Imagestar 24

Als Iason und ich das Gerichtsgebäude betraten, musste ich zum x-ten Mal in Folge niesen. Und ich hörte erst auf, als wir das Verhandlungszimmer erreicht hatten.

Iason wollte gerade auf den Türöffner drücken, da entwischte mir ein hinterhältiger Nachzügler.

»Ist das dein Wohlfühl-Tick oder wirst du diesmal doch krank?«

»Ich bin quietschfidel«, gestand ich, verärgert über mein verräterisches Geruchsorgan.

Er schenkte mir sein charmantes Lächeln. »Das ist gut. Daran kann ich erkennen, ob ich dich glücklich mache.«

Am liebsten hätte ich ihn jetzt in einen unbesetzten Nebenraum gezogen und dort weitergemacht, wo wir vorhin in der Küche aufgehört hatten. Aber da fiel mir meine Freundin ein, die gerade wegen uns vor Gericht stand und auf ihr Urteil wartete.

»Wir sollten reingehen.« Iason küsste mich auf die Stirn, dann öffnete er die Tür.

Ich schämte mich vor Greta, weil mir so leicht ums Herz war, als wir den Saal betraten. Während sie von der Anklagebank zu uns hinübersah, löste ich verlegen meine Hand aus Iasons. Zunächst sah er mich verwundert an. Dann verstand er und ließ mir, wie es seine Art war, den Vortritt.

»Eure Gerichtssäle sind ganz schön pompös«, flüsterte er.

»Das waren sie nicht immer«, sagte ich. »Aber jetzt, wo unsere Gesellschaft viel friedliebender geworden ist und es längst nicht mehr so viele Verhandlungen gibt wie früher, da wird ein ganz schönes Brimborium um Straftaten gemacht. Auf der anderen Seite gehen sie auch laxer vor«, fügte ich hinzu. »Denk mal, früher haben sich manche Verhandlungen über Wochen hingezogen. Heute sind die Richter viel flexibler, und«, ich fand es wichtig, das zu erwähnen, »das Todesurteil ist weltweit abgeschafft.«

»Weltweit?«

»Nun, irdenweit. Nenn es, wie du willst.«

Ich steuerte auf die Publikumsplätze zu. Iason folgte mir jedoch nicht. Zu meinem Erstaunen ging er schnurstracks auf einen der Schöffen zu und wechselte mit diesem ein paar Worte. Der Schöffe notierte sich etwas und nickte dann. Anschließend kam Iason zu mir zurück und wir setzten uns in die erste Reihe neben Barbara und Frank.

»Was hast du denn gemacht?«, flüsterte ich.

Er neigte sich zur Seite, bis seine Lippen dicht an meinem Ohr waren. »Das erfährst du gleich.«

Irritiert sah ich ihn an, aber dann fiel mir meine arme Freundin wieder ein, und ich hielt die Hände hoch, um ihr meine fest gedrückten Daumen zu zeigen. Greta lächelte, doch wenn man sie einigermaßen kannte, waren ihre Angst und die Unsicherheit schwer zu übersehen. Also hob ich meine gedrückten Daumen noch einmal.

Dann kam der Richter herein. Ein dunkelhaariger und vollbärtiger Mann von eindrucksvoller Größe. Auch das Gesicht entsprach seinem sonst so strengen Äußeren. Streng, aber nicht Furcht einflößend. Nein, er verströmte eine gewisse Zuversicht, bei ihm wollte man glatt an einen Gerechtigkeitssinn glauben. Mich beschlich das Gefühl, dass ich ihn irgendwoher kannte.

Na klar! Es war derselbe Mann, der auch unsere Verhandlung wegen des Einbruchs im Labor geführt hatte.

Mit großen Schritten durchquerte er den Saal, nahm auf dem Podium hinter dem Richterpult Platz und klopfte mit einem altertümlichen Hammer darauf. Nach und nach verstummten die Geräusche. Angespannte Stille verkündete den Verhandlungsbeginn.

Der Schöffe reichte ihm die Notiz, die er für Iason geschrieben hatte. Nickend gab dieser zu verstehen, dass er sie gelesen hatte.

»Mein Name ist Hartung und ich werde diese Verhandlung führen«, stellte sich der Richter vor. Dann überflog er die Akte, die auf seinem Tisch lag. »Der Angeklagten wird schwere Sachbeschädigung in der Bar namens Luxus vorgeworfen. Die besagte Lokalität befindet sich am Rand des Marillien-Stadtparks und wurde vor zwei Wochen neu eröffnet. Die Angeklagte hat die Tat bereits gestanden, sodass diesbezügliche Ermittlungen gegenstandslos werden.« Mit strenger Miene wandte er sich an Greta. »Wussten Sie, dass die Löschanlage mit einem integrierten Stufensystem versehen war, als Sie den Griff vier Mal zogen und diese somit auf ihr Maximum stellten?«

»Ja, verflucht, das hab ich gewusst, aber ich musste doch irgendwie diese ganzen Wahnsinnigen auseinanderbringen.«

Oh, Greta! Anderer Tonfall!

