einen kleinen Blumenstrauß mitzubringen wegen der Sache mit der Zeitung. Die lag noch in ihrem Papierkorb, sah ich im Vorbeigehen. Ich nahm sie heraus, strich das Blättchen notdürftig glatt und steckte es ein.

 

Louise war wieder völlig gesund, und Sarah schwor, seit Tagen nicht die Spur von Zahnschmerzen gehabt zu haben.

»Echt! Total wie weggezaubert!«, erklärte sie mit treuherzigem Kulleraugenblick. »Meine Zähne reparieren sich eben doch selbst.«

»Cool war’s«, strahlte Louise auf meine Frage, wie es ihnen ergangen sei. »Echt alles super-megageil da oben!«

»Musst du unbedingt auch mal hin!«, stimmte Sarah ein. »Das Meer, der Strand, die Fischerboote!«

»Und einmal haben wir einen Sonnenuntergang erlebt, da hättest du Augen gemacht!«

Es war mir neu, dass meine Töchter sich für Sonnenuntergänge interessierten. Und ich erinnerte mich an diverse SMS, in denen alles völlig anders geklungen hatte. Außerdem hatte ich eher etwas von tollen Diskotheken und süßen Jungs erwartet.

»Und wie war’s bei dir?«, fragte Sarah.

»Ach.« Ich winkte ab. »Nichts als Arbeit. Schön, dass ihr wieder da seid. Habt ihr schon gegessen?«

Misstrauisch sahen sie mich an. »Wir wollten noch weg.«

»Wir könnten doch trotzdem vorher zusammen essen. Ein bisschen eure Rückkehr feiern? Ich hab eine Überraschung vorbereitet.«

»Freust du dich denn, dass wir wieder da sind?«, fragte Louise ungläubig.

»Und wie! Ich hab euch richtig vermisst.«

»Was denn für eine Überraschung?«

»Hamburger. Ich hab schon alles eingekauft. Es gibt Hamburger zum Sattessen.«

»Das geht aber nicht«, sagte Louise mit fester Stimme.

»Wieso nicht? Ihr liebt doch Hamburger.«

»Weil wir jetzt Vegetarier sind«, erklärte Sarah mit großem Ernst. »Wir essen nichts mehr von Tieren.«

»Wir haben drüber nachgedacht«, fiel Louise ein. »Die wollen doch auch leben, und es ist doch eigentlich eine Riesenschweinerei, sie umzubringen, bloß weil sie uns gut schmecken und so weiter.«

Na prima. Nun konnte ich also eine Woche lang jeden Abend Frikadellen essen.

»Auf Sylt haben wir gesehen, wie sie von den Booten kistenweise Fische tragen, die noch leben!«, empörte sich Louise. »Die haben noch gezappelt und nach Luft geschnappt! Das ist doch so was von gemein, findest du nicht auch? So viele Tiere müssen sterben, weil du Lust auf Hamburger hast!«

Diese Logik war zwar nicht ganz schlüssig, aber im Prinzip nachvollziehbar.

»Tiere haben genauso ein Recht auf Leben wie wir!«, meinte Sarah.

Wir einigten uns schließlich auf eine Gemüsepfanne. Nach kurzer Diskussion durfte ich sie immerhin mit Käse überbacken. Beim Essen empörten sich meine Töchter noch ein wenig über uns herzlose Menschen, die unentwegt wehrlose Lebewesen ermorden, und ich überlegte, was ich künftig auf den Tisch bringen sollte. Gemeinsam stellten wir fest, dass eine Gemüsepfanne, ordentlich gewürzt, eigentlich auch ganz genießbar war.

Später zogen sie davon, um eine Klassenkameradin zu besuchen und Sylt-Fotos auf deren PC anzugucken. Alle hatten nämlich heutzutage PCs zu Hause, erfuhr ich, und Internet sowieso. Nur wir natürlich nicht. Wir waren die Einzigen, die überhaupt noch Fotos mit solchen vorsintflutlichen Knipsapparaten machten und Handys ohne eingebaute Kameras hatten.

In der Küche stand noch eine angebrochene Flasche Rotwein. Ich legte ruhige Musik ein und die Füße auf den Couchtisch (was ich natürlich nur tat, wenn meine Töchter es nicht sahen) und schlug Sönnchens inzwischen heillos zerknitterten Kurpfalz-Kurier auf.

Auf Seite fünf, unter »Regionales«, fand ich, was ich suchte. Der dreispaltige Artikel war unterzeichnet mit »JM«, was in Anbetracht der alarmfarbenen Überschrift nur »Jupp Möricke« bedeuten konnte.

»Polizei versagt erneut!«, knallte es mir entgegen. »Grausame Vergewaltigung einer Minderjährigen bis heute nicht aufgeklärt!«, lautete die Unterzeile.