Ungehalten beugte sich der Richter über seinen Tisch. »Aber damit haben Sie einen finanziellen Schaden von achtzigtausend Unics verursacht! Ein Mal hätte es doch auch getan.«

Richter Hartung konnte nicht ahnen, dass verbale Angriffe gegen Greta grundsätzlich hitzige Gegenreaktionen bewirkten. Und da kam er auch schon, der unmittelbare Keulenschlag meiner Freundin. Ich mochte gar nicht hinsehen und kniff die Augen zu.

»Dass es Ihnen nur um den Zaster geht, haben Sie mir ja schon geschrieben.«

»Mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise, Angeklagte.«

»Ist doch so. Waren Sie dabei oder ich? Sie haben doch gar nicht mitgekriegt, wie die aufeinander losgegangen sind. Wie … wie Pitbulls haben die sich aufgeführt.«

Ich öffnete ein Auge.

Hartung sah sie scharf an. So hatte bestimmt noch keiner im Gerichtssaal mit ihm gesprochen.

Die Angst um Greta ließ mich die Luft anhalten.

»Nun«, sagte der Richter. »Es hat sich ein Zeuge gemeldet, den ich dazu befragen werde.«

Das Nächste, was ich aus den Augenwinkeln erhaschte, war eine Bewegung neben mir. Iason war aufgestanden und betrat das Podium.

Was hatte er vor? Der Richter war wegen Greta ohnehin schon angesäuert. Hallo! Wir hatten noch nicht mal unsere alten Arbeitsstunden hinter uns gebracht!

Dr. Hartung wies Iason seinen Platz im Zeugenstand zu.

Gelassen legte Iason eine Hand an den Tisch und redete in einem derart beruhigenden Tonfall, wie nur er ihn beherrschte.

»Herr Richter. Es mag Ihnen vielleicht merkwürdig und feige erscheinen, dass ich eben erst mit der Bitte kam, aussagen zu dürfen, und mit dieser Annahme gebe ich Ihnen uneingeschränkt recht. Ich weiß auch nicht, was mich veranlasst hat, zuzulassen, dass meine Greta diese Schuld auf sich nimmt. Angesichts der gegebenen Umstände kann und will ich jedoch nicht länger schweigen. Sie gibt diese Tat nur vor, weil sie einen anderen deckt.«

Iason machte eine Pause.

»Die Wahrheit ist …«

Atemlose Stille verbreitete sich im Raum. Iasons Blick wanderte von Richter Hartung zu Greta und dann wieder zurück.

»… ich habe die Löschanlage ausgelöst.«

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal.

Was sollte das denn jetzt?

Greta schaute Iason genervt an. »Spiel jetzt nicht den Helden. Du hast bereits genug Arbeitsstunden.« Dann wandte sie sich wieder dem Richter zu. »Er ist ein Chauvinist, verstehen Sie? Ich hab …«

»Dann erkläre dem Richter doch bitte mal, wie du an die Löschanlage drangekommen bist«, schnitt Iason ihr das Wort ab. Erneut wandte er sich dem Richter zu. »Sie befindet sich nämlich auf über zwei Metern fünfzig Höhe. Eine klare Fehlkonstruktion, wenn Sie mich fragen.«

»Sieh mal einer an, wie der lügen kann.« Greta war fassungslos. Als sie sich vom ersten Schock erholt hatte, straffte sie die Schultern und nahm auf ihrem Stuhl eine kerzengerade Haltung ein. »Herr Richter, ich bin einfach auf die Theke geklettert.«

»Greta, du hast nicht auf der Theke gestanden«, entgegnete Iason ruhig – und sehr überzeugend, wie ich fand.

Greta grummelte etwas von Kerle und alle scheiße und kastrieren, aber man verstand sie nicht genau.

Der Richter runzelte die Stirn. »Eine verzwickte Situation«, sprach er seine Überlegungen laut aus. Dann drehte er sich zu seinen Schöffen. »Vielleicht kann ein anderer Licht ins Dunkel bringen.« Er beugte sich zur Sprechanlage auf seinem Tisch und drückte den Knopf. »Ich rufe den Zeugen Fred Hirl auf.«

Oh nein! Was immer auch das Ganze bedeuten sollte. Jetzt fand es ein jähes Ende. Wenn einer genau wusste, womit Iason sich in der Schlägerei ausgiebigst beschäftigt hatte, dann war es Fred höchstpersönlich.

Mit der Bitte, sich auf einen Stuhl seitlich der Anklagebank zu begeben, entließ der Richter Iason aus dem Zeugenstand.

Die Tür öffnete sich und Fred, alias Auberginennase kam herein. Autsch!

Mit verächtlichem Schnauben ging er an Iason vorbei direkt in den Zeugenstand.

»Herr Hirl«, begann der Richter.

Fred nickte weltmännisch. Offensichtlich kam er sich gerade extrem wichtig vor.

»Haben Sie selbst gesehen, wie die Angeklagte an dem Hebel gezogen hat, oder könnte auch dieser junge Mann hier«, Hartung wies auf Iason, »die Löschanlage ausgelöst haben?«

»Der?« Fred zögerte. Warum tat er das? Er wusste doch ganz genau, dass Iason nichts damit zu tun hatte. »Ja, wenn ich mich recht erinnere, habe ich den dreckigen Loduuner sogar hinter der Theke gesehen.«

»Herr Hirl.« Eine unmissverständliche Warnung klang im Tonfall des Richters mit. »Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich rassistische Äußerungen in diesem Saal nicht dulde.«

Fred verschränkte die Arme. Fort war sein weltmännisches Getue. Jetzt wirkte er eher wie ein trotziger Teenager. »Also gut, nein, ich habe nicht gesehen, wie das Mädchen an dem Griff gezogen hat. Er könnte es auch gewesen sein.«

Das war ja wirklich die Höhe! Wenn ich mir nicht sicher wäre, dass Iason einen mir unerklärlichen Plan verfolgte, wäre ich aufgesprungen und hätte lautstark protestiert.

Iasons Miene war unergründlich, ein perfektes Pokerface.

Jetzt war er es, der wieder das Wort ergriff. »Herr Richter, ich weiß nicht, ob Sie darüber informiert sind, dass wir Loduuner keine Geschichten kennen. Sie sind Kunst, eine bloße Gabe der Irden.«

»Nein, das wusste ich nicht.«

Iason drehte sich zu mir um. »Mia, könntest du das, was ich eben sagte, bestätigen.«

»Äh, ja. – Ja, das ist so«, stammelte ich. Worauf zum Teufel wollte er hinaus?

Greta schenkte mir einen wütenden Blick. Ich entschuldigte mich mit einem Achselzucken.

Iason wandte sich wieder an den Richter. »Worauf ich hinauswill, ist: Wenn wir nicht die Fähigkeit besitzen, Geschichten zu erfinden, wie sollten wir dann lügen können?«

Der Richter besprach sich leise mit seinen Schöffen und zog sich dann mit ihnen zur Beratung zurück, jedoch gab er vorher dem Gerichtsdiener ein Zeichen, auf Greta zu achten.

Als er wiederkam, sagte er: »Die Verhandlung wird aufgrund eines anderen Tatverdächtigen neu aufgerollt.«

Allgemeines Raunen ging durch die Zuschauerschar.

»Aber er kann nichts beweisen!« Es gelang Greta kaum noch, ihre Stimme im Zaum zu halten.

Der Richter wandte sich jetzt an sie. »Junge Dame, kraft meines Amtes liegt mir bei einer derart schwierigen Beweislage ein Ermessensspielraum zugrunde.«

Dann winkte er Iason zu sich heran und beugte sich über den Tisch. »Die Liebe macht so manches Mädchen zur Märtyrerin.«

Iason nickte.

Greta fuhr vor Wut fast aus der Haut. »Chauvinisten! Ihr seid alle Chauvinisten!«, brüllte sie in die Runde.

»Komm, Liebes, beruhige dich«, sagte Iason sanft.

»Halt die Schnauze!«, fuhr sie ihn an.

Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Junge Dame, beherrschen Sie sich! Sonst werde ich Sie des Saales verweisen.«

Greta riss die Augen auf. »Sie können mich nicht von meiner eigenen Verhandlung ausschließen.«

»Dies ist nicht länger Ihre Verhandlung. Sie sind freigesprochen.«

»Aber«, stammelte Greta, »das hat er sich doch alles nur …«

»Die Sitzung wird hiermit geschlossen«, unterbrach der Richter sie. Es folgte ein lauter Hammerschlag.

Greta sprang wie ein Feuerwerkskörper von der Anklagebank auf. Bevor sie das Podium verließ, rempelte sie Iason mit der Schulter an. »Wir sehen uns draußen«, knurrte sie im Vorbeigehen.

Der Richter beugte sich erneut zu ihm vor. »Sie sollten Ihre Partnerwahl vielleicht noch einmal überdenken«, riet er besorgt.

Iason seufzte. »Sie kann auch sehr liebenswert sein. Und irgendeiner muss sie doch im Zaum halten.«

Ich biss mir in die Faust, um ein Lachen zu unterdrücken.

»In Ihrem Fall werde ich Milde walten lassen.«

»Danke, Herr Richter«, sagte Iason ernst.

Der Richter klappte die Akte zu und gab sie dem Schöffen neben sich weiter. Die beiden verabschiedeten sich nickend, und Iason ging zu seinem Platz zurück. Seine Miene verriet nichts. Erst als er mir mit einem Auge zuzwinkerte, wusste ich, dass sein Plan eins zu eins aufgegangen war. Er setzte sich neben uns, und Lena empfing ihn mit einem versteckten Schulterklopfer.

»Warum auch immer du das getan hast, danke«, sagte sie leise. »Ich gehe schon mal raus zu Greta und verschaffe dir den nötigen Mindestabstand.« Sie stand auf, nahm ihre Jacke und beugte sich noch einmal zu ihm hinab. »Du solltest zehn Minuten warten, ehe du das Gebäude verlässt. Dann kommt ihr nächstes Schiff. Wenn Greta erst mal am anderen Ende der Stadt ist, dürftest du einigermaßen sicher sein.« Lena drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ehe sie verschwand.

Der Gerichtssaal begann sich zu leeren. Die Leute strömten alle dem Ausgang entgegen, während Iason und ich vor unseren Plätzen warteten. »Na toll. Ich hab einen Polygamisten zum Freund«, flüsterte ich.