Möricke ging zunächst noch einmal in scharfer Form und aller gebotenen Deutlichkeit auf den Fall Melanie Seifert ein. Und dann kam es:

 

Wäre dies der erste und einzige Fall, könnte man ja noch an Versagen einzelner Beamter glauben. Die Methode scheint jedoch System zu haben. In Kürze jährt sich zum zehnten Mal jene Nacht, in der die eben sechzehnjährige Jule A. Opfer eines abscheulichen Verbrechens wurde. Brutal vergewaltigt und mehr tot als lebendig wurde sie von einem Zeugen nachts auf dem Gehweg der Eppelheimer Goethestraße aufgefunden. Beherzt fuhr der tapfere Mann das blutende und bewusstlose Opfer ins nächste Krankenhaus. Und nur seinem selbstlosen Einsatz ist es zu danken, dass Jule A. heute noch am Leben ist. Aber unter welchen Umständen! Geistig verwirrt und der Sprache nicht mehr mächtig, lebt sie in einem Heim für schwerstbehinderte Erwachsene im Odenwaldkreis. Und was hat die Polizei in diesem Fall unternommen? Man mag es nicht glauben: so gut wie nichts! Noch immer erfreut sich der Täter seiner Freiheit! Wie viel Schuld mag er in den vergangenen zehn Jahren auf sich geladen haben? Wer kann sagen, wie viele Frauen und Mädchen in dieser Zeit zum Opfer seiner perversen Gelüste wurden? Sollte man nicht erwarten, dass die Kriminalpolizei alle Hebel in Bewegung setzt, damit ein solches Scheusal gefasst und unschädlich gemacht wird? Damals, am Tag des niederträchtigen Verbrechens, hätte Jule A. unter normalen Umständen zusammen mit Freundinnen und Freunden ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert. Aber ausgerechnet an ihrem Freudentag, an der Schwelle von der Jugendlichen zur Heranwachsenden, musste sie alle ihre Hoffnungen und kleinen Wünsche begraben. Niemals wird Jule A. ein normales Leben führen. Niemals wird sie sich als Mutter an ihren Kindern freuen, einem Mann ihre Liebe entgegenbringen können. Stattdessen wird die bedauernswerte Frau nun bald ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag unter den deprimierendsten Umständen begehen, die man sich denken kann. Dem Verfasser bleibt, ihr zu wünschen, die Polizei möge künftig solch bestialische Verbrechen mit etwas mehr Engagement verfolgen. Immerhin ist hier ein Hoffnungsschimmer zu vermelden: Aus zuverlässiger Quelle erfuhr der Verfasser, dass der Fall Jule A. derzeit erneut aufgerollt wird. Die jüngsten Fortschritte der Kriminaltechnik lassen hoffen, dass der Täter am Ende doch noch seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Dies wäre immerhin ein, wenn auch überaus trauriges Geburtstagsgeschenk für sein bedauernswertes Opfer.

 

Sogar Fotos von Jule und Seligmann hatte Möricke in irgendeinem Archiv gefunden. Damals hatte er noch völlig anders ausgesehen. Da war noch nichts von diesem unterwürfigen und zugleich verschlagenen Blick. Der Rücken war noch gerade, die Stirn glatt, der Mund nicht so mürrisch wie heute. Kaum zu glauben, dass das Foto nur zehn Jahre alt war.

Ich blätterte die Zeitung bis zum Ende durch. Aber außer einem großen Kreuzworträtsel, das meine Sekretärin – wohl während der Dienstzeit, wenn ich recht überlegte – mit ihrer akkuraten Schrift ausgefüllt hatte, fand ich nichts Erwähnenswertes mehr. Ich faltete sie zusammen, warf sie auf den Tisch und legte mich aufs Sofa. Keith Jarrett spielte leise Klavier.

Weshalb hatte dieser Artikel Seligmann so aus der Fassung gebracht? Musste er sich nicht freuen, wenn der Fall neu aufgerollt und der Täter vielleicht doch noch ermittelt wurde? Oder sollte er am Ende eine ganz andere Rolle in dem Drama vor zehn Jahren gespielt haben, als alle Welt glaubte?

Jetzt fiel mir ein: Seligmann hatte den Bankraub in der Sekunde gestanden, als er hörte, wir würden das Handy auf DNA-Spuren untersuchen. Um diese auswerten zu können, hätten wir natürlich auch von ihm eine Speichelprobe nehmen müssen. Und das musste er unter allen Umständen verhindern, denn er konnte sich ausrechnen, dass wir die Analyseergebnisse später routinemäßig auch durch die Computer des BKA jagen würden. Es war wie bei einem Schachspiel. Standen die Figuren erst einmal richtig, dann fügte sich plötzlich eines zum anderen, dann war das Ergebnis programmiert. Auch hier gab es nur eine einzige Ausgangsstellung, aus der sich alles Weitere folgerichtig ergab. Seligmann hatte Jule vergewaltigt. Es war ihm gelungen, die Tat zu vertuschen, aber mit seiner Schuld war er nicht fertig geworden. Er begann zu trinken, wurde schließlich krank an seinem schlechten Gewissen. Vermutlich war damals einfach niemand auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet er, Jules Lebensretter, könnte der Täter sein. Und als er nun las, der Fall würde neu untersucht, hatte ihn die alte Angst gepackt. Alles, was er so lange niedergekämpft, so mühsam unterdrückt hatte, war wieder hervorgebrochen. In seiner Ausweglosigkeit hatte er schließlich versucht, sich das Leben zu nehmen. War, als ihm dies nicht gelang, geflüchtet, irgendwohin, nur weg, weit weg vom Ort seines Verbrechens, das um so vieles schlimmer war als der Bankraub, bei dem ja niemand ernstlich zu Schaden gekommen war.

Was übrig blieb, war das Handy. Das passte nicht in mein Konzept. Wie kam das in seinen Wagen, wenn er mit dem Bankraub nichts zu tun hatte?

In der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel. Meine Zwillinge kamen zurück, mit roten Bäckchen und blendender Laune. Offenbar hatten sie einen schönen Abend gehabt. Nur Sarahs Gesicht schien mir schon wieder ein wenig asymmetrisch zu sein.