Er senkte unauffällig den Kopf in meine Richtung. »Nur solange wir uns in diesem Saal befinden.«

In meiner Miene lagen Frage und Vorwurf zu gleichen Teilen.

Er tat so, als müsste er seine folgenden Worte mit Bedacht wählen. »Stehe ich mal wieder unter Erklärungszwang?«

»Genau!«, sagte ich.

Da lag dieser versteckte Schalk in seinen Zügen.

Der Saal war inzwischen fast verlassen. Auch der Richter nahm nun seine Tasche und stieg vom Podium. Doch ging er nicht an Iason und mir vorbei, nein, er trat geradewegs auf uns zu.

»Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester?«

Aha! Sie kannten sich also. Ich hätte mir denken können, dass an der Sache was faul war.

»Gut, danke. Und wie ist das Befinden Ihrer werten Frau? Hat sich ihr Asthma ein wenig gebessert?«

Nein, die Sache war nicht nur faul, sie stank bis zum Himmel!

»Danke der Nachfrage. Ja, die Meditationstechniken, die Sie ihr beigebracht haben, helfen nahezu bei jedem Anfall. Vielen Dank noch einmal.«

Deshalb war Iason also nach unserem Einbruch im Labor von einer Gefängnisstrafe verschont geblieben! Wenn er mit diesem abgekarteten Spiel nicht gerade meiner Freundin aus einer äußerst brenzligen Lage verholfen hätte … spätestens jetzt wäre ich total empört gewesen. Aber so … Ich wollte ihm dafür am liebsten um den Hals fallen.

Iason nickte dem Richter zu. »Das freut mich. Sie kann sich jederzeit melden, wenn sie wieder Unterstützung braucht.«

Das strenge Auftreten des Richters war wie weggewischt. »Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass wir Ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen. Um ein paar weitere Arbeitsstunden werden Sie jedoch nicht herumkommen, fürchte ich.«

»Die habe ich verdient.«

»Einsicht ist ein erster Schritt zur Besserung. Und nebenbei, sie wirkt sich auch strafmildernd aus.« Dann beugte sich der Richter zu ihm vor. »Die junge Dame an Ihrer Seite macht übrigens auch einen sehr netten Eindruck, wenn Sie verstehen?«

»Danke, ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen«, lenkte Iason ein.

Der Richter sah auf seine Uhr. »Jetzt muss ich aber gehen. Bestellen Sie Ihrer Schwester schöne Grüße«, sagte er auf dem Weg zur Tür.

Iason hob die Hand und verabschiedete sich freundlich.

Kurz darauf waren wir allein.

Streng sah ich ihn an. »Deine Erklärungsnot wächst.«

Iason lächelte. »Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«

»Das hilft dir jetzt auch nicht weiter. Komm mit.«

Wir verließen den Vorplatz des Gerichts und steuerten geradewegs auf den anliegenden Cold Rainforest zu.

Iasons Augen wanderten über den verglasten Garten. »Was ist das?«

»Der Cold Rainforest ist ein riesiges Gewächshaus. Hier werden Pflanzenarten aus ehemals kälteren Regionen erhalten und vor Degeneration bewahrt.«

Als wir durch die aufgleitenden Metalltüren traten, wehte uns ein Duft von Harz und feuchten Blättern entgegen. Wie benommen blieb Iason vor der Pflanzenfülle stehen.

»Ist es nicht toll?« Ich drehte mich im Kreis und zeigte die riesigen Fichten hoch empor bis zu den Wipfeln. Überall wuchsen Baumriesen und Büsche. Farne reckten sich dem abgetönten Dach entgegen und breiteten sich schützend über den Flechten aus, die über das dichte Unterholz kletterten. Die Kälte und das dämmrige Licht verliehen dem Urwald etwas Düsteres, ließen ihn so alt und unberührt wirken, wie es heute wohl nirgendwo sonst mehr zu finden war.

Iason sog die kalte Luft ein. »Hier drinnen ist es angenehm frisch.«

»Ein wenig zu frisch, wenn du mich fragst.«

Iason legte den Arm um mich. Mmh, er roch so gut. Ich kuschelte mich an ihn und legte die Hand an seinen harten Bauch.

Je tiefer wir in den Garten eindrangen, desto dichter wurde sein Bewuchs. Vorbei ging es an moosumpelzten Baumstämmen, zwischen denen sich immer wieder andere Pflanzen breitmachten. Eine Weile brachten wir damit zu, die gigantische Fauna im Halbdunkel des Waldes zu bewundern.

»Also, schieß los«, sagte ich dann.

»Gut«, riss er sich aus den beeindruckenden Fängen der Vergangenheit. »Ich bin nicht polygam.«

Ich klapste ihm auf die Brust. »Jetzt mal ernsthaft.«

»Was willst du zuerst wissen?«

Ich überlegte kurz. Da mir die Antworten auf all meine Fragen gleichermaßen unter den Nägeln brannten, entschied ich, der Reihe nach vorzugehen.

»Du hast vor Gericht gelogen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Fairness halber musste ich mich aber vergewissern.

»Ja, das hab ich«, gestand Iason ohne auch nur eine Spur von Reue in seiner Stimme.

»Wenn Loduuner nicht lügen können, warum kannst du es dann?« Ich unterdrückte ein Niesen, was gerade wirklich unpassend gewesen wäre.

»Lügen und eine Geschichte erzählen, sind zwei grundverschiedene Dinge«, sagte er dann. »Eine Geschichte ist keine Lüge, sie ist eine Ausdrucksform des Erzählers. Ein Teil seines Selbst. Wir Loduuner konzentrieren uns nicht so sehr auf unser Inneres, sondern mehr auf die Umwelt. Die können wir aber sehr wohl mit Worten ändern, wenn wir es für nötig halten.«

»Und in diesem Fall hieltest du es für nötig?«

»Ja.«

Seine Worte irritierten mich. Loduuner, diese edlen, höheren Wesen sollten so etwas Schimpfliches tun können? Bei Iason konnte ich mir das ja noch vorstellen. Zwar war auch er mir oft sehr fremd, aber irgendwie hatte er sich in letzter Zeit verändert – mehr uns Irden angepasst. Zu Hope oder Tony passte das aber gar nicht.

»Ihr könnt also alle lügen.« Ich streifte einen Farn.

»Wie gedruckt«, sagte er.

»Warum hast du das für Greta getan?«

»Ich kann sie gut leiden.«

»Du kannst … was?« Perplex stolperte ich über eine Baumwurzel. Iason bekam mich gerade noch am Arm zu fassen.

»Ich dachte, du könntest sie nicht ausstehen.«

»Ich teile nicht ihre Auffassung. Aber sie«, er hielt inne, als würde er nach den richtigen Worten suchen, »sie behandelt mich menschlich, verstehst du? Zwar wie einen männlichen Menschen, doch immerhin nicht wie einen Außerirdischen.« Er zuckte die Schultern. »Du weißt doch, wie wenig ich es ausstehen kann, wenn man anders mit mir umgeht, nur weil ich von einem fremden Planeten stamme. Das ist im Guten wie auch im Schlechten so. Greta scheint es völlig egal zu sein, woher ich komme. Sie behandelt alle Männer gleich. Das gefällt mir.«

»Das gefällt dir«, wiederholte ich und konzentrierte mich auf die feuchten Blätter, die vor uns am Boden lagen.

»War es das, oder möchtest du noch etwas wissen?«

»Nein, mein Lieber«, sagte ich schnell. »Wir zwei sind noch lange nicht fertig.« Ich verengte die Augen und suchte prüfend seinen Blick. »Was hast du mit diesem Richter zu tun?«

»Er arbeitet für die loduunische Flüchtlingshilfe und setzt sich auch privat dafür ein. Er hat damals mein Bleiberecht auf der Erde unterschrieben, obwohl die derzeitigen Aufnahmebestimmungen nur minderjährige loduunische Flüchtlinge vorsehen.«

»Das erklärt aber noch lange nicht, warum du seiner Frau Meditationsübungen beibringst.«

Der Weg wurde immer rutschiger.

»Wie gesagt, er setzt sich auch ehrenamtlich für loduunische Zwecke ein. Seine Frau ist Kriminalbeamtin. Als er bei meiner Anhörung erfuhr, dass ich eines der Lager beobachtet hatte, bat er mich, bei der Erstellung der Täterprofile von Lokondras Gefolgsleuten behilflich zu sein. Bei einem dieser Treffen bekam seine Frau einen Asthmaanfall. Ich habe ihr durch eine schlichte loduunische Atemübung geholfen, diesen zu überwinden.«

Ein Felsen stoppte unseren Weg. Meine Worte überschlugen sich fast. »Was sind das für Loduuner, nach denen gefahndet wird? Und warum bemüht man sich, sie von der Erde aus zu finden? Sind außer Der Hand, oder diesem SAH, wie du ihn nennst, etwa noch andere von Lokondras Leuten hier? Und warum? Oh Gott, könnte es etwa sein, dass …«

»Luft holen, Mia.«

Ich atmete tief durch und beruhigte mich etwas.

»Die Hand«, erklärte er, »wird verdächtigt, beim Waffenhandel die Finger mit im Spiel zu haben oder die ganze Sache sogar zu leiten. Deshalb hält er sich auch zeitweise auf der Erde auf. Die anderen sind aller Wahrscheinlichkeit nach seine Gehilfen. Mia, als ich dir die Gründe nannte, weshalb ich hier bin, habe ich dir einen letzten verschwiegen.«

Seine Worte schleuderten durch meinen Kopf, bis ich begriff, was er mir damit sagen wollte. Ich keuchte und riss die Augen auf. »Du hast Die Hand nicht nur gesucht, weil du dachtest, er wäre dein Sinn. Du wolltest den ganzen Waffenhandel auffliegen lassen.«

Er schwieg.

»Du willst es noch immer«, kroch es aus meinem Mund.

»Wir wollen es«, präzisierte er.

»Wer genau ist … wir?«

»Die Hartungs, Finn, O’Brian, noch ein paar andere und ich.«

Wusch! Mir war, als bekäme ich eine Ladung kaltes Wasser übergeschüttet. »Tom O’Brian?«

»Jetzt weißt du es«, sagte Iason.

»Und ihr glaubt, dass Weiler etwas mit …«

»… dem Waffenhandel zu tun hat«, half Iason mir weiter.

»Deshalb wolltet ihr uns vom Labor fernhalten.«

»Richtig.«

Wir umrundeten den Felsen. »An diesem Abend ging es nie um einen Tiertransport, sondern um Waffenhandel?«

Platt, ich war total platt. »Warum hat O’Brian uns denn nicht einfach gesagt, dass im Labor etwas ganz anderes vor sich geht?«

»Hättet ihr denn lockergelassen, ohne zu wissen, was genau dahintersteckt?«

Das war eindeutig eine rhetorische Frage.

»Was wäre denn so schlimm daran gewesen, uns ins Vertrauen zu ziehen?«, fragte ich etwas beleidigt.

Iason lachte bitter auf. »Euer Kleinkrieg mit Mirjam vielleicht? Während einer eurer Streitigkeiten hätte euch zu leicht etwas herausrutschen können, so angriffslustig, wie ihr seid.«

Oh Mist! »Armer O’Brian.«

Iason schnaubte. »Der arme O’Brian ist heute noch zu feige, uns gegenüberzutreten.«

Das stimmte. Seit dem unglücklichen Ausgang unserer Aktion hatte er sich weder in der Schule blicken lassen noch bei einem von uns gemeldet.

»Gestern hatten wir ein Treffen wegen der Sache, selbst da ist er nicht erschienen«, fuhr Iason fort.

»Hast du den anderen erzählt, was im Labor vorgefallen ist?«

»Finn hatte es ihnen schon gesagt. Richter Hartung wird O’Brian aufsuchen und zur Rede stellen. Doch das ist gegenwärtig nicht unser größtes Problem.«

»Sondern?«

Iasons Blick wurde düster. »Dass Weiler und SAH jetzt den Übergabeort verlagern werden. Es noch einmal im Labor unter dem Deckmantel Tiertransport zu versuchen, wäre zu heiß für sie. Spätestens als Die Hand mich gesehen hat, wusste er, dass da nicht nur Tierschutzaktivisten ums Gebäude schleichen.«

Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Hätten wir damals auf Mr O’Brian gehört, wäre das alles nicht passiert. »Bist du dir noch immer sicher, dass ich etwas mit dem Ende eures Krieges zu tun habe? Es kommt mir so vor, als würde ich das Ganze eher schlimmer machen.«

Er nahm meine Hand. »Lade dir diese Schuld nicht allein auf. Wir haben alle dazu beigetragen«, sagte er und starrte dann ins Leere. »Die Dinge hätten vielleicht sogar einen schlimmeren Verlauf genommen, wärest du nicht da gewesen.«

Ich wusste sofort, was er damit meinte. Iason hätte das Labor in jedem Fall beobachtet, auch wenn wir die Fotoreportage in dieser Nacht nicht geplant hätten. Wahrscheinlich hätte er sich Der Hand oder diesem SAH, wie er ihn nannte, genauso gestellt. Zu jener Zeit hatte er ja noch nicht gewusst, dass ich sein Sinn war. Wie wäre diese Begegnung wohl ohne uns ausgegangen? Wenn Lena nicht die Polizei gerufen hätte? Ich mochte es mir gar nicht weiter ausmalen. Aber der Gedanke, unsere Anwesenheit könnte Schlimmeres verhindert haben, verschaffte mir etwas Erleichterung.

Tau tropfte auf meine Nasenspitze. »Eins verstehe ich noch immer nicht. Warum hat Weiler seiner Tochter von der Sache erzählt? Selbst wenn – und davon gehe ich aus – er ihr die Geschichte mit dem Tiertransport tatsächlich vorgegaukelt hat, musste er doch wissen, dass sie die Sache an die große Glocke hängen würde. Und dass Loduuner in ihrer Klasse sind, weiß er garantiert auch.«

»Sicher weiß er das. Genau deshalb hat er es ihr wahrscheinlich auch gesagt. Die Hand lechzt geradezu nach Gelegenheiten, uns Wächter zu erwischen. Er weiß, welche Gefahr wir für Lokondra darstellen.«

Wir schlugen einen schmalen Pfad ein.

»Aber jetzt, wo er gar nicht dein Sinn ist, wirst du ihn da weitersuchen?«

»Natürlich.«

»Warum?«

Iasons Händedruck wurde fester. »Er war Leiter des Lagers, in dem Hope …« Seine Stimme verlor sich in Erinnerungen.

»Was!?«

»Wie gesagt, neben unserem Sinn führen wir ein ganz normales Leben. SAH ist für so viel Elend verantwortlich, ganz zu schweigen von dem, was er meiner Schwester angetan hat. Das darf nie wieder geschehen. Ich will diese Mistkerle einen nach dem anderen unschädlich machen.«

»Glaubst du etwa, Die Hand würde sich wieder an den Kindern vergreifen!?«

Iason schüttelte den Kopf. »Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er hat anderes zu tun, als sich um ein paar entlaufene Gefangene zu kümmern. Zudem weiß er, dass jetzt ein ganzer Ring an Kriminalbeamten auf ihn angesetzt ist. Er wird es nicht riskieren, einen Fuß in die Stadt zu setzen. Käme er auch nur in die Nähe der Kinder, würde man ihn sofort hochnehmen.«

Wir überquerten eine kleine hölzerne Brücke und tauchten in einen Bambushain, hinter dem sich ein kleiner See versteckte. Eins war klar. Wenn ich gedacht hatte, mich könnte so schnell nichts mehr schockieren, dann war das ein Irrglaube gewesen. Iason bemerkte meine Unruhe. »Für die Kinder besteht wirklich keine Gefahr, Mia. Wenn SAH überhaupt noch auf der Erde ist, dann sicherlich nicht, um Hope oder Ariel zu suchen. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, dass sie hier sind. Deshalb sollten sie das alles auch nicht erfahren. Es würde sie nur unnötig ängstigen. Bert und Tanja wissen jedoch Bescheid.« Erst als Iason sich zu mir drehte und mich an den Schultern fasste, bemerkte ich, dass wir stehen geblieben waren. »Mia, SAH darf nicht erfahren, wie dicht wir ihm auf der Spur sind. Das soll sich keinesfalls herumsprechen, du darfst es niemandem erzählen, auch Lena nicht, versprichst du das?«

»Selbst Lena nicht?«

»Mia, bitte, behalte es für dich.«

Hatte ich schon erwähnt, dass ich Autoritäten gegenüber immun war? Aber dass ich einknickte, sobald mir jemand auf diese Art kam?

»Also gut.«

Er lehnte sich gegen einen Baum und ließ locker die Arme hängen. Ausladende Äste reichten dicht über seinem Kopf bis weit auf die Wasseroberfläche hinaus.

»Wenn es so geheim ist, warum hast du es mir dann gesagt?«, wollte ich wissen.

Iason sah mich an, tief und ruhig. »Wenn das, was wir vorhin mit unseren Lippen getan haben, bedeutet, dass wir uns in Zukunft öfter sehen, dann solltest du wissen, wen du vor dir hast.«

»Das, was wir mit unseren Lippen getan haben?«, wiederholte ich seine verstörende Ausdrucksweise. »Soll das etwa bedeuten, du … du hast noch nie geküsst? Du wusstest vorher nicht, was das ist?«

Sein Blick wurde noch intensiver. Langsam wiegte er den Kopf.

»So, wie du es gemacht hast, fällt mir das schwer zu glauben«, gab ich atemlos zu.

Ohne ein Wort sah er mich weiter an.

»Moment mal, soll das etwa heißen, dass ich es war, die dich …«

Natürlich. Genau das hieß es.

»Und? Wie fandest du es?«, fragte ich vorsichtig.

Seine Lippen deuteten ein Lächeln an. »Es war wunderschön. In meinem Bauch wurde es warm. – Meine Beine fühlten sich schwummrig an. – Es …«, jetzt lächelte er, »… es kribbelte überall – und mein Herz wurde ganz schnell.« Er verschränkte die Finger mit meinen. »Soll das so sein? Macht man es deshalb?« Da war sie wieder, diese leise Unsicherheit, die ich so gern an ihm mochte.

»Genau so soll es sein«, sagte ich glücklich.

»Der Geschmack deiner Lippen …« Genießerisch schloss er die Augen.

Ich lächelte. »Aber eines verstehe ich nicht. Warum kannst du so empfinden, wenn du es doch eigentlich gar nicht empfinden dürftest.«

»Tja, das weiß ich auch nicht.« Er zog mich näher zu sich heran. »Vielleicht liegt es an eurer Art zu küssen. Vielleicht aber auch an dir.«

Mein Blick verlor sich am gegenüberliegenden Ufer des Sees. »Und vielleicht einfach nur daran, dass ich dein Sinn bin«, seufzte ich.

»Den ich vor meiner Geburt gewählt habe«, erinnerte er mich.

Iason senkte den Kopf, und seine Lippen kamen meinen so nah, dass wir dieselbe Luft einatmeten. »Und wenn du jetzt keine Fragen mehr hast, würde ich gern da weitermachen, wo wir vorhin in deiner Küche aufgehört haben«, flüsterte er.

Wieder schwebte ich durch luftleeren Raum. Es gab nur noch diesen Moment für mich. Er sollte die einzige Wahrheit sein. – Fast!, durchzuckte mich da ein Gedanke. »Moment.«

Iason wich etwas zurück.

»Eine Frage hätte ich da noch.«

»Weißt du eigentlich, wie erbarmungslos du sein kannst?«

Darauf ging ich gar nicht ein. »Du hast eben gesagt, eure Art zu küssen. Das heißt, ihr küsst euch auch auf Loduun. Oder?«

Seine Hände glitten hinauf an meine Schultern, so, als müsste er sich sammeln, dann aber begegnete er mir mit geheimnisvollem Grinsen. Einen weiteren Augenblick hielt er sich mit der Antwort zurück. Aber schließlich sagte er: »Das tun wir.«

»Und wie?«

»Hm. Es lässt sich schwer erklären.«

»Dann zeig’s mir«, forderte ich ihn auf.

»Jetzt?«, fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Hier?«

»Müssten wir uns dafür ausziehen?«, fragte ich etwas ungeduldig.

Sein Grinsen wurde breiter. »Du nicht und ich nur ein bisschen.«

»Erzeugt es irgendwelche Brandwunden, Blessuren oder dergleichen?«

Diese Frage schien ihn wirklich zu amüsieren. Ich deutete es als ein Nein.

»Ja, dann hier.«

»Wir würden uns wie zwei Paradiesvögel gebärden.«

»Das ist okay.«

Iason zögerte. »Ist es nicht«, murmelte er mehr zu sich selbst. Eine seltsame Spannung baute sich zwischen uns auf, drängte uns voneinander fort und schuf eine Kluft, die mit jedem Atemzug größer wurde. Dann schaute er mich an. Er hatte sein Strahlen zurückgezogen und in seinen Augen glitzerte etwas – wie zahllose kleine Diamanten sah es aus.

»Was ist mit dir?«, fragte ich unsicher.

Seine Miene blieb unverändert. »Du würdest dabei fühlen, was ich fühle.«

»Ich würde deine Gedanken lesen können?«

»Nicht ganz.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Du spürst eher das Gefühl, das dahintersteckt.« Wieder unterbrach er sich kurz. »Es würde für immer währen. Eine Verbindung, die sich aufrechterhält, solange wir leben, egal, wie weit wir voneinander getrennt sind.«

Wollte er mich damit erschrecken? Das Einzige, was mich daran erschreckte, waren die traurigen Züge, die sich in sein Gesicht geschlichen hatten.

»Verstehe, und das willst du nicht«, flüsterte ich.

»Nein, das ist es nicht«, sagte er schnell. »Doch …« Er fasste mich an den Schultern. »Mia, ich bin Wächter. Und meine Gefühle sind in dieser Hinsicht sehr tief. Das Leid meines Volkes, alles, was ich während des Krieges erlebt habe, brennt in mir. Darunter sind Dinge, die mir Angst machen, die Augen aufzuschlagen und zu sehen. Ich kann dir das nicht zumuten, noch nicht. Ich brauche mehr Zeit, zum …«

Vergessen, wollte er wohl sagen, aber dann wurde ihm klar, dass er das sowieso nie könnte.

Es ging ihm also um mich? Er wollte mir nicht zumuten, sein Leid zu empfinden. Aber bei all diesen Überlegungen hatte er das Wichtigste übersehen. Ich hätte wenigstens etwas, was mich an ihn erinnerte. Etwas, das mir bleiben würde, wenn er nicht mehr da war.

»Ich brauche Abstand zu dem, was war«, sagte er jetzt wieder. »Dann sind die Gefühle auch nicht mehr so intensiv.«

»Ich schaff das.« Der Versuch, ihn zu überzeugen, kam ziemlich kläglich.

Er sah mich auf eine Weise an, in der Sehnsucht lag und gleichzeitig blanke Angst. Aber dann schüttelte er den Kopf.

Ich vertiefte mich in ein Steinchen, das ich mit der Schuhspitze in die feuchte Erde drückte. »Weißt du, es ist nur …Ich meine, ich sollte mich langsam an derartige Offenbarungen gewöhnen. Aber ich gewöhne mich einfach nicht daran. Dass … also die Tatsache, dass ihr eure Gefühle teilen könnt, ist … etwas ganz Besonderes.«

Mein Richtungswechsel entlockte ihm ein dankbares Lächeln. »Nun, wir müssen doch irgendeine tiefere Verbundenheit zwischen einander spüren. Wie sollen wir uns sonst aufeinander verlassen?«

»Indem ihr vertraut«, schlug ich vor.

»Auf Ungewisses?«

»Ja.«

»Das reicht uns nicht. Wir brauchen Gewissheit.«

»Aber Gewissheit kann ein Liebeskiller sein.«

»Und deshalb empfinden wir wahrscheinlich auch nur Zuneigung.«

Darüber musste ich erst mal nachdenken.

»Siehst du, Mia, euer Vertrauen ist eine Brücke über den Fluss des Ungewissen. Und ihr könnt sie bauen, einfach, weil ihr liebt. Das ist besonders.«

»Nicht immer«, versicherte ich ihm.

»Aber diejenigen, die sich wirklich für den Partner interessieren, die ihn aufrichtig lieben, die fühlen so.« Er sah mich an, als würde er mich bitten, ihn nicht dieser Illusion zu berauben. »Uns gelingt das höchstens bei unseren Familienangehörigen«, fuhr er fort. »Ich meine, bei einer natürlich gewachsenen Liebe, der einzigen Liebe, die wir kennen.«

Iason ließ einen Stein über das Wasser springen. Ich sah ihm zu und machte mir so meine Gedanken.

»Bitte, Iason«, kam es einfach aus mir heraus.

Die Blätter rauschten im Wind des Waldes.

»Nein, Mia.«

Zaghaft kamen meine Worte. »Ich halte das aus, bestimmt.«

»Das Letzte, was ich will, ist, dass du irgendetwas aushältst.«

»So meinte ich das doch gar nicht.« Warum wollte er mich nicht verstehen?

»Ich weiß«, sagte er jetzt wieder sanfter und zog mich an sich.

»Dann weißt du auch, dass ich nicht lockerlassen werde«, sagte ich und kuschelte mich an ihn.